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In der Ruhe liegt deine Kraft

Wirksame Wege zu mehr Gelassenheit in einer lauten Welt.

von Dr. Christoph Augner (Autor:in)
176 Seiten

Zusammenfassung

Stille ist vom Aussterben bedroht. Überall wird besprochen, diskutiert, geredet. Wir checken schon vor dem Aufstehen unsere E-Mails, der Weg zur Arbeit wird begleitet von unserer Musik-Playlist. Doch Lärm und innere Unruhe sind ungesund, machen uns unproduktiv und belasten unsere Beziehungen. Höchste Zeit, zur Ruhe zu kommen – denn Stille ist eine wahre Zauberkraft, die unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit verbessern kann. In diesem Ratgeber zeigt der Psychologe und Hochschullehrer Dr. Christoph Augner, welche Vorteile die Stille bietet und wie man sie nutzen kann, um gelassener zu werden, sich besser zu konzentrieren, körperlich und mental gesünder zu werden und die innere Balance wiederzufinden.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.

Friedrich Nietzsche, Philosoph, 19. Jh.

2009, es ist ein schöner Januarnachmittag in New York. Kapitän Chesley B. Sullenberger und sein Co-Pilot machen den mit 150 Passagieren besetzten Airbus für einen Inlandsflug startklar. Nichts deutet auf eine drohende Katastrophe hin. Umso größer ist der Schock: Im Steigflug kollidieren Vögel mit dem Flugzeug. Beide Triebwerke fallen aus, eine Horrorvorstellung für jeden Piloten.

„Ich hatte so viel Angst wie noch nie in meinem Leben“, wird Sullenberger später sagen. Dennoch verfällt er nicht in Panik oder in eine Schockstarre. „Das Erste, was wir tun mussten, war, uns zur Ruhe zu zwingen“, analysiert er Jahre nach dem Ereignis. Dann ging es darum, die Disziplin zu haben, das Wichtigste zu tun und alles andere zu ignorieren. Ruhig bleiben, Fokus auf die Prioritäten, Aufgabe für Aufgabe durcharbeiten.

Sullenberger und sein Copilot Jeffrey Skiles prüfen rasch die verbleibenden Optionen. Ihnen ist klar: Eine Rückkehr zum Flughafen La Guardia wird scheitern. Die Flugsicherung bietet per Funk die Landung auf einem nahegelegenen Flugplatz an. „We are gonna be in the Hudson“, hört man Sullenberger auf dem Mitschnitt des Funkverkehrs sagen. Der Mitarbeiter am Boden ignoriert diese Aussage und spricht weiter von der Notlandung am Flughafen. Später wird er sagen, er wollte nicht wahrhaben, was er da gehört hat. Kapitän Sullenberger hat entschieden, das Flugzeug auf dem New Yorker Hudson River zu landen – im Wasser. Das riskante Manöver gelingt, alle Passagiere können gerettet werden, wie durch ein Wunder wird kaum jemand schwerer verletzt. Der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Flugzeug auf einem der herbeigefahrenen Boote, nachdem er sich zweimal vergewissert hat, dass alle die Unglücksmaschine verlassen haben.

Sullenberger wurde gefragt: „Wie konnten Sie so ruhig bleiben?“ – „Weil die Crew so ruhig war“, antwortete er. Ruhe ist ansteckend. Tatsächlich brach trotz der dramatischen Ereignisse an Bord keine Panik aus. Innere Ruhe gab „Sully“ Sullenberger die mentale Kraft, um die wichtigen Aufgaben zu erkennen und durchzuführen. Er ließ sich nicht ablenken von seiner Todesangst. Er ignorierte all die elektronischen Signale, Hinweise, Datenübermittlungen, die in einem modernen Cockpit den Routineflug erleichtern. Das alles konnte ihm in dieser Situation nicht helfen.

Sich zur Ruhe zwingen können: Sullenberger, seine Crew und 150 Passagiere verdanken dieser Fähigkeit ihr Leben. Die Macht der Ruhe zeigt sich aber nicht nur in lebensbedrohlichen Situationen, in denen Piloten oder Chirurgen Leben retten. Jeder von uns kann im normalen Alltag sein stilles Potenzial abrufen. Wer vor und während einer schwierigen Prüfung oder einer wichtigen Aufgabe fokussiert bleiben will, muss die Angst vor dem Versagen kontrollieren können, beiseiteschieben. Er muss sich zur Ruhe zwingen können.

Ein Kunde beschimpft einen Verkäufer, er ist offensichtlich außer sich, weil ihm ein defektes Produkt verkauft wurde. Der Verkäufer ist nicht verantwortlich dafür, er hat keinen Fehler gemacht. Er hätte allen Grund, ebenfalls wütend zu werden und zurückzuschreien. Er zwingt sich zur Ruhe. Er versetzt sich in die Lage des Kunden, zeigt Verständnis, weist auf Lösungsmöglichkeiten hin, macht verschiedene Angebote. Er gibt dem Kunden das Gefühl, wieder die Kontrolle zu haben. Es dauert mehrere Minuten, bis er den wütenden Mann beruhigt hat. Doch dann gibt es eine konstruktive Lösung. Am Ende verlässt der Kunde zufrieden das Geschäft. Das ist die Macht der Ruhe.

Der Arbeitstag war lang, ein Problem, das man lösen wollte, hat sich nur verschärft. Entnervt macht man sich auf dem Heimweg, grübelt über die Arbeit nach. Zu Hause gibt es gleich Streit mit dem Partner, weil man so schlecht gelaunt und geistig abwesend ist. Später wälzt man sich im Bett hin und her, an Schlaf ist trotz Müdigkeit nicht zu denken. Viele von uns kennen diese Situationen. Die Macht der Ruhe beginnt damit, sich in der Freizeit gedanklich von arbeitsbezogenen Inhalten zu lösen. Abschaltenkönnen nach der Arbeit – das ist eine wichtige Fähigkeit, die uns zur Ruhe kommen lässt. Die Fachliteratur nennt das psychological detachment. Wer zu Hause die negativen Arbeitsinhalte nicht loslassen kann, schläft schlechter, neigt eher zu Depressivität und körperlichen Problemen. Wer viel zu tun hat, kann die Müdigkeit und Erschöpfung durch das Abschalten reduzieren und seine Beziehungsqualität verbessern. Loslassenkönnen, das ist die Macht der Ruhe.

Als der römische Politiker Serenus über die großen und kleinen Unzulänglichkeiten im Leben und seine innere Unruhe klagt, gibt ihm der Philosoph Seneca eine denkwürdige Antwort. Er spricht davon, die Seelenruhe, die Gemütsruhe, die Bestandsfestigkeit der Seele wiederherzustellen. Es gehe darum, der Seele zu einem „gleichmäßigen und heilsamen Gang“ zu verhelfen, sodass sie „im besten Einvernehmen mit sich“ steht und „immer im Zustand friedlicher Ruhe“ verbleibt, „sich weder überhebend noch herabwürdigend“.

Seelenruhe ist in diesem Sinne eine innere Ruhe, die weitgehend unabhängig ist von den äußeren Wechselfällen des Lebens. Sie ist ein Zustand der mentalen Stärke, aber auch der inneren Balance. Sie verschafft Widerstandsfähigkeit in schwierigen Lebenssituationen, sie hilft aber auch, den Aufmerksamkeitsfokus auf das Wichtige auszurichten. Innere Ruhe verhindert, dass man durch äußere Reize, den Lärm und die Ablenkungen des Alltags durch den Tag getrieben wird. Sie macht uns die zeitliche Begrenztheit des Lebens, unseres Handlungsspielraums bewusst und relativiert die Wichtigkeit jener Dinge, denen wir im Alltag allzu viel Bedeutung beimessen.

Wer innerlich ruhig ist, muss nicht mehr schreien, um alles andere zu übertönen. Wer innerlich ruhig ist, sucht Orte auf, wo es still ist, schöpft Kraft aus einer ruhigen Wohnumgebung, wirkt beruhigend auf seine Mitmenschen. Wer innerlich ruhig ist, schafft eine Umgebung, die äußere Ruhe begünstigt. Wenn es außen ruhig ist, wird wiederum die Entwicklung innerer Ruhe leichter.

In den folgenden Abschnitten geht es darum, unserem Leben die ruhigen Momente zurückzugeben. Sie zu konservieren, wertzuschätzen und weiterzuentwickeln – im vollen Bewusstsein um ihre Bedeutung für ein gelingendes, ein gutes Leben, ein Leben aus ganzem Herzen und mit voller Seele.

Innere Ruhe ist eine machtvolle Kraft, die uns hilft, unser Leben positiv zu gestalten, leistungsfähig und gesund zu bleiben. Dennoch verbringen die meisten von uns den größten Teil ihres Lebens damit, davor wegzulaufen. Darum geht es im Kapitel Warum wir Ruhe vermeiden.

Wir machen die Nacht zum Tag, checken schon vor dem Aufstehen Mails und Newsfeeds. Der Weg zur Arbeit ohne Ohrstöpsel und Musik von der Playlist? Undenkbar. Wir hetzen von Termin zu Termin, besprechen, diskutieren, reden. Wieder zu Hause plaudern wir mit elektronischen Haushaltshilfen. Dann schlafen wir irgendwie mit dem Handy in der Hand vor dem Fernseher ein. Wir lassen uns mitreißen vom Lärm aus unserer Umwelt, sind Getriebene sinnloser Ablenkungen und Sklaven der medial vermittelten Aufgeregtheiten. Wir kommen nicht zur Ruhe, weil wir es selbst gar nicht zulassen. Das untergräbt unsere Leistungsfähigkeit, unser Wohlbefinden, unsere Beziehungen, wir verlieren an Tiefgang. Davon handelt das Kapitel Was wir verlieren.

Die Fähigkeit zur Ruhe ist eine Lebenskompetenz. Noch nie war sie so wichtig wie heute, noch nie wurde sie so vernachlässigt. Innere Ruhe macht uns produktiver, sie lässt uns bessere Entscheidungen treffen, sie hält uns gesund. Ich möchte darauf im Kapitel Warum wir die Ruhe brauchen eingehen.

Es war ein folgenschwerer Moment in der Fußballgeschichte, als sich Gareth Southgate im Elfmeterschießen des EM-Halbfinalspiels 1996 hastig den Ball auflegte. Sekunden später war England ausgeschieden, weil Southgate verschossen und der deutsche Schütze Andreas Möller sicher verwandelt hatte. „Ich hatte zu viele Stimmen im Kopf“, erklärte der Engländer später seine Unruhe und Nervosität. Er nutzte später sein eigenes Versagen, um als Trainer seine Mannschaft erfolgreich auf solche Situationen vorzubereiten.

In wichtigen Situationen ruhig bleiben: Das hilft nicht nur im Profisport, in der Wissenschaft und in der Kunst. Auch im normalen Alltag können wir uns etwas vom Umgang von Fußballern, Biathleten, Forschern, Schriftstellern, Therapeuten mit der Ruhe abschauen und für uns nutzen. Innerlich ruhig zu sein, fällt uns oft so schwer. Dabei braucht es oft nur ein paar kleine Änderungen in unserem Tagesablauf, die Ritualisierung von kurzen Phasen des Alleinseins, einen regelmäßigen Spaziergang oder die Bewusstmachung von inneren Haltungen. All das beschäftigt uns in dem Kapitel Die Ruhe kultivieren.

Das Buch ist keine reine Handlungsanleitung und kein Programm. Ich sage Ihnen hier nicht, was sie tun sollen – da gibt es schon genug Bücher, die das versuchen. Ich bin überzeugt, man muss ein Phänomen verstehen, damit man es nachhaltig verändern kann. Dafür braucht es Geduld, Hartnäckigkeit, Kreativität. Sie als Leserin, als Leser entscheiden selbst, welche Geschichten, Gedanken, Impulse, Ideen Sie für Ihren ruhigeren Alltag und ein qualitätsvolles Leben nutzen möchten. Darum geht es im Kapitel Impulse für mehr Gelassenheit.

Doch manchmal braucht man akut mehr Ruhe und einen entspannten Moment, ohne gleich groß über das Leben nachdenken zu können oder zu wollen. Genau für solche Momente habe ich Ihnen im letzten Kapitel ein kleines Notfallset Ruhe zusammengestellt, das Sie jederzeit und ganz unkompliziert verwenden können. Manchmal reichen ganz kleine Anstöße und Tipps (in der Psychologie spricht man gerne von nudges, „Stupsern“ oder micro habits, „kleinste Gewohnheiten“), um große Wirkung zu erzielen.

Ihr

Dr. Christoph Augner

WARUM WIR RUHE VERMEIDEN

Viele von uns wünschen sich, mehr „Ruhe zu haben“ oder auch einmal einfach „in Ruhe gelassen zu werden“. Meistens gelingt das nicht. Kein Wunder, denn wer Stille sucht, geht in direkte Konfrontation zu einer Welt, in der Lärm und Aktivität alles ist; einer Welt, die die Rastlosen, die Lauten, die Hektischen belohnt und die Ruhigen, die Überlegten, die Gelassenen als unproduktiv abkanzelt.

Paradoxerweise sind die Zustände, in denen wir am ruhigsten sind, die Zustände, die uns am stärksten beunruhigen.

Stephan Grünewald, Psychologe

Es ist nur eine halbe Stunde von der Stadt hier herauf in das Wellnessresort. Das lange Wochenende nutzen viele, um vor Stress, Hektik, Alltag zu flüchten und einmal abzuschalten. Doch abschalten, wie geht das eigentlich, frage ich mich an diesem Freitagnachmittag in Badehose auf dem Liegestuhl – umhüllt von sanfter Lounge-Musik im sogenannten Ruheraum. Was ich sehe, liefert keine brauchbare Antwort. Ich beobachte ein junges Paar, das gerade den Raum betritt und so laut flüsternd nach einem Platz sucht, dass Flüstern eigentlich keinen Sinn mehr macht. Schließlich werden Liegen verschoben, Tischchen verrückt. Als ich endlich wieder in mein Buch versinke, erkundigt sich eine Frau bei mir, wo die Saft-Bar ist. Vor mir liegt eine ältere Dame, die unentwegt in ihr Seniorenhandy drückt – leider sind die Tastentöne an.

Ich entschließe mich, ins Wasser zu gehen und eine Runde zu schwimmen. Da gehen mir zwei Fragen nicht mehr aus dem Kopf: Warum ist es so schwierig, ruhig zu sein, selbst an einem Ort, der genau dafür da ist – wie ein Ruheraum im Wellnessbereich? Und: Bringt es überhaupt einen Nutzen, wenn man ruhig ist, oder ist das ohnehin etwas für Langweiler?

Die Art wie wir leben legt nahe, dass Ruhe weitgehend nutzlos ist. Wie sonst wäre es zu erklären, dass wir alles daransetzen, ihr zu entkommen? Schnell kommt Langeweile, ja Leere auf, wenn wir einmal nicht von Werbetafeln, Hintergrundmusik, Lautsprecherdurchsagen, grellen Lichtern umgeben sind. Wenn dann auch noch die Smartphone-Internetverbindung ihren Geist aufgibt, blicken wir hilflos umher: Was jetzt?

Zeiten ohne äußere Impulse oder auch nur mit Fokus auf eine einzige Sache sind die Ausnahme geworden. Das hat gute Gründe. In einer globalen Welt des Konsums von Waren und Dienstleistungen ist Aufmerksamkeit das wichtigste Gut. Wem es gelingt, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu erreichen, wird wirtschaftlich erfolgreich sein. Wer als Anbieter im Strudel des Informationsüberflusses untergeht, hat es schwer.

Die Folge für uns ist eine Aufmerksamkeitskrise, wie der amerikanische Philosoph Matthew Crawford schreibt. Die ständigen Ablenkungen und Zerstreuungen führen zu einer Kultur der Unterbrechung. Kaum ein Gedanke, der zu Ende gedacht wird, kein Gespräch, das nicht unterbrochen wird – durch einen Smartphone-Alert, einen Anruf, eine Textnachricht. Es fällt uns immer schwerer, bei der Sache zu bleiben, etwas wirklich durchzudenken oder auch einmal nur zu sich selbst zu kommen. Crawford spricht von einer „Adipositas der Psyche“, unter der wir leiden. Während bei der herkömmlichen Fettsucht immer mehr Fett gespeichert wird, die der Körper gar nicht braucht, sammelt das Gehirn hier exzessiv Informationen ohne Maß und Ziel, ohne die Möglichkeit, etwas davon noch zu verarbeiten.

Es entsteht das Gefühl, dass wir entspannen müssen – eine Sehnsucht nach Ruhe und Stille. Doch wenn es soweit ist, zücken wir erst recht wieder das Handy, suchen nach äußerer Ablenkung und Zerstreuung. Aus Angst vor Langeweile? Wahrscheinlich. Doch das Unbehagen geht tiefer. Der Benediktinerpater Anselm Grün sagt: „In der Stille kommt das Wesen der Dinge zum Vorschein.“ Die Angst vor der Ruhe ist auch eine Angst vor der „inneren Wahrheit“, vor der Auseinandersetzung mit unseren negativen Seiten, unseren Schwächen unseren Unzulänglichkeiten.

Und nicht zuletzt geht es um den Verlust von Orientierung. „Was soll ich tun?“, war die moralische Leitfrage des Philosophen Immanuel Kant. Moralische Leitplanken, die allgemein akzeptiert sind, haben sich weitgehend aufgelöst. „Was soll ich tun?“ bleibt aber eine zentrale Frage in vielen Lebenslagen. Also schauen wir einfach, was andere machen. Wir kopieren Lebensstil, Kleidung, Essen, Arbeit, Urlaub. Wir machen von allem Fotos, stellen sie online – und geben damit wieder anderen Orientierung, was gut ist und was nicht. Sind wir mit uns allein – in Ruhe –, fällt das alles weg. Ohne äußere Impulse sind wir orientierungslos. Ein Zustand von Ruhe oder Reizarmut ist uns unangenehm und macht uns Angst.

Nicht zuletzt auch deshalb, weil Ruhe kein gutes Image hat. Reden und Kommunizieren gilt dagegen als wünschenswert. In allen Lebensbereichen: Sprechen Sie viel, über sich, Ihre Gefühle, lassen Sie alles raus! Auch im Betrieb lautet die Devise, wer lauter ist, gewinnt. Aussagen wie „Es wird zu wenig miteinander gesprochen“, „Wir brauchen mehr Kommunikation“, „Es muss einen besseren Informationsfluss geben“, oder auch „Wir müssen unsere Message besser rüberbringen“ gehören zu den Lieblingsfloskeln im Business.

Ruhe dagegen hat etwas Antisoziales. Schweigen bedeutet Unwissenheit, Schüchternheit, Langeweile. Jemand, der nichts sagt, ist irrelevant, gar nicht da. Schweigen versuchen wir um jeden Preis zu vermeiden. Wenn beim ersten Date beide nichts sagen, wird eine Minute zur Ewigkeit. Es ist peinlich, verursacht körperliches Unbehagen. Es ist grotesk: In solchen Situationen flüchten wir in unsere mobilen Kommunikationsmittel. Und schreiben auf WhatsApp: „Der sagt nichts.“

In vielen Fällen nutzen wir die modernen Kommunikationsmittel nicht, weil es nötig ist, sondern weil sie zur Verfügung stehen. Als Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA die Infrastruktur für das Telegrafieren entwickelt wurde, meinte der Schriftsteller Henry David Thoreau sinngemäß: Schön und gut, wenn Maine und Texas schnell miteinander kommunizieren können, nur: Was haben die sich schon Wichtiges zu sagen? Nun, es muss ja nicht immer etwas Wichtiges sein und es ist auch nichts falsch dabei, digitale Medien zu nutzen. Es geht nur darum, sich nicht benutzen zu lassen und eben auch Pausen einzulegen.

Mit sich allein sein, zur Ruhe kommen, eine Phase ohne äußere Impulse, das klingt nach längst vergangenen Zeiten. Psychologen und Psychiater bringen Stille und Alleinsein mit Einsamkeit in Verbindung. Und Einsamkeit macht krank, sagen sie. Stille als pathologisches Problem, das behandelt werden muss. Schüchternheit, soziale Angst und Isolation, Persönlichkeitsstörungen und Vermeidungsverhalten sind die krankhaften Folgen des Alleinseins und der Ruhe bei Erwachsenen.

Aber auch Kinder, die gern alleine spielen, geraten oft ins Visier der Seelenärzte. Denn normal ist nur, wer laut ist und immer mit anderen spielen will. Wer Kinder genau beobachtet, merkt bald, dass das nur eine Seite der Medaille ist. Auch sie brauchen Rückzugsmöglichkeiten, Zeit der Verarbeitung. Am Ende eines lauten Nachmittags mit den Freundinnen sagt meine vierjährige Tochter wörtlich: „Ich will jetzt meine Ruhe haben“ und zieht sich für eine halbe Stunde zum Bilderbücheranschauen in ihr Zimmer zurück.

Ruhe, Stille, Zeit ohne äußere Impulse – das kann aber nicht nur krankhaft sein, sondern (und das ist in unserer Wirtschaft das Allerschlimmste) es sieht nach mangelnder Produktivität aus. Daher haben wir uns im modernen Büroleben eine Welt geschaffen aus Smartphones, Laptops, Tablets. Der Alltag besteht aus oberflächlicher Geschäftigkeit: Termine, Meetings, Videokonferenzen, PowerPoint-Präsentationen bestimmen den Alltag. Und nicht zu vergessen: eine geradezu zwanghafte Beziehung zu E-Mails. Das hat Folgen, meint der amerikanische Autor Nicolas Carr. Ständig online zu sein verändert, wie unser Gehirn arbeitet. Die tiefe Verarbeitung von Informationen und längere Konzentration auf einen Sachverhalt wird schwieriger. Wir scannen Informationsstücke, suchen nach Schlagwörtern, scrollen weiter, folgen einem Link und immer so weiter.

Legt man dagegen nach einer Stunde einen spannenden Roman beiseite, braucht man – ganz versunken in die Handlung – ein paar Minuten, um sich Neuem zuzuwenden. Am liebsten möchte man das Gelesene sofort jemandem erzählen. Die ruhige Konzentration auf eine Sache ist der oberflächlichen Verarbeitung in vielen Fällen überlegen. Nach einer Stunde Onlinesurfen hat man oft das Gefühl, gar nichts getan zu haben, es fällt schwer, noch irgendetwas von den Inhalten wiederzugeben. Manchmal kann man sich kaum erinnern, wonach man ursprünglich gesucht hat.

Durch diesen Lebensstil der virtuellen Intensität bringen wir uns immer mehr um nötige Ruhe in unserem Leben und damit auch um Momente tiefer Konzentration, aber auch um Momente tiefen emotionalen Erlebens. Flow-Erlebnisse, ganz aufzugehen in einer Tätigkeit, in einem Gespräch, in einem Ausoder Anblick wird immer schwieriger und seltener.

In einer Kultur der Reizüberflutung kommt man auch in einer Entspannungssituation nicht wirklich zur Ruhe. Die Fähigkeit dazu kommt uns langsam abhanden. An all dem einfach nur den digitalen Medien die Schuld zu geben, wäre aber zu einfach. Die technologische Entwicklung ist nur Bestandteil einer großen gesellschaftlichen Umwälzung, die bereits in den 70er Jahren von dem Futurologen Alvin Toffler vorausgesagt wurde.

In seinem Buch „Future Shock“ beschreibt er, wie die zunehmenden Alternativen und Chancen der Dienstleistungsgesellschaft viele Menschen überfordern und in einer Art Zukunftsschock erstarren lassen. Wie treffe ich die richtige Wahl in einem Überangebot von Möglichkeiten? Psychische Erkrankungen, Substanzmissbrauch, zerbrochene Familien und Verantwortungslosigkeit sind Tofflers Ansicht nach die Folgen der Orientierungslosigkeit.

Er betont demgegenüber eine Fähigkeit, die kaum Beachtung findet: die Kompetenz, das eigene Leben zu gestalten, Pläne zu machen, aktiv zu steuern. Mehr Freiheit von Umwelteinflüssen und zuverlässigere Orientierung ohne Reizüberflutung und endlose Vergleiche mit anderen – dazu können wir selbst etwas tun. In meinem Buch „Selbstoptimierung ist auch keine Lösung“ habe ich bereits angesprochen, wie wichtig die Entwicklung eines Wertesystems und die Pflege von Stabilität im eigenen Leben sind; später mehr davon.

„Sagen Sie jetzt bitte nichts“ – Loriots berühmtes Zitat taugt als Motto für eine neue Kultur der Ruhe. Und tatsächlich gibt es – vereinzelt, aber doch – Stimmen, die mehr Ruhe einfordern. Selbst aus wirtschaftlicher Sicht ist das sinnvoll: In einer Wissensökonomie, in der viele Routineaufgaben automatisiert werden und nur noch neuartige, komplexe oder qualitativ besonders hochwertige Aufgaben von Menschen durchgeführt werden, wäre der Bedarf nach längeren Phasen stiller Konzentration besonders hoch.

Kreative Leistungen sind häufig Einzelleistungen, die aus Ruhe und Alleinsein entstehen. Isaac Newton, der „Vater der Schwerkraft“, lebte ein fast abgeschottetes Leben. Die Philosophen Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche pflegten in oft stundenlangen Spaziergängen ihren Gedanken nachzugehen. Der Schriftsteller Franz Kafka notierte in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer, es könne nicht still genug sein beim Schreiben. „Was ich geleistet habe, ist ein Erfolg des Alleinseins“, ist er überzeugt.

Stille und Alleinsein können die Verbindung zu sich, zum Leben und zur Welt vertiefen. Der amerikanische Polarforscher Richard Evelyn Byrd reiste im Jahr 1934 allein zu einer antarktischen Wetterstation, wo er meteorologische Aufzeichnungen vornahm. Byrd war eine erfolgreiche und prominente Persönlichkeit seiner Zeit, er hatte keinen Grund, vor etwas zu fliehen. Dennoch bestand er darauf, diesen Auftrag allein auszuführen. Der monatelange Aufenthalt in der Antarktis gab ihm die Möglichkeit, für sich zu sein, zu erleben, wie gut Stille und Alleinsein sich anfühlen. Obwohl er dieses Abenteuer fast mit dem Leben bezahlte, war auch seine spätere Sicht darauf unvermindert positiv: Er habe aus der Antarktis etwas mitgenommen, was er vorher nicht vollständig besessen hatte: Wertschätzung der Schönheit und des Wunders, am Leben zu sein. Er schrieb: „Ich lebe nun einfacher, in größerem Frieden.“

Man muss kein Polarforscher oder Genie sein, um von mehr Ruhe zu profitieren. In den USA gibt es eine immer größer werdende Gemeinde von digitalen Minimalisten, die die ununterbrochene elektronische Kommunikation auf das notwendige Maß reduzieren wollen. Die gewonnene Ruhe können für die wichtigen Dinge im Leben genutzt werden. Der Informatiker Cal Newport beschreibt diese Menschen so: „Das sind ruhige, glückliche Menschen, die lange Gespräche führen ohne verstohlenen Blick auf das Smartphone. Sie können mit Freunden und Familie Spaß haben, ohne den obsessiven Drang, alles (online) zu dokumentieren.“ Im digitalen Minimalismus geht man davon aus, dass man bei neuen Technologien und Anwendungen sorgsam abwägt, ob man sie wirklich braucht, Motto: Ich bediene die Technologie, nicht die Technologie bedient mich.

Wir klagen über den lauten und stressigen Alltag. Gleichzeitig bauen wir uns selbst eine Welt der Unruhe und des Lärms. Aus der äußeren Unruhe wird schließlich eine innere, wenn wir gar nicht mehr abschalten können. Ruhe, soviel steht fest, ist ein knappes Gut geworden. Doch wo die Stille zum Luxus wird, leidet unsere Umwelt und auch wir. Wir verlieren unendlich viel von dem, was das Leben wirklich lebenswert macht.

WAS WIR VERLIEREN

Für die Geringschätzung und Verdrängung der Ruhe aus unserem Leben zahlen wir einen hohen Preis. Wir verlieren Leistungsfähigkeit, Empathie- und Genussfähigkeit. Wir erleben die Welt grauer und eintöniger und können das Großartige um uns herum nicht mehr sehen.

Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.

Blaise Pascal, französischer Philosoph und Mathematiker, 17. Jh.

Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft

Die New Yorker U-Bahn ist ein merkwürdiger Ort. So viele Menschen auf einem Fleck, doch niemand würdigt den anderen eines Blickes. Bloß kein Augenkontakt. Keiner stößt sich an dem blassen Passagier mit Fensterplatz, dessen Kopf bei Gleisunebenheiten gegen die Scheibe schlägt. Dutzende Menschen nehmen neben ihm Platz, erst bei Betriebsende ruft ein Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe die Rettungskräfte. Hinterher stellt sich heraus, dass die Leiche stundenlang durch die Stadt gefahren ist.

Je größer die Stadt, desto weniger nehmen wir Notiz voneinander, und so sinkt auch die die Hilfsbereitschaft. Menschen, die auf dem Land leben, stört das besonders. Sind Stadtbewohner gefühlskalt? Mangelnde Hilfsbereitschaft im städtischen Raum ist tatsächlich gut dokumentiert. Wenn mehrere Personen einen Notfall beobachten, sinkt die Verantwortlichkeit beim Einzelnen, weil ja der jeweils andere helfen könnte.

Doch das ist nur ein Teil der Erklärung. Empathie, Einfühlungsvermögen sind anstrengend. Durch die städtische Reizund Informationsflut fehlt uns die Energie, um beispielsweise jemandem zu helfen oder sich von einem Bettler in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Wir sind nicht aufnahmebereit, sondern schotten uns ab. „Reizüberflutung“ ist ein Lebensgefühl. In einer Umfrage berichten drei von vier Teilnehmern, dass ihnen der Input von außen zumindest einmal in der Woche zu viel ist. Ihre große Sehnsucht ist die Entschleunigung des Alltags. Doch mehr Zeit, die Möglichkeit, Dinge langsamer angehen zu lassen, oder ruhige Orte alleine sind nicht genug, um die innere Unruhe zu bekämpfen. Ruhiger, gelassener zu werden ist eine Fähigkeit, die verloren zu gehen droht.

Chronische Hyperaktivität

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, hat in den letzten Jahren traurige Medienprominenz erlangt. Die „Erkrankten“ sind Kinder, die in der Schule nicht still sitzen können oder wollen, leicht ablenkbar, ungeduldig, zerstreut, impulsiv sind und ständig von einer Aktivität zur nächsten wechseln. Was ist nur heute mit diesen Kindern los, fragen sich die Erwachsenen, als hätte das alles nichts mit ihnen zu tun. Doch Hyperaktivität bei Kindern entsteht nicht aus dem Nichts.

Es gibt immer was zu tun, lautet die Baumarktwerbung – auch wenn es eigentlich nichts zu tun gibt, möchte man ergänzen. Es ist immer besser, irgendetwas zu tun, als nichts zu tun. Denke nicht, handle, lautet die Devise. Die hyperaktive Gesellschaft arbeitet sich an To-do-Listen ab und taumelt von einer medialen Aufregung in die nächste. Alles ist furchtbar emotional aufgeladen, ein Skandal, eine Katastrophe, eine Frechheit, ein No-Go. „Normales“ gerät nicht mehr in den Aufmerksamkeitsfokus. Es herrscht eine „Lust an der Empörung“, wie der Philosoph Alexander Grau formulierte.

Gedankenlose Aktivität und andauernde emotionale Erregung sind sicherlich keine gute Grundlage für innere Ruhe. Tatsächlich lässt sich mit einem sehr einfachen Versuch zeigen, welche massiven Auswirkungen der digitalisierte Lebensstil auf unsere psychische Verfasstheit hat. Der amerikanische Sozialpsychologe Kostadin Kushlev lud über zweihundert Studierende zu einem Versuch ein. In einer Woche sollten die Teilnehmer auf dem Smartphone alle Benachrichtigungen einschalten und das Gerät immer bei sich tragen. In einer zweiten Woche wurden alle Benachrichtigungen deaktiviert und die Teilnehmer gebeten, das Handy nicht am Körper zu tragen, sondern außer Reichweite aufzubewahren. Wie vorauszusehen war, wurden die Menschen in der ersten Woche häufiger durch Benachrichtigungen in ihren jeweiligen Tätigkeiten unterbrochen. Je öfter sie unterbrochen wurden, desto häufiger waren sie unaufmerksam oder hyperaktiv, zeigten also genau jene Symptome, die auch bei ADHS-Kindern vorkommen.

Doch das ist nicht alles. Kushlev und seine Kollegen konnten zeigen, dass Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität in direktem Zusammenhang zu Produktivität, sozialer Verbundenheit und sogar zur wahrgenommenen Autonomie und Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens stehen. Mit anderen Worten: Allein die Benachrichtigungseinstellungen am Handy haben massiven Einfluss auf unsere Leistungsfähigkeit und unsere Lebensqualität. Werden wir bei unseren Alltagstätigkeiten, in der Arbeit, bei einem privaten Gespräch, beim Spiel mit den Kindern ständig unterbrochen oder abgelenkt, kostet das Energie. Jedes Mal muss unser Gehirn nach der Unterbrechung die Aufmerksamkeit wieder zum ursprünglichen Inhalt zurücklenken. Meist dauert das einige Minuten. Dass da beispielsweise die Arbeitsproduktivität leidet, ist kein Wunder.

Chronische Hyperaktivität bedeutet, dass wir die Fähigkeit zur Selektivität, zur bewussten Auswahl von Informationen, und zur willentlichen Konzentration auf etwas oder jemanden verloren haben. Die Aufmerksamkeit springt von einem Inhalt zum nächsten. Eine zentrale Frage für unsere Produktivität, unsere Lebensqualität und ein gelingendes Leben insgesamt ist daher: Wie können wir die Kontrolle über unsere Aufmerksamkeit zurückgewinnen? Wieder selbst entscheiden zu können, was wichtig ist, was oder wem wir unsere ungeteilte Konzentration widmen – genau dafür brauchen Ruhe, zunächst äußere, aber noch viel mehr innere Ruhe.

Konzentrationsfähigkeit

Sie haben bereits gelesen, dass sich im digitalen Zeitalter die Gehirnaktivität verändert hat. Wenn wir Informationen aus dem Internet beziehen, screenen wir die Texte, das heißt, wir lesen nur Bruchteile wirklich. Unser Umgang mit Informationen hat sich verändert.

Doch es geht heute nicht nur um die Frage der digitalen Medien. Ständige Unruhe und Informationsüberflutung führen dazu, dass wir glauben, gar keine Zeit mehr für das Lesen eines Buches, Artikels oder auch die Konzentration auf eine einzige komplexe Aufgabe zu haben. Dass wir der Meinung sind, viele Aufgaben auf einmal machen zu müssen. Multitasking ist eine Grundkompetenz, die man braucht. Manche haben das Gefühl, dass sie sie beherrschen. Die Wahrheit ist: Es ist tatsächlich möglich, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu machen, aber es ist nicht effizient und man macht viele Fehler. Bei allem bleiben wir an der Oberfläche, weil Tiefe Zeit und vor allem Ruhe – wieder äußere und innere Ruhe – braucht.

Der Computerwissenschaftler Cal Newport prägte zwei wesentliche Begriffe, mit denen er die Bedeutung der Konzentrationsfähigkeit erklärt. Kognitiv leichte Aufgaben wie E-Mails beantworten, Meetings organisieren oder Telefongespräche führen nennt er shallow work, also oberflächliche Arbeit. Hier ist Multitasking möglich, weil diese Aufgaben nicht unsere volle Aufmerksamkeit erfordern. Davon unterscheidet er Aufgaben, die unsere volle Konzentration in Anspruch nehmen. Das Lösen einer mathematischen Gleichung, das Durchdenken eines komplexen Problems, das Lesen eines Buches, aber auch kreative Prozesse erfordern maximalen Fokus auf eine Sache.

Verlieren wir nun durch ständige Unruhe langsam die Fähigkeit, tiefe Arbeiten ohne Unterbrechung durchzuführen, leiden Qualität und Kreativität unserer Arbeit. Das wiederum ist nicht nur für den Empfänger oder Kunden, sondern auch für uns selbst unbefriedigend. Die Zufriedenheit mit der Arbeit sinkt, und die hängt eng mit unserer Lebenszufriedenheit im Allgemeinen zusammen. Newport weist noch auf einen anderen Aspekt hin: Gerade in einer Arbeitsgesellschaft, die immer stärker auf Wissensarbeit setzt, ist die Fähigkeit, konzentriert zu arbeiten, ein Wettbewerbsvorteil. Menschen, die sich weniger ablenken lassen, können produktiver arbeiten. Es lohnt sich also, ein wenig Ruhe zu kultivieren.

Erlebnisfähigkeit

Ich war wie jemand, der sehr durstig ist: in einer Pause erquickte mich die schaumige Frische der weißen Dolden am Festungswall. Wenn ich die Blumen so still im Sonnenlicht sich breiten sehe, erscheint mir ihr Behagen unendlich tief. Ich fühle, dass sie mit Sätzen und Worten zu mir sprechen, die süß und tröstend sind, und immer ergreift mich Schmerz, dass doch kein Laut von alledem zu meinen Ohren dringt.

Ernst Jünger, dt. Schriftsteller, 20. Jh.

Wir alle möchten das Leben genießen, glücklich sein, dieses Glück spüren. Doch noch stärker als dieser Wunsch ist etwas anderes: Wir möchten dem Schmerz, der unabwendbar Teil unseres Lebens ist, ausweichen. Wir vermeiden ihn, lenken uns ab – und konservieren damit die Unruhe in uns und um uns.

Ruhe entwickelt in uns die Fähigkeit, mehr zu spüren, tiefer zu erleben. Im Eingangszitat Ernst Jüngers kommt diese Fähigkeit zum Ausdruck. Der Autor leidet nicht etwa unter Halluzinationen, wenn er sagt, dass die Blumen zu ihm sprechen. Er fühlt, dass sie es tun. Er nimmt sie als etwas wahr, was ihn betrifft, stellt einen inneren Bezug her zwischen sich und ihnen. Das ist nicht möglich, wenn man achtlos an ihnen vorbeigeht, das nächste To-do, die nächste Aufgabe, das nächste Gespräch, die nächste Textnachricht im Kopf hat. Das geht nur in Ruhe.

Wenn wir uns Richard Evelyn Byrd – den Polarforscher, von dem wir bereits gehört haben – allein im ewigen Eis vorstellen: Was hat er wohl gefühlt in den unendlichen Weiten aus weißem Schnee, begrenzt nur durch den unendlich weit entfernten Horizont? Ehrfurcht? Ein Wort, das so alt klingt, dass es fast peinlich ist. Ein Gefühl, das eine Vertrautheit auslöst, aber auch so weit entfernt ist wie ein Verwandter, den wir jahrzehntelang nicht gesehen haben. Erlebnisse der Ehrfurcht „lenken unsere Aufmerksamkeit weg von uns selbst und erwecken in uns das Gefühl, dass wir Teil von etwas Größerem sind als wir selbst“, so die Wissenschaftsjournalistin Summer Allen. Was wir im Alltag um jeden Preis verhindern möchten, nämlich die Kontrolle zu verlieren, das tritt hier ein. Kontrollverlust bedeutet hier nicht Schwäche, im Gegenteil. Der Religionspädagoge Anton A. Bucher nennt sie „Psychologie der Stärke“. Ehrfurcht schränkt unseren Handlungsspielraum nicht ein, sie erweitert, ja vertieft unsere Erlebnisfähigkeit.

Für Richard Evelyn Byrd hatten diese Ehrfurchtserlebnisse langfristige Auswirkungen. Mehr Gelassenheit, mehr Ruhe waren das Ergebnis seiner Reise. Bergsteiger, die immer höhere Gipfel erklimmen, Sportler, die noch schneller sind, Künstler, die noch Größeres schaffen, berichten von Flow-Erlebnissen, in denen völlige Selbstvergessenheit eintritt und man nur noch Gefühl ist.

Tiefes Erleben ist aber nicht nur Hochleistungssportlern und Kreativen vorenthalten. Tiefes Erleben beginnt besonders mit den kleinen Dingen, in denen man immer wieder für kurze Momente erkennt, dass man nur Teil eines größeren Ganzen ist, was eine unheimlich entlastende Erkenntnis sein kann.

Nach einem langen Arbeitstag steige ich eine Station früher aus der Straßenbahn als sonst und nutze Heimweg und schönes Wetter für einen kleinen Spaziergang. Abseits der Hauptverkehrsachsen, auf schmalen Zufahrtsstraßen, kleinen Gehwegen komme ich an schmucken Einfamilienhäusern und mit viel Liebe gestalteten Gärten vorbei. Ich mache mir selbst eine Freude und wähle den Schleichweg über die alte Holzbrücke, die in einen kleinen Park führt. Kurz vor dieser Brücke ist eine kleine Wiesenfläche, und was sehe ich da?

Sie sind zurück! Die Kaninchen sind wieder unterwegs. Jahrelang hatte ein Anrainer sie in einem größeren Garten gehalten. Der war zwar eingezäunt, aber immer gelang es den kleinen Tieren auszubrechen und die Gegend unsicher zu machen. Als meine Tochter noch kleiner war, freuten wir uns daran, wie unsere Karotten von den Kaninchen zusammengeknabbert wurden. Kniend spähten wir in das Gehege und machten uns gegenseitig auf unsere Beobachtungen aufmerksam. „Schau, das kleinste Kaninchen hat sich die große Karotte geholt.“ – „Sieh nur, Papa, wie sich das braune Kaninchen lustig am Ohr kratzt.

Oh, das Ohr ist ja total schief.“ Lachen. Das alles fällt mir jetzt ein. Ich nehme mir einen Moment Zeit und beobachte die Tiere, wie sie genüsslich im grünen Gras knabbern. Bis mir einfällt: Ich sollte nach Hause.

Intensives Erleben bedarf keiner aufwendigen Vorbereitungen, teuren Reisen oder gar Expeditionen. Die Welt um uns herum, der Alltag reichen dafür völlig aus. Es liegt an uns, Erlebnisfähigkeit zu kultivieren. Ein gutes Glas Rotwein, eine Fantasiereise, ein Tagtraum, sich aktiv an den letzten Urlaub erinnern, die Zeit bei einem guten Buch vergessen, vor dem Einschlafen noch dem Regen lauschen. Tiefes Erleben geht nicht nebenbei. Muße, Entspannung, Gelassenheit entstehen nicht durch Multitasking nach dem Motto „Und jetzt muss ich mich noch schnell entspannen“.

Stress reduziert unsere Wahrnehmungsfähigkeit und unsere Aufmerksamkeit – auch was uns selbst betrifft. Ruhe erweitert diese Fähigkeit und erweckt in uns das Potenzial für neue Ideen, für Kreativität. Die wenigsten innovativen Einfälle entstehen direkt am reizüberladenen Arbeitsplatz, sondern in Ruhephasen. Vor allem Träume und Tagträume sind die Quelle der Inspiration und Kreativität, aber auch, wenn es einfach darum geht, Probleme des Alltags zu analysieren, Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln und in der Fantasie durchzuspielen.

Doch für Fantasie und Träume haben wir heute keine Zeit mehr. Sie haben ein schlechtes Image. Bezeichnen wir jemanden als Träumer, ist das alles andere als ein Kompliment. Das ist jemand, der sich der Realität verweigert, nur Nutzloses oder Unsinniges macht oder sich irgendwie ungeschickt anstellt. Ein Prototyp dafür ist die literarische Figur des Diplomaten Gerhard zum Busche aus Ernst Jüngers Roman „Eine gefährliche Begegnung“. Der junge Kerl, der „als Träumer lebte“, tritt auf der Suche nach dem „Wunderbaren“ in allerlei Fettnäpfchen, bis er sich sogar zum Mordverdächtigen macht. Die übrigen Protagonisten der Geschichte machen sich einen Spaß aus seiner Naivität.

Doch Träume und Fantasie sind nicht so nutzlos, wie sie scheinen. Große Kunstwerke, neue Erfindungen und die Gründung erfolgreicher Unternehmen haben eines gemeinsam: Am Beginn standen häufig Menschen mit einer verrückten Idee, einem Traum. Nicht selten wurden sie dafür von anderen ausgelacht. Doch wer über das Konventionelle hinausgehen und etwas Neues schaffen möchte, braucht die Fähigkeit zur Fantasie, zur bildlichen Vorstellung einer Zukunft, die noch weit weg von der Realität ist. Träume und vor allem Tagträume können eine Art Probe für Ideen, Vorstellungen und unsere Pläne sein. Darüber hinaus bieten sie uns einen Zugang zu dem, „was uns im Innersten zusammenhält“, wie Heiko Ernst in seinem Buch „Innenwelten“ schreibt.

Wenn wir uns unserer Ruhe berauben, leiden unsere Träume und unsere Fantasie. „Wer unsere Träume stiehlt, gibt uns den Tod“, soll Konfuzius gesagt haben. Wir verlieren die Fähigkeit zum tiefen Erleben. Die schöne Landschaft unserer Innenwelt verkommt zu einer grauen, inhaltsleeren Betonwüste. Wir funktionieren zwar noch, hören aber auf zu leben.

Erfüllende Beziehungen

Markus P. ist ein erfolgreicher Mann. Schnell wuchs sich die studentische Idee einer Dienstleistungssoftware zu einer Firma aus. Sie expandierte, Mitarbeiter wurden eingestellt, die Umsätze stiegen weiter. „Spät, zu spät habe ich die Firma verkauft“, sagt Markus P. heute. Er ist Anfang 60 und leitet jetzt Work-Life-Balance-Seminare – ein später Ausstieg aus einer stressigen Laufbahn.

Warum zu spät? Er erzählt mir seine Geschichte: Beruflich lief alles toll, er machte ein Vermögen. Der Preis: seine persönlichen Beziehungen. „Eines Tages bin ich morgens aufgewacht und es war niemand mehr da. Meine Frau ist ausgezogen, meine Kinder waren ohnehin schon aus dem Haus. Wenn ich ehrlich bin, war es klar: Ich war selbst nie daheim, hab mich um nichts gekümmert. Ich war meist auch am Wochenende im Büro. Nie bin ich einmal zur Ruhe gekommen, auch in den kurzen Urlauben nicht.“ Der schmerzliche Höhepunkt: „Als mein Sohn das Studium abgeschlossen hat, war die ganze Familie eingeladen – nur ich nicht.“

Heute versucht Markus P. etwas davon wiedergutzumachen, hält den Kontakt zu den erwachsenen Kindern. Bringt sich als Großvater ein und passt sporadisch auf die Enkelkinder auf. „Mir ist aber auch bewusst, dass man bestimmte Lebensphasen nicht zurückholen kann. Wenn man nichts in seine Beziehungen investiert, man nur nimmt und nichts gibt, sich keine Zeit nimmt, bezahlen zuerst die eigene Familie und die Freunde einen hohen Preis, später man selbst. So gut es beruflich gelaufen ist, irgendwie habe ich das Gefühl, gescheitert zu sein“, sagt er ohne Selbstmitleid.

Natürlich ist ein Mehr an äußerer und innerer Ruhe keine Garantie, dass man erfüllende Beziehungen führt. Ständige Unruhe aber hat handfeste Auswirkungen. Unsere Fähigkeit, sich in jemand anderen einzufühlen, leidet, wir tun uns schwer, die Perspektive eines anderen einzunehmen oder uns auf ein intensives und intimes Gespräch einzulassen. Ziellose Hyperaktivität und tägliches Multitasking sind wichtige Bestandteile der Unruhe. All die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hätten das Potenzial, uns diese Unruhe zu nehmen – uns mehr zur Ruhe kommen zu lassen. Stattdessen ist Technologie ein Treiber der Hektik – vor allem deshalb, weil wir sie falsch verwenden.

Jahrhundertelang wurden Innovationen danach beurteilt, ob man damit ein bestimmtes Ziel besser, leichter, effizienter erreicht. Diese Frage wird heute bei technologischen Entwicklungen kaum mehr gestellt. Wir benutzen viele Anwendungen gar nicht mehr, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, wir benutzen sie um ihrer selbst willen. Wir scheinen die Kontrolle über die technologischen Möglichkeiten verloren zu haben. Die Technik kontrolliert uns – nicht umgekehrt.

Ein Alltagsbeispiel: Anna und Tim sitzen am Küchentisch. Anna möchte den kommenden Familienausflug mit Tim besprechen. Tim ist abgelenkt, weil er gleichzeitig auf dem Smartphone eine WhatsApp-Unterhaltung führt. „Was hältst du davon, wenn wir etwas früher aufstehen, damit wir schon um acht wegkommen?“, will Anna wissen. „Ja, das können wir machen“, antwortet Tim. „Stört dich das nicht, du bist ja am Vorabend mit deinen Freunden verabredet, das könnte länger dauern. Und wenn du dann nicht ausschlafen kannst …“ – „Wie meinst du das?“, fragt Tim. „Du, Anna“, sagt er dann, ohne vom Smartphone aufzublicken, „ich helfe Martin am Samstag auf der Baustelle, wir haben ohnehin nichts vor und er braucht meine Hilfe.“ – „Was redest du da? Wir machen am Samstag den Familienausflug, den ich gerade mit dir besprechen will …!“

Gespräche wie dieses sind keine Seltenheit, egal ob in der Arbeit, in der Partnerschaft, im Café mit einem Freund oder mit den eigenen Kindern. Wir sind zwar körperlich anwesend, aber unsere Aufmerksamkeit liegt nicht exklusiv beim Gesprächspartner. Immer öfter kommt uns die Technik oder etwas anderes dazwischen. Es fällt uns immer schwerer, körperlich und geistig da zu sein. Das hat Folgen für unsere Beziehungen.

Die amerikanische Forscherin Shalini Misra und ihre Kollegen haben alltägliche Gesprächssituationen à la Anna und Tim in einem Experiment nachstellen lassen. Mehrere Dutzend Paare wurden beobachtet, wie sie an einem Tisch sitzend Alltagsthemen besprachen. Die Forscher interessierten sich aber nicht für die Inhalte des Gesprächs, sondern nur für eine einzige Frage: Wo sind die Smartphones der Gesprächspartner? Waren sie sichtbar auf dem Tisch, wurden sie in den Händen gehalten oder waren sie in den Taschen verstaut?

Gespräche, in denen keine Handys sichtbar waren, wurden von den Gesprächspartnern danach als angenehmer eingeschätzt, als wenn Handys auf dem Tisch lagen oder in der Hand gehalten wurden. Die Teilnehmer berichteten zudem von mehr Einfühlungsvermögen, Nähe und Verbundenheit in den Gesprächen, in denen keine Handys sichtbar waren. Wohlgemerkt: Niemand benutzte das Smartphone tatsächlich! Offensichtlich macht allein die sichtbare Präsenz der Geräte ein Gespräch oberflächlicher.

Die Forscher erklären das damit, dass das Handy auch ein Symbol dafür ist, dass man dem anderen nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lässt, dass man „auf Abruf“ ist. Ist man nicht ganz bei der Sache, übersieht man auch die Kleinigkeiten, die eine persönliche Unterhaltung ausmachen, wie etwa Stimmlage, Mimik, Gestik, schließlich auch Inhalte. Der andere fühlt sich unverstanden. Das zerstört nicht nur ein Gespräch, es verschlechtert langfristig die Qualität unserer Beziehungen.

Moderne Technologien ermöglichen uns mehr Kommunikation, keine Frage. Doch sie sind auch eine Quelle von ununterbrochener Unruhe und Angst. Die Angst, etwas zu verpassen, etwas zu versäumen, außen vor gelassen zu werden. Chats, Einträge, Postings geben uns das Gefühl von Nähe, das direkte Kontakte teilweise ersetzt. Das hat einen Preis. Es findet mehr negative Kommunikation statt als im direkten Gespräch.

Das Beziehungsverhalten hat sich verändert: Früher mied man den Kontakt mit Menschen, die man unsympathisch findet. So berichten Ältere von weniger Kontakten mit Menschen, mit denen eine schwierige Beziehung besteht. Jüngere berichten dagegen sogar von mehr Kontakten mit Menschen, mit denen sie ein problematisches Verhältnis haben, als mit sympathischeren Personen. Onlinekommunikation reduziert die Hemmschwelle für negative Kommunikation, Beleidigungen, verbale Gewalt. Wir engagieren uns häufiger im negativen Austausch, werden wütend und aggressiv, verschwenden unsere Energie an Menschen und Situationen, die uns nicht guttun. Dafür gibt es nur eine Lösung: es sein lassen.

Technologische Entwicklungen können unseren Alltag erleichtern. Derzeit sind sie aber vor allem auch Treiber von Unruhe und Alltagsstress. Sie erhöhen das Tempo, wo wir einen Gang zurückschalten sollten, sie lenken uns ab, wo wir konzentriert sein sollten, und sie rauben uns die Zeit, um die Beziehungen mit den Menschen zu pflegen, die uns am wichtigsten sind.

Tiefe Beziehungen brauchen Ruhe, das heißt Zeit und Muße, mit dem Partner, Freunden, Kindern. In unterschiedlichem Ausmaß, ja. Aber ohne geht es nicht. Der Psychologe Guy Bodenmann analysierte die Folgen von Alltagsstress auf Partnerschaften. Er sieht vier große Bereiche, in denen Alltagsstress – also mangelnde Ruhe – nachhaltige Schäden auf eine Beziehung ausüben:

Stress macht uns zu Einzelkämpfern, er schädigt das Wir- Gefühl.

Stress verändert und reduziert die Kommunikation, man hört auf, Anteil zu nehmen am Leben des anderen.

Stress schädigt die Gesundheit, das erzeugt mehr Stress und belastet die Partnerschaft.

Stress fördert unsere negativen Persönlichkeitseigenschaften: Wir werden zynisch, verständnislos, wütend, aggressiv – nicht unbedingt förderlich in einer Liebesbeziehung.

Vertrautheit, Nähe, Zuneigung und Einfühlungsvermögen sind auch in Freundschaften wichtig. Für die Beziehungsbildung und -aufrechterhaltung braucht es den direkten Kontakt, das persönliche Gespräch, die gemeinsame Zeit. Doch nicht nur das. Auch wenn wir alleine sind, beschäftigen wir uns gedanklich sehr oft mit unseren Beziehungen zu anderen Menschen. Wir bestimmen das Verhältnis zu ihnen, versetzen uns aber auch in ihre Lage, fühlen uns in sie ein. Vermeiden wir diese Ruhephase, indem wir uns ablenken, bringen wir uns um diese wichtige Beziehungsarbeit. Erfüllende Beziehungen ohne die Ruhe, sich auf den anderen einzulassen, sind nicht möglich.

Verlust von Privatheit

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Und dennoch – oder gerade deshalb – braucht er auch Phasen des Alleinseins. Schon wenige Wochen alte Babys können oft überraschend lange Phasen nur für sich sein – ohne den Impuls einer anderen Person. Wer sie dabei beobachtet, sieht, wie sie nur daliegen, ihre Beine oder Arme betrachten, einen Gegenstand in ihrer Umgebung fixieren oder vergnügt vor sich hin brabbeln. Wenn man sie in einer solchen Phase unterbricht, passiert es leicht, dass man einfach ignoriert wird.

Was Babys, aber auch ältere Kinder später noch hervorragend können, ist, Reize von außen komplett auszublenden. „Jetzt hast du immer noch keine Schuhe an, hol dir deine Jacke.“ Ein Kind, das gerade intensiv in der Fantasiewelt eines Spiels ist, blendet die langweiligen Anweisungen der Eltern einfach aus. Wir Erwachsene ärgern uns, fühlen uns ignoriert, schimpfen. Doch Kinder machen nichts anderes, als ihren mentalen, privaten Raum zu schützen. Sie setzen Grenzen.

Privatheit ist zunächst einmal die Möglichkeit und die Fähigkeit, allein, für sich selbst zu sein. Das bedeutet einerseits die Freiheit von den üblichen sozialen Anforderungen und andererseits die Freiheit, die eigenen „mentalen und körperlichen Aktivitäten“ selbst zu wählen. Es geht also um die Rückzugsmöglichkeit in eine Komfortzone, die ich in meinem Buch „Selbstoptimierung ist auch keine Lösung“ bereits beschrieben habe. Hier haben wir die Kontrolle darüber, wer, was und ob überhaupt jemand oder etwas auf uns Einfluss ausübt, und ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.

Privatheit geht aber noch über diese Rückzugsmöglichkeit hinaus. Ohne Privatheit ist Vertrauen und Intimität nicht möglich. Wenn alles öffentlich ist, gibt es ja schließlich nichts mehr, was wir nur exklusiv mit bestimmten Personen teilen.

Wer kennt diese Situation nicht? Der freundliche Sitznachbar in U-Bahn oder Zug, der entgegen den Gepflogenheiten gleich ein Gespräch beginnt. Erfreut über die Abwechslung steigt auf man auf die Unterhaltung ein, bis man schließlich die eigene Statistenrolle bemerkt. In weniger als zwanzig Minuten hat man alles über diese Person erfahren, Krankheiten, Familiensituation, sexuelle Funktionsstörungen, die strengen Eltern. Distanzlosigkeit gilt als Symptom für eine Reihe psychischer Erkrankungen. Es fällt den Betroffenen schwer, um die eigene Privatheit herum Grenzen zu setzen.

Doch abseits des direkten persönlichen Gesprächs scheint es uns allen zunehmend so zu gehen. Der digitale Lebensstil lässt die Grenzen zwischen privat und öffentlich zunehmend verschwimmen. Das Mittagessen, der Sonntagsauflug, das Date werden online gestellt. Selbst wenn man um soziale Medien einen großen Bogen macht, ist es schwierig, sich dieser Entwicklung zu entziehen. Durch ständige Erfassung von Daten zu allem Möglichen werden Dinge zugänglich, die ehemals privat und verborgen waren.

Zeit- und Leistungsaufzeichnungen infiltrieren den Arbeitsalltag, ständig gibt es irgendwo Tests, Feedbacks, Einstufungen. Nicht zuletzt tracken wir uns inzwischen auch selbst: sportliche Leistungen, verbrannte Kalorien, Gewichtsveränderungen, gegangene Schritte pro Tag, all das zeichnen unsere technologischen Helferlein für uns auf. Wege lassen sich aufgrund von Zahlungsaktivitäten und Ortungsdaten nachvollziehen. Per Gesichtserkennung verlieren wir sogar auf der Straße unsere Anonymität. Was autoritäre Systeme heute schon nutzen, wird bald ganz normal von privaten Unternehmen verwendet werden – natürlich nicht ohne von uns eine weitere Pro-Forma- Zustimmung einzuholen.

Die dunkle Vision von George Orwells „1984“ – also die Auslöschung aller Privatheit – scheint immer mehr Wirklichkeit zu werden. Die Möglichkeiten sind riesig: Per Hirnscan können Präferenzen für Produkte und Angebote identifiziert werden, ohne dass man die Person direkt dazu befragt. Forscher arbeiten an der Überwindung der Schnittstelle zwischen Mensch und Computer. Digitale Geräte, Chipkarten und Scanner könnten dann Teil des Körpers werden. Innovative Bildgebungsverfahren könnten Gedankenlesen zur Realität werden lassen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842630420
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (September)
Schlagworte
Entspannen sich selbst finden nachdenken innere Uhr Stille Auszeit konzentrieren innere Balance wirksame Wege Wohlbefinden steigern gelassen leben unbeschwert leben Körper Ratgeber Selbsthilfe

Autor

  • Dr. Christoph Augner (Autor:in)

Dr. Christoph Augner ist Arbeits- und Organisationspsychologe sowie Hochschullehrer im Gesundheitswesen. Von und über ihn sind Beiträge in zahlreichen renommierten Medien erschienen, u.a. in Deutschlandfunk, Forbes, Psychologie heute, Psicologia contemporanea, Soziologie heute, The European, NZZ, Frankfurter Allgemeine Personaljournal, Wirtschaftspsychologie aktuell, ORF, Die Furche, Avanti, Die Presse. Christoph Augner schreibt, was er lebt, und lebt, was er schreibt – sein Motto lautet: „Lieber leben statt gelebt werden“.
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Titel: In der Ruhe liegt deine Kraft