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Sexuelle Übergriffe und Gewalt im Pflegealltag

So setzen Sie sich erfolgreich zur Wehr - ein Handlungsleitfaden für Pflegekräfte. "Nicht mit mir" - Raus aus der Opferrolle

von Gabriela Koslowski (Autor:in)
148 Seiten
Reihe: Pflege Praxis

Zusammenfassung

Über 70 Prozent der weiblichen Pflegekräfte bzw.
über 40 Prozent der männlichen Pflegekräfte wurden
schon einmal sexuell belästigt. Wer Opfer wird, leidet.
Nicht nur im Moment des Übergriffs, sondern v. a.
hinterher: Pflegekräfte berichten von emotionaler
Erschöpfung, depressiven Verstimmungen oder
psychosomatischen Beschwerden.
In diesem Buch wird anhand von grundlegenden Informationen
und zahlreichen Interviews geschildert, wie
Pflegekräfte sexuelle Gewalt erleben, wie sie diese Erlebnisse
verhindern und sich zukünftig mit einer klaren
Haltung davor schützen können und: wie sie mit Erfahrungen
von sexueller Gewalt umgehen können (als
Einzelperson, als Team, unterstützt von der Leitung).
Zwei Aspekte sind wichtig:
1. Mit diesem Handlungsleitfaden können Pflegende
ein deutliches Zeichen setzen: „Mit mir nicht mehr!“
2. Führungskräfte erhalten mit diesem Buch eine wichtige
Arbeitsgrundlage, um sexuelle Gewalt/Übergriffe
aus der Tabuzone herauszuholen, transparent
darzustellen, zu besprechen und ihre Teams so zu
unterstützen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Warum schreibe ich dieses Buch? Weil es noch keines gibt! Es gibt Bücher darüber, dass Pflegekräfte Gewalt und sexualisierte Gewalt ausüben: gegenüber Patient*innen, Bewohner*innen und Angehörigen. Doch es wird nie darüber geschrieben, was Pflegende, Ärzte/-innen, Physiotherapeut*innen, Auszubildende in Krankenhäusern, Altenheimen oder in ambulanten Pflegediensten erleben. Sexuelle Übergriffe sind seit vielen Jahrzehnten ein Tabu.

Pflegende haben unglaublich hohe fachliche und soziale Kompetenzen. Doch daneben benötigen sie auch eine klare Haltung gegenüber sexuellen Übergriffen. Sie brauchen die Möglichkeit, sich erfolgreich zu wehren – verbal und nonverbal.

In meiner jahrelangen Arbeit bin ich in Einzelsitzungen und in über 1.000 Seminaren mit Gruppen, Teams, Leitungskräften, Ärzt*innen, Auszubildenden und Geschäftsführer*innen immer wieder auf das Thema »Sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt« gestoßen. Ich spürte immer wieder die Hilflosigkeit, hörte immer wieder dieselben Fragen: »Wo bekomme ich Hilfe?« – »Gibt es einen Handlungsleitfaden?« – »Gibt es Strategien, damit umzugehen?« Das sind Fragen, die mich sehr beschäftigt haben, und so habe ich lange recherchiert.

Ich fand einige Facharbeiten und Artikel zu der Thematik, jedoch kein Buch, in dem es darum geht, Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, zu interviewen und dann mit ihnen einen individuellen Handlungsleitfaden zu erarbeiten, der ihnen hilft, aus der Opferrolle herauszutreten, Sicherheit und Selbstbewusstsein zu erlangen. Erschreckend empfand ich, dass es selbst bei einem Leitfaden der Bundesregierung zum Thema sexualisierte Gewalt nur einen kleinen Absatz gab, dass Pflegekräfte von Bewohner*innen belästigt werden und Übergriffe erfahren. Der Fokus wurde auf die andere Seite gelegt: Pflegekräfte üben Gewalt und Vernachlässigung auf Pflegebedürftige aus. Das hat mich noch einmal darin bestärkt, wie wichtig es ist, dieses Thema aufzugreifen und sich mit einem Tabu auseinanderzusetzen, das schon seit Jahrzehnten im Pflegealltag besteht.1

In diesem Buch behandle ich Übergriffe, die Menschen aus den verschiedensten medizinischen Berufsgruppen betreffen:

Sexuelle Übergriffe auf weibliches Pflegepersonal,

sexuelle Übergriffe auf Auszubildende

sexuelle Übergriffe von männlichen Angehörigen

sexuelle und verbale Übergriffe auf Ärzt*innen,

Übergriffe auf Physiotherapeuten,

sexuelle Übergriffe von älteren Damen auf Männer und männliche Auszubildende,

sexuelle Übergriffe von Patientinnen auf männliche Ärzte,

Übergriffe von Vorgesetzen auf Mitarbeiterinnen,

sexuelle und verbale Übergriffe von Patient*innen und Bewohner*innen auf weibliche Migranten,

sexuelle Übergriffe von Demenzkranken auf das Pflegepersonal,

sexuelle Übergriffe in Krankenhäusern, Seniorenheimen, ambulanten Pflegediensten.

Ein zweiter Grund, warum ich dieses Buch schreibe, ist, dass ich vor vielen Jahren als Auszubildende selbst einen sexuellen Übergriff erlebt habe. Ich hatte sehr viel Glück, da mir die Reaktion der Stationsleitung und ihre Haltung geholfen haben, Selbstsicherheit zu erlangen und Unterstützung erfahren zu dürfen.

Ein relativ neues Schlagwort ist der Begriff »sexueller Übergriff« – und zwar nicht nur in den Medien, sondern auch in vielen Ausprägungen und Facetten im Pflegealltag. Doch wann liegt eine sexuelle Belästigung vor? Wann sprechen wir überhaupt von einem Übergriff? Ist es schon ein Blick oder muss eine Berührung erfolgen? Und wie kann ich mich klar abgrenzen? Wie kann ich als Leitungskraft Mitarbeiter*innen und Auszubildende schützen?

Als psychologische, systemische Beraterin arbeite ich jeden Tag mit Pflegekräften, Ärzt*innen und Auszubildenden zusammen, die verschiedene Belästigungen erlebt haben. Es sind nicht immer nur Frauen, die Übergriffe erleben, auch Männer sind davon betroffen.

Menschen, die pflegen, unterstützen, begleiten und jeden Tag Gespräche führen, benötigen dazu eine besondere Fähigkeit: einen gesunden Umgang mit Nähe und Distanz. Das bedeutet, sie müssen Nähe zulassen können, sich emotional einfühlen können in die Lebenssituation von Bewohner*innen, Patient*innen und auch Angehörigen. Menschen in medizinisch-pflegerischen Berufen leisten jeden Tag Beziehungsarbeit, das heißt, sie müssen eine Balance zwischen der Nähe finden und gleichzeitig die nötige Distanz wahren.

Je mehr Sie als Pflegekraft wissen, wo Ihre eigene Distanzzone ist, desto mehr wissen Sie um Ihre persönliche Grenze und können sie artikulieren und auch demonstrieren: durch Worte, Gestik und Körpersprache. Sie haben das Recht dazu! Das möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich klarstellen. Kein Mensch hat das Recht, die persönliche Grenze eines anderen zu ignorieren oder zu überschreiten!

Bevor ich auf die Ursachen, Auslöser und die Präventionsmaßnahmen eingehe, möchte ich Ihnen von dem Übergriff berichten, den ich als 19-jährige Schwesternschülerin erlebt habe und der mich für mein weiteres Leben sehr geprägt hat.

1984 war ich als Krankenpflegeschülerin auf einer chirurgischen Station eingesetzt und sollte die Grundpflege eines jungen 23-jährigen Mannes übernehmen, der auf einem Vierbettzimmer lag und sich den rechten Arm und das linke Bein gebrochen hatte. Zu dieser Zeit trugen wir Schülerinnen grüne lange Kittel. Während der Grundpflege drehte ich dem jungen Mann den Rücken zu, um den Waschlappen aus der Waschschüssel zu nehmen und an den Patienten weiterzureichen. In diesem Moment spürte ich seine Hand unter meinem Kittel, die langsam nach oben glitt. Ich war schockiert, drehte mich mit einem Ruck herum und schlug mit meinem rechten Handrücken zu – direkt ins Gesicht des jungen Mannes. Ein Reflex! Ich war schockiert. Das Erstaunen im Zimmer war groß, weil die anderen Patienten nicht gesehen hatten, was der junge Mann getan hatte. Es wurde unruhig im Zimmer, ich war fassungslos. Was hatte ich getan? Mein erster Gedanke war nicht: »Ich bin belästigt worden!«, sondern: »Ich habe einen Patienten geschlagen!« (Übrigens ein Phänomen, das ich immer wieder von belästigten Schwestern, Ärztinnen und weiblichen Auszubildenden in meinen Seminaren höre: Sie suchen den Fehler bei sich).

Ich versuchte verließ fluchtartig das Zimmer. Zum Glück lief ich unserer Stationsschwester in die Arme, einer Nonne, der ich aufgelöst von dem Vorfall berichtete. Sie sagte: »Das kläre ich sofort!«, lief schnellen Schrittes zu dem Vierbettzimmer und ich hörte sie schimpfen.

Im Anschluss schrieb sie ein Protokoll und verständigte den Oberarzt, der auch noch einmal mit dem jungen Mann sprach. Die Schwestern wurden befragt, warum eine 19-jährige Schülerin zu einem jungen Mann geschickt wurde, um die Grundversorgung durchzuführen. Schließlich teilte mir die Stationsschwester mit, dass ich nicht mehr auf dieses Zimmer müsste. Ich war unendlich erleichtert und froh, dass die Stationsschwester mir geglaubt hatte. Das Gefühl, einen Patienten geschlagen zu haben, wurde überlagert von dem Gefühl, belästigt worden zu sein. Im Anschluss habe ich diesen Vorfall reflektiert, indem ich mir folgende Fragen stelle:

Habe ich etwas falsch gemacht?

Habe ich dem jungen Mann falsche Signale gesendet?

Habe ich mich während der Grundpflege falsch verhalten?

Ich dachte lange darüber nach und beantwortete alle Fragen mit Nein. Mir hat die Vorgehensweise der Stationsschwester sehr geholfen und dafür bin ich unendlich dankbar. Die Art und Weise, wie mit diesem Erlebnis umgegangen wurde, hat mich auf meinem weiteren Lebensweg gestärkt und mir sehr viel Sicherheit gegeben. Ich wurde ernst genommen und erfuhr Unterstützung. Das ging vielen meiner Seminarteilnehmer*innen wesentlich anders. Darauf gehe ich in den weiteren Kapiteln noch näher ein.

Danke

Mein Dank gilt meiner tollen Lektorin, Claudia Flöer von Text & Konzept Flöer, für unseren immer wertschätzenden, anregenden Austausch und die vielen wertvollen Tipps während des Schreibens, meinen Enkelkindern Gloria, Luis, Annika und dem mit Sehnsucht erwarteten vierten Enkelkind für die schönen Glücksmomente, die ich während des Schreibens immer wieder mit ihnen erleben durfte.

Mein besonderer Dank gilt meinen vielen wunderbaren Seminarteilnehmer*innen und Klient*innen, die mir in den Seminaren, Coachings und zahlreichen Interviews nicht nur ihr Vertrauen geschenkt haben, sondern mich auch ermutigt haben, dieses Buch zu schreiben. Und bedanken möchte ich mich bei all den Menschen in meiner Ausbildung und den Kolleg*innen während meines Studiums, die mir gezeigt haben, wie wichtig es ist, eine Haltung zu haben und sich zu erheben, wenn es um sexuelle Übergriffe geht.

_________________________

1 Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag (2013). Gewalt und (sexueller) Missbrauch in Pflegebeziehungen. WD 9 – 3000-141/12

Einleitung

Bevor ich zertifizierte Mediatorin und psychologische, systemische Beraterin wurde, arbeitete ich viele Jahre als Lehrerin für Pflege. Diese Tätigkeit hat mir viel Freude bereitet. Junge Menschen zu unterrichten und anzuleiten, sie auf ihre Aufgabe in der Altenpflege oder im Krankenhaus vorzubereiten, war für mich immer sehr bereichernd.

Zuvor habe ich selbst 12 Jahre als examinierte Krankenschwester für Allgemeinmedizin auf einer internistischen Männerstation gearbeitet. (Ja, das gab es in den 1980er Jahren wirklich, die Geschlechter wurden voneinander getrennt!) Mir hat der Umgang mit kranken Menschen immer sehr viel Freude bereitet. Intensive Gespräche mit Patient*innen und Angehörigen zu führen, Menschen pflegerisch zu unterstützen, sah ich als meine Berufung an.

Mir war damals schon bewusst, dass von Pflegekräften eine hohe psychische und physische Belastbarkeit erwartet wird. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass es auch Grenzsituationen mit Patient*innen gibt, über die man 1983, als ich mit meiner Ausbildung begann, nicht sprach und die zu der Zeit auch nicht unterrichtsrelevant waren. Für mich waren Patient*innen Menschen, die Unterstützung benötigten, um wieder gesund zu werden. Dass Patient*innen sexuell übergriffig werden könnten, hatte mir niemand gesagt. Als ich selbst als Schülerin einen sexuellen Übergriff erlebte, haben mir die Unterstützung und das Vertrauen meiner Stationsschwester geholfen. Mit den Schwestern auf der Station habe ich über diesen Vorfall gesprochen, jedoch nicht mit meinen Lehrer*innen in der Schule. Mir war der Übergriff peinlich und ich wollte ihn schnell vergessen.

An Pflegekräfte werden heute immense Anforderungen gestellt, die sie jeden Tag mit Bravour meistern. Pflegende haben viele Qualitäten, sowohl fachliche als auch soziale Kompetenzen. Doch neben diesen Kompetenzen benötigen Pflegende, Auszubildende und Ärzt*innen auch eine klare Haltung: Sie brauchen Klarheit in Bezug auf Nähe und Distanz zu Patient*innen, Bewohner*innen und Angehörigen. Sie brauchen klare Abgrenzung in Grenzsituationen und innere Stärke. Genau darum geht es in meinem Buch.

Ich möchte Ihnen zeigen, wie Sie eine klare Haltung gegenüber sexuellen Übergriffen erlangen können. Dafür benötigen Sie ein gesundes Selbstwertgefühl, einen Handlungsleitfaden, der Ihnen zeigt, wie Sie sich erfolgreich wehren können – verbal und/oder nonverbal. Denn Sie haben es ab heute in der Hand, ob Sie Opfer bleiben, oder Möglichkeiten erlernen, anders auf Grenzsituationen zu reagieren.

Ganz bewusst habe ich den Untertitel des Buches gewählt: »So setzen Sie sich erfolgreich zur Wehr – ein Handlungsleitfaden für Pflegekräfte.« Bei sexuellen Übergriffen im Pflegealltag sind wir erst einmal geschockt, vielleicht fassungslos. Dann hinterfragen wir die Situation, wägen ab, ob uns jemand glaubt, zweifeln an uns – Sind wir vielleicht selbst schuld? Uns geht es körperlich und seelisch schlecht, weil wir nicht darüber sprechen. Wir verspüren Scham, Trauer, Frustration und Wut, vielleicht sogar Aggressionen. Manchmal werden wir sogar krank, weil wir uns nicht trauen, uns jemandem anzuvertrauen.

Ich möchte Sie mit meinem Buch animieren, Ihrem Gefühl zu trauen, wenn Sie Grenzsituationen erlebt haben. Ich möchte Ihnen Mut machen und Ihnen Wege zeigen, damit Sie nicht Opfer bleiben, sondern lernen, sich zu wehren. Mit vielen Übungen, Beispielen und einem Test (image Kap. 12.1) werden Sie viele Tools und Handlungsstrategien erlernen, um aus Grenzsituationen gestärkt herauszugehen!

»Eine sexuelle Belästigung liegt dann vor, wenn ein der sexuellen Sphäre zugehöriges Verhalten gesetzt wird, das die Würde einer Person beeinträchtigt, für die betroffene Person unerwünscht, unangebracht, entwürdigend, beleidigend oder anstößig ist und eine einschüchternde, feindselige oder demütigende Arbeitsumwelt für die betroffene Person schafft (aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz [AGG]: § 3 Abs. 3, 4, 2014).

Dazu gehören:

nonverbal zum Beispiel das Zeigen und sichtbare Anbringen von durch Betroffene abgelehnte pornografischen Darstellungen, taxierende Blicke, sexistisches Anstarren, sexuell herabwürdigende Gesten, anzügliche Mimik, unerwünschte Geschenke,

verbal zum Beispiel Aufforderungen zu sexuellen Handlungen, doppeldeutige Bemerkungen sexuellen Inhalts, unerwünschte Einladungen mit eindeutiger Absicht, anzügliches Reden über körperliche Merkmale, Aussehen oder Sexualleben,

körperlich zum Beispiel sexuell konnotierte oder scheinbar zufällige körperliche Berührungen, Betatschen, Herstellen unerwünschter Nähe, sexuelle Bedrängung und Nötigung, Verfolgung, Erzwingen von sexuellen Handlungen sowie Vergewaltigung.

Die Folgen sexueller Belästigungen können für Betroffene schwerwiegend sein, besonders wenn es sich um wiederkehrende oder sehr intensiv erlebte Traumata handelt. Starke Emotionen wie Angst, Misstrauen, Aggressivität, Scham oder Ekel können die Freude am Beruf reduzieren und in Depressionen, Stress, herabgesetzten Selbstwert oder sexuelle Unlust münden.«2

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Jedes unerwünschte Verhalten mit einem sexuellen Bezug ist also eine sexuelle Belästigung.

Das bedeutet, sexistische Bemerkungen, die eine einzelne oder mehrere Personen treffen, fallen genauso darunter wie z. B. Witze über Frauen, Blondinen, Schwule, oder Menschen, die anders sind. Und selbstverständlich aktive körperliche sexuelle Übergriffe.

1.1… und die Reaktionen darauf

Verbale Anzüglichkeiten befinden sich oft in einer Grauzone. So kann ein Spruch von einem Patienten/einer Patientin mal als Verletzung aufgefasst werden, ignoriert oder gar mit Humor genommen werden. Es kommt auf den einzelnen Menschen an, seine Sozialisation, seine Werte, seinen kulturellen Hintergrund, seine Prägungen. Jeder Mensch empfindet eine verbale Anzüglichkeit oder eine sexistische Bemerkung anders.

Ein weiterer Aspekt sind Unsicherheiten in der Pflegebeziehung. Bei einigen Pflegehandlungen kommen Pflegende Patient*innen und Bewohner*innen sehr nahe, es entsteht Intimität, manchmal verwischen sich die Grenzen, wie z. B. bei der Grundpflege, beim Anreichen von Nahrungsmitteln, oder einer Hilfestellung beim Aufstehen. Bei manchen Patient*innen oder Bewohner* innen empfinden wir eine Berührung als normal, bei anderen stört sie uns vielleicht.

Menschen nehmen Kommunikation, Berührung, Blicke usw. unterschiedlich wahr und gehen auf ihre individuelle Art und Weise damit um. Das ist vollkommen in Ordnung.

In Kapitel 7 gehe ich auf die Folgen von sexuellen Belästigungen ausführlicher ein. Seminarteilnehmer*innen, Pflegende und Klient*innen berichteten nach sexuellen Übergriffen manchmal von Reaktionen, die sie bei sich selbst erschreckt oder verunsichert haben. Mit verwirrenden Reaktionen, die Sie nach sexuellen Übergriffen bei sich feststellen, stehen Sie keineswegs allein da!

Wir alle haben ein Alarmsystem, das uns sagt, ob eine Berührung, eine Bemerkung oder die Kommunikation so für uns in Ordnung ist. Stört uns etwas, empfinden wir etwas als unpassend, dann reagiert unser Bauch alarmiert. Sehr häufig fragen wir uns dann zunächst:

»War das ein Übergriff?«

»Habe ich mir das eingebildet?«

»Habe ich mich falsch verhalten?«

Bauch und Seele schreien, sie sind verletzt. Das Gefühl sagt uns:

»Ich fühle mich ohnmächtig.«

»Ich schäme mich.«

»Ich bin sauer.«

»Ich bin wütend.«

»Ich fühle mich hilflos.«

Ihr Gefühl ist natürlich subjektiv. Es ist Ihr ureigenes Gefühl, das Ihnen keiner wegnehmen kann. Es ist – in diesem Fall – Ihre Verletzung. Eine andere Person hat Ihre persönliche Grenze überschritten und Sie möchten das nicht. Es ist an dieser Stelle völlig egal, was andere Menschen dazu meinen oder wie sie den Vorfall bewerten. Es ist Ihr Gefühl und Sie haben das Recht, sich abzugrenzen!

1.2… und das Gesetz

Werfen wir einen Blick ins Strafgesetzbuch, das sich mit dem Tatbestand der sexuellen Belästigung befasst.

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Info

Sexuelle Belästigung, § 184 StGB

»1. Wer eine andre Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften dieses Abschnittes mit schwererer Strafe bedroht ist.

2. In besonders schweren Fällen ist die Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wurde.

3. Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverteidigung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.«

Es gibt ein Gesetz, das Sie schützt. Sie haben Rechte und es gibt eine Rechtsprechung, die hilft und unterstützt, wenn Menschen sexuelle Übergriffe erlebt haben. Nehmen Sie das ruhig als Ermutigung!

Im Verlauf des Buches werden Sie viele Beispiele und Interviews von Menschen lesen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben. Sie werden Handlungsstrategien kennenlernen, die Ihnen helfen, selbstsicher und souverän aus Grenzsituationen herauszukommen. Sie werden verstehen lernen, dass Sie immer die Wahl haben, etwas zu verändern!

1.3Sexuelle Belästigung vs. sexueller Übergriff

Wann sprechen wir eigentlich von einer sexuellen Belästigung und wann von einem sexuellen Übergriff? Zunächst ist es wichtig zu verstehen, um was es sich handelt. Geht es um eine sexuelle Belästigung oder um sexuelle Nötigung? § 177 StGB wurde zum 10. November 2016 reformiert und beinhaltet nun neben der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung auch den sexuellen Missbrauch von Widerstandsunfähigen.

Sexuelle Belästigung zählt nach dem deutschen Recht nicht als Straftatbestand. Eine Ermittlung wegen sexueller Belästigung ist erst dann möglich, wenn mit dieser Belästigung arbeitsrechtliche Konsequenzen einhergehen. Nach dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) gilt die sexuelle Belästigung als Diskriminierung, das heißt: Eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist strafrechtlich verfolgbar.

Wenn der Täter das Opfer bedrängt, gegen dessen Willen eine sexuelle Handlung vornimmt – Berührung, Anfassen gegen den Willen des Opfers, trotz einem klaren »Nein«, trotz Schluchzen, Weinen oder Weglaufen – sprechen wir von einem sexuellen Übergriff.

Eine sexuelle Nötigung ist in jedem Fall strafbar. Die Nötigung geschieht durch Androhung von Gewalt oder durch die Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer hilflos bzw. schutzlos ist wie durch Schläge, Niederdrücken des Opfers mit dem eigenen Körpergewicht oder durch das Zuhalten des Mundes. Die Ausnutzung wird so definiert, dass sich das Opfer nicht der Gewalt entziehen kann.

Bei einer sexuellen Nötigung wird eine sexuelle Handlung ausgeübt, während das Opfer stark alkoholisiert oder ohnmächtig ist. Der Täter nutzt die Tatsache aus, dass das Opfer nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu ändern (§ 177 Abs. 2 Nr. 1–5 StGB).

1.4Nonverbale, verbale und körperliche sexuelle Belästigung

Es gibt verschiedene Formen von Übergriffen und es ist einerlei, ob es ein nonverbaler, verbaler oder gar körperlicher Übergriff ist, Sie selbst entscheiden, wo Ihre persönliche Grenze ist. Lassen Sie sich nicht verunsichern, wenn andere Menschen Ihnen sagen: »Naja, der hat doch nur einen Spruch gemacht.« Es ist Ihre Grenze, die überschritten wird! Ihr Merksatz sollte lauten: »Stopp! Bis hierher und nicht weiter!« Schauen wir uns kurz an, was die einzelnen Übergriffe auszeichnet.

Nonverbaler Übergriff

Taxieren des Körpers,

Lippen lecken,

Blicke, die an bestimmten Körperteilen verharren,

Angrinsen.

Handyaufnahme eines hilf- und schutzlosen Opfers.

Verbaler Übergriff

Sexistische Sprüche wie

»Na, Süße, jetzt geht es mir ja gleich besser und besonders meinem dritten Bein.«

»Dich würde ich ja auch nicht von der Bettkante stoßen.«

Bei männlichen Pflegekräften:

»Können Sie den Intimbereich einmal länger und intensiver waschen?«

»Wollen Sie sich ein wenig Geld verdienen?«

Aufforderungen zu Berührungen im Intimbereich

Körperlicher Übergriff

Berühren an der Brust, am Gesäß, im Schritt (auch bei Männern),

In den Po kneifen/auf den Po hauen,

ins Bett ziehen,

In die Dusche ziehen.

1.4.1Verbale Übergriffe

In meinen Seminaren erlebe ich oft Teilnehmer*innen, die verunsichert sind, wenn es um verbale Übergriffe geht. So direkt ein körperlicher sexueller Übergriff ist, so diffus ist ein verbaler. Viele sind zunächst irritiert:

»Habe ich richtig gehört?«

»Hat mein Gegenüber das wirklich so gemeint?«

»Höre ich auf dem ›falschen‹ Ohr?«

»Bin ich zu empfindlich?«

Ich sage an dieser Stelle immer: »Ja, Sie haben richtig gehört!« Wenn Sie sich in diesem Moment verletzt fühlten und Ihr Bauch schrie, dann stimmt etwas nicht. – Vertrauen Sie Ihrem Gefühl.

Sarah N.: »Mit mir nicht mehr!«

Zweimal im Jahr veranstalte ich mit einer Gruppe von Ärzt*innen, Oberärzt* innen und Physiotherapeut*innen einen Seminartag. Vor zwei Jahren fand dieser Tag in einer Klinik statt, in der viele Menschen behandelt werden, die an Stoffwechselstörungen leiden. Unser Thema dieses Mal: »Sexuelle Übergriffe von Patient*innen«.

Als die Teilnehmer*innen den Raum betraten, fiel mir eine junge, sehr attraktive Ärztin auf, die eine sehr liebenswerte Ausstrahlung hatte. Dr. Sarah N. Sie berichtete gleich zu Beginn von einem Vorfall, der sich ein halbes Jahr zuvor ereignet hatte.

»Ich saß in meinem Arztzimmer und hatte gerade ein Aufnahmegespräch mit einem 62-jährigen Patienten. Er war sehr gut gekleidet, hatte angenehme Umgangsformen, sprach mehrere Sprachen und war sehr belesen. Zunächst war er von ausnehmender Höflichkeit. Plötzlich und für mich völlig unerwartet erhob er sich von seinem Platz, lehnte sich über meinen Schreibtisch und raunte in mein linkes Ohr: ›Ich kann riechen, wenn Sie menstruieren!‹

Ich war völlig erstarrt. Er nutzte meine Fassungslosigkeit und raunte in mein anderes Ohr ›Ich kann auch riechen, wenn Sie einen Orgasmus haben!‹ Danach ließ er sich wieder in seinen Stuhl fallen und grinste.

Ich war handlungsunfähig, fühlte mich ohnmächtig, beschmutzt, hilflos und angeekelt. Mit zitternden Knien stand ich auf und verließ das Zimmer. Ich habe lange gezweifelt, ob ich überhaupt noch in der Lage bin, Aufnahmegespräche zu führen. Müsste ich als Ärztin nicht viel souveräner damit umgehen?«

Die Handlungsstrategie

An diesem Tag erarbeiteten wir einen Handlungsleitfaden für solche plötzlichen subtilen, verbalen Übergriffe, über der als Erstes der Satz stand: »Wenn ich eine sexuelle Belästigung erlebe, muss ich unbedingt eindeutig darauf reagieren!«

Ich stehe ganz bewusst auf, um nicht mehr mit dem Beleidiger auf Augenhöhe zu sein.

Ich hebe die Hand und zeige zur Tür: »Verlassen Sie sofort diesen Raum!«

Ich mache mir klar: Mein Gefühl ist richtig und gilt! Meine Empörung ist berechtigt! Das Gesetz schützt mich vor solchen Angriffen!

Ich wende mich umgehend an meine Vorgesetzten/ ärztlich*en Direktor*in.

Ich schalte den Betriebsrat ein.

Im Anschluss spielt Dr. Sarah N. die Situation in einem Rollenspiel noch einmal nach. Im Vorfeld übten wir Körpersprache, Körperspannung, Mimik, Gestik, Merksätze usw., um ihr Standing zu trainieren.

Dr. Sarah N. meisterte das anschließende Rollenspiel, obwohl es ihr zunächst sehr schwer fiel, und bekam viel Applaus und Zuspruch von den anderen Seminarteilnehmer*innen. Als ich sie ein halbes Jahr später wiedersehe, erlebe ich eine Ärztin, die offen und fröhlich auf mich zukommt, mir direkt in die Augen schaut, sehr viel Körperspannung hat und mir kräftig die Hand schüttelt.

Sie können die oben vorgestellte Übung auch mit Kolleg*innen/Freund*innen durchführen und diese bitten, Ihnen eine Rückmeldung zu geben. Wie erleben sie Sie ohne Körperspannung und wie mit Körperspannung? Bei dieser Übung werden Sie spüren, wie hilfreich Körperspannung in kritischen Situationen ist, da es Ihrem Gegenüber etwas signalisiert: Stärke, Kraft und Selbstbewusstsein!

1.5Zahlen und Fakten

Sexuelle Übergriffe, Berührungen oder verbale Attacken von Seiten der Patient* innen/Bewohner*innen sind sehr häufig. Zwei Drittel aller Pflegekräfte werden mindestens einmal pro Jahr im Rahmen von intimer Pflege belästigt. Insbesondere werden junge Pflegerinnen häufiger zum Opfer als ihre männlichen Kollegen.

71,2 Prozent der weiblichen Pflegenden sind bereits einmal Opfer eines Übergriffs geworden,

46,9 Prozent ihrer männlichen Kollegen ging es ebenso.

Die Gesundheitspsychologin Claudia Depauli befragte 2.980 Pflegekräfte: 67 Prozent berichteten von sexueller Belästigung im Job.3 Besonders betroffen waren junge Frauen. Das bedeutet, besonders junge Pflegekräfte werden immer wieder sexuell belästigt, wobei die Übergriffe auf männliche Pfleger zunehmen.

BuzzFeed (ein 2006 gegründetes US-amerikanisches Medienunternehmen aus New York mit 150 Millionen Besuchern im Monat) hat 2020 neben Pflegenden auch mit Berufsgenossenschaften, Arbeitnehmervertretern und Arbeiterverbänden in der Pflege gesprochen. Heraus kam unter anderem, dass das Thema »sexualisierte Gewalt gegen Pflegekräfte« für viele Arbeitgeber kein Thema ist. Die Berufsgenossenschaften kritisieren, dass die Thematik häufig bagatellisiert werde. Pflegekräfte sind an ihrem Arbeitsplatz häufig sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Das zeigt eine umfangreiche Recherche von BuzzFeed News, für die 150 Pflegekräfte in ganz Deutschland befragt wurden: »Sind oder waren Sie persönlich von sexuellen Übergriffen oder sexueller Belästigung in Ihrem Arbeitsalltag betroffen?«

Mit Ja antworteten 82,4 Prozent,

Mit Nein antworteten 11,1 Prozent,

6,5 Prozent waren sich unsicher.4

Die Täter waren meist Pflegebedürftige, mitunter aber auch Angehörige. Auch wenn die Fälle gemeldet wurden, taten Arbeitgeber oft wenig, um ihre Angestellten vor Belästigung und sexuellen Übergriffen zu schützen. In Gesprächen mit BuzzFeed News berichteten mehrere Pflegekräfte, die Pflegedienste kämen ihrer Fürsorgepflicht nicht nach und setzten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wissentlich über einen längeren Zeitraum sexualisierter Gewalt und Belästigung aus. Die Pflegenden sagten u. a. Folgendes:

Am häufigsten waren sexistische und sexuelle anzügliche Bemerkungen. Doch es blieb nicht bei Worten. Zu den nonverbalen Erfahrungen zählt z. B. das Onanieren von Patienten und Bewohnern vor Pflegekräften oder Zudringlichkeiten während der Intimpflege.

Von 153 Pflegekräften aus der aus der stationären und ambulanten Altenund Intensivpflege gaben 136 Pflegekräfte an, verbale Belästigung und/oder körperliche Übergriffe erlebt zu haben. Das sind fast 90 Prozent aller Befragten. Es handelte sich um wiederholte anzügliche Bemerkungen, Griffe in den Schritt, an den Hintern oder an die Brust und sogar versuchte Vergewaltigung. Auf die Frage, wann die Vorfälle stattfanden, schrieben rund 40 Prozent der Betroffenen »ständig«, »regelmäßig«, »tagtäglich«.

Buzzfeed zog folgendes Fazit: »Sexuelle Gewalt und Belästigung ist im Berufsalltag von Pflegekräften weit verbreitet. Viele der uns geschilderten Übergriffe sind strafrechtlich relevant oder hätten zur Kündigung des Pflegevertrags führen können. Betroffene geben vielfach an, von Kollegen oder Vorgesetzten nicht ernst genommen worden zu sein. Dadurch seien Konsequenzen für übergriffige Patienten häufig ausgeblieben. Betroffene sind überwiegend Frauen, allerdings geben auch zehn Prozent der von uns befragten männlichen Pflegekräfte an, am Arbeitsplatz sexuell belästigt worden zu sein. Auch wissenschaftlich ist das Thema kaum erforscht. Pflegeforscher, gehen von einer Riesen-Dunkelziffer aus.«5

BuzzFeed fragte beim Fachverband Altenhilfe des Caritasverbandes, der Johanniterhilfe GmbH, der Diakonie, dem Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) und dem Deutschen Pflegeverband nach, wie häufig denn sexualisierte Übergriffe und auch Belästigungen gegen Mitarbeiter erfasst würden. Allerdings gab es keine genauen Erhebungen von Zahlen von Seiten der Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände. Auch wissenschaftlich sei das Thema kaum erforscht, sagt Frank Weidner vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung. Die meisten Studien beschäftigten sich allgemeiner mit Gewalt in der Pflege. Die letzte Studie, in der konkret nach unterschiedlichen Arten sexualisierter Gewalt gegen Pflegekräfte gefragt wurde, stammt aus dem Jahr 2009 und wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Hierbei gaben 17 Prozent der Befragten an, sexualisierte Belästigung erlebt zu haben. Allerdings wurde dort nur nach Vorfällen in den letzten 12 Monaten gefragt.

Sexuelle Belästigung und Gewalt finden überwiegend in Situationen statt, in denen die Pflegekräfte den Pflegebedürftigen zwangsläufig sehr nahe kommen, etwa beim Waschen und Ankleiden oder wenn sie mit dem Bewohner im Zimmer allein sind. Beate Schywalski von der Arbeitsgemeinschaft »Sexualisierte Gewalt« der Caritas Landesverbände Rheinland Pfalz und Saarland sagt: »Die Hemmschwelle ist zum Beispiel bei der Intimpflege immer niedriger!« Die Arbeitsgruppe hat sich vor rund zweieinhalb Jahren gegründet, um Mitarbeiter für Gewalt gegen Schutzbefohlene zu sensibilisieren. Einrichtungsleiter der Caritas-Sozialstationen berichteten aber v. a. von Übergriffen auf Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Wie groß das Problem ist, weiß keiner genau, denn es existieren keine verlässlichen Statistiken. Sexualisierte Gewalt erlebt jedoch jede Pflegekraft mindestens einmal in ihrem Berufsleben, berichtet Beate Schywalski.

Eine Studie der Gesundheitspsychologin Claudia Depauli ergab vor wenigen Jahren, dass 67 Prozent der Pflegekräfte bereits Opfer sexueller Belästigung geworden sind. Eine Umfrage des Gesundheitsportals »Medscape« ergab, dass ein Drittel des Pflegepersonals von sexuellen Übergriffen durch Patient*innen betroffen war – allein im Laufe der vergangenen drei Jahre. Auch eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zeigte, dass Mitarbeiter*innen im Gesundheits- und Sozialwesen besonders stark von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen sind. In einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege berichteten mehr als 90 Prozent der rund 1600 befragten Beschäftigten über verbale und 70 Prozent über körperliche Gewalterlebnisse.

1.6Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

Wenn die die sexuelle Belästigung als Diskriminierung am Arbeitsplatz erlebt wurde, ist sie strafrechtlich verfolgbar. Dies wird innerhalb des Beschäftigungsgesetzes BSchG (dem Gesetz zum »Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz«), geregelt.

Definition Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

»Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist jedes vorsätzliche, sexuell bestimmte Verhalten, das die Würde von Beschäftigten am Arbeitsplatz verletzt. Hierzu gehören:

1. Sexuelle Handlungen und Verhaltensweisen, die nach den strafgesetzlichen Vorschriften unter Strafe gestellt sind.

2. Sonstige sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen, die von den Betroffenen erkennbar abgelehnt werden.«*

* § 2 BSchG, Abs. 2

Unter sexueller Belästigung werden folgende Handlungen verstanden:

Handlungen oder Bemerkungen, welche die Sexualität einer Person betonen,

jede sexuelle Äußerung, die eine einschüchternde, beleidigende, unangenehme und/oder bedrohliche Arbeitsatmosphäre schafft,

jedes bewusste oder unbewusste Verhalten eines Vorgesetzen, das eine sexuelle Handlung oder Annäherung eines Untergebenen erzwingt; dies kann z. B. unter Androhung eines Arbeitsplatzverlustes oder der Aussicht auf eine höhere berufliche Position geschehen,

jede wiederholte (und von den Betroffenen ungewollte) verbale oder physische Annäherung.

1.6.1Alina S.: »Ich war sprachlos«

Nichts muss so bleiben, wie es war! Das Beispiel von Alina zeigt, wie schnell Sie aus der Opferrolle herauskommen, wenn Sie sich trauen und einige Techniken beherrschen:

Alina S. ist 20 Jahre alt, als ich sie kennenlerne. Eine fröhliche junge Frau, die sich im Unterricht immer sehr viel beteiligt. Sie hat allerdings ein Problem, das sie schon seit Längerem beschäftigt und das sie nach einer Unterrichtseinheit im Gespräch mit mir schildert – sie hat eine äußerst weibliche Figur und einen starken Busen. »Seit ich im praktischen Einsatz bin, höre ich immer wieder blöde Kommentare wie: ›Na, Zuckerschnecke, soll ich Dich mal ein wenig massieren?‹ oder ›Na, welche Granate wird uns denn heute ins Zimmer geschickt?‹ Es ist echt abartig und das sind noch die harmlosen Sprüche. Inzwischen bin ich völlig fertig und weiß überhaupt nicht, was ich darauf sagen soll.«

Die Handlungsstrategie

Gemeinsam entwerfen wir eine Strategie, die ich Ihnen auch gern ans Herz legen möchte.

Gemeinsam mit mir übt Alina die Äußerungen einige Male in einem kleinen Rollenspiel. Von Mal zu Mal wird Alina sicherer. Vier Wochen später treffen wir uns erneut in der Schule und Alina kann es kaum abwarten, mir zu erzählen, wie es ihr in der Zwischenzeit bei ihrem Kurzeinsatz auf der Neurologie ergangen ist: »Neulich saßen alle in der Stationsküche zur Übergabe. Ich stand mit dem Rücken an die Spüle gelehnt. In diesem Moment kam der neue Oberarzt in die Küche und sagte grinsend zu mir: »Na, Sie haben ja gewaltig Holz vor der Hütten!« Alle haben gelacht! Aber dieses Mal habe ich mich nicht geschämt, sondern bin auf den Arzt zugegangen, habe Körperspannung aufgebaut, die Hand abwehrend hoch gehalten und gesagt: »Ich verbitte mir diese Äußerung!« Ich war sehr aufgeregt, als ich das sagte. Aber der Oberarzt bekam einen roten Kopf und verließ geradezu fluchtartig den Raum. Alle anderen starrten mich sprachlos an. Mein Puls hämmerte, aber ich war in dem Moment so stolz auf mich, weil ich es wirklich ausgesprochen hatte! Das Schönste war, dass im Anschluss die Stationsschwester auf mich zukam und sagte, dass solche Bemerkungen schon oft gefallen sind, ohne dass auch nur einmal irgendjemand darüber nachgedacht hätte, wie es den Betroffenen wohl damit gehen würde. Sie wollte das Thema »verbale und sexuelle Verletzungen« in der nächsten Teamsitzung aufgreifen und auch noch einmal mit dem Oberarzt sprechen. Das fand ich super!«

Alina hat verstanden, dass kein Mensch das Recht hat, die Gefühle eines anderen Menschen zu verletzten, weder im privaten noch im beruflichen Kontext. Alina hat in kürzester Zeit gelernt, sich zu wehren und aus der Opferrolle hinauszutreten.

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2 »Stopp! Ich möchte das nicht!« Sexuelle Übergriffe und Belästigungen. https://www.bibliomed-pflege.de/sp/artikel/24000-stopp-ich-moechte-das-nicht

3 Depauli C (2016): Stopp! Ich möchte das nicht! https://www.bibliomed-pflege.de/sp/artikel/24000-stopp-ich-moechte-das-nicht

4 Müller P (2018): 136 Pflegekräfte berichten gegenüber Buzzfeed News, sexuell belästigt worden zu sein. https://www.buzzfeed.com/pascalemueller/136-pflegekraefte-berichten-sexuelle-belaestigung

5 Ebd.

Definition Notwehr § 32 StGB

Unter Notwehr versteht man die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder von anderen Personen abzuwenden.

Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, der handelt nicht rechtswidrig. Das bedeutet: Die Notwehr setzt einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff voraus (Notwehrlage), die dagegen geübte Verteidigung (Notwehrhandlung) muss erforderlich gewesen und von einem Verteidigungswillen getragen sein.6

Definition Angriff

Unter einen Angriff ist jede von einem Menschen drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen (wie körperliche Unversehrtheit) zu verstehen.

Wenn der Angriff gerade stattfindet oder unmittelbar bevorsteht oder noch andauert, spricht man von einem gegenwärtigen Angriff. Eine Verteidigungshandlung ist dann erforderlich, sofern sie das mildeste geeignete Mittel darstellt, das den Angriff auf die Sicherheit sofort beendet, z. B. den Finger heben oder eine Abwehrhaltung einnehmen. Eine Notwehrhandlung ist dann geboten, wenn sie nicht rechtsmissbräuchlich ausgeübt wird (d. h. nicht zur Maßregelung oder durch eine provozierte Notwehrlage). Handelt es sich bei dem Angreifer um einen Menschen mit Geisteskrankheiten, kann es geboten sein, die Abwehr einzuschränken.

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6 Vgl. Schirmer P et al. (2012): Prävention von Aggression und Gewalt in der Pflege. Schlütersche, Hannover

Viele Frauen in Pflegeberufen sind jeden Tag sexuellen Übergriffen von Patienten ausgesetzt. Entweder erleben sie anzügliche Witze sind oder »zufällige« Berührungen. Viele Betroffene schweigen, zum einen, weil sie Angst haben, dass sie nicht ernst genommen werden, aber auch, weil es ein Tabuthema ist. Doch dann ändert sich nichts. Es ist also unglaublich wichtig, offen mit dem Thema umzugehen. Das ist nicht so leicht, wie es klingt. Was wir benötigen ist eine professionelle Haltung in schwierigen und grenzüberschreitenden Situationen. Das wiederum bedeutet eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität, unseren Normen, Werten, Einstellungen und unserer Sozialisation. »Wie sind wir erzogen worden?« – »Wie wurde mit Sexualität in der eigenen Familie umgegangen?« Wir müssen unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen kennen.

Grenzüberschreitungen klar erkennen und rechtzeitige Handlungsschritte einzuleiten heißt aber auch, sich mit seinem Gegenüber zu beschäftigen, die Einstellung zur Sexualität von Bewohner*innen und Patient*innen zu kennen: »Wie begegnet mir der andere, inwieweit darf ich offen und verständnisvoll sein für Äußerungen meines Gegenübers?« – »Wann ist meine Toleranzgrenze überschritten?«

Das bedeutet: Eine klare Rollendefinition und eine klare und professionelle Haltung sind wichtig. Dazu gehören der angemessene Umgang mit Nähe und Distanz, die förmliche Anrede und die Berufskleidung, die dem Auszubildenden Schutz und Sicherheit geben. Andererseits benötigen wir aber auch Leitungskräfte, die sich klar vor die Auszubildenden stellen und sich positionieren. »Die Pflegenden und auch die Gepflegten sind sich darüber hinaus im Grunde einig, dass gleichgeschlechtliches Versorgen der Patient*innen vorzuziehen ist, wo immer sich diese Möglichkeit ergibt. Nicht nur für die pflegebedürftigen Menschen selbst bringt dies eine Entlastung, sondern auch für die Fachkräfte. Das jeweils eigene Geschlecht ist vertrauter und verursacht weniger Verunsicherung und Scham – selbst homosexuelle Pflegende empfinden dies so.«7

3.1Luise R.: »Ich habe immer noch eine tierische Wut!«

Luise R. ist seit einem Jahr Auszubildende in der Pflege. Sie arbeitet in einem Krankenhaus und alle Seminarteilnehmer*innen merken, dass sie immer noch fassungslos und wütend ist, als sie von ihrem Erlebnis berichtet: »Ich war auf einer urologischen Station eingesetzt und sollte einem 68-jährigen Patienten helfen. Zunächst war alles wie immer. Ich half Herrn M., den Pyjama auszuziehen, um ihn bei der Körperpflege zu unterstützen. Bevor ich noch registrierte, was geschah, streichelte Herr M. meine Arme und meinen Po. ›Das machst Du aber ganz hervorragend, Luise‹, sagte er zu mir. Ich konnte mich nicht bewegen, weil ich mich so vor ihm ekelte, seinen Händen, seiner Stimme. Der Patient im Nachbarbett bekam die ganze Situation mit, sagte aber kein Wort und verschanzte sich hinter seiner Zeitung. Ich brauchte ein paar Sekunden, stieß Herrn M. von mir und rannte aus dem Zimmer. Obwohl dieser sexuelle Übergriff nun schon vier Monate zurückliegt, beschäftigt er mich immer noch. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sexuelle Übergriffe zum Alltag einer Gesundheitspflegerin gehören. Wenn ich mich mit meinen Kurskollegen unterhalte, berichten sie Ähnliches und Schlimmeres. Das Furchtbare ist, es brennt sich als Erinnerung ein und manchmal habe ich eine tierische Wut!«

3.1.1Die Handlungsstrategien

Wir entwickelten gemeinsam mit Luise die folgenden Handlungsstrategien:

Das Gefühl würdigen: »Ich darf sauer sein und den Raum verlassen!«

»Ich darf meine Wut äußern und verbal meine Verletzung mitteilen!«

»Wenn mein Verhalten falsch gedeutet wird, ist das nicht mein Fehler!«

»Ich darf es ablehnen und muss diesen Patienten nicht mehr versorgen!«

»Ich habe das Recht, so einen Vorfall zu melden und gehört zu werden!

»Ich informiere die Stationsschwester und auch die Schule über diesen Vorfall!«

»Ich fordere die Leitung auf, mit dem Patienten zu sprechen.«

»Mein neues Mantra lautet: ›Kein Mensch hat das Recht, meine persönliche Grenze zu überschreiten!‹«

3.2Schluss mit der defensiven Gegenwehr

Menschen, die eine sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erfahren, neigen meist zu einer »defensiven Gegenwehr«: Sie versuchen, die sexuell übergriffige Person zu meiden oder gar die Situation zu ignorieren; oft folgt auch ein »scherzhaftes« Reagieren auf das als bedrohlich empfundene Verhalten des Gegenübers. Diese Verhaltensweise führt jedoch nicht zu einem befriedigenden Umgang mit sexuellen Übergriffen bzw. zu einer erfolgreichen Problemlösung. Daher empfehle ich Ihnen: Fühlen Sie sich sexuell belästigt, sollten Sie aktiv und offensiv reagieren:

Stellen Sie die belästigende Person laut und deutlich zur Rede und verbitten Sie sich weitere sexuelle Annäherungen.

Drohen Sie bei einem erneuten Übergriff mit einer Beschwerde bei den Vorgesetzten und setzen Sie Ihre Drohung im Wiederholungsfalle auch durch.

Kündigen Sie an, den Übergriff öffentlich zu machen und den Betreffenden anzuzeigen.

Setzen Sie sich bei aktiven Übergriffen auch »körperlich« zur Wehr.

Wenn Sie einen körperlichen Angriff erleben, wenn Ihr Gegenüber Sie am Arm anfasst und Sie diese Berührung nicht akzeptieren, drehen Sie sich zur Seite, oder heben Sie die Hand und sagen: »Stopp, hier ist meine persönliche Grenze.«

3.3Sexuelle Belästigung durch ältere Menschen

In meinen Seminaren erzählten mir Pflegende aus Seniorenheimen, was sie als sexuelle Belästigung erleben:

Pflegebedürftige machen verbal anzügliche Bemerkungen wie: »Na Süße, auf dich hab ich schon gewartet.«

Pflegebedürftige ziehen sich vor anderen aus, Verlust des Schamgefühls.

Die Hand der Pflegekraft wird unvermittelt genommen und zum Genital geführt, um sich zu stimulieren.

Pflegebedürftige stimulieren sich während der Intimpflege plötzlich selbst.

Pflegebedürftige greifen weiblichen Pflegekräften an die Brust.

Pflegebedürftige berühren Pflegekräfte unsittlich zwischen den Beinen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842691155
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Oktober)
Schlagworte
Altenpflege Arbeitsmedizin Berufe im Gesundheitswesen Depression Medizintechnik Pflegemanagement & -planung Ratgeber Stress

Autor

  • Gabriela Koslowski (Autor:in)

Gabriela Koslowski studierte praktische Psychologie und psychologische Beratung. Sie arbeitet als selbstständige psychologische Beraterin und zertifizierte Mediatorin in ihrem eigenen Unternehmen "Lebensspur.org".
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Titel: Sexuelle Übergriffe und Gewalt im Pflegealltag