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Mein Kind hat ADHS

Wie ihr im Alltag klarkommt und gemeinsam glücklich werdet. Die besten Alltagsstrategien für zu Hause, die Schule und alle üblichen Stresssituationen.

von Heike Hahn (Autor:in)
176 Seiten

Zusammenfassung

Stress im Alltag, Probleme in der Schule – das Familienleben mit ADHS ist in vielen Fällen kräftezehrend. Heike Hahn, selber „ADHS-Kind“ und Mutter von vier herausfordernden Kindern weiß, dass es besser gehen kann. In ihrem Ratgeber beantwortet sie die drängendsten Elternfragen: Woran erkennen wir ADHS? Was braucht unser Kind, um glücklich zu sein – und was brauchen wir als Eltern? Wie meistern wir den Familienund Schulalltag? Wie kommunizieren wir klar und deutlich, aber auch liebevoll? Sie zeigt, wie Eltern die Schwächen ihrer Kinder in Stärken verwandeln können, wie sie in Stresssituationen gelassen bleiben und so
den Stresslevel für die ganze Familie senken.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


SCHÖN, DASS DU DA BIST!

Liebe Mama, lieber Papa von einem besonderen Kind – von einem Kind, das dich ganz besonders fordert! Bei deinem Sohn oder deiner Tochter wurde ADHS diagnostiziert? Oder du fragst dich vielleicht schon länger, ob dein Kind diese Störung haben könnte, weil es dich immer wieder an deine Grenzen bringt? Möglicherweise haben dich auch andere Menschen, zum Beispiel eine Lehrerin, auf ADHS angesprochen, weil sich dein Kind in ihren Augen so anders verhält als „normale“ Jungs und Mädchen? Wie dem auch sei: Sicher hast du unzählige Fragen und suchst dringend Unterstützung für dich und dein besonderes Kind. Zum Glück hältst du nun dieses Buch in den Händen!

Dieses Buch zeigt dir, wie du trotz aller Herausforderungen, die ein intensives Kind mit sich bringt, gelassen bleibst und akuten Situationen den Wind aus den Segeln nimmst. Nur Mut! Ich habe es geschafft und du kannst es auch. Ein glückliches Familienleben, in dem gelacht wird und alle sich richtig gernhaben, kann auch mit einem ADHS-Kind gelingen.

Was diesen Ratgeber von anderen ADHS-Ratgebern unterscheidet

Über ADHS gibt es eine Menge Bücher – dieser Ratgeber schaut aus einer anderen Richtung auf Kinder mit ADHS, nämlich auf das Potenzial. Du wirst Stärken in deinem Sohn oder deiner Tochter entdecken, von denen du bisher nichts geahnt hast. Ich zeige dir, wie du mit der besonderen Veranlagung deines Kindes arbeitest statt gegen sie.

In diesem Buch erhältst du eine Fülle von wirksamen und wenig bekannten Strategien, wie du den typischen Schwächen deines Wirbelwindes begegnen kannst. Außerdem finden wir gemeinsam heraus, warum sich dein herausforderndes Kind verhält, wie es sich eben verhält.

Du wirst keine Punktepläne und Belohnungssysteme in diesem Ratgeber finden. Dazu gibt es genug Literatur. Dafür erfährst du, was dein Kind besonders macht, welche Eigenheiten seiner Veranlagung für Probleme sorgen könnten und was du konkret tun kannst, damit diese Energie in eine konstruktive Richtung gelenkt wird.

Du wirst lernen, wie du wieder an dein Kind herankommst und eine sichere Beziehung aufbaust. ADHS ist kein Schicksal, dem du hilflos ausgeliefert bist. Du kannst viel tun, damit in eurem Familienleben Freude und Lachen den Alltag bestimmen und dein Kind seinen Weg erfolgreich geht.

Ich wünsche dir ganz viel Erfolg dabei!

Deine Heike Hahn

Über die Autorin

Ich war ein „ADHS-Kind“! Herausgefunden habe ich das „zufällig“ auf einem Kongress für Musikpädagogen, als ich schon erwachsen war. In diesem einen Moment, als eine Kinderärztin über ADHS sprach, wurde mir alles klar: Meine gesamte Schulzeit über habe ich mich immer wieder gefragt, was bloß los war mit mir. Manchmal habe ich mich irgendwie komisch und dumm gefühlt, und dann wieder gab es Situationen, in denen ich als Einzige in der Klasse die Antwort auf eine Frage wusste.

Wenn mich ein Thema interessiert hat, bin ich tief eingetaucht und konnte die Zeit komplett vergessen. Dann hatte ich Erfolg. Leider war es auch andersrum: Viel vom Schulstoff hat mich weniger interessiert und dementsprechend waren meine Leistungen mittelmäßig und schlimmer. Ehrlich gesagt, war ich wohl ziemlich anstrengend für meine Eltern und die Lehrerinnen und Lehrer.

Doch später, als ich wählen durfte, was ich im Leben machen wollte, kam der Durchbruch. Ich blühte auf! Endlich konnte ich meinen Interessen folgen!

Mein Lebenslauf ist bunt und vielfältig, was typisch für Menschen mit ADHS ist. Aber ich möchte nicht einen Tag aus meinem intensiven Leben missen! Als ich erkannt habe, warum ich „anders“ bin, habe ich mich mit meinen Eigenheiten angefreundet.

Seitdem vergleiche ich mich nicht mehr mit anderen und gehe meinen Weg. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, mit ADHS ein gelingendes und glückliches Leben zu führen.

Inzwischen bin ich sogar dankbar für mein ADHS!

Nach meiner eigenen ADHS-Diagnose bin ich tief in das Thema eingetaucht und habe entdeckt, dass ADHS viele Facetten hat. Es ist ein unglaublich spannendes Gebiet, denn Menschen mit ADHS bringen so viele Stärken mit. Sie auf die Krankheit zu reduzieren, wird ihnen nicht gerecht. Es tat mir weh, immer wieder zu erleben, wie Kinder wegen ihres Andersseins verkannt und ausgeschlossen wurden.

Deshalb habe ich mich aufgemacht, ADHS in der Tiefe zu erforschen, um Eltern und Kindern mit ADHS helfen zu können. Dazu habe ich mich durch Stapel von Büchern gearbeitet, Expert*innen befragt und Ausbildungen absolviert. Und täglich kommen neue Einsichten dazu bei meiner Arbeit mit Eltern von herausfordernden Kindern. Der Weg ist noch lange nicht zu Ende.

Am allermeisten habe ich durch meine vier Kinder gelernt, die das intensive Temperament und den eigenen Willen wohl von mir geerbt haben. Den Leidensweg und die Herausforderungen, mit denen Eltern täglich zu kämpfen haben, kenne ich allzu gut, weil ich es selbst erlebt habe.

Inzwischen weiß ich, dass und wie ein erfülltes Leben mit herausfordernden und gleichermaßen wundervollen Kindern gelingen kann. Und genau dieses Wissen, praktische Tipps und viel Inspiration möchte ich dir weitergeben.

ADHS – WAS IST DAS?

Worin unterscheiden sich Kinder mit ADHS von anderen Kindern? Eines ist sicher: Sie fallen auf. Denn sie machen sich bemerkbar durch intensive Gefühlsausbrüche, lautstarke Willensbekundungen, Beharrlichkeit und ein lebhaftes Temperament. So ein Kind kann man nicht übersehen. Die Ursachen für ADHS sind vielfältig – und jedes „ADHS-Kind“ ist anders. In diesem Kapitel lernst du neben den häufig genannten Symptomen von ADHS auch einige weniger bekannte Merkmale kennen, die die intensiven Kinder so besonders machen. Und ich gebe dir Erste-Hilfe-Tipps, wie du mit den Besonderheiten deines Kindes umgehen kannst.

Wenn das herausfordernde Kind unser erster Nachwuchs ist, finden wir das Elternsein zunächst enorm anstrengend. Vielleicht denken wir, dass es allen Müttern und Vätern so geht, weil uns der Vergleich fehlt. Aber bald merken wir, dass unser Kind anders ist.

Sind Kinder unnormal oder sogar krank, weil sie ihre Eltern und andere Menschen besonders herausfordern? Mir fiel es schon lange schwer zu akzeptieren, dass Kinder, die nicht so funktionieren, wie es sich Erwachsene wünschten, schnell das Etikett „ADHS“ aufgeklebt bekommen. Auf der Suche nach einer befriedigenden Antwort befragte ich Kinderärztinnen und -ärzte, Wissenschaftler*innen und Therapeut*innen, und arbeitete mich durch Stapel von Büchern zu ADHS. Es war wie ein spannendes Puzzle. Ich fand immer mehr Teile, die zueinanderpassten und meine Erfahrungen als Vierfach-Mama und ADHS-Coach bestätigten: Intensive Kinder werden zu oft verkannt und bergen meist große Schätze in sich. Es lohnt sich auf jeden Fall, bei diesen Kindern genau hinzuschauen – das zeigen auch die vielen Geschichten meiner Klient*innen, wie die von Henrike und ihrer Tochter:

Henrikes Tochter brüllte bereits in der ersten Nacht nach der Geburt dermaßen ausdauernd, dass alle Babys auf der Säuglingsstation aufwachten. Zu Hause ging es so weiter: Die Kleine schlief nie mehrere Stunden am Stück, wie es in den Ratgebern beschrieben wurde. Der Kinderarzt bestätigte Henrike, dass ihre Tochter gesund, aber eben sehr agil und aufgeweckt sei. Das war beruhigend und gleichzeitig nicht hilfreich, denn nach kurzer Zeit war die alleinerziehende Henrike völlig erledigt.

Mit der Zeit fand Henrike Wege, mit dem eisernen Willen und der vielen Energie ihrer Tochter umzugehen. Sie erkannte, dass die Persönlichkeit ihrer Tochter nicht nur anstrengend war – in konstruktive Bahnen gelenkt, bewirkten die Eigenschaften ihrer Tochter viel Gutes: Sie wusste immer, was sie wollte und hatte eine enorme Ausdauer, wenn es um das Erreichen ihrer Ziele ging.

Inzwischen ist Henrikes Tochter erwachsen und Chirurgin in einem Krankenhaus. Im Trubel der Unfallstation ist sie in ihrem Element. Denn dort braucht es entschlossene, flexible Menschen mit viel Energie, die auch mit wenig Schlaf auskommen.

Der Werdegang von Henrikes Tochter zeigt: ADHS macht das Leben von Betroffenen anstrengender, keine Frage. Aber das Syndrom bringt auch Eigenschaften mit sich, die – richtig erkannt und gefördert – besondere Potenziale bereithalten.

Aber welche Eigenschaften und Symptome stecken überhaupt hinter der Diagnose „ADHS“? Und was sind die Ursachen – handelt es sich dabei um eine Krankheit, die Folgen von „falscher“ Erziehung oder ist mein Kind einfach so? Die Antwort ist nicht ganz so einfach …

Die Hauptmerkmale von ADHS

Medizinisch betrachtet ist ADHS eine psychische Störung, die häufig schon in den ersten fünf Lebensjahren auftritt. Meist äußert sie sich darin, dass Betroffene kaum Durchhaltevermögen haben, wenn es um Beschäftigungen geht, die viel Konzentration erfordern. Sie haben die Tendenz, von einer Tätigkeit zur anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen.

Kinder mit ADHS handeln oft impulsiv und ohne nachzudenken. Deshalb passieren ihnen häufiger Unfälle und Missgeschicke. Regeln verletzen sie eher unabsichtlich und werden deshalb oft kritisiert und bestraft.

Anderen Menschen gegenüber verhalten sie sich oft distanzlos und allzu vertraut – und bemerken dabei nicht, dass anderen diese Nähe zu viel wird. Deshalb sind sie bei anderen Kindern manchmal unbeliebt und werden ausgegrenzt. Aus diesen Gründen haben viele Kinder mit ADHS ein niedriges Selbstwertgefühl.

Die Ursachen für ADHS sind multifaktoriell. Das bedeutet, es kommen mehrere Faktoren zusammen, damit ein Kind das für ADHS typische Verhalten zeigt: Genetik, Veranlagung, das Umfeld, Erfahrungen, erhöhter Konsum von elektronischen Medien und auch die Ernährung. All diese Faktoren spielen eine Rolle.

Schauen wir uns zuerst die klassischen Symptome von ADHS an. ADHS steht für „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“. Es geht also um Störungen der Aufmerksamkeit in Verbindung mit Hyperaktivität.

Folgende Symptome charakterisieren ADHS:

Aufmerksamkeitsdefizit: Tätigkeiten werden abrupt abgebrochen und nicht zu Ende geführt; geringe Konzentrationsfähigkeit und hochgradige Ablenkbarkeit.

Impulsivität: Mangelnde Impulskontrolle und niedrige Frustrationstoleranz, Handlungen werden nicht bedacht.

Hyperaktivität: Übermäßige Rastlosigkeit, Herumlaufen, nicht Stillsitzen können, ständiges lautes und schnelles Sprechen.

Wenig bekannte Merkmale von intensiven Kindern

Die klassischen Merkmale von ADHS kennst du bereits. Allerdings existieren unzählige Ausprägungen der Störung. Das „ADHS-Kind“ gibt es nicht! Jedes Kind ist einzigartig, und deshalb wollen wir unser Kind nicht auf drei Symptome reduzieren.

Es gibt weitere, weniger bekannte Eigenheiten, die intensive und temperamentvolle Kinder ausmachen. Diese Merkmale sind der Grund dafür, dass herkömmliche Erziehungsmethoden bei diesen Kindern nicht funktionieren. Zu jedem dieser Besonderheiten von intensiven Kindern gebe ich dir erste Tipps, wie du mit ihnen umgehen kannst.

Intensität

Kinder mit ADHS sind wie andere Kinder, fallen aber durch ihre Leidenschaft auf. Sie fühlen intensiver. Wenn sie sich freuen, dann sind sie begeistert bis euphorisch, und wenn sie traurig sind, geht in ihren Augen die Welt unter. Da ist nichts Gespieltes und Theatralisches, die Kinder fühlen wirklich so intensiv. In diesen Situationen erleben sie größte Freude oder tiefstes Leid. Die Stimmungen können von einem auf den anderen Moment wechseln.

Intensive Kinder sind oft laut und immer in Bewegung. Wenn sie einen guten Tag haben, singen und tanzen sie durchs ganze Haus. Wenn sie aber einen schlechten Tag haben, knallen die Türen, und sie machen ihrem Unmut lautstark Luft. Sie sind einfach extrem in allem, was sie tun.

Es gibt aber auch intensive Kinder, die leise sind. Sie fühlen genauso stark wie die lauten Kinder, aber richten ihre Gefühle mehr nach innen. Diese Kinder sind sehr fantasievoll und neigen zum Tagträumen. Es sind die Kinder, die in der Schule aus dem Fenster schauen, wenn der Lehrer etwas erklärt. Das sind die Träumerchen oder Kinder mit ADS, also ohne Hyperaktivität.

Das intensive Temperament ist den Kindern in die Wiege gelegt worden und wird ihnen ihr Leben lang erhalten bleiben. Unsere Aufgabe als Eltern ist es, die Kinder liebevoll zu begleiten und sie bei ihren intensiven Gefühlszuständen verständnisvoll zu unterstützen.

Das kannst du tun: Wenn du weißt, dass dein Kind intensiv ist und dich nicht absichtlich ärgert oder provoziert, kannst du viel gelassener auf Wutanfälle und andere Gefühlsausbrüche reagieren. Du kannst deinem Kind beibringen, wie es sich selbst regulieren kann. Wie das geht, erfährst du im Laufe des Ratgebers.

Sensibilität

Wirbelwinde sind äußerst sensibel. Weil man es den lebhaften und oft lauten Kindern nicht so leicht anmerken kann, halten wir sie für robuster, als sie in Wirklichkeit sind. Sie nehmen blitzschnell alles in ihrer Umgebung wahr: Geräusche, Lichter, Gerüche, Bewegungen, Temperaturveränderungen, Berührungen auf ihrer Haut. Von diesen unzähligen, sich stets verändernden Eindrücken, die im Laufe eines Tages auf sie einstürmen, werden die Kinder regelrecht überflutet. Mit diesem Wissen können wir nachvollziehen, warum ein Kind im Einkaufszentrum durchdreht oder sich bei Menschenansammlungen wie auf dem Jahrmarkt sehr unwohl fühlt. Die sensiblen Kinder nehmen wie empfindlichste Seismografen Stimmungen und Emotionen aus ihrem Umfeld auf und reagieren sofort darauf – auch mit scheinbar unangemessenem Verhalten, was bei näherer Betrachtung doch nicht so unangemessen ist.

Das kannst du tun: Denke daran, dass dein Kind, so laut und rüpelhaft es sich benehmen kann, einen sehr zarten Kern hat. Schwieriges Verhalten zeigt sich oft, wenn ein Kind überfordert ist.

Beharrlichkeit

Auch Kinder mit ADHS können durchhalten und sich dauerhaft für Dinge begeistern. Wenn – und jetzt kommt es – sie Interesse an einer Sache haben und sich damit beschäftigen wollen!

Der Schulstoff und die Hausaufgaben gehören leider meistens nicht zu diesen Dingen. Wahrscheinlich hast du selbst schon erlebt, wie dein Kind so versunken in sein Spiel war, dass es nichts mehr um sich wahrgenommen hat. Schon gar nicht deine Aufforderungen, doch endlich zum Essen zu kommen.

Die Kinder handeln stur und eigensinnig und haben ihre eigene Vorstellung, wie die Dinge laufen sollten. Oft wirkt es so, als ob die Kinder nicht zuhören könnten oder wollten. Das ist eine ungerechte Unterstellung, denn ein beharrliches Kind, wenn es versunken ist in sein Spiel, blendet alles um sich herum aus. Es tut das nicht absichtlich, es kann nicht anders.

Das kannst du tun: Lerne im Kapitel „Gut durch die Schule mit ADHS“ Strategien kennen, wie du langweilige Aufgaben interessant gestalten kannst. Und beschäftige dich mit einer Methode, mit der du dein Kind erreichst, wenn es wieder mal nicht auf dich hört. Die findest du im Kapitel „Erziehen ohne Schreien“.

Hohe Wahrnehmungsfähigkeit

Die hohe Wahrnehmungsfähigkeit hängt eng mit der stark ausgeprägten Sensibilität zusammen. Dadurch, dass die Kinder durch ihre empfindlichen Sinne die geringsten Reize aus ihrer Umgebung wahrnehmen, lassen sie sich schnell ablenken. Ein Kind nimmt sich vor, ein Buch, das es für seine Hausaufgaben braucht, aus seinem Zimmer zu holen, sieht dort den Legokasten und schon ist‘s passiert … Es ist im Spiel versunken und denkt nicht mehr daran, dass es nur ein Buch aus seinem Zimmer holen wollte.

Das kannst du tun: Versuche Situationen, in denen dein Kind sich ablenken lässt, mit Humor zu nehmen. Bleibe gelassen und erinnere dein Kind immer wieder daran, was es tun wollte. Du kannst deinem Kind auch beibringen, sich selbst Anweisungen zu geben.

Viel Energie

Meine zweite Tochter robbte als ganz kleiner Säugling vom Kopf- bis zum Fußende ihres Bettchens. Vorher hat sie sich von der Rücken- in die Bauchlage gedreht. Die Hebamme, die zufällig da war, und ich waren platt. Auch heute findet das Mädel keine Ruhe. Man könnte ja etwas verpassen …

Wenn man meinen Eltern Glauben schenkt, war auch ich ein sehr aktives Kind, immer bin ich gerannt und war – zack – auf den höchsten Bäumen. Den linken Arm habe ich mir dabei gebrochen und auch ein paar Kopfverletzungen zugezogen. Typische Kollateralschäden bei energiegeladenen Kindern.

Viele energiegeladene Kinder können nicht still sitzen und zappeln auf ihren Stühlen. Ein langer Vormittag in der Schule ist die reinste Qual für sie. Einige Schulen haben das Problem erkannt und erlauben den Kindern, im Unterricht aufzustehen und sich zu bewegen.

Die meisten energiegeladenen Kinder sind nicht wild oder unkontrolliert, sie setzen ihre Power durchaus zielgerichtet ein. Vor allem, wenn sie beharrlich sind. Ganz schön anstrengend für ihre Eltern …

Das kannst du tun: Akzeptiere, dass dein Kind so lebendig ist und sage dir, dass so viel Energie großartig ist. Dein Kind wird spätestens als Erwachsene*r einiges vollbringen können. Sorge dafür, dass dein Wirbelwind genug Bewegung bekommt. Lange Theater- oder Konzertbesuche verschiebst du besser auf später. Oder ihr organisiert einen Babysitter, der zu Hause bei eurem Kind bleibt, wenn ihr euch einen schönen Abend außer Haus machen wollt.

Langsames Anpassungsvermögen

Vielen temperamentvollen Kindern fällt es schwer, sich an veränderte Umstände anzupassen. Sie mögen unvorhergesehene Ereignisse überhaupt nicht, weil sie sich dadurch verunsichert fühlen. Ihnen ist es wichtig, dass Vereinbarungen eingehalten werden. Wenn sich ein temperamentvolles Kind den ganzen Morgen aufs Freibad gefreut hat und der Ausflug abgeblasen wird, weil dicke Gewitterwolken aufziehen, ist die riesengroße Enttäuschung vorprogrammiert.

Auch Umstellungen, von denen es den Tag über eine Menge gibt, bereiten ihnen Mühe. Das beginnt damit, aus dem Schlaf in den Wachzustand zu wechseln. Den warmen Schlafanzug auszuziehen und unter die Dusche zu steigen. Das Haus zu verlassen, um in die Schule zu gehen … Diese alltäglichen Wechsel sind für intensive Kinder anstrengend.

Das kannst du tun: Bereite dein Kind auf Umstellungen vor. Kündige an, wenn es Zeit wird, aufzustehen, sich anzuziehen, zum Essen zu kommen. Dann hat dein Kind ein paar Minuten, um sich auf das Kommende einzustellen.

Ablehnende Reaktion bei Neuem

Neue Situationen verunsichern viele Kinder mit ADHS. Die erste Reaktion ist dann grundsätzlich ein Nein. Auch wenn es der ersehnte Besuch im Zirkus ist, kann es passieren, dass sich das Kind zunächst weigert, das Zelt zu betreten. Noch deutlicher wird die ablehnende erste Reaktion beim Schwimmkurs. Es kann eine ganze Weile dauern, bis das Kind überhaupt bereit ist, ins Wasser zu gehen. Auch unbekannten Personen gegenüber sind diese Kinder abwartend und scheu. Sie brauchen einige Zeit, um warm zu werden.

Das kannst du tun: Gib deinem Kind die Zeit, die es benötigt, um sich auf etwas Neues einzustellen. Rede ihm gut zu, aber dränge es nicht.

Ernsthafte Grundstimmung

Unter den intensiven Kindern gibt es sehr ernsthafte und nachdenkliche Typen. Sie hinterfragen und analysieren Situationen. Dazu sind sie ausgesprochen gerechtigkeitsliebend und setzen sich für die Schwächeren ein. Dabei sind sie sehr direkt und nicht besonders diplomatisch. Es geht ihnen immer um die Sache, die Gefühle der anderen sehen sie in diesen Momenten nicht. Für sie ist das Glas eher halb leer, und wenn sie einen tollen Erfolg erzielt haben, sehen sie das, was noch besser hätte sein können. Diesen ernsten Kindern fällt es schwer, Freude zu zeigen. Das kann für ihre Eltern manchmal frustrierend sein.

Das kannst du tun: Annehmen, dass dein Kind von der ernsthaften Art ist. Vielleicht wünschst du dir manchmal, dass dein Kind fröhlicher und unbeschwerter wäre. Aber sei dir gewiss, dass dein Kind überdurchschnittlich intelligent ist, viel Tiefgang hat und seinen Weg machen wird.

Diagnose ADHS

Wenn du vermutest, dass dein Kind ADHS hat, ist der erste Schritt der Besuch bei der Kinderärztin oder beim Kinder- und Jugendpsychiater. (Kinderärzte sind breiter aufgestellt und nicht unbedingt Experten für ADHS. Ein Kinder- und Jugendpsychiater ist die erste Wahl bei dem Verdacht auf ADHS, denn er ist Facharzt für psychische Störungen und Auffälligkeiten in der Kindheit und Jugend.)

Der Arzt oder die Ärztin führt eine aufwendige Diagnostik durch. Sehr wichtig ist, dass dein Kind auch körperlich untersucht wird, damit organische Krankheiten als Ursache ausgeschlossen werden. Nicht immer, wenn es nach ADHS aussieht, steckt wirklich ADHS dahinter. Entwicklungsstörungen, Ängste, Seh- und Hörprobleme, eine unterdurchschnittliche, aber auch eine überdurchschnittliche Intelligenz oder auch Autismus können zu den gleichen Symptomen führen.

Wenn du dir also Sorgen um dein Kind machst, suche unbedingt einen Kinderarzt oder -ärztin deines Vertrauens oder gleich eine*n Kinder- und Jugendpsychiater*in auf. Wenn du dir unsicher bist, hole noch eine zweite Meinung ein.

So wird ADHS diagnostiziert

Häufig erfolgt die Diagnose durch eine*n Kinder- und Jugendpsychiater*in oder beim Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Dorthin überweist euch der Kinderarzt.

Vor dem Termin erhaltet ihr Fragebögen: Hier kreuzen die Eltern an, wie sie ihr Kind in verschiedenen Situationen des Alltags erleben. Oft sollen auch die Erzieherinnen oder die Lehrer das Verhalten des Kindes im Kindergarten oder in der Schule einschätzen.

Am Tag der Diagnostik wird ein*e Mitarbeiter*in der Praxis ein Gespräch mit dir und deinem Kind führen und einige Tests wie einen Aufmerksamkeits- und einen Intelligenztest durchführen.

Die Diagnose wird nach ICD-Kriterien gestellt, dem Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Das System sieht vor, dass mindestens sechs Anzeichen von Unaufmerksamkeit, drei von Hyperaktivität und ein Hinweis auf Impulsivität vorliegen müssen. Diese Anzeichen müssen schon vor dem siebten Geburtstag aufgefallen sein.

Das sind die möglichen Anzeichen, die in die Diagnose einbezogen werden:

Unaufmerksamkeit:

Macht viele Flüchtigkeitsfehler bei Aufgaben in der Schule, Ausbildung und zu Hause oder Unachtsamkeit, wenn es um Details geht.

Kann sich nur schlecht über längere Zeit auf eine Sache konzentrieren, ob beim Spielen oder anderen Beschäftigungen.

Hört in Gesprächen oder im Unterricht oft nicht zu.

Führt Aufgaben oder Tätigkeiten oft nicht zu Ende aus. Macht zum Beispiel die Hausaufgaben nicht fertig oder bricht Spiele mit anderen ab.

Kann seine Aufgaben und seinen Alltag schlecht organisieren.

Hat eine starke Abneigung gegen Aufgaben, die längerfristige Konzentration erfordern und meidet diese.

Verliert oft Gegenstände, die in der Schule oder Ausbildung benötigt werden, wie Stifte, Schulbücher oder Werkzeug.

Wird häufig von Reizen aus der Umgebung abgelenkt.

Vergisst vieles im Alltag.

Hyperaktivität

Ist oft unruhig, zappelt mit den Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum.

Steht oft auf, auch wenn es gerade nicht passt, zum Beispiel in einer Unterrichtsstunde.

Läuft häufig wild umher oder klettert auf Gegenstände, obwohl dies unangemessen ist.

Tut sich schwer damit, während des Unterrichts oder in der Freizeit leise zu sein.

Ist immer in Bewegung oder wirkt angetrieben.

Impulsivität

Unterbricht häufig andere, platzt in Unterhaltungen oder Spiele hinein.

Antwortet oft schon auf Fragen, bevor sein Gegenüber diese zu Ende gestellt hat.

Tut sich schwer damit zu warten, bis sie oder er an der Reihe ist.

Entscheidend ist, dass die Anzeichen wesentlich stärker ausgeprägt sind als bei „normalen“ Kindern und in verschiedenen Situationen auftreten. Dazu sprechen wir erst von einer Erkrankung, wenn dass das Kind und/oder seine Bezugspersonen deutlich darunter leiden.

Die ADHS-Diagnose kann erleichternd sein

Die ADHS-Diagnose kann uns zunächst erleichtern. Endlich wissen wir, was mit unserem Kind los ist! Nicht wir und unsere Erziehung sind die Ursache für die Schwierigkeiten, die wir täglich mit unserem Kind erleben, sondern es leidet unter einer psychiatrischen Störung. Mit dem Wissen, dass unser Kind ADHS hat, können wir sein Verhalten besser einordnen und verständnisvoller reagieren.

Wenn wir das Glück haben, von einem Kinderarzt oder Psychologin, der oder die sich mit ADHS auskennt und ganzheitlich denkt, beraten zu werden, kann jetzt ein auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmter Behandlungsplan beginnen. Dazu gehören fast immer kognitive Verhaltenstherapie, Bewegungstherapie und ein Elterntraining, in dem Eltern lernen, wie sie mit den Herausforderungen von ADHS umgehen können. Bei schweren Formen von ADHS werden, um eine Therapie erst möglich zu machen, häufig Medikamente – zum Beispiel Ritalin – verschrieben.

Achtung! Falls euer Kinderarzt Ritalin oder andere Psychopharmaka verschreibt, ohne dass dein Kind zuvor psychotherapeutisch behandelt wurde, solltest du eine zweite Meinung einholen. Die Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geben vor, dass erst, wenn andere Maßnahmen keinen Erfolg zeigen, Stimulanzien gegeben werden dürfen.

Die Diagnose als Etikett

Die Diagnose kann auch stigmatisierend wirken. Sie besagt immerhin, dass das Kind eine psychiatrische Störung hat – es ist „gestört“. Leider werden auch heute noch Menschen mit ADHS schief angesehen und sind Vorurteilen ausgesetzt: Sie gelten als chaotisch, unberechenbar, seltsam und nicht ernst zu nehmen.

Viele denken sofort an Kinder, die grundlos ausflippen und auch sonst nur Probleme machen. Wildfänge, die in einer Klasse negativ auffallen und ihren Lehrer*innen das Fürchten lehren. Gören, von denen man alles Mögliche erwartet, nur keine erfolgreiche und glückliche Zukunft.

In jedem Wort sind Gefühle gespeichert. Wenn wir ein Wort aussprechen, hören oder daran denken, werden diese Gefühle in uns wieder aktiviert. Denk an das Wort „Schule“. Je nachdem, welche Erfahrungen du in der Schule gemacht hast, löst das Wort angenehme oder unangenehme Gefühle in dir aus.

Noch stärker ist dieser Effekt bei Etiketten, die wir im Ärger automatisch und unbedacht für andere Menschen verwenden: Depp, Dummkopf, Lahmarsch, aggressiv, bösartig, gestört, verrückt … Diese Wörter machen nicht nur etwas mit unserem Gegenüber, sondern auch mit uns.

Denken wir zum Beispiel an das Wort aggressiv, steigen automatisch Aggressionen in uns auf.

Dass Wörter eine so starke Wirkung haben, liegt daran, dass sie mit Erlebnissen verknüpft sind. Wenn wir das Wort erneut hören, sagen oder denken, wird das Gefühl, was wir damals erlebt haben, wieder aktiv. Und je öfter wir das Wort gebrauchen, desto stärker wird das damit verbundene Gefühl in uns verankert. Mit der Zeit hat das Auswirkungen auf unsere Lebensqualität.

Wenn das Gefühl, das mit einem Wort verbunden ist, angenehm ist, wunderbar! Aber wenn das Gefühl unangenehm oder bedrohlich ist, sollten wir darauf achten, welche Wörter wir häufig verwenden.

Unser intensives Kind macht es uns nicht gerade leicht, positive Gedanken zu hegen. Oft genug bringt uns sein Verhalten auf die Palme. Dennoch ist es wichtig, dass wir darauf achten, mit welchen Wörtern wir unser Kind benennen, auch nur in Gedanken. So verhindern wir, dass wir unsere Töchter und Söhne langfristig mit negativen Begriffen in Verbindung bringen.

Es kann geschehen, dass Lehrer*innen von Kindern mit ADHS nichts Gutes erwarten. Sie etikettieren diese Kinder als „schlechter Schüler“, „Klassenclown“, „Träum-Suse“, „Tollpatsch“, „Zappelphilipp“ oder „Störer“. Dieses stigmatisierende Etikett macht, dass ein Kind – das ganz normal ist, aber mehr von allem hat – alles tut, um die in es gesetzten Erwartungen zu erfüllen: Es verhält sich auffällig, wird ein schlechter Schüler, hat die falschen Freunde und gerät vielleicht auf die schiefe Bahn. Der sogenannte Pygmalion-Effekt hat zugeschlagen!

Dieses psychologische Phänomen besagt: Negative Erwartungen in ein Kind beeinflussen dieses so, dass es tatsächlich schlechte Leistungen erbringt. Der amerikanische Psychologe Robert Rosenthal konnte das in den 1960er-Jahren erstmals in einem Experiment nachweisen; viele weitere Studien bestätigten seine Ergebnisse.

Das Etikett „ADHS“ beeinflusst unsere Wahrnehmung des Kindes und kann bewirken, dass wir nur noch die Defizite sehen. Das Kind mit seinen Bedürfnissen und seinem Potenzial nehmen wir so gar nicht mehr wahr. Dabei können wir eine glückliche Beziehung zu unserem Kind nur haben, wenn wir es mit allem, was es ausmacht, annehmen und mit den Stärken arbeiten.

Aus meiner Arbeit mit temperamentvollen Kindern und ihren Eltern kann ich sagen, dass diese außergewöhnlichen Kinder wundervolle Schätze in sich bergen, die nur darauf warten, entdeckt zu werden!

„So bin ich nun mal!“ – ADHS als Ausrede

Gabriele, 17, müsste für ihr Abi lernen: „Ich kann mich einfach nicht auf den Stoff konzentrieren. Das liegt an meiner ADHS.“ Daraufhin schaute sie sich einen Film auf Netflix an.

Mit 17 wird Gabriele vielleicht nicht mehr auf den Rat ihrer Eltern hören. Aber es wäre einen Versuch wert, mit ihr über die vielen beruflichen Möglichkeiten zu sprechen, in denen Menschen mit ADHS richtig in ihrem Element sein können. Das könnte sie zum Durchhalten anspornen.

Von älteren Kindern und Jugendlichen wird die Diagnose ADHS gerne als Ausrede benutzt, wenn sie nicht lernen wollen oder können. Schwer zu sagen, ob sie selbst daran glauben, dass sie wegen ADHS nicht in der Lage sind, zu lernen und sich deshalb nicht ernsthaft bemühen, oder ob sie schlicht keine Lust dazu haben. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem.

Die ADHS-Diagnose birgt also ebenso Chancen wie Gefahren. Wäge gut ab, ob ihr eine ADHS-Diagnostik durchführen lassen wollt. Bedenke auch, dass es zu fehlerhaften Diagnosen kommen kann. Therapeutische Hilfe und Unterstützung könnt ihr selbstverständlich auch ohne ADHS-Diagnose bekommen. Hör auf dein Bauchgefühl und lass dich vom Kinderarzt oder der Kinderärztin deines Vertrauens ausführlich beraten.

Exkurs: Ritalin bei ADHS

Den Namen Ritalin hat sicher schon jeder gehört, der sich mit ADHS beschäftigt. Aber was bewirkt das Medikament und wann wird es eingesetzt? Hat es Nebenwirkungen? Diese und andere Fragen will ich hier kurz und knackig beantworten.

Was ist Ritalin?

Ritalin ist der Handelsname für ein Medikament, das am häufigsten bei ADHS verschrieben wird. Der Wirkstoff ist Methylphenidat. Weitere Medikamente, die auf Methylphenidat basieren, sind Medikinet oder Concerta. Es gibt noch weitere Medikamente, die andere Wirkstoffe enthalten. Diese kommen infrage, wenn Ritalin nicht vertragen oder wirksam ist.

Wann wird Ritalin verschrieben?

Ritalin verordnet der oder die Kinder- und Jugendpsychiater*in bei schwerer ADHS und wenn andere Therapien nicht ausreichend wirksam sind. In besonders schweren Fällen ist Ritalin die Voraussetzung dafür, dass ein Kind überhaupt in der Lage ist, an einer Psychotherapie oder einem Verhaltenstraining teilzunehmen.

Ritalin wird auch verschrieben bei ausgeprägten Schwierigkeiten des Sozialverhaltens – zum Beispiel, wenn bei einem intelligenten Kind wegen seines schwierigen Sozialverhaltens eine Umschulung in eine Förderschule droht, obwohl es den geistigen Anforderungen der Regelschule durchaus gewachsen wäre. Mithilfe des Medikaments kann sich das Kind sozial angemessener verhalten und weiterhin die Regelschule besuchen.

Die Gabe von Ritalin ohne eine begleitende Therapie wird nach deutschen und europäischen Leitlinien ausdrücklich nicht empfohlen.

Was soll Ritalin bewirken?

Ritalin soll den Leidensdruck des Kindes und seines Umfelds lindern, in dem es die Symptome von ADHS verringert. Durch die Gabe von Ritalin werden vor allem die Kernsymptome von ADHS – Emotionsregulation (Selbstkontrolle), Konzentration, Reizbarkeit und Impulsivität – beeinflusst. Ritalin wirkt nicht langfristig und muss deshalb regelmäßig eingenommen werden. Während der Wirkspanne sind die Kinder häufig weniger ablenkbar, können sich Dinge besser merken, ihr Schriftbild verbessert sich, sie sind oft ordentlicher, haben eine höhere Frustrationstoleranz und können ihre Handlungen besser planen. In vielen Fällen können die Kinder kurzfristig ihr vorhandenes Potenzial besser ausschöpfen, erfolgreicher lernen und sich sozial angepasster verhalten.

Was kann Ritalin nicht bewirken?

Wer eine sofortige Verbesserung der Symptome oder gar eine Steigerung der geistigen Leistung, also der Intelligenz, erwartet, wird enttäuscht sein. Außerdem sind die Verbesserungen nur bemerkbar, solange das Medikament eingenommen wird. ADHS kann durch Medikamentengabe nicht geheilt werden.

Wirkt Methylphenidat nicht wie erwartet, kann es hierfür verschiedene Gründe geben:

Die Dosis ist zu niedrig oder zu hoch.

Das Kind ist „Non-Responder“, spricht also auf das Medikament nicht an.

ADHS ist nicht die Hauptursache der Symptome.

Es liegt eine Fehldiagnose vor.

Welche Nachteile und Nebenwirkungen kann Ritalin haben?

Besonders während der Einstellungsphase kann es zu unangenehmen Nebenwirkungen kommen. Am häufigsten sind Appetitverlust und Schlafstörungen. Aber auch Übelkeit, Erbrechen, Kopf- und Bauchschmerzen kommen vor. Deshalb ist es wichtig, dass dein Kind in kurzen Abständen vom Kinder- und Jugendpsychiater untersucht wird.

In der Einstellungsphase kann es bei Wirkzeitende zum sogenannten Rebound-Effekt kommen. Das bedeutet, dass die Symptome verstärkt auftreten. Wird Ritalin verschreibungsgemäß eingenommen, ist keine Abhängigkeit zu erwarten. Bei missbräuchlicher Verwendung gibt es durchaus ein Suchtrisiko.

Eine andere Sichtweise auf herausfordernde Kinder – ADHS als Chance

„ADHS-Kinder“ haben allgemein keinen guten Ruf: Sie seien Plagegeister, Nervensägen, Systemsprenger, die sich an keine Regel halten und sich und ihren Eltern das Leben schwer machen. Und natürlich leiden auch die Lehrer*innen und Mitschüler*innen unter dem Wirbelwind.

In Ratgebern zu ADHS lesen wir häufig, Kinder mit ADHS seien benachteiligt gegenüber den anderen, „normalen“ Kindern. Sie können sich einfach nicht konzentrieren, stören den Unterricht und kommen durch ihre Impulsivität in Schwierigkeiten. Wegen alldem erbringen sie nicht die Leistungen, zu denen sie fähig wären und können deshalb nicht erfolgreich sein.

Das alles hört sich fürchterlich an, und wir fragen uns, warum unser Kind nicht einfach ganz normal sein kann. Wir erwarten ja gar nicht viel – nur, dass unser Kind einfach glücklich ist und wir mal durchatmen können.

Es wird Zeit für eine neue Sichtweise auf energiegeladene Kinder!

Mit der folgenden Geschichte von Raphael zeige ich dir: Kinder mit ADHS können einen erfolgreichen – wenn auch eigenwilligen – Weg nehmen. Eine ADHS-Diagnose bedeutet nicht das Ende der Welt! Im Gegenteil, wenn du erkennst, welches Potenzial dein Kind besitzt, hat es alle Möglichkeiten, ein großartiger, erfolgreicher und glücklicher Mensch zu werden.

Raphael war von Geburt an ein empfindsames Kind, und er litt unter Allergien und Neurodermitis. Im Kindergarten war er beliebt, sehr aktiv, laut und eigenwillig. Als er vier Jahre alt war, kamen seine Eltern zum ersten Mal mit ADHS in Berührung: Bei einer Routineuntersuchung wollte Raphael sich von der Kinderärztin um keinen Preis untersuchen lassen. Schreiend flitzte er in der Praxis herum. Die Kinderärztin meinte, Raphael könnte ADHS haben. Das nahmen die Eltern damals nicht allzu ernst.

Etwas später: Auf dem Zeugnis der Grundschule standen erste Bemerkungen über Raphaels Verhalten. Er sei impulsiv, würde viel widersprechen und halte sich nicht an Regeln. Die Noten waren zum Glück gut. Im Gymnasium nahm Raphaels Schulkarriere an Fahrt auf, leider in die negative Richtung: Die Noten verschlechterten sich, er machte seine Hausaufgaben nicht mehr, und die Beschwerden der Lehrenden häuften sich. Der Beginn einer typischen ADHS-Karriere? Seine Eltern machten sich große Sorgen um seine Zukunft, und besonders seine Mutter hatte Schuldgefühle. Was hatte sie nur falsch gemacht? Gleichzeitig sahen beide Eltern die Stärken, die Raphael unverkennbar hatte: Er war beharrlich und erfolgreich bei dem, was ihn interessierte. (Leider waren das nicht die Schulaufgaben.) Warmherzig, charmant und humorvoll schloss er schnell Kontakte. Nachdem seine Eltern von Nachhilfe bis Therapie alles versucht hatten, überließen sie ihm das Ruder. Raphael verließ die Schule vor dem Abi und entschied sich für eine Ausbildung bei einer Bank. Mit 20 Jahren hatte er einen Berufsabschluss und hielt zusätzlich sein Abi in den Händen. (Das war möglich, weil die Ausbildungsjahre auf die Fachhochschulreife angerechnet wurden.) Raphael wusste schon immer, was er wollte, und das zog er durch. Heute studiert er an einer Uni und verdient sich seinen Unterhalt selbst. Dass seine Geschichte einen so glücklichen Ausgang nehmen würde, hätte damals keiner geahnt. Weder seine Eltern noch die Lehrer*innen am Gymnasium.

Kinder mit ADHS haben besondere Stärken

Eine ADHS-Diagnose kann uns erscheinen wie eine Einbahnstraße: „Mein Kind hat nun mal diese Probleme und damit muss man leben.“ Wenn wir so denken, schauen wir auf die Defizite und könnten leicht resignieren. Aber betrachten wir die Sache einmal durch eine andere Brille: Ja, dein Kind hat eine besondere Veranlagung, die sein Leben lang zu ihm gehören wird. Ja, einige seiner Persönlichkeitsmerkmale sind herausfordernd – und gleichzeitig sind es große Stärken und machen dein Kind einzigartig. ADHS als Chance!

Radikale Akzeptanz ist jetzt gefragt: Nimm dein Kind an, so wie es ist. Dieses Kind ist zu dir gekommen, weil du die Herausforderung annehmen kannst. „Schwierige“ Kinder haben oft besonders feine Eltern, die gemeinsam mit ihrem Kind wachsen. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Entwicklung.

GUT ZU WISSEN – DIE VERSCHIEDENEN TEMPERAMENTE

Wir Eltern machen uns natürlich große Sorgen, wenn unser Kind den vorgezeichneten, üblichen Weg nicht gehen will. Das ist verständlich, denn wir können ja nicht wissen, ob sich der eingeschlagene, abenteuerliche Weg als der richtige erweist!

Ich hielt mich immer für aufgeschlossen gegenüber vielerlei Lebensentwürfen. Aber als zwei meiner Kinder darauf bestanden, das Abi nicht zu machen, musste ich sehr schlucken. Bei den Kindern anderer Leute hätte ich gesagt, dass das doch kein Problem sei, denn heutzutage könne jeder seinen Weg auch ohne Abitur oder Studium machen … Aber als es um meine Kinder ging, merkte ich, dass ich doch gewisse Vorstellungen über ihren Lebensweg im Kopf hatte. Diese Ideen musste ich schnell loslassen, weil meine Kinder mir zeigten, dass ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatte. Alle haben Wege eingeschlagen, an die ich im Traum nicht gedacht hätte. Gut, dass sie sich nicht haben reinreden lassen!

Welche Stärken haben intensive Kinder?

Der impulsive Erjon war das Sorgenkind seiner Familie. Obwohl er ein helles Köpfchen war, ging es ab der siebten Klasse mit seinen Leistungen in der Schule steil bergab. Erjon hat sich schon als Teenager intensiv mit Finanz- und Wirtschaftsthemen beschäftigt, aber für die Schule brachte er wenig Interesse auf. In der elften Klasse verließ er dann das Gymnasium. Er wollte eine Ausbildung machen. Weil er im Vorstellungsgespräch überzeugen konnte, bekam er trotz der Fünf in Mathe einen Ausbildungsplatz bei einer Bank. Jetzt hat er einen Berufsabschluss und den Bachelor in Wirtschaft in der Tasche.

Die Stärken von Kindern mit ADHS sind nicht immer offensichtlich. Eher fallen ihre schwierigen Seiten auf. Viele intensive Kinder haben die leidvolle Erfahrung gemacht, dass sie so, wie sie sind, nicht richtig sind. Sie haben oft gehört, dass sie zu laut, zu wild, zu auffällig und überhaupt unmöglich seien. Über sie wird mit sorgenvoller Miene gesprochen und die Kinderärztin schüttelt bei der Untersuchung bedenklich den Kopf.

Das Kind hat natürlich längst mitbekommen, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Steht erst mal das Thema ADHS im Raum, beginnt häufig eine Odyssee: Das Kind wird zur Kinderpsychologin, zur Ergotherapie, zur Lerntherapie und zum Verhaltenstraining gebracht.

Bitte verstehe mich nicht falsch! Es ist gut und wichtig, dem Kind zu helfen. Mir geht es darum, zu zeigen, dass es dem Kind allzu bewusst ist, dass es nicht wie die anderen Kinder ist. Und dieses Wissen macht etwas mit ihm: Es fühlt sich unsicher und zweifelt an sich selbst. Um diese tiefen Selbstzweifel zu vertuschen, verhält es sich schüchtern und vorsichtig oder tritt im Gegenteil großspurig auf. Das kostet das Kind dermaßen viel Energie, dass es nicht zeigen kann, was alles in ihm steckt.

Übung: Schwächen in Stärken verwandeln

Schritt 1: Nimm dir ein Blatt Papier und schreibe alle Wörter auf, die dir zu deinem Kind in den Sinn kommen, wenn es einen schlechten Tag hat. Schreibe sie untereinander auf die linke Seite des Blattes. Zensiere dich dabei nicht. Schreibe auch Begriffe auf, die du eigentlich nicht denken willst.

So könnte deine Liste aussehen:

Mein Kind ist …

trotzig

grob

laut

aggressiv

streitlustig

anstrengend

unflexibel

völlig verrückt

dickköpfig

Schritt 2: Gehe deine Liste langsam durch und spüre bei jedem Wort in dich hinein. Welche Gefühle zeigen sich und welche körperlichen Empfindungen nimmst du dabei wahr? Es ist ganz natürlich, wenn du dich traurig fühlst.

Schritt 3: Welche positive Eigenschaft steckt hinter dem Verhalten deines Kindes? Suche für jeden negativen Begriff auf deiner Liste etwas Positives. Schreibe den neuen positiven Begriff auf die andere Seite.

Mein Kind ist …

negativ wird zu … positiv
trotzig weiß, was es will
grob ehrlich
laut voller Eifer
aggressiv durchsetzungsfähig
streitlustig sucht die Wahrheit
anstrengend leidenschaftlich
unflexibel ausdauernd
völlig verrückt kreativ
dickköpfig zielorientiert

Gehe die neuen, positiven Beschreibungen für das Verhalten deines Kindes durch. Spüre hinein, wie sich jedes Wort anfühlt. Achte dabei auch auf deine Körperempfindungen: deinen Atem, Gefühle im Brustkorb, im Kopf, Wärmeempfindungen.

Hast du die Übung gemacht? Wie geht es dir jetzt? Viel besser und hoffnungsvoller? Das habe ich mir gedacht, denn ein positives Bild verschafft positive Gefühle! Das geschieht sogar auf körperlicher Ebene: Die Herzfrequenz verlangsamt und der Blutdruck normalisiert sich. Wir sind nicht mehr im Kampfmodus und können die Situation neutral wahrnehmen. Auf einmal können wir erkennen, dass uns unser Kind nicht provozieren oder absichtlich ärgern wollte. Nun sind wir in der Lage, klar zu denken. Und wir können hören, was uns unser Kind mitteilen möchte und gemeinsam Lösungen finden.

Beim ADHS-Elterncoaching begann Carolin, Mama des achtjährigen Pauls, zu weinen. Ihr wurde bewusst, dass sie über ihren Sohn, den sie so sehr liebt, oft ziemlich negativ denkt. Manchmal rutschten ihr böse Worte heraus. Wie Paul sich fühlen musste, wurde ihr jetzt bei dieser Übung bewusst. Das wollte sie nicht!

So wie Carolin geht es den meisten Müttern und Vätern. Sie fühlte sich durch ihren Sohn provoziert, wollte sich nicht alles bieten lassen und fährt ihn an. Das passiert fast automatisch: Auf der einen Seite denken wir, dass wir unser Kind erziehen und es in seine Schranken weisen müssen. Gleichzeitig verspüren wir Wut, Angst oder Enttäuschung. All dies vermischt sich und unsere Reaktion fällt hefiger aus, als wir es wollen. Am Schluss sind alle unglücklich, du und dein Kind.

Wie können wir es besser machen? Zum Glück gibt es Sichtweisen auf dein Kind, die ihm wirklich würdig sind. Wir wandeln die vermeintlichen Schwächen in Stärken um.

ADHS – eine Begabung?

ADHS soll eine Begabung sein? Das klingt im ersten Moment provokant, denn normalerweise wird ADHS als Störung oder gar Krankheit betrachtet. Aber ist diese ungewohnte Sichtweise wirklich so abwegig? Wie wir gesehen haben, steckt hinter beinahe jeder Schwäche eine Stärke. Es kommt auf die Brille an, mit der wir auf unser Kind schauen. Keine Frage, gleichzeitig kommt mit dem intensiven Temperament eine besondere Herausforderung auf uns zu. Um unsere Kinder an den Klippen, die unvermeidlich auf sie warten, vorbeizulotsen, müssen wir uns warm anziehen.

An der Berliner Charité wurde eine einzigartige Studie durchgeführt, bei der fast 2000 Eltern über ihre von ADHS betroffenen Kinder befragt wurden. In dieser Studie wurden – und das ist das Besondere – nicht nur Probleme und negative Symptome, sondern auch Stärken und besondere Fähigkeiten der betroffenen Kinder erfasst.

Als häufigste positive Eigenschaften ihrer Kinder mit ADHS haben die Eltern angekreuzt: sensibel, neugierig, ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, fantasievoll. Außerdem haben Eltern weitere Stärken ihrer Kinder angegeben: Empathie, seismografische Antennen, offen und ehrlich, großherzig und besonders tierlieb.

Autor

  • Heike Hahn (Autor:in)

Heike Hahn ist systemischer Coach, Dozentin an der „Hector-Kinderakademie für hochbegabte Kinder“ und ADHS-Expertin aus eigener Erfahrung. Sie war selbst „ADHS-Kind“ und weiß als Mutter von vier gefühlsstarken, hyperaktiven Kindern nur zu gut, mit welchen Problemen Eltern von besonderen Kindern täglich zu kämpfen haben. Mit ihrem Ratgeber möchte sie Eltern zeigen, wie großartig und einzigartig ihr Kind ist.
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Titel: Mein Kind hat ADHS