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Mein wunderbares wildes Kind

Zu laut, zu unbequem, zu anders - Was lebhafte und laute Kinder brauchen. So begleitest du dein Kind gut durchs Leben. Alle typischen Herausforderungen & die besten Lösungen. Spiegel-Bestsellerautorin

von Inke Hummel (Autor:in)
216 Seiten

Zusammenfassung

Laut und anstrengend, aber auch mutig und leidenschaftlich – wilde Kinder können im Familienalltag eine echte Herausforderung sein. Als Eltern fragt man sich: Wie gehen wir mit Übermut, Unkonzentriertheit oder Wut um? Wann sollen wir unser Kind bremsen und wie lernen wir, seine Wildheit zu lieben? Wie meistern wir Stress-Situationen und Konflikte zuhause, in der Kita, mit Freunden oder Lehrer*innen? In ihrem Ratgeber bietet Inke Hummel Unterstützung aus der bindungsorientierten Erziehung. Sie zeigt, wie Eltern ihr wildes Kind liebevoll begleiten, warum Strafen und Druck keine Lösung sind und wie es gelingt, in lauten Momenten die Ruhe zu bewahren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

DEIN KIND SEHEN

Dein Kind ist alles andere als ein stiller Träumer. Niemand nennt es „besonnen und brav“ – dafür aber „wild und laut“, manchmal auch „mutig und leidenschaftlich“. Einige nehmen es als übermütig, grenzenlos und anstrengend wahr. Es fordert dich und andere und macht mit seiner frechen Art sich selbst das Leben schwer. Das verunsichert dich und du suchst nach dem richtigen Weg, dein Kind zu begleiten? Du wünschst dir Stärkung, um dieser Aufgabe besser gewachsen zu sein? Dieses Buch hilft dir dabei.

„Kannst du nicht einmal ruhig sitzen bleiben!“
„Konzentrier dich mal, du Quatschkopf.“
„Ihr Sohn crasht hier ständig die ganze Gruppe!“
„Eure Tochter rennt auf jeden zu, auch auf Wildfremde. Das würde ich echt mal untersuchen lassen! Das ist doch nicht normal.“
„Ihr Kind muss sich einfach mal zurücknehmen!“
„Er kann nur Vollgas und braucht immer Leute um sich herum.“
„Schatz, bitte lass den Herrn einmal ausreden!“

 

Kennst du solche Sätze seit der Geburt deines Kindes? Dann ist es ein sehr temperamentvoller Mensch, lebhaft und lebensfroh – positiv betrachtet. Das birgt aber auch viele Herausforderungen. Denn zum einen gelingt nicht jedem eine so anerkennende Sichtweise, und zum anderen ist in unserer modernen Welt nicht überall Platz für überbordende Energie. Das verlangt Kindern und Erwachsenen im Umgang mit deinem Kind viel ab und fordert dich im Alltag extrem. Vor allem aber ist es für dein Kind mühsam, denn nicht jeder kommt mit einem forschen Charakter zurecht. Das heißt, dein Kind wird öfter Gegenwind erfahren, den es verarbeiten muss, ohne sich minderwertig zu fühlen.

Wilde Kinder unterstützen

Du bist unsicher, wann du dein Kind bremsen solltest und wie? Du grübelst, ob dein Verhalten das deines Kindes ungünstig beeinflusst? Immer wieder gibt es Situationen, in denen du dein Kind gern besser begleiten würdest?

Du fragst dich, wie viel Raum du deinem Kind und seiner Persönlichkeit geben musst und wo du ihm helfen solltest, sich sozial verträglicher zu verhalten? Du hast auch die Sorge, es „zu verbiegen“? Oft fragst du dich, wie du das alles schaffen sollst, ohne selbst zu leiden? Und manchmal weißt du nicht mehr, ob du das allein bewältigen kannst oder ob du Hilfe in Anspruch nehmen solltest?

Möglicherweise sprechen Menschen aus eurem Umfeld dich immer wieder auf das Verhalten deines Kindes an: Die Großeltern wundern sich (und vergleichen mit anderen Enkelkindern), die Bekannte zweifelt deine erzieherischen Fähigkeiten an, der Kindergarten meldet im Entwicklungsgespräch Probleme zurück und empfiehlt sogar psychologische Abklärung. Oder die Lehrkräfte äußern bei jedem Elternsprechtag Zweifel und fordern Veränderung? Vielleicht sind bereits Kinderfreundschaften zu Bruch gegangen, weil dein Kind zu lautstark in den Mittelpunkt drängte?

Das macht nervös, kann euch stressen und belasten. Für dich selbst bleibt häufig keine Zeit mehr, dein Kind fühlt deine Ängste und unter Umständen den Groll und Unmut seines Umfelds. Doch all das muss nicht so bleiben. Viele Eltern kennen diese Fragen und Unsicherheiten. Es gibt Lösungen!

Nimm zuallererst den Druck raus – für dich und dein Kind. Es ist wichtig, zu wissen: Kinder mit einem wilden Temperament und einer spontanen und lauten Art benötigen andere elterliche Unterstützung als stille, schüchterne Kinder. Und sie brauchen für ihre emotionale Entwicklung oft mehr Zeit, als unsere Gesellschaft ihnen üblicherweise zugesteht. Das Einschulungsalter gilt oft als Meilenstein – stillsitzen, nicht mehr hauen, nicht mehr anfassen und so weiter – ist aber ebenso wenig eine magische Grenze für alle Kinder wie 3, 12 oder 16. Nur weil etliche Kinder zu diesem Zeitpunkt bestimmte Entwicklungsschritte gemeistert haben, heißt das nicht, dass der Rest „falsch“ ist! Auch wenn es so einfacher wäre. Die sogenannte „Normvarianz“, also alles, was okay ist, ist deutlich breiter als viele meinen.

Außerdem müssen nicht alle Kinder in sozialen Situationen identisch reagieren. Es ist doch ein Glück, dass wir stille und laute, bedachte und forsche, verträumte und klare Kinder (und so viele verschiedene mehr) haben! Auch ein lautes, lebensfrohes Kind ist eine Bereicherung und darf dies im Teenie- und Erwachsenenalter bleiben. Wichtig ist, dass du und schließlich auch das Umfeld es anerkennen. Und dass Eltern mit ihrem Kind nur in den Bereichen Veränderungen suchen, in denen das Kind leidet oder andere Menschen im Umgang mit ihm übermäßig betroffen sind.

Laute, lebensfrohe, forsche Kinder brauchen Zeit, Begleitung, Verständnis und unbedingt Toleranz! Du musst sie nicht umkrempeln.

Wie dieses Buch funktioniert

In diesem Buch wirst du Antworten auf folgende grundlegende Fragen finden:

Wer ist mein Kind eigentlich?

Muss ich mit meinem Kind gemeinsam etwas tun?

Brauche ich Hilfe und wer kann sie mir geben?

Wie kann ich erreichen, dass es mir besser geht und ich gut für mein Kind sorgen kann?

Es wird dich dabei unterstützen, …

dein Kind richtig einzuschätzen: Woher rührt die Wildheit? Was hat es für ein Temperament? Haben manche Verhaltensweisen ihre Ursache in einer nicht passenden Begleitung? Oder (selten!) steckt eine Störung mit Krankheitswert dahinter?

dein Kind positiver wahrzunehmen: Was weiß es selbst über sich und sein Verhalten? Was macht seine Persönlichkeit aus? Was ist wertvoll an seiner eher lauten Art?

mit deinem Kind gut in Beziehung zu sein: Wie gelingt gute Kommunikation? Wie begleitest du alle Entwicklungsschritte angemessen?

zahlreiche herausfordernde Situationen nach und nach besser zu meistern: Von der Krabbelgruppe bis zur Pubertät gibt es Hilfe für euch! Du wirst dich auskennen und deinem Kind diese Sicherheit weitergeben.

einzuschätzen, was du mit deinem Kind üben solltest und was bleiben darf, wie es ist: Was sind deine Aufgaben? Wo musst du „schubsen“? Was musst du annehmen?

herauszufinden, ob externe Hilfe notwendig ist: Welche Möglichkeiten gibt es?

deinem Umfeld gestärkt entgegenzutreten und passend zu argumentieren: Erläutere Ursachen, benötigte Hilfestellungen und vor allem die guten Seiten deines Kindes mit den richtigen Worten! Lass nicht zu, dass anstrengendes Verhalten vorschnell als falsches Verhalten deklariert wird.

deine innere Ruhe bei allem nicht zu verlieren: Wo kannst du an dir selbst arbeiten? Was triggert dich? Wie kannst du passend reagieren? Wie kannst du besser auf dich selbst achten?

Ich möchte also mit dir gemeinsam dich und dein Kind in den Blick nehmen. Dabei soll im Mittelpunkt stehen, ob dein Kind leidet, Nachteile hat, Unterstützung benötigt und ob es euch als Familie schlecht geht – oder ob das nur von außen so scheint. Denn das ist der Knackpunkt bei allen besonderen Persönlichkeitsmerkmalen (zu leise, zu laut, zu träge, zu forsch … zu anders!): Hat das Kind für sich und in Beziehungen kein Problem und kommst du meist damit zurecht? Dann darf keine Institution, dürfen keine Verwandten oder Ärzt*innen fordern, dass du etwas im Kind (mit therapeutischer Hilfe) veränderst, nur weil es anders ist als viele andere. Zu solch einem Schritt sollte dich nur ein gestörtes Miteinander, ein Leidensdruck im Kind und/oder innerhalb der Familie führen.

image Starke Kinder haben Eltern, die sie so behandeln, als seien sie bereits die Persönlichkeit, die sie sein wollen. Weil sie diese Person bereits sind.

(Die Kinderflüsterei/Alexandra Köhler)

Ich blicke mit dir auf Kinder in verschiedenen Altersgruppen, beleuchte typische Alltagssituationen, in denen Wildheit, überstürztes Handeln, eine hohe Lautstärke und ähnliche Verhaltensweisen herausfordernd sind. Ich gebe dir Ideen mit, wie du deinem Kind hilfreich zur Seite stehen kannst, ohne dich selbst zu vergessen. Und wie du eure Umgebung für eure Situation sensibilisieren kannst. Denn wilde Kinder sind wunderbare Kinder mit vielen positiven Eigenschaften. Man muss nur die Kraft haben, diese zu sehen.*

Der Schwerpunkt des Buches liegt dabei auf den ersten sechs Lebensjahren, in denen Bindung entsteht und emotionale Entwicklung grundlegend stattfindet. Während dieser Zeit braucht dein Kind vor allem Raum, um Impulskontrolle zu üben. Wer nicht üben und Fehler machen darf, kann nicht lernen.

0–6
Jahre

Die Grundschulzeit ist eine Phase, in der sich dein Kind normalerweise gut in andere Menschen einfühlen und moralische Grundsätze verstehen kann, sodass es immer sinnvoller seine Entwicklung mitbestimmt.

6–10
Jahre

Im Jugendalter muss und kann dein Kind sein Temperament besser regulieren und wird immer selbstständiger. Aber auch in dieser Phase kannst du es vorsichtig und in gutem Miteinander unterstützen. Hier bekommst du einen Ausblick für diese Lebensphase.

11–16
Jahre

Lies am besten alle Kapitel, auch wenn dein Kind schon älter ist. In jedem erhältst du wertvolle, altersunabhängige Empfehlungen für euren Alltag und insbesondere eure Kommunikation.

Ich möchte dich aber auch ermutigen, dich zurücklehnen und mit Gelassenheit anzunehmen, dass dein Kind die Welt holterdiepolter erobert.

Du wirst im Verlauf der Lektüre ein Gespür dafür entwickeln, wann das ausreicht. Damit du den Menschen und Institutionen um euch herum sagen kannst: „Mein Kind hat gar keine Probleme. Das sind nur unsere Erwartungen!“

Ich empfehle dir, zur Lektüre Stift und Papier parat zu legen, um Aufgaben sofort anzugehen und konkrete Schritte gleich zu planen.

Und nicht vergessen: Auch du brauchst Stärkung! Ein forderndes Kind zu begleiten, ist kein Spaziergang, und du bist nicht „falsch“, nur weil dir das schwerfällt oder dich anstrengt. Du bekommst in diesem Buch ebenfalls Hilfe, um an dir zu arbeiten.

__________________

* Alle Altersangaben im weiteren Verlauf sind nicht absolut zu verstehen, sondern dienen als Orientierung.

 

WILD – WAS IST DAS EIGENTLICH?

Dein Kind ist herausfordernder als andere, weil es sich außergewöhnlich aktiv, lautstark und mutig zeigt. Es scheint nicht daran zu denken, welche Folgen sein Handeln hat. Das ist manchmal inspirierend, aber oft auch erschreckend und für andere unangenehm. Ist das sein Temperament? Ist das seine Strategie, um gut durchs Leben zu kommen? Oder steckt dahinter sogar eine Störung, die in therapeutische Hände gehört?

Um gut einschätzen zu können, welches Wesen dein Kind wirklich mit ins Leben gebracht hat, schau dir an, wie es seine Umgebung wahrnimmt und auf sie reagiert. Im Gegensatz zu einem schüchternen Kind nimmt ein forsches Veränderungen, Stress und Fremdes positiv auf und versteckt sich nicht davor, sondern sucht fast danach. Das liegt an seiner Amygdala, dem Teil seines Gehirns, der unsere Erlebnisse sofort emotional bewertet: Sie sagt uns, ob Vorsicht geboten ist oder wir Angst haben sollten. Bei manchen Menschen ist sie übererregbar – das sind die Ängstlichen, die sich aus Furcht zurückhalten, oder die Gefühlsstarken, die rasch extrem emotional reagieren. Bei anderen ist sie von Geburt an schwer erregbar – so wie vermutlich bei deinem Kind. Es ist mutiger, aber auch unaufmerksamer als andere. Das zeigt sich beim Erledigen von Aufgaben und im sozialen Miteinander: Empathie fällt ihm wahrscheinlich etwas schwerer.

Das heißt, dein Kind kann Veränderungen häufig stoisch aushalten, braucht sie oft sogar als Impulse und ist ein Sonnenschein, wenn viel passiert und es etliche Reize verarbeiten muss. Es macht sich wenig Sorgen und ist eher optimistisch. Mit anderen kommt es leicht in Kontakt und kennt keine Berührungsängste – weder bei Menschen noch Tieren, Lebensmitteln oder Aktivitäten. Das klingt ja großartig!

Tatsächlich ist es das für Eltern in vielerlei Hinsicht. Aber spätestens wenn du mit deinem Kind in die Welt hinausgehst, zeigen sich auch negative Seiten. Der Spaß an immer neuen Reizen erschwert es deinem Kind, sich zu konzentrieren. Die geballte Energie ist für viele Menschen nicht nur anregend, sondern manchmal kaum zu ertragen (auch zu Hause). Und die geringere Erregbarkeit des Warnzentrums bringt es eben mit sich, dass dein Kind seine Reaktionen tendenziell zu wenig durchdenkt. Der Baum ist gefährlich hoch? Das Auto rast uns aber sehr schnell entgegen? Im Raum ist es schon ohne mein Schreien ordentlich laut? – Oh, oh! Sein Gehirn bemerkt so etwas nicht und sieht deshalb auch keinen Grund, seinen Besitzer auszubremsen.

Wilde Kinder im Alltag

Die oben erläuterte Art, wahrzunehmen und Reize zu verarbeiten, beeinflusst die Reaktionen und das Verhalten eines Menschen:

Dein Kind ...

traut sich mehr, ist weniger gehemmt.

lebt impulsiv und tritt häufig sehr energisch auf.

stellt sich selbst eher in den Mittelpunkt.

geht (zu) große Risiken ein.

übertritt Grenzen seiner Mitmenschen, erscheint dominant, respektlos oder sogar aggressiv.

Ein wildes Wesen kann also Probleme bereiten (mit anderen und mit sich selbst) und eine Belastung darstellen.

Wir kennen diese Zweischneidigkeit aus Arbeitszeugnissen. Satzbausteine wie „Er war immer sehr gesellig“ oder „Sie hatte stets progressive Ideen, die sie vehement vortrug“, können positiv wie negativ gelesen werden. Sie enthalten Kritik: Die- oder derjenige fällt zur Last, schafft ihre*seine eigentlichen Aufgaben nicht wie erwartet, ist nachlässig, distanzlos und dominant.

Bei einem Kind kann diese kritische Sicht einschneidende Folgen haben. Denn …

es ist noch unterwegs auf seinem Entwicklungsweg und hat in vielen Bereichen nicht die Reife, umsichtig mit seinen eigenen Bedürfnissen und Wesenszügen umzugehen. Das wird ihm häufig als Boshaftigkeit oder Unachtsamkeit ausgelegt. Dabei kann es in guten Beziehungen lernen, empathisch und hilfsbereit zu sein und egozentrische Ansätze zu überschreiben.

es wird ständig begutachtet und bewertet. Von Ärzt*innen, dem Kindergarten und der Schule. Diese melden in der Regel (angebliche) Defizite zurück oder bestrafen das Kind sogar – das kann am Selbstwertgefühl kratzen und die Entwicklung schädigend beeinflussen. Außerdem kommt es oft zu schnell zu einer „Laiendiagnose“, die dem Kind für immer anhaftet.

es muss seinen Platz in der Familie, zwischen den Gleichaltrigen und in Kita- bzw. Schulgruppen oder bei Freizeitaktivitäten noch finden. Kritische Rückmeldungen verunsichern in dieser Phase, vor allem, wenn ein wildes Temperament als „Fehler“ angesehen wird. Denn es handelt sich lediglich um eine „Normvarianz“, also eine mögliche, unbedenkliche Ausprägung.

Bindung fördern

Ein wildes Kind muss mit seinem Temperament leben. Alle Bezugspersonen können ihm aber dabei helfen. Denn Temperament und das Zusammenspiel von Hormonen und Botenstoffen im Gehirn sind zwar angeboren, aber durch Erfahrungen beeinflussbar. Wir Eltern haben vieles in unseren Händen, selbst wenn Umfeld und Institutionen zusätzlich Einfluss ausüben. Der Umgang mit Wildheit unterscheidet sich kulturell, von Familie zu Familie und von Umfeld zu Umfeld.

Es gibt vier verschiedene Wege, einem wilden Kind zu begegnen:

1. beziehungsorientiert

Ich nehme das Kind wahr und gestehe ihm sein Temperament zu, unterstütze es aber regulierend und ermutigend auf einem sozial verträglichen Entwicklungsweg.

2. entwicklungshemmend

Ich nehme mein Kind zu sehr in Schutz und erwarte vom Umfeld zu viel Rücksichtnahme, von meinem Kind dagegen zu wenig.

3. ignorierend

Ich missachte mein Kind und dränge es dadurch erst in eine ungute Verhaltensstrategie.

4. herrisch

Ich halte mit Härte dagegen und versuche, ihm sein Temperament geradezu auszutreiben.

Der beziehungsorientierte Weg (1), den dieses Buch beschreibt, ist der sinnvollste: voller Liebe, Toleranz und Richtungsweisung dem Kind helfen, sich selbst zu regulieren, aber auch altersgemäße Entscheidungs- und Handlungsspielräume anbieten. Das stützt die Bindung; und je sicherer ein Kind gebunden ist, desto besser kann es sich zunächst auf deine Unterstützung einlassen. Und desto leichter wird es ihm nach und nach fallen, sich ohne deine Anwesenheit sozial verträglich zu verhalten und sich dabei als stark und selbstwirksam zu erleben.

Außerdem verändert sich die Wahrnehmung eines Kindes, wenn es immer und immer wieder Stress erlebt. Das kann seine Reizverarbeitung weiter erschweren. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der beziehungsorientierte Weg der beste, denn er vermindert Stress.

Entwicklungshemmung (2) ist bedenklich und nicht sinnvoll. Eltern, die diesen Weg wählen, tun das häufig aus dem Bedürfnis heraus, ihr Kind beschützen zu wollen. In dieser Ausprägung ist das aber schädlich, das Kind wird auf eine bestimmte Art vernachlässigt: Ihm fehlt ein elterlicher Leitwolf, jemand, der ihm hilft, sein Temperament in die richtigen Bahnen zu lenken. Das kann die Wildheit noch befeuern. Die Gesellschaft wälzt das gerne auf die Kinder ab und sie bekommen den Stempel „Tyrann“.

Ignoranz und Härte (3 und 4) sind manipulativ und können das Verhalten deutlich verschlimmern oder aber dazu führen, dass das Kind seine eigene Persönlichkeit unter großem Leid unterdrückt.

Im Umgang mit einem besonders lebendigen, forschen Kind kann fehlende Beziehungsorientierung (2, 3 und 4) das herausfordernde Verhalten verstärken. Das Kind reagiert dann auf die Übervorsicht, die bedrohliche Willkür oder die Ablehnung im Elternhaus, indem es (unbewusst) erst recht eine aufdringliche, distanzlose Strategie wählt, vielleicht auch eine verstärkt aggressive.

Im anderen Extrem können diese Erziehungsstile dafür sorgen, dass das Kind sich nicht gesund und wesensgemäß entwickelt, sondern sich zurückzieht und versteckt.

Eltern, die Wert auf Bindung und Beziehung legen, sich eher im ersten Weg wiederfinden und ihr Kind gut sehen und begleiten, helfen ihrem Kind mit seinem aktionsstarken Wesen, ohne es noch anzukurbeln.

Vom „bindungsfördernden Verhalten“ des demokratischen Stils (1) profitieren alle Kinder – besonders die lauten, herausfordernden. Denn eine gute Eltern-Kind-Bindung schenkt dem Kind emotionale Sicherheit: Es wird feinfühlig gesehen und begleitet, was sich direkt darauf auswirkt, wie gut es lernen kann, seine Impulsivität gesund zu regulieren.

Dieser bindungs- und beziehungsorientierte Erziehungsstil beinhaltet:

Gewaltfreiheit (körperlich, verbal und psychisch).

eine Ja-Umgebung zu schaffen, in der das Kind auf keine unnötigen Hindernisse trifft. (Unvermeidliche gibt es zur Genüge!)

möglichst viele Ja-Menschen (und somit intakte Beziehungen) ins Kinderleben zu integrieren, die es verlässlich begleiten und gut wahrnehmen.

dem Kind zu vertrauen, an es zu glauben und das auch auszustrahlen.

das Kind gemäß seinen Fähigkeiten zu fördern.

dem Kind wertschätzend zu begegnen und ihm zu helfen, zu erkennen, worin es richtig gut ist.

wahrzunehmen, an welchen Herausforderungen ihr arbeiten müsst. Begleite sie regulierend, sodass dein Kind sie händeln und allein zu Entspannung finden kann.

das Kind mit kleinen Zielen zum Vorankommen zu motivieren.

das Kind zum Aktivwerden zu ermuntern.

das Kind sich kontinuierlich ausprobieren zu lassen und ihm Raum für Fehler zu geben.

Beharrlichkeit vorzuleben.

innerhalb der Familie (und mit anderen) klug, fair und problemlösend zu kommunizieren.

sich empathisch umeinander zu kümmern und dem anderen emotionale Unterstützung zu geben.

in Kooperation und gutem Miteinander zu leben. (Was auch elterliche Selbstfürsorge beinhaltet!)

als Leitwolf dem Kind wohlwollend und im Perspektivwechsel zu verdeutlichen, wo die Limits der anderen Menschen liegen.

die eigenen Erwartungen zurückzustellen. (Du hast dir ein ruhiges Kind gewünscht, aber nicht bekommen? Das ist ein Punkt, an dem du arbeiten musst – nicht dein Kind.)

die eigenen Bedürfnisse zu zeigen.

Diese Aspekte sind keine Garantie für gelungene Eltern-Kind-Bindungen oder dafür, dass unsere Kinder gesunde, sozial verträgliche Persönlichkeiten werden.

image Ich glaube, eines der größten Missverständnisse übers Elternsein ist, dass es, wenn man‘s richtig macht, immer allen gut geht.

(Nora Imlau, Twitter/@planet_eltern)

Aber sie sind die sicherste Variante mit der höchsten Wahrscheinlichkeit für einen günstigen Verlauf. Daher beruht dieses Buch genau auf diesen Zielsetzungen.

Lerngelegenheiten schaffen

Ein Kind kann sein Grundtemperament, das ihm das Zusammenleben mit seinen Mitmenschen gelegentlich erschwert (wie z. B. besondere Impulsivität und geringe Unsicherheit oder im Gegenteil auch starke Schüchternheit und Gehemmtheit), nicht ablegen! Aber es kann und sollte lernen, sich durch verschiedene Strategien zu regulieren, wenn es sich in guter Begleitung ausreichend darin üben darf. Ein hoher Antrieb trifft bei deinem Kind auf mittelmäßige Impulskontrolle, Spontanität und leichte Egozentrik; doch der Umgang damit ist erlernbar. Du kannst gute Gewohnheiten einüben, statt „schlechte“ wegzuerziehen. Setze hier deinen Fokus.

Gute Beziehung ermöglicht (immer) Lernen und Lernbereitschaft sowie auch einen raschen Abbau von Anspannung und Aufregung. Aber Achtung: Ein Kind muss erst eine gewisse geistige Reife erlangt haben, bevor es sich kontrollieren kann. Unabhängig davon, wie viel du hilfst. Von einem Kind unter 3 Jahren dürfen wir Großen keine sinnvoll durchdachten Handlungen erwarten! Erst recht nicht von einem Kind mit wildem, forschem Temperament.

Dein Kind lernt ab der Geburt, sich zu bewegen und lustvoll die Welt zu erkunden. Oft erwarten wir, zu Unrecht, dass es beides sofort wieder gezielt einschränken kann. Ein wildes, forsches Kind braucht dazu eine klare, liebevolle Bindungsperson (und oft sogar Körperkontakt), sonst kann es sich nicht unter Kontrolle bringen.

Es braucht keine Eltern, die diese Entwicklung ihm allein überlassen, aber auch keine, die ihm ständig alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Denn damit räumen sie Lerngelegenheiten aus dem Weg. Statt wie ein Bulldozer dein Kind vor allem und allen zu „schützen“, solltest du ihm Helfer*in und Tröster*in sein, aber auch Animateur*in, die*der hilft, aktiv zu werden.

Dein Kind muss sich auf seinem Lernweg aber nicht manipulieren und erdrücken lassen, sondern darf in bestimmten Grenzen durchaus auf Toleranz pochen. Es negativ zu bewerten und als „mangelhaft“ anzusehen, ist nicht fair. Verwehr dich dagegen. Dein Kind hat verdient, wertfrei in seinem Wesen gesehen zu werden: Neben Eigenschaften wie „klein“ oder „groß“, „rothaarig“ oder „blond“, „sportlich“ oder „musikalisch“ sind auch „forsch“ und „resolut“ nur neutrale Beschreibungen.

Achte darauf, dass du beim Nachdenken über die Thematik nicht in Fallen tappst, die dir bestimmte, zum Beispiel geschlechtsspezifische, Erwartungen oder kulturelle Vorgaben stellen. Unbewusst haben wir und auch Kita- und Schulpädagog*innen diese übernommen und lassen uns dadurch beeinflussen. Die Entwicklungspsychologie kann beispielsweise nur einige hormonell bedingte, angeborene Unterschiede hinsichtlich des Temperaments bei Jungen und Mädchen feststellen. Die meisten gesellschaftlich als typisch erachteten Verhaltensweisen sind anerzogen oder ergeben sich aus Erwartungshaltungen und dem Modell-Lernen. Und was in Nordamerika als Maß aller Dinge gilt, wird von japanischen Eltern schon wieder ganz anders betrachtet und so weiter. Wichtig ist: Ein wildes Mädchen ist genauso wenig „falsch“ wie ein schüchterner Junge!

Wenn du genau hinschaust, merkst du vielleicht sogar, dass du, dein*e Partner*in oder andere nahe Verwandte deinem Kind ähnlich sind (oder waren). Viele Erwachsene haben ihre wilden Wesenszüge aber versteckt; oft, weil sie mit Strenge und Strafen dazu erzogen wurden, diesen Teil von sich zu unterdrücken.

Wenn du so eine Person ausmachen kannst, schau genauer hin, was an ihrem Umgang mit dem ureigenen Temperament nicht gesund erscheint. Sicher möchtest du für dein Kind einen anderen Weg, und vielleicht kann dir das Ansporn und Argumentationshilfe gegenüber anderen sein.

 

WO ANFANGEN? – DEINE CHECKLISTEN

Du hast geschafft, dein Kind zu sehen, wie es ist, ohne die kraftraubenden Eigenheiten als Mangel aufzufassen. Bleibt immer noch die Frage: Ist sein Verhalten einfach ungewohnt und mühevoll zu händeln (für sich selbst, dich oder andere)? Oder benötigt dein Kind in diesen Bereichen spezielle Unterstützung für seine Entwicklung? Vielleicht sogar professionelle Hilfe?

Wer forsch ist und couragiert durchs Leben geht, kann Menschen, die nicht so sind, erschrecken. Aber einem solchen Kind (oder Erwachsenen) ermöglicht diese Eigenschaft zunächst, sich durchzusetzen, gesehen zu werden, Geselligkeit zu erleben und Ziele einfacher zu erreichen als andere. Es braucht eventuell länger als andere Kinder, um zu spüren, dass eine Situation mehr Fingerspitzengefühl erfordert oder sein Gegenüber sich damit unwohl fühlt. Doch viele wilde Kinder entwickeln sich dennoch gut, sodass sie kaum negative Reaktionen erleben und fröhlich, selbstbewusst und glücklich durchs Leben gehen.

Ist die Wesensart aber derart stark ausgeprägt, dass sie beständig Stress verursacht, wird sie nicht nur für andere unangenehm sein, sondern auch für dein Kind: Meist stößt es spätestens nach dem zweiten Geburtstag auf Kritik, Genervtheit, Ablehnung. Manchmal stresst es sich regelrecht selbst, was sich beispielsweise in Tics äußert. Das bedeutet: Es leidet! Sein Temperament wird zur Belastung und die große (nur gespielte?) Selbstsicherheit verhindert eine Anpassung an andere. Vermutlich leidest auch du dabei. Hier ist der Punkt, an dem du mit deinem Kind zusammen aktiv werden musst!

Was sind deine Aufgaben?

Im Verlauf der Lektüre dieses Buches wirst du Antworten finden auf die Fragen, die du dir wahrscheinlich schon eine ganze Weile stellst: Was musst du tun und was lassen?

Schützen – Inwieweit musst du dein Kind vor anderen Menschen oder bestimmten Erfahrungen schützen und wo nicht?

Vorbild sein – Inwiefern bist du deinem Kind ein gutes Vorbild? Oder solltest du auch an dir arbeiten, nicht nur mit ihm?

Fordern – Wie und in welchen Bereichen kannst (und musst!) du dein Kind mit kleinen Zielen fordern, um ihm zu einem leichteren Leben zu verhelfen?

Selbstwert fördern – Musst du dein Kind allgemein in seinem Selbstwertgefühl stärken (weil es nur stark wirkt, aber gar nicht ist)? Und wo musst du darauf achten, den Selbstwert nicht zu schwächen?

Hilfe anbieten – Kannst du dies alles allein leisten oder wer (ggf. Berater*innen oder Therapeut*innen) sollte dich unterstützen?

Sensibilisieren – Wen in eurem Umfeld musst du sonst noch ansprechen/sensibilisieren und ggf. auch um Zurückhaltung bitten?

Eigenaktivität anregen – Weiß dein Kind, warum es sich manchmal auf eine Art verhält, die andere schwierig finden? Hat es selbst Ideen für Veränderungen? Wo kannst du es aktiv in den Prozess mit einbeziehen?

ab 3
Jahre

Deine Antworten zur obigen Liste findest du mithilfe der entsprechenden Altersgruppen- und Themenkapitel. Lies dich jeweils ein und notiere sie dir.

Check A – Ist dein Kind tatsächlich beeinträchtigt?

Der folgende Check eignet sich für Kinder ab 2 bis 3 Jahren, da jüngeren unabhängig vom Temperament noch die geistige Reife fehlt, die genannten Bereiche zu bewältigen. Ist dein Kind jünger, lies im Kapitel „Soforthilfe“ weiter. Vielleicht kannst du damit schon so viel unterstützen, dass ihr nie an die in der Checkliste genannten Punkte gelangt.

Ist dein Kind 2 bis 3 Jahre oder älter, mach den Check. Tausch dich mit anderen Erwachsenen aus, die dein Kind gut kennen, um eine fundierte Einschätzung vornehmen zu können. Kreuze an und ergänze eigene Beobachtungen:

Dein Kind …

image übergeht andere oft und verletzt sie.

image strebt so vehement nach Autonomie, dass andere oft beeinträchtigt werden und zurückstecken müssen (familiär oder anderswo).

image erfährt aufgrund seiner Art manchmal Ausgrenzung.

image fühlt sich daher minderwertig und verarbeitet dies in Form von noch mehr Power, Lautstärke und Distanzlosigkeit.

image zeigt und äußert in der Folge häufig, dass es sich selbst negativ sieht oder als „falsch“ empfindet.

image würde bestimmte Situationen gerne meistern können, aber schafft das oft nicht in sozial akzeptabler Weise.

image sagt oder zeigt deutlich, dass es daher einsam und traurig ist.

image zeigt sprachlich und körperlich häufig aggressives Verhalten oder wird im Gegenteil immer verlegener und schamhafter, zieht sich auffallend zurück.

image hat ungute Strategien entwickelt, um im Alltag zurechtzukommen.

image hat gelegentlich starke Konzentrationsprobleme aufgrund seines Überschwangs und seiner Energie. (Beachte Infokasten Seite 28.)

image zeigt Tics oder Zwänge in Momenten der Anspannung.

image ist so angstfrei, dass es häufig zu extrem riskanten Situationen mit ihm kommt.

image lehnt Austausch und Begleitung fast immer ab.

image sucht die Schuld für die schwierigen Situationen vorwiegend bei anderen, nie bei sich.

image geht manchmal auffallend distanzlos mit anderen um.

image wird von anderen Erwachsenen, die in guter Beziehung zu ihm sind, als harsch und unkooperativ wahrgenommen.

image und sein Verhalten schränken euer Familienleben stark ein und du leidest darunter.

image ruft in dir sogar manchmal negative Gefühle hervor, weil du nicht kompetent mit seiner Art zurechtkommst.

image

Treffen ein oder mehrere Aspekte aus der Aufzählung zu, musst du nicht gleich panisch werden, denn manches davon tritt ja vielleicht nur ab und an auf. Aber schau achtsamer hin, was sich da entwickelt, und nimm ernst, wenn es deinem Kind wichtig ist, etwas zu verändern – das Buch wird dir helfen. Bereits bei einem Kreuz zeigt sich stärkerer Unterstützungsbedarf durch dich. Die soziale Handlungsfähigkeit deines Kindes scheint eingeschränkt zu sein; dein Kind braucht durchdachte Hilfe beim Umgang mit seinem Temperament. Vielleicht bist du sogar mehr gefordert, als du bewältigen kannst. Betrachtest du dein eigenes Kind langfristig negativ, ist das eine Gefahr für eure Beziehung. Derlei Gefühle können die Bindung beeinträchtigen. Geh das an.

Gut ist es, Bereiche, die dich sorgen und die dir gerade erst bewusst geworden sind, über mindestens drei Wochen zu beobachten, um dann zu entscheiden, ob dein Kind (oder eure Familie) wirklich beeinträchtigt ist. Beobachte die Bereiche, an denen ihr schließlich gemeinsam arbeiten wollt, hingegen mindestens drei, eher sechs Monate, um entscheiden zu können, ob sich etwas durch dein Tun und die normale Reifung verändert oder ob ihr feststeckt.

Check B – Brauchst du fachliche Hilfe?

Wildheit ist keine Krankheit! Aber extreme Ausprägungen können nicht nur Zeichen eines enthusiastischen Temperaments sein, sondern auch auf psychologische oder beziehungsbedingte Auffälligkeiten hinweisen. Das ist allerdings nicht so oft der Fall, wie unser Umfeld uns weismachen möchte! Emotionale Entwicklungsstörungen, AD(H)S, Wahrnehmungsstörungen oder Autismus werden nur bei einem Bruchteil der Kinder in Deutschland diagnostiziert. Dabei kommen in der Regel mehrere Verhaltensauffälligkeiten in extremer Ausprägung zusammen und tauchen ständig und situationsübergreifend auf, also nicht nur in der Kita oder nur mit Oma. Meist sind diese Kinder schon von Geburt an durchgängig extrem auffällig. Schließlich sind natürlich neuropsychologische Befunde möglich.

Es gibt auch körperliche Ursachen für auffälliges Verhalten, wie etwa Seh- oder Hörprobleme (die im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen auffallen sollten), und viele Zwischenstufen zwischen impulsivem Temperament und einer echten, diagnostizierbaren Störung. Ein Beispiel sind zeitweise Wahrnehmungsschwächen. In solch einem Fall benötigt ein Kind deutlich mehr Reize als andere, um sich zu spüren und die Welt wahrzunehmen, sucht also mehr „Input“ und reagiert oft impulsiv, auch aggressiv, distanzlos oder risikobereit. Das ist gut therapierbar, vor allem wenn man früh startet, und wird in der Regel im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung erkannt.

Außerdem gibt es Faktoren für auffälliges Verhalten, die nicht im Kind angelegt sind, zum Beispiel traumatische Ereignisse, Bindungsproblematiken oder Beziehungsstörungen. Diese werden bei einer Diagnostik mit abgeprüft.

Sind die Kinder gesund, haben wir es mit Varianten eines Temperaments zu tun, die einfach beschwerlicher erscheinen als andere und kulturell unerwünscht sind. Das Temperament deines Kindes lässt sich nicht verändern, aber der Umgang damit kann und sollte geübt werden und dein Kind sollte Fortschritte zeigen. Bleiben Motivation und Kontrolle schwierig, ist dies ein Indiz dafür, dass mehr hinter seinem Verhalten steckt als nur das Temperament.

ab 3
Jahre

Kreuze in der folgenden Liste an, was deiner Beobachtung entspricht – jetzt und in drei bis sechs Monaten erneut, um ein objektives Bild zu bekommen. (Eventuell nach Rücksprache mit anderen erwachsenen Bezugspersonen deines Kindes). Die Liste ist wieder geeignet für Kinder ab etwa 3 Jahren, da sich erst dann bestimmte Strategien verfestigt haben und die geistigen Fähigkeiten in der Art gereift sind, dass dein Kind die folgenden Auffälligkeiten aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht (mehr) kontinuierlich zeigen sollte. Setze ein Kreuz, wenn eine Problematik ständig stark auftritt.

  jetzt in 3–6 Mon.
Hemmung oder Enthemmung: Dein Kind ist ständig unsicher aufgrund seiner Erfahrungen, obwohl es als selbstsicherer Mensch gestartet ist. Es fängt an, Situationen und Begegnungen zu meiden oder geht diese immer auffälliger, lauter und forscher an, um die eigene Unsicherheit zu überspielen.    
Leiden: Dein Kind äußert vielleicht sogar bewusst, dass es Kontakte vermeidet. Möglicherweise fühlt es sich dabei minderwertig und hat regelrecht Angst vor negativen Rückmeldungen und Konflikten.    
Starke Auffälligkeiten: Es bewegt sich übermäßig (eventuell in musterhaftem Ablauf) oder ist nervös, schläft vielleicht sogar schlecht oder fällt in frühere Verhaltensweisen zurück (z. B. Einnässen, Daumenlutschen, sprachliche Rückschritte). Oder es scheint dir, als könne eine Ess-, Schlaf- oder andere Regulations- oder Verhaltensstörung vorliegen.    
Psyche: Du hast den Eindruck, dein Kind ist lustlos, schwer traurig, depressiv oder es äußert sogar Suizidgedanken. Denken an und Sprechen über den Tod sind nicht immer Alarmzeichen, denn die meisten Kinder beschäftigen sich im Laufe ihrer Entwicklung intensiver mit diesem Thema. Bist du nicht sicher, was dahintersteckt, frag aber lieber einmal zu viel als zu wenig eine Fachperson, z. B. die/den Kinderärzt*in.    
Aggression: Dein Kind zeigt sich (dir gegenüber) feindselig oder verhält sich übermäßig aggressiv, steht beständig unter Druck, verbiegt sich vielleicht oder schauspielert, um akzeptiert zu werden. Seine bisherigen Strategien im Umgang mit der Forschheit verursachen ihm offensichtlich dauerhaften Stress.    
Distanzlosigkeit: Die Distanzlosigkeit deines Kindes zu anderen Menschen ist erschreckend. Manchmal zeigt sie sich vielleicht extrem wechselhaft und du kannst dein Kind hier gar nicht einschätzen.    
Tics: Stress und Anspannung äußern sich wiederkehrend als Tics oder Zwänge, eventuell in (psychosomatischen) Schmerzen oder gar häufigem Erbrechen.    
Empathie: Dein Kind hat bis ins Grundschulalter hinein Probleme damit, sich empathisch zu zeigen (z. B. auch Mitgefühl für Tiere zu empfinden) oder Perspektivwechsel zu schaffen, obwohl ihr das zusammen beständig geübt habt und du es vorgelebt hast. Mögliche zugrunde liegende Störungen sollten mindestens ausgeschlossen oder eben rechtzeitig festgestellt werden.    

ab 6
Jahre

Konzentration: Dein Kind zeigt nach der Einschulung dauerhafte Aufmerksamkeitsdefizite, egal um was es geht, macht Fehler und ist außergewöhnlich vergesslich. Es kann nicht warten und stört ständig normale Abläufe.    

ab 6
Jahre

Soziales Miteinander: Dein Kind kann bis ins Grundschulalter hinein nicht annehmen, Teil einer Gruppe zu sein, oder was andere Erwachsene von ihm erwarten.    

ab 6
Jahre

Stillstand: Die kleinen Schritte, die ihr mit diesem Buch angegangen seid, helfen mittelfristig leider überhaupt nicht weiter oder aber dein Kind lässt sie nicht mal zu. Es verweigert Selbstarbeit und verliert sich vielleicht beständig darin, Schuld bei anderen zu suchen (obwohl du ihm das nicht vorlebst).    
Erfahrungen: Es gibt/gab beeinflussende Erfahrungen im Leben des Kindes, die die Wildheit und Distanzlosigkeit massiv verstärkt haben, und dein Kind kommt damit weder allein noch mit deiner Hilfe zurecht (z. B. langanhaltend mehrfache Misserfolge beim Suchen nach Freundschaften, beständiges Erfahren von Ablehnung, ungute Erziehungsmethoden anderer Bezugspersonen oder eine Elterntrennung, ein Umzug und/oder Schulwechsel).    
Familienleben: Äußere Faktoren wie Rückmeldungen und Forderungen oder sogar Maßnahmen in Kindergarten oder Schule werden extrem übergriffig und überfordernd, sodass ihr als Familie damit nicht mehr allein umgehen könnt.    
Elternschaft: Ihr Eltern seid euch absolut uneinig im weiteren Umgang mit eurem Kind.    
Überforderung: Du fühlst dich täglich überfordert. Das heißt noch lange nicht, dass dein Kind wirklich ein Problem, eine Störung o. Ä. hat. Aber vielleicht gibt es einen Grund, der in euch Erwachsenen liegt und das Begleiten gerade dieses Kindes schwierig macht. Dann kann Erziehungsberatung hilfreich sein.    

Zeigt dein Kind auch nach Bearbeitung der als problematisch identifizierten Themenfelder etwa ein Viertel- bis halbes Jahr später weiterhin oder stärker eine oder mehrere der genannten Verhaltensweisen? Oder bejahst du/bejaht ihr als Eltern kontinuierlich die beiden letztgenannten Punkte der Liste, solltet ihr externe Unterstützung zur weiteren Beratung und gegebenenfalls auch Diagnostik und Therapie hinzuziehen.

Fachpersonen können durch gezielte Diagnostik den möglichen Zusammenhang mehrerer Symptome klären und dem Ursprung der Probleme professionell auf die Schliche kommen. Es kann eine Entwicklungsschwäche oder eine Persönlichkeitsstörung vorliegen, die therapeutisch begleitet werden sollte, und es könnte sogar eine hormonelle Störung vorliegen, die das Zusammenspiel von Amygdala und dem Botenstoff Dopamin betrifft, aber das muss nicht so sein.

Doch selbst wenn sich nichts feststellen lässt, ist pädagogische Beratung sinnvoll, wenn du nicht weiterkommst. Vielleicht haben sich unbewusst ungute Methoden bei dir und deinem Kind eingeschlichen, die du nur mithilfe von außen erkennen und dann verändern kannst.

Denn manchmal ist das Verhalten gar nicht im Kind begründet, sondern es klemmt etwas in der Beziehungsebene, das sich finden und beheben lässt. Oft steckt ein übersehenes Bedürfnis eines Kindes dahinter, das man als Elternteil nicht immer allein entdecken kann. Häufig sind es auch Themen der Eltern, die den Umgang erschweren. Und wenn wirklich eine Störung vorliegt, ist fachliche Diagnostik unabdingbar, um deine Beobachtungen zu klären. (Beachte, dass manche Störungen erst ab dem Vorschulalter sicher diagnostiziert werden können.)

Frag lieber einmal zu viel als einmal zu wenig bei der Kinderarztpraxis oder einer anderen Hilfsstelle nach. Sie verweisen dich bei Bedarf an eine kinderpsychologische Praxis oder ein sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ). Tausche dich mit allen Menschen aus, die deinem Kind enge Bezugspersonen sind, um die Lage richtig einzuschätzen. Erscheint dir die erste Fachmeinung nicht als eindeutig genug, ist es absolut in Ordnung, eine zweite einzuholen. Führe die Gespräche ohne Kind, solange seine Anwesenheit nicht notwendig ist, damit es dadurch nicht belastet wird.

Hast du das Gefühl, nicht weiterzukommen, nicht die richtigen Ansprechpartner*innen zu finden oder überall ewig auf einen Termin warten zu müssen, während bei euch zu Hause die Not täglich größer wird, wende dich ans Jugendamt. Die Mitarbeiter*innen dort können deine Ressource sein, Tempo in die Vorgänge bringen und umgehend Hilfen gewähren. Hast du hier Berührungsängste, ist ein Erstkontakt immer anonym möglich!

10 Tipps zur Soforthilfe bei Wildheit

Unabhängig davon, welche Punkte der Aufzählung du angekreuzt hast, welche Themen dir Sorge machen und ob eine weitere Begutachtung durch eine Fachstelle angeraten ist, kannst du dein Kind und eure Verbindung auf jeden Fall folgendermaßen stärken:

Bewusster wahrnehmen: Wenn du dich sehr belastet fühlst, achte bewusst darauf, dein Kind und seinen Alltag im Blick zu haben, z. B. indem du Notizen machst und so längerfristig nachverfolgen kannst, was passiert, was immer wieder schiefläuft usw. Ohne solche Protokolle behält man leicht nur das Schlechte im Gedächtnis und bemerkt kleine Veränderungen nicht.

Entspannung im Wochenplan: Achte bewusst darauf, ob du den Alltag genau im Blick hast: Gibt es zu viel, was herausfordert? Zu wenig Pausen? Zu wenig Struktur? Doch zu viele Reize und Konfliktfelder? Bekommt dein Kind zu wenig Anleitung von dir? Kannst du Termine im Wochenplan reduzieren? Oder könnt ihr mehr Zeit zwischen zwei geplanten Unternehmungen lassen und diese entspannend füllen (z. B. lieber mal zu Fuß gehen, als die volle Bahn zu nehmen oder schnell ins Auto zu steigen)?

Entspannung an der Basis: Sorge zusätzlich gezielt für Entspannung: Wer Pause macht, Atemspiele oder Entspannungstechniken kennt, lernt einerseits seinen Körper besser kennen und kann ihn leichter steuern, andererseits wird er von Grund auf weniger gestresst sein. Vielen, gerade jüngeren, wilden Kindern fällt es schwer, selbst den Moment abzupassen, indem sie sich zurückziehen und nach Entspannung suchen sollten. Da bist du gefragt! Ratsam sind zum Beispiel Massagespiele (gerne mit Hilfsmitteln wie Tüchern, Schwämmen oder Bürsten), Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen (möglich mittels CD und Videos) und Fantasie- oder Körperreisen (mithilfe von Büchern oder Videos).

1:1-Zeit: Gönnt euch vermehrt Zeit zu zweit. Nicht nur das Essen, die Wege, die Alltagszwänge, sondern bewusste Zeit ohne „Ziel“. Lass dein Kind mitbestimmen, was es mit dir unternehmen möchte. Zeige echtes Interesse an ihm und macht Dinge wirklich gemeinsam.

Kommunikation: Suche häufiger das Gespräch mit deinem Kind, um besser einzuschätzen, wie es all die Herausforderungen in seinem Alltag empfindet: Nehmt ihr manches unterschiedlich wahr? Welche Gründe sieht es selbst für sein Tun? Kannst du irgendwo eine bessere Hilfe sein?

Vielfalt sehen: Thematisiere nicht nur ständig die Wildheit: Dein Kind ist so viel mehr!

Kleine Schritte: Wenn ihr Ziele gefunden habt, an denen dein Kind mit dir arbeiten mag, macht euch kleinschrittige Pläne. Achte dabei darauf, dass das Kind sich als aktiv und problemlösend erlebt. Nicht du sollst sein Temperament umschiffen – dein Kind soll das selbst hinbekommen. Fordere es! (Die einzelnen Themenkapitel werden dir Impulse geben.)

Selbstwertgefühl: Vergiss den Selbstwert nicht! Den stärkst du am ehesten, indem dein Kind seine Neigungen ausleben, Erfolge und Handlungsspielräume erleben, aber auch seinen Wert für euer Familiengefüge spüren darf.

Konzentration: Stärke ggf. die Konzentrationsfähigkeit, damit dein Kind seinen Enthusiasmus nützlich und fokussiert leben kann. Stichworte sind hier: Organisationsideen, Strukturierungshilfen, Sichtbarmachen von Zeit, Erholungsphasen. (Mehr dazu in den folgenden Kapiteln.)

Selbstfürsorge: Schau hin, was du brauchst, und lerne, dies wertschätzend einzufordern. Dann kannst du Hilfe und Vorbild sein.

Ziel ist dabei immer, dein Kind zu stärken! Für sich. Für seinen Lebensweg. Für seine Kompetenz. Das, was andere gerne hätten, das, was Institutionen sich vorstellen, damit der Alltag mit deinem Kind dort leichter wird, irgendwelche Wunschbilder, deine eigenen Ideale, die fern vom eigentlichen Wesen deines Kindes sind, sollten außen vor bleiben! Es geht in erster Linie um das Kind und zusätzlich darum, wie gut du aufgestellt bist. Der genaue Weg kann keinem Muster folgen, ihr müsst ihn individuell gestalten. Alle Impulse in diesem Buch musst du an dein Kind und eure Situation anpassen.

In den einzelnen Kapiteln findest du Ideen zu jedem Aspekt, sortiert nach Altersgruppe und Situation. Vieles kannst du erst einmal genau beobachten und einschätzen, ohne dein Kind zu belasten. Anderes könnt ihr, besonders ab dem Vorschulalter, gemeinsam angehen, ohne weitere Expert*innen an eurer Seite. Vielleicht wird es dadurch schon leichter für alle Beteiligten – und dein Kind wird sein Wesen kompetenter und selbstständiger händeln.

 

ARBEIT AN DIR SELBST

Du möchtest dein Kind unterstützen, aber bitte vergiss dich selbst dabei nicht. Denn helfen kostet Kraft. Was kannst du für dich tun, um besser aufgestellt zu sein?

Vermutlich liest du dieses Buch, weil das Verhalten deines Kindes andere oder dich anstrengt, weil du dich um dein Kind sorgst, weil du manche Situation gerne anders angehen möchtest. Hierbei ist entscheidend, dass du nicht nur dein Kind in den Blick nimmst oder euer Umfeld – schau auch auf dich selbst.

Deine Voraussetzungen

Was steckt in dir, das den Alltag mit deinem wunderbaren wilden Kind erschwert? Was fehlt dir, um dein Kind besser begleiten zu können?

Finde heraus, an welchen Baustellen du selbst, unabhängig von deinem Kind, arbeiten musst:

Wie war deine Kindheit: War Wildheit okay? Oder klopfen in dir Vorwürfe und Beschimpfungen von damals an und setzen dich unter Druck?

Wie ist dein Wesen? Hältst du dich für eine mutige, laute, auch manchmal anstrengende Person? Bist du deinem Kind ähnlich? Hast du für dich selbst schon gute Strategien gefunden?

Was macht die Wildheit deines Kindes mit dir? Was passiert in dir, wenn es tobt, riskiert, schreit? Welche Situationen sind besonders herausfordernd?

Wie geht es dir mit den Blicken und Bemerkungen der anderen?

Wenn du diese Fragen beantwortet hast, investiere in dich, Schritt für Schritt, um deinem Kind offen zu begegnen und es im Umgang mit anderen zu begleiten.

Bilder aus der Vergangenheit

Als du Kind warst, war es sicher noch schwieriger, ein wildes Temperament zu haben, als heute. Hattest du laute, forsche Freund*innen? Warst du selbst das laute Kind? So oder so hast du sicher erlebt, dass Lautstärke, Spontanität, Übermut und Wildheit stark reglementiert wurden. Und zwar nicht sehr wertschätzend.

Diese Erfahrungen haben in dir Spuren hinterlassen, die du bewusst angehen musst: Ist nun dein Kind das laute, wilde, manchmal respektlose, kann es gut sein, dass in deinem Kopf ein Film anspringt, der dich unter Druck setzt. „Das darf man nicht!“ und „Ich muss das unter allen Umständen verhindern!“, denn „Was sollen die Leute denken?!“ Und vielleicht pikst auch ganz tief in dir ein wenig Missgunst, weil du in ein anderes Elternhaus hineingeboren wurdest als dein Kind jetzt? Ja, das kann sein und du musst dich dafür nicht schämen; aber lernen, damit umzugehen.

Zum Glück wissen wir es heute besser als eine Generation zuvor. Viele Eltern versuchen, verschiedene Temperamente anzunehmen, und verstehen, dass die Skala der „normalen“ Verhaltensweisen lang ist. Entwicklungspsychologisches Wissen ist für Väter und Mütter zugänglich, aber auch für Erzieher*innen, Lehrkräfte und Kinderärzt*innen. Das schafft Raum, Sicherheit im Umgang und deutlich mehr Toleranz. Aber es bleiben die Sätze im Kopf und Vorurteile von Menschen, die die moderne Sichtweise nicht annehmen können oder wollen.

Das sind deine Kämpfe! Geh sie an, damit du dein Kind besser begleiten kannst und dich selbst nicht fertigmachst.

Selbstbehauptung

Um gewappnet zu sein gegen diejenigen, die immer noch der Meinung sind, dass ein wildes Temperament ungehörig sei und komplett unterdrückt werden müsse, brauchst du zwei Dinge:

Informationen

und eine Akutstrategie

Falls Vorwürfe auf dein Kind oder dich als Erziehende*n einprasseln, kannst du selbstsicher auftreten, wenn du gut informiert bist. Du weißt um den Einfluss der Amygdala und des angeborenen Temperaments, wie in den vorangegangenen Kapiteln erläutert. Du weißt auch, dass die kindliche Entwicklung und das Einüben von Strategien Zeit benötigen. Das ist eine gute Basis. Denn was die Blicke der anderen in uns auslösen sind vor allem Unsicherheit und Angst: davor, das Kind doch zu „verziehen“, doch „schuld zu sein“. Dieser Angst begegnest du am besten aktiv. Du hast dein Kind bewusst im Blick und arbeitest gezielt an Entwicklungsaufgaben. Strahle dieses Selbstbewusstsein aus und formuliere es.

Bereite außerdem einen Satz vor, den du möglichst immer abrufen kannst, auch wenn du dich angegriffen fühlst – „das erste Stoppschild“:

„Du siehst mein Kind falsch!“

„Deine Vorstellung von normalem Verhalten ist veraltet.“

„Ich weiß sehr gut, was mein Kind gerade braucht.“

Überleg dir, welcher Satz gut zu dir passt, als eine Art erste Bremse bei unangenehmen Reaktionen. Schreibe oder male ihn auf ein großes Blatt, das du zu Hause ins Schlafzimmer hängst, an den Spiegel oder in den Kleiderschrank. Je öfter du darauf schaust, desto besser kannst du ihn dir einprägen und bei Bedarf abrufen. Halte ihn bei „Angriffen“ wie ein Stoppschild hoch, um dich zu sammeln und mit starkem Rücken für dein Kind einzutreten.

image Andrea (37), Mutter von zwei Kindern (4, 6), über den Umgang mit Kritikern

„Ich meide Spielplätze, fahre ungern Zug mit meinem Sohn und Playdates hatten wir auch noch nie. Es ist deutlich spürbar, dass Fremde denken, er sei schlecht erzogen.

Wenn meine Freundin mit ihren ruhigen, gechillten Kindern im Zug sitzt, halten sie alle für ‚gut erzogen‘. Obwohl das einfach ihrem Naturell entspricht und meine Freundin nichts dazu beigetragen hat. Wenn mein Kind es nicht schafft, 15 Minuten ruhig im Zug zu sitzen, erhalte ich böse Blicke oder Kommentare. Obwohl ich schon so viel Zeit und Energie investiert habe, ihm zu erklären und zu zeigen, warum es wichtig ist, sich im Zug etwas leiser und ruhiger zu benehmen.

Es ist sehr frustrierend und obwohl es mir egal sein sollte, was andere denken: Die oft unausgesprochenen Vorwürfe treffen. Ich bin unendlich dankbar, zwei gute Freundinnen mit Kindern im ähnlichen Alter zu haben, die die Art meines Sohnes akzeptieren. Auch wenn unsere Treffen selten entspannt sind.

Das obige Zugbeispiel haben wir inzwischen einigermaßen im Griff – außer, wenn er müde oder aufgeregt ist. Ablenkung heißt das Zauberwort: Ich habe immer ein paar kleine Pixi-Büchlein dabei, die ich bei Bedarf hervorholen und erzählen kann. Oder sie dürfen sich ein Video auf dem Handy anschauen (ohne Ton). Letzteres gibt dann auch wieder böse Blicke, aber die Leute können halt nicht alles haben: Entweder ich darf auf solche Hilfsmittel zurückgreifen oder es ist laut.“

Positionierung

Wenn dein Kind sich in all‘ seiner Wildheit zeigt, sei nicht ständig angespannt aufgrund der Erwartungen und Glaubenssätze in deinem Kopf. Je besser du sie loswirst, desto entspannter kannst du im Akutfall bleiben. Versuche mit einer Mindmap, also einer Gedankensammlung auf Papier, aktiv daran zu arbeiten:

Notiere die Vorwürfe, die dein Kind schon bekommen hat.

Notiere in einer anderen Farbe die Sprüche, die du in deiner Kindheit und Jugend zu wilden Kindern hören musstest.

Schreibe mit einem dickeren Stift die Gründe für die Wildheit dazu.

Und notiere mit einer dritten Farbe, welche Strategien dein Kind schon gelernt hat, um sein Temperament sozial verträglich auszuleben oder auszubremsen.

Das werden vermutlich noch nicht so viele Strategien sein, aber du kannst sehen, was ihr schon geschafft habt und wo genau die Bereiche liegen, die ihr noch angehen solltet. Du erkennst, wie viele Vorurteile und altbackene gesellschaftliche Konventionen im Thema stecken, die nicht zu einem bedürfnisorientierten Weg passen: Was kann dein Kind, was braucht dein Kind, wie kannst du helfen? Das ist dein Fokus. Streiche die Vorwürfe weg, am besten mit Korrekturflüssigkeit.

Im Anschluss an dieses Mindmapping und nach der Lektüre des Buches kannst du dir einen zweiten Plan machen: Welche Strategien wollen du und dein Kind neu ausprobieren? Sammle prägnante Stichworte.

Diesen Plan kannst du aufhängen (für dich, nicht für dein Kind) und nach und nach ergänzen. Wenn du darüber sprichst, kannst du dir die Einzelheiten leichter merken. Suche dir also jemanden, dem du vertraust, und rede darüber, was ist und was werden soll. Je nachdem wie tief verankert Hemmungen und Zweifel in dir sind, kann das eine Freundin oder ein Freund oder ein professioneller Coach sein.

Oder verbinde die Strategien oder Sätze, die du in den akuten Momenten voller Wildheit deines Kindes nutzen möchtest, mit einer Bewegung oder Geste. Beispielsweise:

„Ich will ruhiger bleiben, (damit ich mein Kind besser begleiten kann)!“ → Leg deine Hand auf den Brustkorb, sodass du Herz und Atmung spürst.

„Ich will nicht mit laut werden!“ → Schließe deine Hand vor dem Mund zu einer Faust, die die lauten Worte einfängt.

„Stopp – aus der Situation gehen!“ → Presse beide Füße gleichzeitig auf den Boden und spanne deinen ganzen Körper an, um ganz bei dir zu sein. Zusätzlich oder alternativ drück deine Hände auf die Oberschenkel. Denn du bist der Ausgangspunkt, um die Situation zu lösen.

Das klingt albern und schauspielernd? Schau, was zu dir passt und was du ausprobieren magst. Es wird dir helfen, dich zu erinnern, wenn deine eigenen Emotionen hochkochen. Ist dein Kind schon im Schulalter, kann solch ein Plan auch ihm helfen, sich trotz aufgeregter Anspannung vorab Besprochenes ins Gedächtnis zu rufen. Dann zeichnet eine eigene Mindmap und hängt sie fürs Kind auf. Die Gesten dürfen dann spielerischer gestaltet sein: Da ist es nicht nur eine erhobene Hand, die Wörter fängt, sondern ein Greifvogel, der laute Wörter frisst, oder eine Ritterrüstung, die von oben herunterfällt, dein Kind abschirmt und es innehalten lässt. Diese Techniken helfen beim Erinnern und Umsetzen, aber sie schaffen auch noch etwas anderes. Sie machen dich und dein Kind aktiv. Ihr seid keine „Opfer“ von Temperament und Umfeld. Ihr könnt etwas unternehmen, was eure Verbindung nebenbei noch vertieft.

Autor

  • Inke Hummel (Autor:in)

Inke Hummel ist Pädagogin und Inhaberin der Familienbegleitung „sAchtsam Hummel“, Leiterin für Eltern-Kind-Kurse und Bloggerin. Als pädagogischer Coach unterstützt sie Familien vom ersten Babyjahr bis zur Pubertät. Besonders häufig begleitet sie Eltern mit gefühlsstarken Kindern und verhilft ihnen zu einer gelingenden Eltern-Kind-Bindung. Im Verein „Bindungs(t)räume“ setzt sie sich dafür ein, dass Eltern und Pädagog*innen die Bedürfnisse von Kindern besser verstehen. Inke Hummel ist verheiratet und hat drei Kinder im Teenageralter.
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Titel: Mein wunderbares wildes Kind