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Mein chronisch krankes Kind

Wie ihr die Diagnose verdaut, schwere Zeiten meistert und als Familie stark bleibt. Der Ratgeber für Eltern und Angehörige

von Bella Berlin (Autor:in)
184 Seiten

Zusammenfassung

Wenn das eigene Kind chronisch oder gar lebensbedrohlich erkrankt, bricht für Eltern eine Welt zusammen. Sie empfinden Hilflosigkeit, Machtlosigkeit und vor allem Angst: Wie soll es nun weitergehen? In ihrem Ratgeber gibt Bella Berlin Antworten auf die drängendsten Fragen: Wie schaffe ich es, stark zu bleiben? Darf ich Schwäche zeigen und wenn ja, wie? Wie gehen wir als Familie damit um? Wer hilft uns? In ihrem Buch geht es nicht um konkrete Krankheitsbilder, Behandlungsmöglichkeiten oder medizinische Fachbegriffe. Stattdessen möchte sie Familien mit praktischen Tipps und Strategien begleiten: von der neuen Elternrolle, dem Umgang mit Ärzten und Klinikaufenthalten bis hin zum Verhältnis zu Verwandten und Freunden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


DU

Wie die meisten Eltern hattest wahrscheinlich auch du mit der Geburt deines Kindes die Vorstellung von einer idealen Familie im Kopf. Ist oder wird aber eines deiner Kinder krank, fällt diese erst einmal in sich zusammen. Nicht nur dein Bild von Familie verändert sich, sondern auch das von dir selbst – als Mutter oder Vater. Es kommen Gefühle und Gedanken hoch, die du nicht möchtest, die nun aber da sind. In diesem Kampf um die Gesundheit, und teilweise auch das Leben, deines Kindes darfst du dich aber nicht verlieren. Denn du bist ein tragender Teil eurer Familie.

Was waren deine ersten Gedanken, als du erfahren hast, dass dein Kind krank ist?

Dafür habe ich nicht unterschrieben, das gehört nicht zur Vereinbarung. Ein krankes Kind war nicht geplant!

image Andreas, Tochter hat Diabetes Mellitus Typ 1

Das schaffe ich nicht! Nein! Ich will das nicht!

image Peggy, Sohn hat Multiple Sklerose

So oder so ähnlich reagieren Eltern, wenn sie realisieren, dass sich etwas Grundlegendes in ihrem Leben ändert. Denn egal mit welcher Diagnose eine Familie konfrontiert wird, sie bringt neben Veränderung und Umbruch auch Angst, Schmerz und Entbehrungen mit sich. Gefühle, die niemand mit Elternschaft und einer unbeschwerten Kindheit verbindet. Zu Beginn werden diese Gedanken und Gefühle überwältigend wirken. Sie sind da, sie haben ihre Berechtigung, sie gehören von nun an auch ein bisschen dazu. Denn in der Familienplanung und den Erwartungen, mit denen Menschen das Familienleben verbinden, kommen Diagnosen, Krankheiten und medizinische Behandlungen in den seltensten Fällen vor. Das ist gut so, denn sonst würde unsere Welt wohl bald ohne Kinder sein.

In der Vorstellung vieler Eltern läuft alles gut und zum Glück ist das auch oft so. Laut Robert Koch-Institut leiden 11,4 Prozent der Mädchen und 16 Prozent der Jungen zwischen 0 und 17 Jahren an chronischen Gesundheitsstörungen. Das bedeutet, dass diese länger als ein Jahr medizinisch behandelt werden müssen. Andere Definitionen gehen von einem mindestens drei- bis sechsmonatigen Behandlungszeitraum aus. Viele Diagnosen bedeuten auch eine lebenslange medizinische Begleitung. Zu den wohl bekanntesten chronischen Erkrankungen gehören Diabetes Mellitus, Krebs, Multiple Sklerose, ADHS, Neurodermitis oder Asthma. Die Liste ließe sich endlos fortführen, zumal es zahlreiche sogenannte „seltene Erkrankungen“ gibt, die bisher wenig erforscht sind.

Nicht alle chronischen Erkrankungen sind tiefgreifend und verändern euer Familienleben komplett. Aber viele haben das Potenzial dazu. Dann sind auf einmal Gefühle da, über die du sonst nur gelesen hast. Sie wirklich zu spüren, eröffnet eine neue Dimension der Elternschaft.

Zwischen Löwenmutter, Bärenpapa und Angsthasen

Wie oft wurde ich als Löwenmama bezeichnet, weil ich für mein Kind kämpfe und mich einsetze. Dabei glaube ich, dass das jede Mutter tun würde. Weil es nicht anders geht.

image Peggy, Sohn hat Multiple Sklerose

Als Eltern haben wir nicht den Plan, irgendwann einmal eine Diagnose für unser Kind zu bekommen, die unser aller Leben verändert. Wir wollen unsere Kinder zu starken Menschen machen, für sie da sein und gemeinsam als Familie wachsen. Das ist oft auch mit einer chronischen Erkrankung möglich, nur eben schwieriger, je nach Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten.

Gerade zu Beginn hadern deswegen viele Eltern mit dem, was gerade in ihrer Familie und mit ihrem Kind passiert. Sie hatten eine andere Vorstellung und müssen nun eine neue Rolle für sich finden. Von außen werden Eltern und leider vor allem Mütter mit Bezeichnungen bedacht, die ihre Kraft loben. Löwenmama ist der wohl häufigste Begriff. Er impliziert Stärke und Aufopferung und ist von vielen sicherlich gut gemeint. Leider gibt es keine Entsprechung für Väter. Bärenpapa wäre eine Möglichkeit, wenn man bei den Vergleichen aus dem Tierreich bleiben möchte. Doch diese Stärke, die Eltern nun entwickeln und die Außenstehende auch zu Recht wahrnehmen, darf nicht glorifiziert werden. Eltern schaffen es nicht immer, stark und unbeugsam zu sein, wenn sie Angst und Sorge um ihr Kind haben.

Es ist also durchaus richtig und okay, manchmal ein Angsthase zu sein. Auch wenn die Gefühle von Kraft und Stärke dominieren und wohl auch der Antreiber für die kommende Zeit sein werden: Angst und Schwäche sind ebenso in Eltern, die für ihr Kind kämpfen. Diese Gefühle brauchen ihren Raum, nach innen und außen.

Die Diagnose einer chronischen Erkrankung beim eigenen Kind bedeutet für dich also nicht nur eine Bandbreite an Gefühlen. Es kommt auch schnell eine Ahnung davon hoch, welche Belastung nun auf deine Familie zukommt. Denn du hast nicht nur beobachtet, dass mit deinem Kind etwas nicht stimmt. Du bekommst zusätzlich noch die Botschaft, dass dein Kind eine Zeit lang Hilfe, Untersuchungen und Behandlungen benötigen wird. Nicht selten auch für den Rest seines Lebens. Eine Aufgabe, die überwältigend sein kann.

Die Last, die du als Elternteil eines chronischen kranken Kindes trägst, hat zwei Seiten, und beide verdienen Anerkennung. Wann immer du also wieder mit Gefühlen und auch Bezeichnungen haderst: Alles hat seine Berechtigung. Du bist nicht mehr nur Spielkumpan und Ernährerin, Kuschelpapa und Vorlesemama. Von nun an wird deine elterliche Rolle neu definiert, denn die Bedürfnisse chronisch kranker Kinder und auch ihrer Geschwister werden immer ein klein wenig anders sein als die gesunder Kinder.

Nach der Diagnose

Ich werde nie den Tag und die Uhrzeit vergessen, als die Ärztin den Verdacht äußerte, dass mein Kind Krebs haben könnte. Jedes Jahr um diese Zeit kriegt mein Herz einen kleinen Stich, um gleich darauf vor Freude zu hüpfen, dass nun alles okay ist.

image Susanne, Sohn hatte ein unilaterales Retinoblastom

Sind wir mal ehrlich: Unabhängig von den finalen Worten stehen eine oder mehrere Diagnosen bedrohlich im Raum, sobald konkrete Tests gemacht werden. Oft werden diese schon aufgrund eines noch unkonkreten Verdachts angeordnet. Nichtsdestotrotz sind Eltern geschockt, wenn die chronische Erkrankung diagnostiziert, benannt und damit ein Weg festgelegt wird, der uneben und manchmal auch vage ist. Vor allem, wenn mit der Diagnose eine tiefe Angst um das Kind verbunden ist oder lebenslange Therapien und Behandlungen. Ärzt*innen wissen, welchen Einfluss Worte und Diagnosen haben. Doch trotz aller vorhergehenden Tests und Verdachtsäußerungen treffen sie dich wahrscheinlich unvorbereitet.

Verwirrung, Angst und jede Art von Emotion sind normal und erlaubt. Egal, ob sie noch im selben Moment herauskommen, oder später: Dein Kind hat soeben die Diagnose einer chronischen Erkrankung erhalten. Und auch wenn die Spannbreite hier enorm ist, sie bringt ungeachtet des konkreten Krankheitsbildes Veränderungen für dein Kind, deine Familie und für dich persönlich. Früher musste man zum Beispiel bei einer Diabetes mellitus Typ 1-Diagnose von einer verkürzten Lebenszeit ausgehen. Das ist heute nicht mehr der Fall. Heute bedeutet sie, dass Eltern zusammen mit ihren Kindern Strategien und Wege finden, mit der chronischen Erkrankung zu leben.

Die Gefühle fahren Achterbahn

Eltern reagieren sehr individuell auf die Diagnose ihres Kindes: Von Weinen, über Wut bis hin zu vollkommener Stille ist alles möglich. Selbst Menschen, die sich selbst gut kennen, könnten nicht vorhersagen, wie sie reagieren, denn die Situation ist zumeist neu und bisher nicht dagewesen. Oft hängt die Reaktion auch davon ab, ob das Kind anwesend ist oder nicht.

Die Zeit nach der Diagnose ist auch im Umgang mit dem betroffenen Kind emotional. Gedanken wie „Was wäre wenn?“ oder ein „Gestern um diese Zeit war noch alles gut!“ kommen vor und sie sind vollkommen normal. Denn in der ersten Zeit kannst du, auch wenn die medizinische Bestätigung da ist, mit der Diagnose hadern. Einfach, weil es eben nicht normal ist, ein chronisch krankes Kind zu haben, und viele Ängste damit einhergehen. Bis du die Diagnose akzeptiert hast, kann es also dauern, und mit ihr kommt ein schwieriger Gedanke, der es aber im Behandlungsverlauf einfacher machen kann: „Ich kann an der Tatsache, dass mein Kind jetzt krank ist, nichts ändern.“ Bevor du das akzeptieren kannst, hast du sicher zahlreiche Verhandlungen mit Gott oder dem Schicksal geführt. Ist der erste Schock vorüber, werden die Gedanken wieder klarer und der gemeinsame Weg im Kampf oder Umgang mit der Diagnose kann beginnen.

Verwandle die anfängliche Machtlosigkeit in ein stärkendes Mantra. Du kannst nichts an der Diagnose ändern, aber du kannst zusammen mit deinem Kind und wichtigen Menschen um euch herum alles daran setzen, dass es besser wird und ihr ein für euch neues, gemeinsames Leben habt. Diese Einstellung kommt nicht am ersten Tag. Aber sie kommt. Mitunter auch, weil eben keine andere Wahl besteht. Das mag hart klingen, kann aber den Umgang mit der Diagnose erleichtern und die Gedanken frei machen für das, was nun kommt.

Wichtig ist, egal wie die erste Reaktion und die folgenden Gefühle ausfallen: Lass sie an niemand anderem aus. Weder dein*e Partner*in, noch dein(e) Kind(er) oder andere nahestehenden Menschen können etwas dafür. Wut ist richtig, solange sie sich gegen niemanden richtet.

Mitunter kann es auch passieren, dass deine Gefühle eine neue Dimension bekommen. Angst ist nicht gleich Angst und auch Wut kann sich auf dir unbekannte Art und Weise zeigen.

Aber wie äußern sich diese Gefühle? Bei jedem*jeder anders! Bei der Diagnose sind manche Eltern gefasst, andere reagieren mit Tränen oder lauten Worten und wieder andere verfallen in eine stumme Schockstarre. Sogar innerhalb einer Partnerschaft oder Familie können sich die Reaktionen komplett unterscheiden. So viel vorab: Ärzt*innen kennen viele davon. Vor ihnen solltest du dich nicht schämen oder für deine Gefühle entschuldigen. Es geht in diesem Moment um dein Kind sowie den Weg, der nun vor euch liegt.

Dr. Google

Dieser Weg ist gerade zu Beginn noch ungewiss. Je nach Diagnose wird es auch unterschiedliche Möglichkeiten für dein Kind geben, mit seinem neuen Begleiter umzugehen. Die Ärzt*innen zeigen euch oft Möglichkeiten und Behandlungen auf. Aber welche ist die Richtige? Und was, wenn die Ärzt*innen nicht alles wissen? Oder gar etwas verschweigen? Das Gedankenkarussell dreht sich mit Diagnoseverkündung rasend schnell. Für viele Eltern ist einer der ersten Impulse, mit den Ärzt*innen gleichauf sein zu wollen, wenn es um Wissen, Alternativen und Behandlungsmöglichkeiten geht. Deswegen greifen viele zum Handy und nutzen die altbekannten Suchmaschinen.

Das Internet bietet heute eine unüberschaubare Menge an Wissen und Erfahrungsberichten. Und so gibt es online zu der verkündeten Diagnose sicher schon Geschichten und Erlebnisse. Aber was, wenn diese nicht zu hundert Prozent zu der deines Kindes passen? Oder sie im schlimmsten Fall kein Happy End haben? Das Schwierige für dich wird sein, die Flut an möglichen Informationen zu filtern und das rauszusuchen, was hilft. Das kann ermüdend sein, wichtige Kraft kosten oder Ängste schüren, die am Ende eher lähmen und nicht hilfreich sind.

Es gibt zahlreiche Anlaufstellen, je nach Diagnose, die neutrale und fundierte Informationen bieten. Oftmals bekommst du schon in der Klinik oder Arztpraxis Verbände und Vereine genannt, die dich unterstützen können. Weil die Mitarbeiter*innen eben wissen, wie verloren sich Eltern zu Beginn fühlen. Eine unvollständige Liste möglicher Anlaufstellen findest du ab Seite 173.

Hilfreich ist es auch, Freund*innen oder Familienmitglieder in die Recherche einzubinden, sofern die gewünscht oder notwendig ist.

Es gibt viele Gründe, sich Informationen zu suchen. Sei es für das allgemeine Verständnis und Wissen über das Krankheitsbild, oder aber, um andere Kliniken, Ärzt*innen oder Behandlungsmethoden zu suchen. Viele Eltern fühlen sich auch mit sich selbst überfordert, haben Sorge, dass ihre Kräfte schwinden, und suchen Möglichkeiten, im Spagat zwischen Familien- und Krankheitsleben nicht kaputtzugehen. Neutrale Informationen dazu findet man jedoch selten. Im Kapitel „Zerreißprobe für die Nerven“ (S. 25) gibt es sinnvolle und umsetzbare Tipps für genau das: Wie du als Mutter oder Vater bei Kräften bleibst und dich selbst nicht vergisst. Und auf Seite 39 findest du weitere Tipps zum Umgang mit dem Internet und sozialen Medien.

Die Angst als neue Begleiterin

Wir haben gelernt, welche Bandbreite an Gefühlen uns übermannen kann, wenn es um das Wohl und die Gesundheit unserer Kinder geht. Wir wissen, dass sie alle eine Berechtigung haben. Mit der Adaption der Diagnose werden die Gefühle klarer und weichen einer gewissen Rationalität, die für die Behandlung und das weitere Leben mit chronisch krankem Kind wichtig und hilfreich ist. Aber ein Gefühl wird nicht weichen: Die Angst. Sie wird mal lauter, mal leiser sein. Manchmal wirst du vermuten, dass sie weg ist. Doch das ist das Trügerische. Sie ist immer da, weil es eben um dein Kind geht. Deswegen ist es wichtig, das Gefühl der Angst zu verstehen und einen Umgang mit ihm zu finden.

Die Gesichter der Angst

Alle Gefühle werden auf zwei Ebenen wahrgenommen: auf der körperlichen und auf der geistigen. Gerade das Körperliche kann es uns leichter machen, das Gefühl einzuordnen, wobei zu bezweifeln ist, dass in der aktuellen Situation das Gefühl der Angst unerkannt bleibt. Dennoch hat die Angst viele Gesichter und kann sich bei jedem* jeder anders äußern – sowohl in der Eigen- als auch in der Fremdwahrnehmung.

Die generellen Vorgänge der Angst laufen vorwiegend auf kognitiver Ebene ab. Sie äußern sich körperlich, etwa in Form von Anspannung, Enge oder Unruhe. Du spürst deinen Magen, bekommst schwerer Luft oder kannst kaum stillsitzen Die körperlichen Merkmale gehen mit den gedanklichen einher, wie zum Beispiel immer wieder kommenden Sorgen, Befürchtungen und Zweifeln.

Angst ist eine Reaktion, die in unserem Ursetting verankert ist. Im Prinzip können wir sagen, dass unsere Vorfahren ohne kognitive und körperliche Angstreaktionen von Säbelzahntigern gefressen worden wären. Ein Gefühl also, dass uns vor Gefahren schützen kann, denn der Körper ist nicht nur angespannt und voller Sorge, er ist auch in Alarmbereitschaft und bereit zur Flucht oder zum Kampf. Angst wird von oft unkontrollierbaren Ereignissen ausgelöst – und die Diagnose und die Sorge um ein nun chronisch krankes Kind gehören definitiv dazu. Doch leider ist das Gefühl nicht nur hilfreich, sondern auch für das sekundäre Auslösen von Schuldgefühlen, Misstrauen und Empfindlichkeit bekannt.

Bleibt die Angst also das führende Gefühl in der Situation, verstärkt sie Sorgen, Kontrollsucht und Abwehrhaltungen. Vor allem in der Zusammenarbeit mit Ärzt*innen und Pfleger*innen kann das kontraproduktiv sein. Das Erleben der Angst wird oft von den Erwartungen oder Bedrohungen geformt, mit denen du dich nun konfrontiert siehst. Denn auch chronische Erkrankungen haben unterschiedliche Ausmaße und nicht alle sind akut lebensbedrohlich. Dennoch sollten wir an die Stärke der Angst kein Maß anlegen. Denn egal, ob deine Familie mit einer Krebsdiagnose, Diabetes mellitus oder Asthma kämpft: Du hast Angst um dein Kind. Vergleiche dich nicht mit anderen und versuche nicht, deine Angst kleinzureden.

Doch die Angst hat nicht nur eine lähmende Eigenschaft. Sie kann auch eine mobilisierende Emotion sein. Das wird oft unterschätzt, weil sich viele in Sorgen und kreisenden Gedanken verlieren oder gar versuchen, das Gefühl der Angst zu ignorieren, und ihr Potenzial nicht nutzen. Aber unsere Vorfahren wären den Säbelzahntigern nicht entkommen, wenn sie sich wippend ans Lagerfeuer gekauert und immer nur „Oh nein, oh nein, was mach’ ich nur?“ gewimmert hätten.

Angst kann uns zu Leistungen antreiben, zu denen wir unter normalen Umständen nicht in der Lage sind. Sie kann zum Beispiel unsere Auffassungsgabe verstärken. Wir hören und verstehen Dinge klarer, weil wir unbewusst wissen, dass wir dieses Wissen brauchen, um gute und weitreichende Entscheidungen zu treffen. Das liegt am Adrenalin, das in beängstigenden Situationen ausgeschüttet wird. Unser Herz schlägt schneller und unser Blut bindet zunehmend Sauerstoff und transportiert diesen ins Gehirn. Unser Körper ist also in Alarmbereitschaft und je nach Situation kann das in positive beziehungsweise hilfreiche Reaktionen verwandelt werden.

Ängste werden durch Gedanken ausgelöst. Vor jedem großen Angstgefühl steht ein Gedanke wie „Mein Kind wird nie wieder gesund werden“ oder „Was, wenn mein Kind kein normales Leben mehr hat?“. Das Angstgefühl wird also durch den Kopf ausgelöst. Um die Angst dann anzunehmen und nicht weiter zu verstärken, musst du zuerst den Gedanken kennen, der das Gefühl in dir ausgelöst hat.

Der zweite Schritt: Wo und wie spürst du die Angst körperlich? Hast du zittrige Hände, einen Kloß im Hals oder ein Druckgefühl irgendwo? Entwickle ein Körpergefühl für deine Angst, um spüren zu können, wenn du in einer Angstspirale bist. So kannst du darauf reagieren und dich fragen: Welcher Gedanke von mir hat das Gefühl gerade ausgelöst?

Im Dritten und letzten Schritt nimmst du das Gefühl an und erkennst, dass du dir Sorgen machst. Das ist berechtigt. Du kannst die Angst weder ignorieren noch durch positive Gedanken löschen. Aber du kann der Angst mit einem vertrauensvollen Gedanken wie „Die besten Ärzt*innen kümmern sich um mein Kind“ etwas entgegensetzen. Unser Unterbewusstsein ist nicht in der Lage, sich allein stärkende und vertrauensvolle Gedanken zu suchen. Das müssen wir aktiv und bewusst selbst machen.

Schreibe ein Gedankentagebuch und erfasse die Gedanken, die dir durch den Kopf gehen und bei denen du das dadurch ausgelöste Gefühl wahrnimmst. Schreibe dann bewusst Gedanken auf, die du den angstauslösenden entgegensetzen kannst, wie „Ich darf Vertrauen“ oder „Die besten Ärzt*innen kümmern sich um mein Kind“ und „Wir haben einen konkreten Behandlungsplan“.

Manch eine*r wird dank der Angst beeindruckend rational, kann Situationen planen, durchdenken und klar entscheiden. Wieder andere bündeln ihre Ängste in Tatendrang. Das hilft nicht zwangsläufig der Behandlung und Heilung des Kindes, denn unsere Ängste machen uns nicht automatisch zu herausragenden Herzchirurg*innen. Doch auch auf anderen Ebenen, zu Hause, in der Familie oder im Job, kann die Angst in Aktionismus umgewandelt und genutzt werden. Diese Art des Umgangs scheint auf den ersten Blick unpassend, doch ist sie für Betroffene oft hilfreicher als die erste Lähmung und die Sorgen, die durch Ängste ausgelöst werden.

Umgang mit den eigenen Ängsten

Egal, wie sich die Ängste bei dir äußern, welches Gesicht sie zeigen – du kannst den Umgang mit ihnen lernen.

Das wohl Wichtigste vorweg: Die Angst bleibt. Wie eingangs schon beschrieben, wird sie mal lauter und mal verdächtig still sein. Aber wenn du mit deinem chronisch kranken Kind den Weg einer Behandlung gehst, wird sie da sein (und auch darüber hinaus). Selbst wenn dein Kind mit sich und seiner Krankheit gut umgeht und der Alltag normal erscheint, wird die Angst noch leise in dir wohnen. Zum einen, weil du die Erfahrungen und auch Sorgen um dein Kind nicht löschen kannst. Zum anderen, weil die Angst auch ein positiver Treiber sein kann, wenn doch wieder etwas sein sollte.

Ich achte immer einen Tick mehr auf mein chronisch krankes Kind. Ich sehe schon von Weitem, dass etwas an seinem Auge ist, wo andere noch nicht einmal die Konturen seines Gesichts sehen könnten. Es ist, als ob die Angst meine Sinne schärft.

image Susanne, Sohn hatte ein unilaterales Retinoblastom

Im Folgenden lernst du einige Methoden kennen, mit der Angst umzugehen:

Ängste annehmen

Der erste Schritt ist, sie anzunehmen. Vor allem, wenn absehbar ist, dass der Weg nicht so schnell endet und du für dein Kind stark sein musst. Stärke und Ängste schließen sich nicht aus. Sie können in friedlicher Koexistenz leben oder sich sogar gegenseitig befruchten.

Das Annehmen der Angst ist eine Entscheidung. Dennoch ist diese nicht so einfach zu treffen. Um die Angst zu akzeptieren und im Zweifel auch ein Leben lang mit ihr zu leben, bedarf es Wissen und Informationen über realistische Szenarien im Zusammenhang mit deinem Kind und seiner Diagnose. Sei also in engem Kontakt mit dem behandelnden Ärzteteam, notiere dir alle Fragen, die sich ergeben, und lass sie dir detailliert genug beantworten, damit die Antworten dir helfen und dich beruhigen können. Denn oft fühlen wir uns umso unsicherer, je weniger wir über eine Situation wissen. Schließen wir diese Wissenslücke, wächst die Sicherheit und die Angst kann kurz Pause machen.

Ängste teilen

Allein Angst zu haben, ist schwierig. Die Gedanken drehen sich im Kreis und du wirst oft selbst nicht die Kraft oder auch den Blick dafür haben, die Gedanken und Ängste zu entkräften. Doch Ängste sind leichter auszuhalten, wenn du sie teilst. Nicht, weil sie dir jemand abnimmt, sondern, weil Impulse, Gedanken und Anteilnahme von außen helfen können. Dabei geht es nicht um das wahllose Mitteilen der eigenen Ängste an viele Menschen, sondern um einen ausgewählten Kreis von Verwandten oder Freund*innen, die sowohl um das Schicksal deiner Familie wissen, als auch die Kraft haben, dieses Wissen mitzutragen. Dadurch weißt du, dass du nicht allein bist und Menschen für dich und deine Familie da sind. (Mehr dazu im Kapitel „Dein Umfeld“ ab Seite 104.) Für manche ist es auch hilfreich, sich mit Eltern auszutauschen, die Ähnliches erleben oder durchgemacht haben. Es gibt zahlreiche Vereine oder Elterninitiativen, die Betroffene verbinden und den Kontakt herstellen. Wichtig ist, dass sich alle Beteiligten vorab sicher sind, ob sie die Geschichte und das Schicksal des Gegenübers auch hören und kennen möchten.

Das Gute im Blick haben

Gerade in der neuen und beängstigenden Situation ist es schwierig, den Blick auch auf das Gute zu lenken. Wenn es in der Familie noch andere Kinder gibt, ist es oft leichter, nicht nur auf die Erkrankung und das kranke Kind zu schauen. Denn das Positive im Leben darf nicht untergehen. Nimm dir einmal am Tag bewusst Zeit und schau: Was ist gut? Wofür bin ich dankbar? Diese Praxis aus der Achtsamkeitslehre weitet den Blick und animiert dazu, bewusst und aktiv positive Dinge in den Alltag einzubauen. Zusammen ein Buch lesen, kuscheln, puzzeln, Kuchen backen: Die Liste kleiner und bewusster Dinge, die deinen Alltag reicher machen, ist lang. Wenn du sie wahrnimmst, lassen sie dich deine eigenen Ängste für einen Moment vergessen. Es hilft auch, diese Momente bewusst aufzuschreiben und so eine Art Dankbarkeitstagebuch zu führen. Drei Stichpunkte pro Tag reichen aus, um zu verdeutlichen, dass es viele schöne Dinge gibt. Auch rückblickend kann dich diese Sammlung schöner Momente immer wieder bestärken und dir in Phasen starker Angst und Unsicherheit helfen.

Einen Anker finden

In manchen Situationen ist es nicht möglich, dankbar zu sein oder sich mit anderen auszutauschen. Wird zum Beispiel in der Klinik der nächste Behandlungsschritt besprochen, können die Ängste wieder hochkommen, dich direkt einnehmen und körperlich spürbar sein. Diese Momente werden kommen, aber ab einem gewissen Punkt sind sie planbarer. In diesen Situationen können kleine Anker dir helfen, dich wieder auf dich zu konzentrieren und die Angst nicht zu stark werden zu lassen. Sei es eine Kette, ein Armband, ein besonderer Stein oder ein kleiner Schlüsselanhänger. Du solltest mit dem Gegenstand etwas Positives und Stärkendes verbinden und dich daran wortwörtlich festhalten können. Warum sollten nur Kinder ein Plüschtier dabei haben dürfen, an dem sie sich festhalten?

Die Wahrnehmung von Angst findet körperlich statt: flache Atmung, angespannte Schultern o. Ä. Versuche, das Körpergefühl deiner Angst zu enttarnen und bewusst dagegen anzugehen. Atme tief und lange durch. Kreise die Schultern und strecke Arme und Beine.

Hole deinen Körper aus dem „Überlebensmodus“, indem du dir kaltes Wasser ins Gesicht spritzt oder über die Arme laufen lässt. Trinke bewusst ein Glas kaltes Wasser, um deinem Körper einen äußerlichen Reiz zu geben. Das signalisiert deinem Gehirn: „Es steht gerade kein Säbelzahntiger hinter mir!“

Lenke dein Gehirn ab: Wird die Angst so stark, dass du Panikattacken bekommst oder sie dich komplett lähmt, sage dir die 16 Bundesländer mit Hauptstädten auf, zähle in 7er-Schritten von 100 rückwärts oder überlege, was du in dieser Woche zu Mittag hattest. So aktivierst du den Teil deines Gehirns, in dem die Vernunft sitzt. Den brauchst du, um den nonverbalen Teil des Gehirns, wo die

Angst sitzt, zu beruhigen. Die Gedanken über Bundesländer oder das Mittagessen sind in dem Moment die Brücke zwischen beiden.

Schließe die Augen und benenne ganz klar, was du riechst, spürst und hörst. Spüre in deinen Körper hinein, beginne bei den Füßen und gehe über Beine, Oberkörper, Arme bis hin zum Kopf. Achte auf jedes Detail in dir.

Um das Nervensystem zu beruhigen, mache die 4-7-8-Atemübung. Atme tief in Bauch und Brustkorb ein und zähle dabei bis vier. Halte für sieben Zählzeiten deinen Atem an und atme dann bewusst aus, während du bis acht zählst. Wiederhole diese Übung drei- bis viermal.

Berühre dich: Kreuze deine Arme vor der Brust und lege deine Hände auf die Schulter. Klopfe mit deinen Händen nun vorsichtig aber deutlich spürbar auf deine Schultern und den Bereich um das Schlüsselbein. Durch die Berührungen und das Klopfen kommt dein Körper aus der Angst und sie wirken wie eine Umarmung.

Zerreißprobe für die Nerven

Neben den Gefühlen und Ängsten, die nun an der Tagesordnung sind, laufen viele Eltern Gefahr, in einen Funktionsmodus zu verfallen. Das ist eine normale Reaktion, denn sie gibt das Gefühl, etwas tun zu können und für das Wohlergehen aller in der Familie zu sorgen. Doch leider hat auch dieses Vorgehen eine Kehrseite. Neben all der Aufgaben und Abstimmungen geht etwas Wichtiges sehr schnell unter: du selbst! Chronisch kranke Kinder brauchen starke Eltern. Nicht nur für eine gute Versorgung, sondern auch für eine stabile Beziehung zueinander. Denn wenn Kinder spüren, dass sie nur noch sorgenvoll und in Zusammenhang mit ihrer Krankheit betrachtet werden, verändert sich die Beziehung zu ihren Eltern. Sie möchten nicht noch mehr Kummer bereiten, weil sie spüren, wie die Kräfte aller schwinden. Es ist also wichtig, bei all der Sorge um das eigene Kind, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Denn die Investition in die eigene Stärke ist am Ende eine Investition in die Familie und die Kinder, die davon nur profitieren können. Eltern stellen das Glück ihrer Kinder oftmals über das eigene. Dabei lernen Kinder schon früh von ihren Eltern. Leben wir ihnen also einen angemessenen und rücksichtsvollen Umgang mit uns selbst und unseren Kräften vor – auch in Krisensituationen –, dann lernt das Kind ebenso einen liebevollen Blick auf sich selbst und seine eigenen Kräfte.

So wichtig du für deine Kinder auch bist, du solltest dein (krankes) Kind niemals ausschließlich in den Mittelpunkt stellen. Das ist besonders zu Beginn schwierig und mag auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar oder gar egoistisch wirken. Aber auch das chronisch kranke Kind braucht seinen Raum. Wenn es nicht permanent im Mittelpunkt der familiären Aufmerksamkeit steht, hat es ebenso wie die Eltern die Möglichkeit, sich von seiner Diagnose zu lösen und ein relativ normales Leben zu führen.

Selbstfürsorge ernst nehmen

Je schwerer die Diagnose und der mögliche Behandlungsweg des Kindes sind, umso größer ist die Umstellung für dich. Bei einigen chronischen Erkrankungen verursacht die Behandlung einen großen Zeit- und Arbeitsaufwand, der auch zu Hause keine Pause macht. Du musst an Medikamente denken, bestimmte Übungen machen, auf Werte achten oder den generellen Zustand deines Kindes im Auge behalten. Du bist aber kein*e Hilfstherapeut*in. So sehr du dich dieser Aufgabe auch annimmst und dein Kind unterstützt: Wenn 24/7 die Kraft für das Kind draufgeht , ist sie schnell erschöpft.

DIE EIGENEN BEDÜRFNISSE SPÜREN UND WAHRNEHMEN

Stell dir regelmäßig folgende Fragen, um deine Kraftreserven im Blick zu behalten:

Esse ich regelmäßig? Esse ich gesund? Was würde ich gerne essen, das ausgewogen und nahrhaft ist?

Trinke ich den Tag über genug? Was trinke ich vorwiegend, wenn ich Durst habe?

Schlafe ich ausreichend? Was hält mich von ausreichend Schlaf ab?

Bewege ich mich genug? Wie kann ich trotz Einschränkungen zu mehr Bewegung kommen?

Fühle ich mich sicher? Spüre ich, dass alle genug tun, um die Lage unter Kontrolle zu haben – auch ich? Wen oder was brauche ich, um mich sicherer zu fühlen?

Mit wem stehe ich in Kontakt? Rede ich mit anderen, tausche ich mich mit ihnen über meine Gefühle und Gedanken aus? Mit wem möchte ich mich austauschen?

Oft scheint es, als würden Eltern chronisch kranker Kinder den Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen und Gefühlen verlieren. Das ist das Ergebnis der eigenen Gefühle und Unsicherheiten, aber auch dem Aufwand um Behandlung und Pflege des Kindes geschuldet. Es entsteht der Eindruck, dass die eigenen Bedürfnisse keinen Platz im Alltag haben, oder sie wirken für viele Eltern unangemessen und egoistisch. Aber ist das wirklich so?

Die eigenen Bedürfnisse sind kein Tabuthema. Du darfst dich um dich selbst kümmern und dich fragen: Was brauche ich?

Wenn du dich rund um die Uhr um dein Kind und die Familie kümmerst, kann dieser Blick allerdings verloren gehen. Ihr kocht, was das Kind gerne isst. Ihr spielt und lest, was das Kind möchte. Der Zeitplan des Tages wird von Ärzt*Innen oder der Pflege vorgegeben. Wo bleibt der Raum für dich selbst? Kurz: Du musst ihn einfordern. Das ist keine leichte Aufgabe, wenn die Gedanken vor allem am Anfang um das Kind und seine Gesundheit kreisen. Doch die Verbindung zu dir selbst ist wichtig, um bei Kräften zu bleiben und nicht zusammenzubrechen.

Ein wesentlicher Punkt, den viele Eltern in dem Moment nicht vor Augen haben: Je weniger Verantwortung wir für uns selbst und unser

Wohlergehen übernehmen, desto mehr fühlen sich unsere Kinder für uns verantwortlich. Das muss nicht nur das kranke Kind sein, sondern kann auch die Geschwisterkinder betreffen. Kinder haben ein sehr feines Gespür für Stimmungen und das Wohl aller, auch wenn das nicht immer offensichtlich ist. So möchten sie zusätzliche Konflikte mit ihren Eltern vermeiden, ihnen nicht noch mehr Sorgen machen oder möglichst viel zu Hause helfen. Manche Kinder neigen dann aber auch dazu, ihre wahren Gefühle und auch ihren Zustand zu verheimlichen, um den Eltern nicht noch mehr zuzumuten. Das ist gefährlich. Denn du bist für eine gute Behandlung meist auf die Kooperation, Gespräche und ehrliche Auskünfte deines Kindes angewiesen. Nicht nur zum Schutz deiner eigenen Kräfte, sondern auch zu dem der Kinder in der Familie oder der Ressourcen deines Partners oder deiner Partnerin. Denn auch diese können dazu neigen, ihr eigenes Wohl hintenanzustellen, um für den Rest der Familie alles zu geben. Wenn alle in der Familie so denken und vorgehen, kann das schnell dazu führen, dass niemand mehr wirklich bei Kräften ist und Zugang zu seinen Bedürfnissen hat.

Es geht dabei nicht um lange Auszeitwochenenden in einem Wellness-Hotel oder Ähnliches, denn viele Eltern würden und können das oft nicht mit ihrem Gewissen, dem Umfeld oder Behandlungen vereinbaren. Es geht eher um den Blick auf sich selbst im Alltag. Der sollte liebevoll und dir selbst zugewandt bleiben. Dafür reicht es oft schon, in alltäglichen Momenten auf dich und deine Bedürfnisse zu schauen. Wenn dein Kind gerade nur Nudeln mit Butter essen mag, ist das kein Grund, dich selbst auch ausschließlich davon zu ernähren. Worauf hast du Appetit? Egal ob Kochen oder Lieferdienst, es geht dabei vor allem um die Wahrnehmung deiner Bedürfnisse und darum, diese für dich zu erfüllen. Gutes und bewusstes Essen kann Balsam für die Seele sein und wieder eine kleine Verbindung zu dir herstellen.

Welche Form der Blick auf dich selbst annimmt, ist dir überlassen und hängt auch von deiner Zeit und deinen Möglichkeiten ab. Lass es eine Tasse Kaffee oder Tee ohne Handy und Ablenkung sein, ein Spaziergang oder Yoga und Meditation zu Hause. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die sowohl wenig Zeit als auch wenig Zubehör benötigen. Dennoch kann die Wirkung enorm sein, einfach weil du für dich selbst einstehst und in diesen kleinen Momenten Kraft sammeln kannst. Egal, wie du wieder den Blick auf dich lenkst, wichtig ist, dass es nicht bei einer kleinen einmaligen Auszeit bleibt. Wie wäre es damit, jeden Tag etwas Zeit für dich zu blocken, und sei es wirklich nur für die Tasse Tee am Morgen?

Achtsamkeit in extremen Situationen

Leider sind nicht alle chronischen Erkrankungen schnell und im besten Falle mit viel Zeit zu Hause überstanden. Im Gegenteil: Ein Großteil der Diagnosen erfordert zeitintensive Aufenthalte in Kliniken und Arztpraxen, viel Aufmerksamkeit und oft auch einen langen Atem. Diese Situationen sind extrem und lassen sich nicht mal eben nebenbei ausstehen. Wenn ihr zum Beispiel wochenlang im Krankenhaus seid, du unzählige Untersuchungen und Behandlungen mit deinem Kind durchlebst und dich so ein Stück weit selbst aufgibst, fällt Achtsamkeit für dich selbst wahnsinnig schwierig. Sie scheint unmöglich, wenn um einen Geräte piepen, Werte gemessen werden und im Zweifel intravenös Medikationen erfolgen. Dann die Yogamatte auszurollen, ist undenkbar und wirkt sicher auch skurril. Doch es geht bei Achtsamkeit nicht nur um das nach außen Sichtbare, das spürbar einen Unterschied in den eigenen Kräften ausmacht. Der Blick und die Zuwendung nach innen können dich genauso davor schützen, dass die eigenen Kräfte leerlaufen. Wie das aussehen kann?

Je nach Diagnose und Behandlung können um dich auch andere Eltern mit ähnlichen Schicksalen sein. Selbst wenn nicht, sind sicherlich Eltern in deiner Nähe, die auch für ihre Kinder da sind und zumindest die Sorge und das Aufreiben für die Behandlung kennen. Vernetzt euch miteinander, suche dir jemanden, mit dem du dich austauschen kannst und der*die im Zweifel auch mal kurz auf das Kind schauen kann, damit du durchatmen kannst. Vor allem der Austausch mit Personen, die die Gefühle in dir kennen und selbst Ähnliches erlebt haben, kann helfen. Wichtig dabei ist allerdings, sich die Gefühle und Sorgen der anderen nicht zusätzlich aufzuladen und ein bisschen inneren Abstand zu halten.

Viele Kliniken bieten in Zusammenarbeit mit sozialen Diensten auch Besuchs- und Spieldienste an. Das bedeutet, dass freiwillige Helfer*innen, zumeist Rentner*innen, auf die Station kommen, um den Kindern vorzulesen oder mit ihnen zu spielen. Diese Besuche bieten nicht nur für die Kinder neue Impulse und besondere Verbindungen. Auch die Eltern haben so einen kurzen Moment, um durchzuatmen, kurz allein vor die Tür zu gehen oder zu duschen. Dinge, die in extremen Situationen, enorm wirksam sein können, um den eigenen Akku wieder aufzuladen.

Ärzt*innen vertrauen (lernen)

Wir geben unseren Kindern viel Zeit. Wenn uns und ihnen eine neue Situation, wie zum Beispiel die Betreuung im Kindergarten, bevorsteht, planen wir Zeit für die Eingewöhnung und den Aufbau von Vertrauen ein. Nicht nur für unser Kind, sondern auch für uns. Wir möchten die Erzieher*innen kennenlernen, wissen, wer sich nun um unser Kind kümmert und auf es reagiert. Bekommt unser Kind die Diagnose einer chronischen Erkrankung oder muss generell unvorhergesehen in die Klinik oder in ärztliche Behandlung, haben wir eines oft nicht: Zeit.

Vieles muss schnell gehen und sofort entschieden und umgesetzt werden. Oft liegen zwischen erstem Kennenlernen der behandelnden Ärzt*innen und dem Beginn der Behandlung wenige Stunden bis Tage. Vertrauen kann so nicht langsam wachsen. Doch in diesem Moment hat etwas anderes Priorität: Wichtig ist, dass deinem Kind so schnell es geht geholfen wird. Das heißt auch, dass es zu teilweise fremden Menschen in den Behandlungsraum oder gar den OP muss. Vielen Eltern fällt das schwer, da sie weder den*die Ärzt*in als Mensch noch seine*ihre fachliche Expertise einschätzen können. Doch gerade in Bezug auf chronische Erkrankungen sind Kliniken sehr gut aufgestellt und haben für viele Erkrankungen Spezialist*innen.

Es ist nicht leicht, dein Kind fremden Menschen zu überlassen, die du vorher noch nie gesehen hast. Doch oft entsteht relativ schnell eine Vertrauensbasis zwischen betroffenen Familien und dem Fachpersonal in Praxen und Kliniken, da sich beide Seiten bewusst sind, wie wichtig diese Beziehung von nun an sein wird.

Solltest du dennoch ein schlechtes Gefühl haben, entstehen Unsicherheiten oder gibt es fachliche Unklarheiten, dann ignorier deine Wahrnehmungen nicht. Immerhin gibst du dein Kind in die Hände anderer. Deswegen solltest du neben den sowieso schon bestehenden Ängsten um dein Kind nicht noch Unsicherheit oder Misstrauen spüren. Eine weitere Meinung oder ein klärendes Gespräch kann in dem Fall hilfreich sein. Wichtig ist, dass du hier proaktiv vorgehst und sagst, was dich verunsichert. Manchmal ergeben sich daraus hilfreiche Antworten, weil weder Ärzt*innen noch Pfleger*innen sich aller Gefühle der Eltern bewusst sein können oder weil sie durch Zeit- und Termindruck zu schnell agiert haben. Auch auf ihren Schultern lastet viel Druck und Verantwortung.

Gibt es berechtigte fachliche Zweifel, musst du handeln und nach Alternativen oder zweiten Meinungen fragen. Das kann die behandelnden Ärzt*innen verunsichern oder andere Gefühle hervorrufen, aber in dem Moment sollte für alle ein Mensch im Mittelpunkt der ärztlichen Behandlung stehen: dein chronisch krankes Kind.

Die Rolle der sozialen Medien

Schon im normalen Alltag haben Internet und soziale Medien eine große Bedeutung. Sei es zur Organisation des Familienalltags mittels digitaler Kalender, für Absprachen per Nachricht oder die Suche nach Informationen im Internet. Mittlerweile nutzen sieben von zehn Eltern regelmäßig Social-Media-Kanäle. Dort tauschen sie sich aus, suchen Inspirationen oder Gleichgesinnte. Ganz vorn dabei ist der Austausch zu Themen rund um Baby, Elternschaft und Familien in Communitys, auf Facebook, Pinterest, Blogs und Instagram. Susanne Mierau, Autorin und Bloggerin, prägte den Begriff der „Online-Eltern“ beziehungsweise des „Onlineclans“. Denn im Gegensatz zu früher, als Familien und Gemeinschaften real und nah beieinander lebten, sich austauschten und ihre Kinder gemeinsam großzogen, sind Eltern heute vorwiegend auf sich allein gestellt. Dabei brauchen Eltern andere Eltern. Ihre Lösung: Sie erschaffen sich einen Elternclan im virtuellen Raum. In dieser Gemeinschaft tauschen sie sich aus, stärken sich den Rücken und helfen einander – mit Worten und Bildern in sozialen Netzwerken oder digitalen Nachrichten. Dieser Gedanke des Onlineclans bekommt für Eltern chronisch kranker Kinder noch eine ganz andere Bedeutung. Denn für sie geht es nicht um die Suche nach Inspirationen und Anregungen fürs Familienessen oder Ideen für die Kinderzimmereinrichtung. Eltern chronisch kranker Kinder treibt das Bedürfnis nach Austausch mit Gleichgesinnten an. Sie suchen Menschen, die das, was sie gerade erleben, ebenso kennen. Jede Angst, jede Hoffnung, jede Option.

Die Möglichkeit, in kürzester Zeit eine nahezu unüberschaubare Menge an Informationen zu bekommen, ist verlockend und oft hilfreich, wie im Kapitel „Dr. Google“ (S. 15) erläutert.

Doch unabhängig von der Möglichkeit, sich über die Diagnose und Behandlung zu informieren, haben soziale Medien einen weiteren Fokus: den Austausch unter Menschen, die ähnliche Anliegen oder Interessen haben. So kannst du dort schnell andere Familien finden, die Vergleichbares erlebt haben oder aber genau am selben Punkt stehen. Der Austausch mit Gleichgesinnten kann helfen, denn niemand versteht deine Gefühle so gut wie andere Eltern, die für ihr Kind die gleiche oder eine ähnliche Diagnose bekommen haben. Was hat ihnen geholfen? Wie sind sie damit umgegangen? Und wie geht es der Familie heute? Fragen, deren Antworten helfen können, mit der eigenen Geschichte umzugehen.

Vor allem in der ersten Zeit nach der Diagnose und beginnenden Behandlungen oder bei längeren Krankenhausaufenthalten sind die sozialen Netzwerke reizvoll. Sie können ablenken, zerstreuen und in besonders zähen Zeiten beschäftigen. Denn während die eigene Welt stillzustehen scheint und die Fragen und Sorgen einen zu überrollen drohen, ist im Smartphone und den darin bespielten Kanälen alles beim Alten. Die Eltern, die sich dort zeigen, berichten weiterhin von ihren Alltagsthemen. Das kann dich ablenken und dich für kurze Zeit deine eigenen Sorgen vergessen lassen. Eine Strategie, die nicht zu unterschätzen ist. Aber als Mutter oder Vater eines chronisch kranken Kindes fühlst du dich oft und vor allem in der Anfangszeit unendlich weit davon entfernt, was andere bei Instagram & Co. zeigen. Das steigert nicht nur den inneren Druck, weil ihr nicht mehr dazuzugehören scheint. Es führt mitunter auch dazu, dass du dich dadurch selbst infrage stellst und minderwertig fühlst. Das kann den Frust steigern, für Neid sorgen und damit die eigene Stimmung und Gefühle stark negativ beeinflussen. Dieser Strudel aus Neid und Demotivation sollte dir bewusst sein. Wenn du also merkst, dass es dir nach dem oft unbewussten Griff zum Handy nicht gut oder gar schlechter geht, liegt das vielleicht an den Inhalten und sozialen Medien, die du gerade konsumiert hast. Das wird dir erst mit der Zeit klar. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, ist, die sozialen Netzwerke zu meiden oder die entsprechenden Apps komplett zu löschen. Dann kannst du dir aber die positiven Ablenkungseffekte nicht zunutze machen. Vielleicht ist ein Zwischenweg sinnvoller: Wem folgst du in den sozialen Netzwerken? Wer tut dir gut? Welcher Kanal führt dazu, dass du dich schlecht fühlst? Die Namen, die dir bei der letzten Frage einfallen, solltest du meiden.

Vielleicht findet sich auch ein kleiner Kreis Eltern, die Ähnliches erleben und bereit sind, sich mit dir auszutauschen. Diese Entscheidung ist sehr individuell und hilft sicher nicht allen, aber sie kann den Umgang mit der neuen Situation und deinem Kind im Positiven stärken. Wer weiß, vielleicht bist du auch die- oder derjenige, der*die anderen Eltern perspektivisch helfen kann, mit ihrem Schicksal umzugehen, und sie dazu motiviert, sich für andere Eltern und ihre Kinder stark zu machen. Denn so wie du vielleicht in der ersten Zeit nach Vorbildern und Gleichgesinnten gesucht hast, suchen jeden Tag auf der Welt andere Eltern nach ebendiesen.

Die Macht der kleinen Schritte

Mit der Diagnose einer chronischen Erkrankung haben Eltern nicht selten das Gefühl, vor einem riesigen Meer zu stehen, dessen Ufer sie nicht sehen können. Es wirkt dunkel, mit starken Wellen und wahnsinnig tief: so viele Unebenheiten, Unsicherheiten und der Ausgang ist bei manchen Diagnosen nicht klar. Das Gefühl kann überwältigend sein und dich, neben Ängsten um dein Kind, in eine Gedankenspirale ziehen, die alles andere als hilfreich ist.

Negative Gedanken verstärken sich, wenn sie kein Ventil finden. Indem du stets das große Ganze im Kopf hast, trübt sich der Blick für die kleinen Dinge und Schritte, die es zu gehen gilt oder die sogar schon gegangen und bewältigt wurden.

Den Blick auf die kleinen Schritte zu richten, verringert nicht immer deine Unsicherheiten. Das ist okay. Es ist sogar wichtig, diese Unsicherheiten zu akzeptieren, denn sie können niemals zu hundert Prozent entkräftet werden. Das klingt wie ein unmöglicher Schritt, aber er ist machbar: Toleriere die Unsicherheiten. Denn es wird immer Dinge geben, die wir nicht beeinflussen können. Allein schon die Tatsache einer chronischen Erkrankung ist weder deine Schuld, noch kannst du etwas daran ändern. Das Einzige, was du ändern kannst, ist deine Sicht darauf.

Nicht nur mangelndes Wissen sorgt für Angst, sondern auch die Unübersichtlichkeit dessen, was vor einem liegt. Will jemand von Europa nach Amerika segeln, schaut er sich zwar den Weg über den Atlantik an, unterteilt diese Strecke aber in einzelne Abschnitte, die er an einem Tag oder in einem kleinen Zeitraum schaffen kann. Dieses Vorgehen heißt auch „Macht der kleinen Schritte“. Denn das große Ganze – sprich die Diagnose mit all ihren Behandlungen und möglichen Folgen – ist unüberschaubar. Indem du dieses Ganze auf kleine Etappen verteilst und nur noch von Situation zu Situation denkst, wird der Fokus mehr auf das Hier und Jetzt gelenkt. Die Ängste haben dadurch weniger Spielraum und bieten eine kleinere Angriffsfläche.

Autor

  • Bella Berlin (Autor:in)

Bella Berlin arbeitet als freiberufliche Autorin, Content Creatorin und Dozentin. Sie war lange für eine der größten deutschen Forschungsorganisationen tätig, u.a. zu Themen wie Gesundheit, Translationsforschung, Energie und Umwelt. Sie ist zweifache Mutter und lebt mit ihrer Familie im Norden Brandenburgs. Die chronische Erkrankung ihrer Tochter hat die Familie stark beeinflusst und eine Zeitlang bestimmt. Mit ihrem Ratgeber möchte sie die Informationen und Unterstützung liefern, die sie damals gebraucht hätte.
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Titel: Mein chronisch krankes Kind