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FEM - Freiheitseinschränkende Maßnahmen

Gesetzliche Grundlagen - Praxisbeispiele - Alternativen

von Jutta König (Autor:in) Marion Schibrowski (Autor:in)
164 Seiten

Zusammenfassung

Kompakter Ratgeber in Sachen FEM
Tipps für die tägliche Praxis
Alternativen für ein Plus an Lebensqualität

FEM – das lässt sich mit „freiheitseinschränkenden Maßnahmen“ genauso gut übersetzen wie mit „Freiheit eines Menschen“. Denn es gibt Alternativen zu Maßnahmen wie Bettgittern, Sitzgurten oder augenfälligen Protektoren, um vor allem Menschen mit Demenz zu schützen.
Dieses Buch liefert Beispiele und vor allem viele Alternativen, die in der Praxis zu mehr Lebensqualität führen, ohne den Sicherheitsaspekt zu vernachlässigen:
Biografiearbeit, Redufix, Werdenfelser Weg, Leitlinie FEM.
Die Autorinnen tragen kurz und kompakt das grundlegende Wissen zusammen. Sie informieren über die aktuelle Rechtsprechung, über Sinn und Unsinn von Fixierungen. Und sie beweisen: Rund ein Drittel aller Maßnahmen kann entfallen, wenn Pflegende ihre Haltung ändern. Die Lektüre dieses Buches ist ein guter Anfang auf diesem Weg.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Das Thema »freiheitseinschränkende Maßnahmen« hat in Deutschland eine lange Tradition. In den 1980er-Jahren wurden viele Menschen mit Bettgittern und teils auch Bauchgurten fixiert. Kaum jemanden kümmerte es. Niemand fragte nach, die rechtlichen Rahmenbedingungen waren lax. Pflegekräfte konnten frei entscheiden, wann, wie und wie lange sie einen hilfsbedürftigen Menschen fixierten.

1992 kam das Betreuungsgesetz, das zum einen die Vormundschaft für Erwachsene abschaffte und durch das Betreuungsgesetz ersetzte und sich zum anderen dem Thema »Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen« widmete. Dass ein Gesetz in Kraft tritt, bedeutet aber nicht gleichzeitig, dass es auch sofort umgesetzt wird. Auch heute, 30 Jahre nach der einschneidenden Gesetzesänderung, werden einige Menschen von ihren Betreuern wie unter Vormundschaft behandelt. Der Betreuer bestimmt über Geld, Behandlung, Beschäftigung und über freiheitseinschränkende Maßnahmen.

Ähnlich wie mit den Rechten und Pflichten des Betreuers verhält es sich mit den freiheitseinschränkenden Maßnahmen. Noch heute ist vielen nicht klar, dass ein Strampelanzug in die Persönlichkeitsrechte eingreift, ebenso wie Ortungsgeräte und Überwachungsgeräte unterschiedlicher Art. Viele Pflegekräfte sind unsicher, ob die mündliche Aussage eines Klienten zum Bettgitter genügt und glauben, man dürfe ein Bettgitter ohne Genehmigung 24 Stunden hochgezogen sein lassen.

Mit diesem Buch möchten wir Ihnen zum einen sagen, was im Gesetz steht und wie einige es interpretieren. Zum anderen zeigen wir Ihnen, dass freiheitseinschränkende Maßnahmen eben nicht immer das Mittel der Wahl sind und regen Sie zum Nachdenken darüber an, wann Sie in das Grundrecht »freie Entfaltung der Persönlichkeit« eingreifen dürfen. Wir geben Tipps und möchten uns gleich als Gegner von freiheitseinschränkenden Maßnahmen outen. Wir finden, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, ob

eine Demenz vorliegt oder nicht. Wer von uns möchte sich bei irgendetwas überwachen lassen? Wir zumindest leben nach dem Motto: Lieber einmal am Tag gefallen als 30 Tage ordentlich am Stuhl festgemacht. Übrigens bevorzugen wir das Wort »freiheitseinschränkend« und nicht »freiheitsentziehend «. Beide Begriffe werden synonym verwendet.

Uelversheim, im Mai 2021 Jutta König, Uelversheim Marion Schibrowski, Fürstenzell

 

 

 

 

 

Dankeschön

Unser besonderer Dank gilt Steffen Krakhardt, Geschäftsführer und Gesellschafter der Azurit-Gruppe, der durch die Freigabe von Daten aus seinen Einrichtungen einige Grafiken und Darstellungen erst möglich machte.

Unser deutscher Rechtstaat verbrieft die Freiheit der Person im Grundgesetz an zweiter Stelle, gleich nach Artikel 1, der Würde. In jeder Einrichtung der Pflege finden sich auch Leitbilder mit den Inhalten Freiheit, Selbstbestimmung und Würde. Aber wie ernst ist das wirklich gemeint? Offensichtlich ist es wichtiger, dass jene, die in der Pflege arbeiten, zufrieden sind. Erst dann kommt der Mensch, der in Obhut und/oder Pflege gegeben wurde. So zumindest der Eindruck, wenn man Mitarbeitenden zuhört. Da heißt es: »Der Herr Müller ist schon wieder aus dem Bett gefallen, wir sollten ein Bettgitter beantragen.« Was man einem Klienten damit antut, steht nicht zur Debatte, es geht um Sicherheit. Leider nicht die des Klienten, sondern es geht um das Sicherheitsbedürfnis der Mitarbeitenden. Weit weg vom Leitbild einer Einrichtung und auch weit weg von Empathie.

1.1Gesetzestexte

Betrachtet man das deutsche Rechtssystem als Pyramide (imageAbb. 1), so steht das Grundgesetz über allem. Danach folgen weitere, bundesweit geltende Gesetze wie Sozialgesetze, Heimgesetz oder Strafgesetz. Dann kommen landesrechtliche Regelungen, schließlich hat nahezu jedes Bundesland (bis dato 15 Länder) neben dem bundesweit geltenden Heimgesetz eigene heimrechtliche Vorschriften. Darunter befinden sich Einzelverträge mit Kunden und Leitbilder. Es gibt in Deutschland fast so viele Leitbilder wie Einrichtungen. Aber alle dürften eines gemein haben: eine Aussage zur Würde und

Selbstbestimmung ihrer Pflegebedürftigen, Kunden und Klienten. Die folgenden beiden Artikel sind die Basis unserer Gemeinschaft, unseres Miteinanders und unserer Demokratie:

Artikel 1 Grundgesetz (GG)

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Artikel 2 Grundgesetz (GG)

(1) Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich …

Dennoch gibt es Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen, die Menschen fixieren und sich keine Gedanken über das hohe Rechtsgut der Freiheit machen. Es gibt auch heute noch Mitarbeiter, die annehmen, dass das Grundrecht auf Freiheit bei Menschen mit Demenz eingeschränkt ist. In Vorträgen und Seminaren erlebe ich immer wieder Teilnehmer, die vehement für die freie Entfaltung der Persönlichkeit eintreten. Sie fordern, dass Bewohner in Pflegeheimen essen und trinken können, wann und was sie möchten; dass Bewohner aufstehen und zu Bett gehen können, wann sie möchten; dass sie anziehen können, was sie wollen; dass sie sich waschen oder nicht. Aber dies gilt stets nur für Menschen, die keine kognitiven Einschränkungen haben. Wenn ich frage, wie lange ein demenziell erkrankter Mensch ungewaschen bleiben darf, wie oft er nachts aufstehen und umhergehen darf, wie oft er sich das Inkontinenzmaterial ausziehen und neben das Bett werfen darf, wie oft er allein aufstehen und hinfallen darf – dann heißt es: »Das ist ja etwas ganz anderes.« Liebe Leser, das ist nichts anderes!

Aber Ergebnisse von Untersuchungen1 zeigten, dass die Fixierungsrate bei Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz höher ist. Ebenso stieg die Anwendung freiheitseinschränkender Maßnahmen mit der Pflegebedürftigkeit. 40 % der fixierten Bewohner hatten die Pflegestufe III. Nach Einführung der Pflegegrade haben wir keine erneute Erfassung gefunden.

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Info

Jeder Mensch in Deutschland hat die gleichen Rechte. Eine demenzielle Erkrankung ändert daran nichts.

§ 34 Strafgesetzbuch2 (StGB) rechtfertigender Notstand

Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.

§ 34 StGB zeigt, dass wir im Notfall durchaus straffrei Maßnahmen ergreifen können. Allerdings muss es sich um eine gegenwärtige, also akute Gefahrensituation handeln, eine simple Wahrscheinlichkeit reicht nicht. Es ist also nicht unerlaubt, das Bettgitter hochzuziehen, weil Sie den Menschen noch nicht kennen und fürchten, er könne herausfallen. § 34 StGB zeigt weiter, dass die eingeleitete Maßnahme ein angemessenes Mittel sein muss. Bevor Sie also jemanden ortsfixieren, müssen Sie andere Varianten nachweislich diskutiert oder probiert haben. Die Alternativen sollten Sie genau dokumentieren, um sie im Streitfall nachweisen zu können. § 34 StGB kennt keine zeitliche Befristung. Es ist also nicht klar, wie lange Sie diese Notfallmaßnahme ergreifen dürfen und wann diese zu beenden ist. Auch in § 1906 Abs. 4 BGB steht lediglich »über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig«.

Es ranken sich einige Märchen um die Zeitdauer einer freiheitseinschränkenden Maßnahme im rechtfertigenden Notstand. Die einen sprechen von 12, andere von 24 und wiederum andere von 48 Stunden. Auch über wikipedia3 werden Aussagen verbreitet und Meinungen verfestigt. Dort steht: »Derjenige, der das Bettgitter hochzieht und somit eine Freiheitsberaubung begeht, muss sich selbst überzeugen, ob eine ausreichende rechtliche Grundlage vorhanden ist – also eine kurzfristige (24 h) Arztanordnung oder eine betreuungsrechtliche richterliche Genehmigung.«4 Diese Aussage ist grundsätzlich falsch.

Wer eine freiheitseinschränkende Maßnahme akut ergreift, muss dies im Notfall rechtfertigen können und darf die Maßnahme nur so lange durchführen, wie sie erforderlich ist. Zudem heißt es im § 1906 Abs. 2 BGB: »Die Unterbringung ist nur mit Genehmigung des Betreuungsgerichts zulässig. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen «.

Was bedeutet »unverzüglich«? 12, 24 oder 48 Stunden? Das Bürgerliche Gesetzbuch definiert an anderer Stelle im §121 »unverzüglich« auch »ohne schuldhafte Verzögerung«. Und so verstehen wir »unverzüglich« als »sofort « und das wiederum bedeutet: Sie schicken unmittelbar nach der Ergreifung der Maßnahme ein Fax oder eine E-Mail an das zuständige Betreuungsgericht (früher Vormundschaftsgericht). Das Gericht ist immer besetzt für Notfälle, und mit der Meldung haben Sie Ihrer Pflicht Genüge getan. Wie lange sich dann der Richter Zeit mit der Genehmigung lässt, ist allein seine Sache.

Vielleicht ist es in Deutschland an der Zeit, ein Exempel zu statuieren. Die folgenden Paragrafen sollten konsequent angewendet werden, um die Wichtigkeit der Rechtsgüter Würde, Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit wieder ins Bewusstsein zu rücken:

§ 239 Freiheitsberaubung (StGB)

Wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Der Versuch ist strafbar

Würden alle Mitarbeitenden der für die Heimaufsicht zuständigen Behörden in Deutschland ihre Vorschriften (z. B. alter § 3 HeimG) kennen und anwenden, gäbe es keine Heime in Deutschland, bei denen 30 % der Bewohner eine Fixierung erdulden müssen: »Heime sind verpflichtet, ihre Leistungen nach dem jeweils allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen.« Wären die Mitarbeiter der Pflege auf dem aktuellen Stand der fachlichen Erkenntnisse, hätten sie mehr Handlungssicherheit und damit mehr Kompetenz eine Fixierung zu unterlassen.

§ 11 Rechte und Pflichten der Pflegeeinrichtungen (SGB XI)

Die Pflegeeinrichtungen pflegen, versorgen und betreuen die Pflegebedürftigen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, entsprechend dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse. Inhalt und Organisation der Leistungen haben eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten.

Die Pflegekasse fordert zu Recht eine aktivierende und humane Pflege. Über die Vergütung dieser Maßnahme wird dann aber in anderen Paragrafen gesprochen. Die Pflegekasse hat ihren Sitz bei der Krankenkasse. Die Krankenkasse wiederum versucht Einrichtungen in Regress zu nehmen, wenn diese ihre Pflichten verletzen. Als Pflichtverletzung (Sorgfalt-/Aufsichtspflicht etc.) sehen es viele Kassen, wenn ein Pflegebedürftiger stürzt und sich Verletzungen zuzieht. Letzteres ist für viele Einrichtung der vorgeschobene Grund, warum Fixierungen vermehrt angewendet werden. Man möchte keinen Ärger mit den Kassen.

1.2Rechtsentscheidungen

Sie und wir haben bereits mehrfach erlebt, dass unterschiedliche Richter auch sehr unterschiedliche Entscheidungen treffen. Das ist teilweise nachvollziehbar, denn jeder Fall sollte ein Einzelfall sein. Dass Richter unterschiedlich entscheiden, ist auch menschlich. Denn der eine Richter hat ähnlich gelagerte Fälle von freiheitseinschränkenden Maßnahmen vielleicht schon Dutzende Male entschieden und ein anderer Richter ist diesbezüglich ohne viel Erfahrung. Ein weiterer Richter hat selbst eine demenziell veränderte Person in seinem Umfeld und großes Verständnis für deren Freiheitsdrang. Ein anderer Richter kennt an Demenz Erkrankte nur aus der Akte.

Interessant allerdings ist, dass die Richter mitunter falsch urteilen. So stellte die »Nationale Stelle zur Verhütung von Folter« (auch »Antifolterkommission « genannt) in ihrem Jahresbericht 2018 auf Seite 34 Folgendes fest: »im Rahmen ihrer Besuche nahm die Nationale Stelle stets auch Einsicht in die vorliegenden richterlichen Entscheidungen bezüglich freiheitsentziehender Maßnahmen. Hierbei wurden deutliche Unterschiede in der rechtlichen Bewertung einzelner freiheitsentziehender Maßnahmen festgestellt. Zudem waren Begründungen zu Entscheidungen nicht immer nachvollziehbar, in Einzelfällen bestanden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit richterlicher Entscheidungen.«5

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Info

Auch wenn Richter unterschiedlich entscheiden, teilweise auch Fehler machen, so sind Entscheidungen vom Bundesgerichtshof immer richtungsweisend für alle.

Unser höchstes Gericht, der Bundesgerichtshof, fällte 2005 zwei wesentliche Grundsatzentscheidungen. Beide Entscheidungen sehen den Sturz eines Menschen als allgemeines Lebensrisiko an und in beiden Fällen erkannten die Richter, dass eine Vermeidung von Stürzen mittels freiheitseinschränkender Maßnahmen nicht höher bewertet werden darf als die Selbstständigkeit der Bewohner. Zwei Urteile, die beruhigen sollten. Sie sind vom obersten Gericht gefällt, beide Male gleichlautend und haben bis heute Gültigkeit.

Entscheidung vom 28.04.2005

Im vorliegenden Fall handelte es sich um eine Bewohnerin einer Pflegeeinrichtung mit Stufe III, einer demenziellen Erkrankung und entsprechenden Verwirrtheitszuständen. Diese Frau war binnen drei Jahren dreimal gestürzt und hatte sich jedes Mal verletzt. Zwei Stürze lagen vor dem Heimaufenthalt und einer im ersten Jahr des Heimaufenthalts. Dann stürzte die Dame während der Mittagsruhe ein viertes Mal und zog sich eine Oberschenkelhalsfraktur zu. Die Krankenkasse der Dame forderte Regress und ging über mehrere Instanzen. Die Bundesrichter entschieden, dass alle Vorwürfe zurückzuweisen seien.

Vorwurf 1: Ein Sturz ist eine Pflichtverletzung. Das sei zurückzuweisen, da auch Menschen im Heim stürzen können, ohne dass es sich grundsätzlich um eine Pflichtverletzung handelt.

Vorwurf 2: Verletzung der Aufsichtspflicht. Dieser Vorwurf wurde entkräftet, weil die Dame gegen 13:00 Uhr zur Mittagsruhe gelegt wurde, die Klingel sei in Reichweite gewesen. Mehr hätte man nicht tun können.

Vorwurf 3: Das Bettgitter hätte hochgezogen werden müssen. Dies wurde zurückgewiesen mit der Begründung, dass die Sicherungsmaßnahme »Bettgitter« eine genehmigungsbedürftige Maßnahme sei und das Heim keine aktuellen Hinweise darauf gehabt habe, dass diese Maßnahme jetzt zu beantragen sei.

Entscheidung vom 17.07.2005

Auch in diesem Fall handelte es sich um eine Heimbewohnerin. Die Dame war innerhalb eines Monats jeweils in der Nacht gestürzt, jeweils ohne Folgen.

Die Bundesrichter betonten sehr wohl die Obhutspflichten des Heimes zum Schutz vor körperlicher Unversehrtheit. Auch wiesen die Richter darauf hin, dass die Einrichtung verpflichtet ist, die Leistung nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse zu erbringen. Aber auch hier urteilten die Richter wie wenige Monate zuvor und wiesen die Klage der Kassen zurück:

Die Tatsache dass ein Heimbewohner stürzt, erlaube nicht automatisch den Rückschluss auf eine schuldhafte Pflichtverletzung.

Der Pflegebedürftige sei auch im Heim weiterhin selbstbestimmt.

1.2.1Keine Haftung nach Sturz aus dem Bett

Das Landgericht Köln (Urteil vom 27.10.2020 – 3 O 5/19) sah es als erwiesen an, dass die durch einen Sturz aus dem Bett geschädigte demenzerkrankte Heimbewohnerin durch eine Fixierung noch schlechter dran gewesen wäre als mit Bettgitter. Die Sachverständige argumentierte, dass eine Fixierung aus mehreren Gründen kontraindiziert gewesen sei. Fixierungen bergen die erhebliche Gefahr von Strangulationsverletzungen. Zudem führen Fixierungen zu weiterem massiven Muskelabbau, was wiederum die Sturzgefahr erhöhe. Zudem sei nicht auszuschließen, dass die an Demenz erkrankte Heimbewohnerin versucht hätte über das Bettgitter zu steigen, was noch größere Risiken einer Verletzung berge. Wir finden: ein bemerkenswertes Urteil.

1.2.2Es kommt nicht auf die Dauer einer Maßnahme an

in einem BGH-Beschluss vom 7. Januar 2015 (XII ZB 395/14) wird deutlich, dass ein »regelmäßiges« Hindern (im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB) auch dann vorliegt, wenn eine Maßnahme zur Freiheitseinschränkung stets zur selben Zeit oder aus wiederkehrendem Anlass erfolgt. Es kommt offenbar nicht auf die Dauer der jeweiligen Einzelmaßnahme an. So können dem Gericht zufolge auch kurzzeitige Beschränkungen der Bewegungsfreiheit genehmigungspflichtig sein, insbesondere dann, wenn sie regelmäßig vorgenommen werden. Kann allerdings mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Betroffene seine Bewegungsfreiheit nicht ausüben kann, so ist die Maßnahme keine Beschränkung und es besteht für eine betreuungsgerichtliche Genehmigung kein Anlass.

1.2.3Entscheidungsmöglichkeiten von Angehörigen und Betreuern

Genügt eine Vollmacht, um über Fixierungen zu entscheiden? Sehen Sie sich folgenden Fall an: Eine ältere Dame bevollmächtigte ihre Tochter und ihren Sohn per notarieller Vollmacht »mich soweit gesetzlich zulässig, in allen persönlichen Angelegenheiten, auch soweit sie meine Gesundheit betreffen, sowie in allen Vermögens-, Steuer- und sonstigen Rechtsangelegenheiten in jeder denkbaren Hinsicht zu vertreten und Entscheidungen für mich und an meiner Stelle ohne Einschaltung des Vormundschaftsgerichts zu treffen und diese auszuführen bzw. zu vollziehen (General- und Vorsorgevollmacht). «

Der Sohn dachte, dass diese Vollmacht genüge, um der Jahre später im Heim gestürzten Mutter ein Bettgitter und im Sessel einen Bauchgurt angedeihen zu lassen. Natürlich nur zum Schutz der Mutter, denn sie hatte sich bereits einen Kieferbruch zugezogen. Die Richter am Landgericht Heilbronn (LG Heilbronn (Lexetius.com/2012, 2981)) urteilten anders. Sie sahen § 1906 BGB mit dieser Vollmacht nicht erfüllt und wollten eine richterliche Entscheidung über die Fixierung. Der Sohn ging in Revision und hoffte beim Bundesgerichtshof auf die uneingeschränkte Anerkennung seiner Vollmacht. Aber auch der BGH verwies in seinem Beschluss vom 27.6.2012 (XII ZB 24/12) auf den § 1906 BGB:

a) Das Anbringen von Bettgittern sowie die Fixierung im Stuhl mittels eines Beckengurts stellen freiheitseinschränkende Maßnahmen im Sinne des § 1906 Abs. 4 BGB dar, wenn der Betroffene durch sie in seiner körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Dies ist dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene zu einer willensgesteuerten Aufenthaltsveränderung in der Lage wäre, an der er durch die Maßnahmen gehindert wird.

b) Das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen wird nicht dadurch verletzt, dass die Einwilligung eines von ihm Bevollmächtigten in eine freiheitseinschränkende Maßnahme der gerichtlichen Genehmigung bedarf.

1.2.4Keine Haftung, wenn Fixierung nicht angewendet wird

Eine Bewohnerin eines Heims in Coburg hatte eine richterlich genehmigte Fixierung mittels Fixierbrett am Rollstuhl. Diese Fixierung war nicht durchgängig angebracht und so stürzte die Heimbewohnerin eines Tages aus dem Rollstuhl. Das Landgericht (AZ 222O 355/13) urteilte, dass eine Fixierungserlaubnis kein Befehl sei. Daher urteilte das Gericht, dass die Klientin auch ohne Fixierung zum Essen am Mittagstisch sitzen konnte, ohne dass eine Pflichtverletzung des Heimes vorlag. Insbesondere die Situation im Speiseraum bedeute, dass es keine längere Zeit ohne Aufsicht für die Heimbewohner gäbe.

1.2.5Sitzwache statt Fixierung

Eine sehr ungewöhnliche und unerwartete Entscheidung trafen die Richter des Sozialgerichts in Freiburg am 15. 12. 2011 (AZ S9 SO 5771/11 ER). Eine pflegebedürftige 80-jährige Frau mit schweren Psychosen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen war nachts unruhig. Sie verließ das Bett, urinierte ins Zimmer, stuhlte ein und stürzte mehrfach. Die Pflegenden sahen die Notwendigkeit, die Frau in einer Einzelbetreuung zu schützen, das bedeutete eine Sitzwache am Bett. Tatsächlich war die Frau weniger unruhig, halluzinierte weniger und zeigte weniger Verhaltensauffälligkeiten. Stürze waren so vermieden.

Diese Sitzwache kostete Geld. Da die Dame im Heim lebte und auf Sozialhilfe angewiesen war, wurde die Kostenübernahme beim Sozialamt beantragt. Dort wies man den Antrag ab, vermutlich aus Kostengründen, und verwies auf die Möglichkeit freiheitseinschränkender Maßnahmen. Das Gericht genehmigte diese Maßnahmen. Ein Betreuer war damit aber nicht einverstanden, weil die Frau unter diesen Maßnahmen litt. Er klagte gegen das Sozialamt auf Kostenübernahme einer Einzelbetreuung in der Nacht. Das Sozialgericht Freiburg entschied, eine Fixierung sei ein zu einschneidender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Frau und sie habe das Recht auf eine menschenwürdige Existenz.

Dieses Urteil ist wohl bisher einzigartig in Deutschland, hatte aber keine Klagewelle oder Kostenschwemme für die Sozialämter zur Folge. Denn klar dürfte sein, dass zunächst andere Alternativen überprüft werden müssen. Bevor also eine kostenintensive Einzelbetreuung ergriffen wird, gibt es sicher andere Varianten der Vorbeugung.

1.2.6Ein ganzer Bezirk fast ohne Fixierungsgenhmigung

Im Gerichtsbezirk Grevenbroich begann eine Richterin bereits im Jahr 2013, Fixierungen nicht mehr zu genehmigen. Sie setzte stattdessen Verfahrenspfleger ein, die vor Ort je nach Sachlage unterschiedliche Alternativen vorschlugen. Und so schaffte es ein ganzer Bezirk, dass es so gut wie keine Fixierungen mehr gab.6 Die Richterin »verdonnerte« Einrichtungen, die Anträge auf Fixierungen stellten, dazu, den Werdenfelser Weg (imageKap. 10.3.2) zu gehen. Wenn nur mehr Richter so handeln würden, statt den einfachen Weg zu gehen und vom Schreibtisch aus Freiheitseinschränkungen zu genehmigen!

Andererseits muss man auch loben: Die Zahl der freiheitseinschränkenden und sogenannten »unterbringungsähnlichen Maßnahmen« nach § 1906 BGB geht seit Jahren zurück7: 2012 gab es 85.132 genehmigte Freiheitseinschränkende Maßnahmen, aber schon 2017 insgesamt nur noch 51.097 Menschen in Deutschland, bei denen das Gericht über eine FEM positiv entschied. Auch einzelne Länder stechen positiv hervor. So meldete NRW8, dass aufgrund eines Bündnisses gegen Fixierungen die genehmigten FEM innerhalb nur drei Jahren von 23.700 um über 50 % gesunken seien. »Geht doch«, möchte man anmerken.

1.2.7Bettgitteranbringung im Krankenhaus

Das Oberlandesgericht Bremen hatte als zweite Instanz nach dem Landgericht Bremen (10.06.2009 – AZ 1 O 1109/05) über die gleiche Sache zu entscheiden9: Ein älterer Herr stürzte im Krankenhaus aus dem Bett und zog sich Verletzungen zu. Die Ehefrau klagte für ihren Ehemann auf Schmerzensgeld. Sie behielt diesen Anspruch auch später als Alleinerbin ihres Mannes bei.

Das Landgericht Bremen wies die Klage ab, die Ehefrau ging in die nächste Instanz. Aber auch das Oberlandesgericht schloss sich dem Urteil des Landgerichts an und wies die Klage der Ehefrau auf Schmerzensgeld zurück. Die Begründung war, dass nach dem allgemeinen Krankenhausaufnahmevertrag kein Fehlverhalten der behandelnden Ärzte bzw. des Pflegepersonals vorliegen würde. Die Klägerin hatte behauptet, ihr Ehemann sei nur deshalb gestürzt, weil die Mitarbeiter der Beklagten es unterlassen hätten, ein Gitter an seinem Bett anzubringen, obwohl dies indiziert gewesen sei. Dass die Mitarbeiter der Beklagten tatsächlich verpflichtet waren, am Krankenhausbett des verstorbenen Ehemannes der Klägerin ein Bettgitter anzubringen, wurde von der Klägerin aber nicht nachgewiesen. Da somit bereits nicht festgestellt werden konnte, dass das Unterlassen der Anbringung eines Bettgitters eine Sorgfaltspflichtverletzung darstellte, kam es auf die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen dem Sturz des Ehemannes und dem Fehlen eines Bettgitters nicht mehr an.

Die Ehefrau konnte nicht beweisen, dass ein Bettgitter erforderlich gewesen wäre. Sie konnte auch nicht beweisen, dass dieses einen Sturz vermieden hätte. Somit war nicht klar, dass das Krankenhauspersonal Pflichten verletzt hatte. Eine Beweislastumkehr, dass also das Krankenhaus beweisen musste, dass der Ehemann keines Bettgitters bedurfte, wiesen die Richter ebenfalls zurück: »Ein Fall der Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten aus dem Gesichtspunkt eines sog. ?voll beherrschbaren Risikos? liegt hier nicht vor. Zwar war der verstorbene Ehemann der Klägerin im von der Beklagten betriebenen Krankenhaus und somit in ihrem Organisationsbereich gestürzt. Dieser Umstand allein reicht nach ständiger Rechtsprechung aber für eine Umkehr der Beweislast nicht aus.«10

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Info

Zu viele Leitungs- und Pflegekräfte haben Angst vor rechtlichen Konsequenzen, kennen die Rechtslage aber nicht hinreichend. Es gibt kaum Rechtsentscheidungen zu Ungunsten von Mitarbeitern, aber etliche verlorene Prozesse von Krankenkassen oder nach Schmerzensgeldforderungen.

Natürlich haben Einrichtungen und deren Mitarbeiter Sorgfaltspflichten gegenüber ihren Klienten und Kunden. Die Sorgfalts- und Obhutspflicht kann sich ergeben aus dem Vertrag (Heim- oder Pflegevertrag) mit dem Kunden. Dazu gehört beispielsweise die fachgerechte Übernahme von Tätigkeiten und Erbringung von Leistungen. So sind insbesondere die Expertenstandards zu nennen. Die Empfehlungen dieser Expertenstandards sollten eingehalten werden. Eine Nichteinhaltung erhöht das Haftungsrisiko. Fachgerecht sind auch die Beachtung der allgemeinen Verkehrssicherungspflicht, also z. B. Handläufe in den Fluren, freie Notfalltüren etc.

Die Obhutspflicht hat jedoch Grenzen. So muss die Maßnahme realisierbar und der Einrichtung sowie deren Mitarbeitern zumutbar sein. Eine 1 : 1-Versorgung im Heim ist ebenso wenig zu erwarten wie eine über die vertragsgemäße Leistungsvereinbarung hinaus erbrachte Maßnahme für den Pflegedienst. Wenn eine Einrichtung dennoch offensichtliche Pflichten verletzt, heißt das immer noch nicht, dass diese Pflichtverletzung schuldhaft ist. Wenn beispielsweise zwei Mitarbeiter einen Pflegebedürftigen versorgen und der dritte Mitarbeiter befindet sich bei einem anderen Pflegebedürftigen, kann man nicht gleichzeitig einen weiteren demenziell Erkrankten beaufsichtigen, der gerade unkontrolliert, in jahreszeitlich unpassender Kleidung das Haus verlässt. Im Falle eines Schadens wie einem Sturz gibt es eine ganze Reihe von Fragen, die geklärt werden muss, bevor man von einem schuldhaften Handeln sprechen kann:

1. Der Kläger hat die Beweislast, dass eine Pflichtverletzung vorliegt. Stürzt also ein Mensch aus dem Bett, muss der Kläger aufführen, wieso und wer welche Pflichten verletzt hat und dass das Ereignis mit anderen Maßnahmen nicht geschehen wäre. Das allein ist schon schwierig genug. Schwieriger wird es noch, wenn die Einrichtung den von der Krankenkasse zugesandten Unfallbogen nicht ausfüllt, wozu sie nicht verpflichtet ist. Dann fehlen der möglicherweise klagenden Krankenkasse schlicht die Instrumente und Informationen für eine erfolgreiche Klage.

2. Es gibt immer Interpretationsspielräume, sowohl was das Geschehen betrifft als auch die möglichen Vorkehrungen (z. B. kann ein hochgezogenes Bettgitter auch zum Darübersteigen anregen) oder Folgehandlungen. Es ist schlicht Richterrecht, auch wenn es relativ einschlägige und für die Pflege positive Rechtsprechungen gibt.

3. Jeder Fall ist ein Einzelfall. So ist z. B. vorab zu klären:

a) Gab es überhaupt akute Hinweise auf einen möglichen Schaden? Wenn nein, sinken die Chancen auf eine erfolgreiche Klage. Niemand muss sich auf uneinschätzbare oder unbekannte Gefahren einstellen. Wenn ein Kunde noch nie unkontrolliert aus dem Haus gelaufen ist, wieso sollte man dann ausgerechnet heute damit rechnen? Wenn ein Kunde noch nie allein aus dem Bett aufgestanden ist, wieso sollte er das heute tun? Wenn ein Kunde immer allein auf Toilette geht, wieso sollte man ausgerechnet heute mit einem Sturz auf der Toilette rechnen?

b) Wenn a) mit Ja beantwortet wird, muss klar werden, was die Beteiligten alles getan haben, um die Gefahr abzuwenden. Dabei sind die möglichen und zumutbaren Mittel auszuschöpfen. Aber bedenken Sie dabei die Abwägung der Rechtsgüter – die Freiheit der Person ist ein hohes Gut.

4. Jeder Mensch ist selbstbestimmt. Das bedeutet, jeder hat das Recht sich selbst zu schaden. Wir dürfen rauchen, trinken, schnell Auto fahren, bergsteigen, skifahren etc. Ihr Kunde hat die gleichen Rechte sich zu gefährden. Wenn er allein zur Toilette möchte, obwohl er schwach ist, hat er das Recht dazu.

Wenn Sie dann noch dokumentieren, welche Möglichkeiten, Varianten und Alternativen ausprobiert wurden und explizit dokumentieren, warum Sie auf eine Fixierung verzichtet haben, sind Sie auf der sicheren Seite. Richter Dr. Sebastian Kirsch aus Partenkirchen bezeichnet eine dokumentierte und bewusst nicht ergriffene Freiheitseinschränkung in seinem Skript als »Indiz für eine gewissenhafte Pflege«11.

__________________________

1 Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Pflege – Realität und Perspektiven. Fachtagung für Pflegekräfte. München (21.03.2011) und Nürnberg (04.04.2011) Ergebnisse einer Umfrage zu Freiheitsentziehenden Maßnahmen in vier Bundesländern

2 Strafgesetzbuch (StGB), zuletzt geändert durch Art. 1 G v. 30.3.2021 I 441, dieser geändert durch Art. 15 Nr. 1 G v. 30.3.2021 I 448

3 www.pflegewiki.de/wiki/Bettgitter

4 Ebd.

5https://www.nationale-stelle.de/publikationen.html

6 Westdeutsche Zeitung vom 11. Juli 2016

7 Bundesamt für Justiz, Statistik Betreuungsverfahren vom 30.11.2018

8 Care Konkret Ausgabe 51/52 vom 19.12.2014

9 OLG Bremen, 22. Oktober 2009, Aktenzeichen:5 U 25/09

10 Vgl. Martis R et al. (2009): Aktuelle Entwicklungen im Arzthaftungsrecht I – Aufklärungen des Patienten, Behandlungsfehler und Beweiserleichterungen.

11 Werdenfelser Weg, Gesetzestexte, S. 22

2.1Antifolterkommision

Bei dem Wort »Antifolterkommission« denkt man an Straflager, Gefängnisse, Polizeistationen, Auffanglager und vielleicht noch die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie. Aber sicher denkt man nicht an Pflegeinrichtungen, wenn man von einer Kommission gegen Folter liest. 2013 wurde die bestehende Liste der »Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter« hinsichtlich zu überprüfender Institutionen um Altenpflegeeinrichtungen ergänzt. Und ab 2015 wurde in Einrichtungen geprüft. Im Namen des Justizministeriums prüft die Anti-Folter-Stelle, ob beispielsweise freiheitseinschränkende Maßnahmen in Pflegeheimen ihre Richtigkeit haben.

Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter beschreibt ihre Aufgaben auf ihrer Homepage wie folgt: »Hauptaufgabe der Nationalen Stelle ist es, Besuche an Orten der Freiheitsentziehung im Sinne von Artikel 4 OPCAT durchzuführen. Sie unterbreitet Empfehlungen mit dem Ziel, die Behandlung und die Bedingungen der Personen, denen die Freiheit entzogen ist, zu verbessern und Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe zu verhindern.«12

Natürlich ist es unschön, wenn eine Antifolterkommission in Pflegeeinrichtungen geht und dies auch in der Zeitung breitgetreten wird. Ist doch ein solcher Besuch wieder scheinbar ein Beweis für den schlechten Ruf der Altenhilfeeinrichtungen. Andererseits wäre es gut, wenn Freiheitseinschränkungen noch mehr in den Fokus genommen würden. Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter ist in Altenpflegeeinrichtungen tatsächlich wenig aktiv. So wurden 2019 lediglich sechs Heime in Deutschland besucht, mit dem erfreulichem Ergebnis: »Im Rahmen ihrer Besuche hat die Nationale Stelle unter anderem Folgendes positiv bewertet: Häufig fiel in den besuchten Alten- und Pflegeheimen der wertschätzende Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern auf. Beispielsweise wurde der Bewohnerschaft durch regelmäßige Bewohnerversammlungen eine Beteiligung am Heimalltag ermöglicht und Wünsche und Ideen aufgegriffen.«13 Ein Jahr zuvor, dem sogenannten »Schwerpunktjahr« der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter, wurden bundesweit 28 Einrichtungen der Altenhilfe aufgesucht.

2.2Testen Sie Ihr Wissen

1. Ein nicht gehfähiger Herr bekommt einen Therapietisch auf seinen Rollstuhl geklemmt. Er kann den Tisch nicht selbst entfernen. Auf dem Tisch kann er Gegenstände abstellen/ablegen.

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2. Ein Pflegebedürftiger zieht sich immer wieder sein Inkontinenzprodukt aus und schmiert mit Stuhlgang. Somit ist am Morgen das Bett ständig nass und der Pflegebedürftige verschmutzt.

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3. Ein Ehemann bittet Sie, nachts das Bettgitter bei seiner Frau hochzuziehen. Er hat Angst, dass sie heraus fällt. Die Dame ist demenziell erkrankt und steht sonst unbeobachtet auf.

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4. Eine Tochter (ambulante Versorgungsituation) wünscht, dass die Haustür der pflegebedürftigen Mutter nachts abgeschlossen wird. Sie hat Angst, dass Unbefugte leicht ins Haus kommen können.

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5. Ein Pflegebedürftiger möchte sein erforderliches Herzmedikament nicht einnehmen. Sie mischen das Medikament unter den Pudding, der Pflegebedürftige isst seinen Pudding und damit auch das Medikament.

6. Ein demenziell Erkrankter im Pflegeheim steht nachts immer wieder auf und geht in fremde Zimmer. Sie sperren ihn in sein Zimmer, damit die anderen Bewohner ihre Nachtruhe haben.

7. Ein demenziell erkrankter Mensch ist sehr unsicher im Gehen. Damit er nicht allein aufstehen und stürzen kann, bekommt er einen Therapietisch vor den Rollstuhl.

8. Ein nicht gehfähiger Mensch bekommt zum Schutz vor dem Herausrutschen aus dem Rollstuhl eine Sitzhose angelegt.

9. Ein richterlich genehmigter Bauchgurt wird während der Essenszeiten und Beschäftigung nicht angelegt.

10. Ein demenziell Erkrankter zieht immer wieder an seiner PEG-Magensonde. Um der Gefahr der Verletzung durch Herausziehen der PEG entgegenzuwirken werden ihm die Arme festgebunden.

11. Eine pflegebedürftige Dame zieht sich nachts immer wieder nackt aus und liegt halb zugedeckt im Bett. Gleichzeitig ist das Fenster auch in der Nacht offen, da sie es so gewohnt ist. Damit sie morgens nicht völlig unterkühlt ist, ziehen Sie ihr einen Pflegeoverall über das Nachthemd.

12. Eine ältere Dame kann ohne Gehhilfe nicht laufen. Sie ist in der Vergangenheit auf dem Weg zur Toilette immer wieder gestürzt. Damit sie nicht mehr allein geht sondern klingelt, stellen Sie den Gehwagen außer Reichweite. Folglich ruft oder klingelt die Frau, wenn sie zur Toilette muss.

13. Einem Mann mit Schluckbeschwerden werden die Tabletten gemörsert und unter den Brei gemischt, damit er sie besser schlucken kann

14. Eine demenziell Erkrankte wirft immer wieder ihre Kleider vom Schrank aufs Bett oder holt sich Sachen aus dem Schrank und zieht mehrere Teile übereinander an. Damit sie nicht alles rausholt, werden ihr die Sachen morgens aufs Bett gelegt und der Schrank verschlossen.

15. Damit ein Pflegebedürftiger nicht aus dem Bett fällt, wird er mit der Matratze auf den Boden gelegt. So kann er nicht mehr fallen, aber er kann auch nicht allein aufstehen.

16. Ein nicht willentlich bewegungsfähiger Pflegebedürftiger bäumt sich beim Husten immer wieder auf. Dabei droht er aus dem Bett zu fallen.

17. Ein Rollstuhlfahrer fährt mit seinem Rollstuhl an die Treppe und will »zur Arbeit«. Sie schieben den Mann in einen anderen Flurbereich und stellen die Rollstuhlbremse fest.

18. Eine demenziell erkrankte unruhige Dame läuft nahezu ununterbrochen, auch wenn sie müde ist und fast nicht mehr kann. Sie haben Angst, dass die Frau fällt und binden Sie jede Stunde für 15 Minuten am Stuhl fest, damit sie sich ausruhen kann. Danach lassen Sie sie wieder laufen.

19. Im ambulanten Bereich steht an der Haustür eines Mietshauses »Tür bitte nach 20 Uhr abschließen«.

20. Der Betreuer einer Pflegebedürftigen erklärt, dass sein Schützling schon mehrfach aus dem Bett oder beim Aufstehen vom Bett gestürzt sei. Zum Schutz ordnet er ein Bettgitter an.

Die Auflösung dieses Tests finden Sie am Ende des Buches.

2.3Genehmigungspflichtige freiheitseinschränkende Maßnahmen

Genehmigungspflichtig sind alle freiheitseinschränkenden Maßnahmen, die gegen den Willen des Betreffenden ergriffen werden (sollen). Ist der Mensch selbst einwilligungsfähig, stellt dies keine freiheitseinschränkende Maßnahme dar. Ebenso ist eine Maßnahme zum Schutz des Betreffenden durch unwillkürliche Bewegungen nicht genehmigungspflichtig. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, einen Freiheitsentzug rechtlich sicher durchzuführen:

1. Der Richter spricht eine Genehmigung für eine entsprechende Maßnahme aus.

2. Eine freiheitseinschränkende Maßnahme wird im rechtfertigenden Notstand ergriffen (imageKap. 1.1).

Zu 1) Der Richter des zuständigen Betreuungsgerichts entscheidet, welche Maßnahme über welchen Zeitraum ergriffen werden darf. Der Richter kann dies allerdings auch auf den Betreuer übertragen. So gibt es richterliche Entscheidungen, in denen der Richter das Recht, welche Maßnahme wann und wie lange ergriffen werden soll, auf den gesetzlich bestimmten Betreuer überträgt. Einen Satz müssen Sie sich bei der Entscheidung immer vor Augen halten: Es gibt kein automatisches Vertretungsrecht von Angehörigen oder Betreuern. Das Recht, in eine freiheitseinschränkende Maßnahme einzuwilligen, diese gar zu genehmigen, muss vom Richter an den Betreuer übertragen werden. Das Recht zur Genehmigung freiheitseinschränkender Maßnahmen ist nicht automatisch bei Vorliegen einer Vollmacht oder eines Betreuerausweises gegeben.

Zu 2) Wer im rechtfertigenden Notstand, zum Schutz von Leben und Gesundheit eine freiheitseinschränkende Maßnahme durchführt, bleibt straffrei. Das gilt aber nur, wenn die Gefahrenlage akut war und nicht nur »vermutlich « eingetreten wäre. Wer raucht, gefährdet sich potenziell. Das allein würde es nicht rechtfertigen, die Zigaretten wegzunehmen. Die Gefahr muss schon akut sein. Das ist dann der Fall, wenn jemand sehr müde ist und im Bett noch rauchen möchte. Hier steht zu befürchten, dass die Person im nächsten Moment einschläft und sich und andere in Gefahr bringt. Wenn ein Pflegebedürftiger, der unsicher geht, vom Stuhl aufsteht, ist dies nur eine potenzielle Gefahr und rechtfertigt keinen Freiheitsentzug. Wenn aber ein Pflegebedürftiger, der gar nicht gehfähig ist, mit dem Rollstuhl an eine Treppe heranfährt und behauptet, er müsse jetzt gehen, ist dies eine akute Gefahrensituation. Das rechtfertigt, dass man diesen Menschen auch gegen seinen Willen aus der Gefahrenzone herausfährt.

Sie sollten stets geeignete Maßnahmen in Erwägung ziehen. Es hat keinen Sinn, einer sturzgefährdeten Person eine Protektorenhose anzuziehen, wenn sie zuvor auf den Kopf gefallen ist. Es ist nicht sinnvoll, ein Bettgitter anzubringen, wenn der Pflegebedürftige unruhig ist und ggf. darüber klettern kann. Jede Maßnahme, die Sie ergreifen, muss gerechtfertigt sein und auch zur dargestellten Gefahrensituation passen.

2.4Nicht genehmigungspflichtige freiheitseinschränkende Maßnahmen

Wenn ein Mensch in eine Maßnahme, beispielsweise ein Bettgitter, selbst einwilligt, so handelt es sich nicht um eine freiheitseinschränkende Maßnahme. Nehmen Sie das Wort »Freiheitseinschränkung« bitte wortwörtlich. Man kann niemanden seiner Freiheit berauben, der diesen Willen nach Freiheit gar nicht hat. Dies wiederum bedeutet, dass das Hochziehen von Bettgittern bei Menschen, die keinen natürlichen Willen zur Fortbewegung haben, ebenfalls keine Freiheitsberaubung ist.

So sieht es auch das Bundesministerium für Justiz, welches diesen Passus in der durchaus empfehlenswerten Broschüre »Betreuungsrecht« von Juni 2020 (Seite 23) aufgreift: »Eine Freiheitsentziehung ist nicht anzunehmen, wenn der Betreute auch ohne die Maßnahme gar nicht in der Lage wäre, sich fortzubewegen oder wenn die Maßnahme ihn nicht an der willentlichen Fortbewegung hindert (Beispiel: Zum Schutz vor dem Herausfallen aus dem Bett wird ein Gurt angebracht, den der Betreute aber – falls er das will – öffnen kann). Eine rechtswidrige Freiheitsentziehung liegt auch nicht vor, wenn der Betreute mit der Maßnahme einverstanden ist und er die entsprechende Einwilligungsfähigkeit besitzt.«14

Wenn ein Mensch in freiheitseinschränkende Maßnahmen einwilligt, setzt dies voraus, dass er seinen Willen vertreten kann. Das heißt, dieser Mensch muss wissen, was er in diesem Moment entscheidet und welche Tragweite dies hat. Auch demenziell Erkrankte können wissen, was sie wollen. Es gibt durchaus demenziell Erkrankte, die klar wissen, dass sie zur Nacht ein Bettgitter wünschen, auch wenn sie nicht mehr wissen, was es heute Mittag zu essen gab oder welche Medikamente sie einnehmen.

Für die Einwilligung bei freiheitseinschränkenden Maßnahmen empfiehlt es sich dennoch, dass Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit ein Protokoll anfertigen. Natürlich können Sie den Willen des Betreffenden auch in der Dokumentation festhalten. Dokumentieren Sie beispielsweise im Pflegebericht, dass Herr M. zur Nacht das Bettgitter oben haben möchte. Oder vermerken Sie dies in der Pflegeplanung/SIS®. Das reicht rechtlich zunächst vollkommen aus. Es gibt kein Gesetz, dass fordert, der Betreffende müsse diesen bekundeten Willen unterschreiben. Viele Mitarbeiter hätten aber gern alles schriftlich und möglichst unterschrieben. Aus diesem Grund sei hier ein Beispiel für einen Vordruck abgebildet (imageKap. 2.5).

2.5Einwilligungsbestätigung

Kunde

Name_____ Vorname_____ Geburtsdatum_____

Name der dokumentierenden Pflegekraft:___________________

Ort:___________ Datum:_________

Ich (Kunde) bin damit einverstanden, dass folgende Maßnahmen zu meinem Wohl und zu meinem Schutz, auf meinen eigenen persönlichen Wunsch (Achtung: Angehörige und Betreuer dürfen das nicht anordnen) angewandt werden:

Bauchgurt image Ja image Nein
Bettgitter image Ja image Nein
Therapietisch image Ja image Nein
Verschließen des Zimmers zur Nacht image Ja image Nein

 Sonstiges ______________________________________________________

Die Maßnahme soll entsprechend meinem Gesundheitszustand und nach regelmäßiger Prüfung (alle 6 Monate), längstens jedoch bis zum:

______________________________________________________ angewandt werden.

Falls der Kunde keine Unterschrift mehr leisten kann:

Der Kunde ist zur Leistung einer Unterschrift körperlich nicht mehr imstande, erklärt sich aber auf entsprechende Nachfrage regelmäßig mit den oben bezeichneten Maßnahmen einverstanden.

Die Dokumentation erfolgt durch die Pflegefachkraft und zweitem unabhängigen Zeugen.

Datum/Unterschrift des Kunden _________________________________________

Wir bestätigen, dass obige Erklärung vom Kunden mündlich abgegeben wurde.

image

 

   
   

 Datum nächste Evaluation _________________________________

Wenn der Betreffende Ihrer Meinung nach nicht mehr klar seinen Willen bekunden kann, so bleibt Ihnen nur eines: der Weg zum Betreuungsgericht, das die Maßnahme genehmigen kann. Die zuständigen Richter werden dann sowohl ein ärztliches Attest über die Einwilligungsfähigkeit des Betreffenden einfordern wie auch die Zustimmung des Betreuers. Wenn es noch keinen Betreuer gibt, ist es spätestens jetzt an der Zeit, eine Betreuung zu beantragen. Bitte prüfen Sie sorgsam, ob eine Betreuung tatsächlich erforderlich ist. Kein Gericht wird wegen rein körperlicher Gründe eine Betreuung verfügen. Im Folgenden (imageKap. 2.6) finden Sie ein Flowdiagramm, mit dem Sie prüfen können, ob eine Betreuung angezeigt ist oder nicht:

2.6Checkliste Überprüfung der Notwendigkeit einer Betreuung

image

Abb. 2: Checkliste zur Überprüfung der Notwendigkeit einer Betreuung.

Wenn die Beantragung einer Betreuung angeraten ist, können Sie folgendes Briefmuster nutzen:

Stempel /Kopf der Einrichtung

An das Betreuungsgericht

Musterstadt, 15.01.20..

Anregung einer Betreuung

Sehr geehrte Damen und Herren,

hiermit regen wir die Betreuung für unseren Klienten an:

Frau/Herrn ___________________________________________

geb. ___________________________________________

wohnhaft ___________________________________________

Diese Maßnahme ist erforderlich, weil die Person seit einiger Zeit und nicht nur vorübergehend ihre eigenen Belange* in Bezug auf

image Gesundheitsfürsorge

image Vermögenssorge

image Aufenthaltsbestimmung

nicht mehr selbst bestimmen und versehen kann.

Der nächste uns bekannte Verwandte ist:

Frau/Herrn _________________________________________________

Verw.Grad _________________________________________________

wohnhaft _________________________________________________

Aus unserer Sicht ist die verwandte Person

image in der Lage

image nicht in der Lage

eine Betreuung zu übernehmen. Nähere Erläuterungen können wir gern in einem persönlichen Gespräch klären.

Für Fragen stehen wir Ihnen gern zur Verfügung.

Mit freundlichen Grüßen

Unterschrift und Stellung

* Der Richter erhält bereits mit dem Antrag auf Betreuung den Hinweis, in welchem Bereich der zu Betreuende Defizite hat.

Sie sollten auch dann einen Antrag beim Betreuungsgericht zur rechtlich sicheren Durchführung einer freiheitseinschränkenden Maßnahme stellen, wenn der Betreffende nicht in der Lage ist, sich gezielt zu bewegen und Sie unsicher bezüglich dieser Bewegungsfähigkeit oder des Willens des Kunden sind. Vor allem im Heimalltag sind die erforderlichen organisatorischen Abläufe oft unzureichend geregelt. Die Anträge werden mal von Heim- und/ oder Pflegedienstleitungen, mal von Mitarbeitern des Betreuungsdienstes oder auch von Verwaltungsmitarbeitern gestellt. Die Verfahrenspfleger, Richter, Angehörigen und künftigen Betreuer haben nicht immer nur einen Ansprechpartner. Dabei läuft es durchaus nicht immer so, dass die Entscheidung vorher im Team besprochen und beschlossen wurde. Eine einheitliche Richtlinie eines Trägers macht hier Sinn.

Wenn Menschen ohne natürlichen Fortbewegungswillen oder ohne erkennbare Fortbewegungsmöglichkeit zum Schutz vor dem Herausfallen eine Sicherungsmaßnahme bekommen, ist diese in aller Regel nicht genehmigungspflichtig. Es kommt aber auch hier immer auf den Einzelfall und die korrekte Dokumentation an.

Aus der Dokumentation muss hervorgehen, welche Einschränkungen und welche Fähigkeiten die betreffende Person noch hat. Die Dokumentation muss schlüssig sein. Immer wieder erleben wir in der Beratung, dass Pflegebedürftige in der Pflegeplanung/SIS® im Bereich der Mobilität als »immobil« beschrieben werden. Immobil bedeutet aber nichts weiter als »unbeweglich, nicht mobil«.15

Wieso braucht ein immobiler Mensch ein Bettgitter? Wer bei einem Menschen ohne natürlichen Fortbewegungswillen oder ohne erkennbare Fortbewegungsmöglichkeit zum Schutz vor dem Herausfallen ein Bettgitter anbringt, sollte eine vernünftige Begründung dafür haben. So gibt es beispielsweise Menschen, die sich beim Husten unbewusst und nicht willentlich aufbäumen und dabei aus dem Bett fallen könnten. Es gibt Menschen, die eine Sitzhose im Rollstuhl benötigen, weil sie nicht die Körperspannung haben, um sich aufrecht auf dem Stuhl zu halten und daher herausrutschen könnten.

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Tipp

Holen Sie sich in solchen Fällen ein ärztliches Attest. Mit dieser Bescheinigung bestätigt der Arzt, dass der Betroffene zu keiner willentlichen Fortbewegung in der Lage ist und dass die Maßnahme nur vor Schaden durch unwillkürliche Bewegung schützt. Somit sind Sie als Durchführender dieser Maßnahme rundum abgesichert.

Wer eine freiheitseinschränkende Maßnahme für sich selbst ausschließen möchte, kann dies tun. Ähnlich wie in einer Patientenverfügung, in der man verbindlich erklärt, welche medizinisch-therapeutischen Maßnahmen man für sich wünscht, erduldet oder ablehnt. Für uns Autorinnen käme keine Art der Freiheitseinschränkung in Betracht. Wir nehmen für uns in Kauf, dass wir stürzen und uns verletzen können. Wir nehmen auch die Folgen von Stürzen in Kauf, auch wenn diese bleibende oder gar tödliche Folgen mit sich bringen können. Freiheit ist unser oberstes Gut, das wir durch nichts einschränken möchten. Wir haben das Recht zu stürzen und damit möglicherweise unserer Gesundheit zuwider zu handeln

2.7Checkliste Überprüfung und Einschätzung freiheitseinschränkender Maßnahmen

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Abb. 3: Checkliste FEM.

__________________________

12 www.nationale-stelle.de/besuche.html

13 Nationale Stelle zur Verhütung von Folter, Jahresbericht 2019

14 https://www.bmjv.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Betreuungsrecht.html

15 Vgl. Duden 2012

Es ist in der Rechtswelt sehr umstritten, ob und wenn ja, wie weit die Paragrafen aus dem BGB zur Regelung der freiheitseinschränkenden Maßnahmen greifen. Nimmt man den Wortlaut des § 1906 Abs. 4 Nr.1 BGB, könnte man glauben, dass freiheitseinschränkende Maßnahmen lediglich in Einrichtungen gelten: § 1906 Genehmigung des Betreuungsgerichts bei der Unterbringung (4), »…gelten entsprechend, wenn dem Betreuten, der sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält…«

3.1Ist die ambulante Pflege ein rechtsfreier Raum?

Wenn § 1906 BGB nur in Einrichtungen gilt, wie verfährt man im ambulanten Bereich? Dr. Sebastian Kirsch (Mitinitiator des »Werdenfelser Weg«) vertritt die Meinung16, dass es sich im ambulanten Bereich nur dann um freiheitseinschränkende Maßnahmen handelt, wenn ausschließlich professionell Pflegende für den Pflegebedürftigen zuständig sind. Wird der Pflegebedürftige zu Hause neben den Profis auch von Laien betreut, so ist deren Handeln nicht unter diesem § 1906 BGB zu sehen. Kirsch stützt sich bei seiner Aussage auf zwei Urteile, Landgericht München (AZ: 13T 4031/99) und bayerisches Oberlandesgericht (AZ: 3ZBR 132/02). Das Landgericht München urteilte, dass eine »sonstige Einrichtung« auch die Wohnung des Betreffenden sein kann, weil er dort von fremden Pflegekräften versorgt wird.

Das Oberlandesgericht sah dies ähnlich und urteilte, dass die Wohnung des Betreuten dann keine »sonstige Einrichtung« darstellt, wenn dieser ausschließlich von Familienangehörigen versorgt wird.

Die Richter haben sicher Recht im Sinne des Gesetzes. Aber uns Autorinnen wird unbehaglich, wenn wir sehen, wie Laien zu Hause mit dem Thema »Freiheitsentzug« umgehen und wie schnell sie auch drastische Maßnahmen wie das Verriegeln von Türen oder Bauchgurte einsetzen. Oft fehlt hier das Wissen oder der eigene Wunsch nach Sicherheit wird über die Rechte des Pflegebedürftigen gestellt. Es gibt allerdings auch Urteile, bei denen gar nicht in Frage stand, ob der Pflegebedürftige zu Hause von Laien oder Profis versorgt wurde. So entschied das Amtsgericht in Berlin Tempelhof/Kreuzberg (AZ 50 XVII G 361/98), dass das zeitweilige Einschließen eines Betreuten zu Hause durchaus eine freiheitseinschränkende Maßnahme im Sinne des § 1906 BGB darstellt und daher genehmigungspflichtig ist.

3.2Der MDK prüft ambulant auch das Thema »Freiheitseinschränkung«

Wenn Mitarbeiter ambulanter Dienste in der häuslichen Pflege eingesetzt sind, so müssen sie wissen, zu was sie berechtigt sind oder was sie tunlichst lassen sollten. Mitarbeiter ambulanter Dienste sollten nicht etwa auf Wunsch der Angehörigen freiheitseinschränkende Maßnahmen ergreifen. Auch hier raten wir dringend, erst einmal zu prüfen, ob es sich um eine Freiheitseinschränkung handelt. Dann ist zu schauen, ob diese rechtlich einwandfrei ist. Ist sie es nicht, müssen die Mitarbeiter gemeinsam mit den Angehörigen einen für den Pflegebedürftigen guten Ansatz finden.

Der MDK prüft im Rahmen der Qualitätsprüfungen die Anwendung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen auch im ambulanten Bereich. Auch wenn die freiheitseinschränkende Maßnahme im Prüfkatalog 2021 nur an einer Stelle (Seite 15) aufgeführt wird, auch wenn in der bevorstehenden neuen QPR ab 2022 keine Einzelfrage zur FEM gestellt wird – sie wird Thema bleiben. Zum Thema freiheitseinschränkende Maßnahmen wird der Prüfer immer Fragen stellen. In der neuen QPR beispielsweise schon in der ersten Frage 1.1.:

»Ist ein strukturiertes Vorgehen bei der Informationssammlung und der anschließenden Planung und Vereinbarung von Maßnahmen erkennbar? Wurden die individuellen pflegerelevanten Einschränkungen, Ressourcen und Fähigkeiten erfasst?

Wurde der pflegebedürftige Mensch oder ggf. seine Angehörigen zu seiner Sichtweise bei der Informationssammlung und der Planung und Vereinbarung von Maßnahmen befragt?«

Und weiter geht es in Frage 1.2 Erfassung von und Reaktion auf Risiken und Gefahren:

»1. Hat der Pflegedienst offenkundige Risiken und Gefahren in der Pflegesituation erkannt? 2. Wurden vorliegende Risiken und Gefahren bei der Maßnahmenplanung im Pflegeprozess berücksichtigt?

3. Wurden dem pflegebedürftigen Menschen und/oder den Angehörigen bestehende Risiken und Gefahren verdeutlicht?

4. Wurden Möglichkeiten zur Vermeidung von Risiken und Gefahren aufgezeigt und der pflegebedürftige Mensch und ggf. seine Angehörigen hierzu beraten?«

Autoren

  • Jutta König (Autor:in)

  • Marion Schibrowski (Autor:in)

Jutta König ist Wirtschaftsdiplombetriebswirtin Gesundheit (VWA), Sachverständige bei verschiedenen Sozialgerichten im Bundesgebiet sowie beim Landessozialgericht in Mainz, Unternehmensberaterin, Dozentin in den Bereichen SGB V, SGB XI, Haftungs- und Betreuungsrecht. Sie ist examinierte Altenpflegerin, arbeitete als Pflegedienst- und Heimleitung. Marion Schibrowski arbeitet als Bereichsleitung im zentralen Qualitätsmanagement der Azurit-Gruppe in Fürstenzell. Nach ihrer Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin absolvierte sie Weiterbildungen zur Stations- und Pflegedienstleitung.
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Titel: FEM - Freiheitseinschränkende Maßnahmen