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Wie aus Trauer Liebe und Dankbarkeit wird

Schreibimpulse für einen bewussten Weg durch die Trauer. Hilfen für die Zukunft ohne den geliebten Menschen.

von Iris Willecke (Autor:in)
176 Seiten

Zusammenfassung

Der einzige Weg aus der Trauer führt mitten hindurch. Durch ihre Arbeit als Trauerbegleiterin und aus der Erfahrung mit persönlichen Verlusten weiß Iris Willecke, dass Trauer nicht von allein vergeht, sondern dass man sich ihr stellen, sie zulassen und auch ausdrücken muss. Doch nicht jeder möchte über seine Trauer sprechen oder Trauerbegleitungsangebote in Anspruch nehmen. Wer mit seiner Trauer lieber allein bleiben möchte, findet in diesem Ratgeber wertvolle Anregungen, neue Perspektiven und Schreibimpulse, mit denen Gefühle, Gedanken und Ängste während der Trauerzeit zu Papier gebracht werden können. Die Autorin vermittelt zudem Grundlagenwissen über Trauer und gibt wertvolle Tipps, um den Verlust eines geliebten Menschen zu verarbeiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

auch wenn es im Bereich der Trauerbegleitung mittlerweile eine große Vielfalt an unterschiedlichsten Angeboten gibt, fühlt sich nicht jeder davon angesprochen. Mit diesem Buch möchte ich vor allem den Menschen etwas an die Hand geben, die mit ihrer Trauer lieber alleine bleiben möchten. Sie bekommen die Chance, gängige Themen aus Begleitungen oder Trauergruppen kennenzulernen, sodass eine selbstständige Beschäftigung im eigenen Tempo von zu Hause aus möglich wird.

Da es meines Wissens bisher kein deutschsprachiges Buch mit Schreibimpulsen speziell für Trauernde auf dem Markt gibt, fand ich es höchste Zeit, diese Lücke zu schließen. Dieses Buch ist für Menschen gedacht, die nach dem Tod einer ihnen sehr vertrauten, geliebten Person trauern und die sich über das Schreiben aktiv mit verschiedenen Aspekten der Trauer auseinandersetzen möchten.

Das Schreiben sehe ich aus vielerlei Gründen als wunderbare Ausdrucksmöglichkeit gerade in Zeiten der Trauer an. Genau deshalb ist dieses Buch entstanden.

Im ersten Teil stelle ich Ihnen Grundlagenwissen über Trauer zur Verfügung, denn wer Fakten kennt, kann Dinge besser einordnen. Leider wird Trauer nicht einfach von alleine besser, nur weil Zeit vergeht. Wir müssen uns der Trauer stellen und sie zulassen. Es gibt zwei kurze, prägnante Sätze, die ich gerne und viel nutze. Sie lauten „In der Trauer hilft nur trauern“ und „Der einzige Weg aus der Trauer heraus führt mittendurch.“1

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Der zweite Teil greift Themen und Fragestellungen auf, die Sie im Trauerprozess ein Stück weiterbringen können. Ich gebe Ihnen Impulse an die Hand, mithilfe derer Sie sich schreibend mit bestimmten Themen auseinandersetzen können. Das beugt einem Steckenbleiben in der Trauer vor und eröffnet neue Perspektiven. Ebenso hilft es dabei, den Verlust schneller und besser ins eigene Leben integrieren zu können, wodurch irgendwann ein gutes Weiterleben für Sie möglich wird.

Ich bin überzeugt und fasziniert von der Wirkung, die Schreiben in Zeiten der Trauer haben kann. Damit Sie ein möglichst breites Spektrum an Möglichkeiten kennenlernen, habe ich mich für eine Vielfalt an Schreibmethoden entschieden. Ich halte Sie auch bewusst nicht lange mit Erklärungen auf, sondern lasse Sie verschiedene Dinge einfach ausprobieren.

Als Trauernde habe ich vor vielen Jahren intuitiv meine Gedanken und Gefühle in einem Notizheft festgehalten und Briefe an meinen verstorbenen Verlobten verfasst. Mir hat es damals sehr geholfen, der Trauer und dem ganzen Schmerz auf diese Art einen Ausdruck geben zu können. Zu dieser Zeit wusste ich leider noch nichts über „kreatives“ oder „selbsttherapeutisches“ Schreiben und kannte keine hilfreichen Schreibaufgaben, die mich in meiner Trauer weiter unterstützt hätten. Erst während meiner Ausbildung zur Trauerbegleiterin erlangte ich auch theoretisches Wissen über die positiven Auswirkungen des Schreibens und beschäftigte mich ausführlicher mit dem Thema. Seitdem gebe ich gerne Schreibimpulse an die Teilnehmenden meiner Trauergruppen oder in Einzelbegleitungen weiter. Die Rückmeldungen bestätigen mir regelmäßig, wie förderlich die schriftliche Auseinandersetzung mit trauerrelevanten Themen sein kann.

Der dritte Teil enthält einige allgemeinere Tipps, die ebenfalls für Sie hilfreich sein können.

Ich hoffe sehr, dass Sie in diesem Buch viele für Sie nützliche Informationen und Anregungen finden, die Sie auf Ihrem ganz persönlichen Trauerweg unterstützen.

Ihre

 

 

 

 

TRAUER VERSTEHEN

Meiner Erfahrung nach profitieren trauernde Menschen sehr davon, wenn sie ein Verständnis davon gewinnen, was Trauer eigentlich ist. So können sie die eigenen Gefühle und Trauerreaktionen besser verstehen und sich leichter den neuen Herausforderungen stellen, die ihnen auf ihrem Trauerweg begegnen werden. Im folgenden Kapitel lesen Sie, was Sie über Trauer wissen sollten.

 

 

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Was ist Trauer überhaupt?

Wir sollten aufhören, die Trauer als unseren Feind zu betrachten. Sie ist viel eher eine gute Freundin, die uns ein Stück begleiten möchte. Wenn wir sie willkommen heißen und gut behandeln, hilft sie uns dabei, den Verlust in unser Leben zu integrieren und ein gutes Weiterleben zu ermöglichen. Sie ist es auch, die mit der Zeit den Schmerz und die Verzweiflung verwandelt und Platz für Liebe und Dankbarkeit schafft.

Iris Willecke

Für mich ist die Trauer nach dem Tod einer nahestehenden Person der Weg, den wir gehen müssen, um irgendwann wieder in einem guten, glücklichen Leben anzukommen. Dieser Weg kann lang und sehr mühsam sein. Niemand kann ihn uns abnehmen, wir können zwar begleitet werden, aber gehen müssen wir ihn selbst.

Es fällt den meisten allerdings schwer, sich auf den Weg voll und ganz einzulassen und sich genügend Zeit dafür zu lassen. Wir suchen nach Abkürzungen und wollen schnell wieder im normalen Alltag ankommen. Wir befürchten aufzufallen und setzen uns selber unter Druck, um wenigsten nach außen hin ganz bald wieder normal zu funktionieren. Natürlich liegt das nicht nur an uns selbst, sondern vor allem an den gesellschaftlichen Anforderungen unserer Zeit.

Wir leben in einer Trauervermeidungskultur, in der Trauer als etwas Negatives angesehen wird und daher ganz schnell wieder verschwinden soll. Die wenigsten Menschen empfinden gerne Schmerzen, egal ob psychisch oder physisch. Trauer nicht spüren zu wollen und sie deshalb eher zu verdrängen, ist also im Grunde erst einmal sehr verständlich. Aber Trauer zu unterdrücken, kann auf Dauer krank machen. Wie bereits erwähnt, führt der einzige Weg aus der Trauer heraus mitten hindurch.

Etwas bleibt gewiss:

Über die Trauer kommen wir nicht hinweg.

Wir können nur durch sie hindurchgehen,

um sie zu überwinden.

Der Weg in die Trauer ist,

so seltsam sich das zunächst anhören mag,

der Weg aus der Trauer heraus.

Antje Sabine Naegeli1

Trauer ist ein ganz natürlicher Prozess und keine Krankheit, aber unter Umständen kann Trauer auch zu der Entstehung von Krankheiten oder Störungen beitragen. Das geschieht meist dann, wenn der Trauerprozess ins Stocken gerät und keinerlei Veränderungen mehr stattfinden. Wer beispielsweise über Monate hinweg Verbitterung bei sich wahrnimmt, sollte nach Unterstützung suchen. Reden Sie mit anderen, wenn Sie Sorge haben, Sie würden nur noch auf der Stelle treten. Außenstehende erkennen Veränderungen in der Regel besser als man selbst. Auch bei anhaltenden Suizidgedanken ist unbedingt Hilfe erforderlich. Bitte vergessen Sie nie: Sich Hilfe zu suchen und diese anzunehmen, zeugt von Stärke, nicht von Schwäche! Hilfreiche Adressen finden Sie im Anhang auf Seite 168.

Wichtig zu wissen ist, dass Trauer immer etwas sehr Individuelles ist. Jeder Mensch trauert auf seine ganz eigene Art. Daher gibt es keine pauschalen Ratschläge, die für jeden passen. Hören Sie nicht auf das, was man Ihnen einreden will, wenn es sich für Sie nicht stimmig anfühlt. Nur Sie alleine wissen, was wann für Sie passt. Sie sind der Spezialist, was Ihre Trauer angeht, niemand sonst! Wenn Sie sich nicht sicher sind, probieren Sie Dinge aus, um festzustellen, ob sie Ihnen zurzeit guttun oder nicht. Sinnvoll ist es allerdings, offen für erneute Versuche zu einem späteren Zeitpunkt zu bleiben, denn in der Trauer kann sich vieles schnell ändern.

Trauer ist so viel mehr als nur traurig sein. Die meisten von uns durchleben ein regelrechtes Gefühlschaos mit ganz unterschiedlichen, zum Teil auch sehr verwirrenden oder als negativ angesehenen Emotionen.

Trauer ist so viel mehr als nur traurig sein.

Zu trauern kann auch bedeuten, sich im eigenen Leben

und der Welt fremd und verloren zu fühlen.

Iris Willecke

Der Tod eines geliebten Menschen hat fast immer weit mehr Auswirkungen als nur auf unser Gefühlsleben. Er kann unser gesamtes Leben auf den Kopf stellen. Dieser Umstand wird vom sozialen Umfeld oft nicht im vollen Ausmaß erfasst.

Trauer wird gerne mit Schwerstarbeit verglichen. Der Begriff „Trauerarbeit“ passt für mich allerdings nur bedingt, denn in der Trauer kommt es eben nicht nur auf unser aktives Tun an. Vieles hat auch mit Zulassen und Akzeptieren zu tun. Allerdings verbinden wir den Begriff Schwerstarbeit mit einer hohen, fast immer auch körperlichen Anstrengung, und das gefällt mir wiederum gut, denn auch für den Körper kann Trauer sehr kräftezehrend und belastend sein. Immer wieder berichten mir Trauernde von vielen ganz unterschiedlichen körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Engegefühlen, Schlafproblemen, Appetitlosigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten.

In unserer Gesellschaft ist leider kaum bekannt, dass Trauer mitunter viel Zeit braucht. Drei bis fünf Jahre sind nach schweren Verlusten völlig normal. Das bedeutet nicht, dass jeder so lange trauert, aber es kann und darf sein. Setzen Sie sich niemals selbst unter Druck, es müsse doch nun langsam mal gut sein! Und wenn von mehreren Jahren die Rede ist, dann bedeutet es zum Glück nicht, dass der Schmerz jeden Tag über Jahre gleich stark ist.

Trauer ist wie der Ozean;

sie kommt in Wellen,

die abschwellen und fließen.

Manchmal ist das Wasser ruhig

und manchmal ist es überwältigend.

Wir können nur schwimmen lernen.

Vicki Harrison2

Trauer kommt in Wellen. Das heißt, dass sie mal weniger deutlich spürbar ist oder schon fast vergessen scheint, sich dann aber doch wieder zurückmeldet und man auch erneut das Gefühl haben kann, im Meer der Trauer zu ertrinken. Gut ist es, in solchen Zeiten seine persönlichen „Rettungsringe“ zu kennen (mehr dazu siehe Seite 89).

Ich mag den Vergleich von Trauer mit einer Heldenreise sehr. Die Heilpraktikerin Antje Uffmann hat ihn zuerst in ihrem Buch „Trauern und leben“ vorgestellt. Die Trauerbegleiterin Anja Wiese hat in Anlehnung daran im Buch „Um Kinder trauern“ folgende Zeilen veröffentlicht:

Jeder Trauernde ist ein Held,

dem unsäglich viel zugemutet wird:

in einer total veränderten Innen- und Außenwelt

muss er Übermenschliches leisten.

Die Zeit der Trauer ist mehr

als ein Aufenthalt in einem fremden Land –

sie ist eine Reise in eine fremde Welt,

und der Trauernde lernt kennen,

dass Sprache von der Erlebniswelt des Fühlens

weit entfernt ist!

Sich mit dieser fremden Welt – innen und außen –

vertraut zu machen, ist der Trauerprozess.

Wenn der trauernde Mensch sich den Gefahren dieser

Reise aussetzt und seinen Weg durch das Unbekannte

findet, kehrt er verändert zurück.

Anja Wiese3

Trauern heißt lieben. Zumindest meistens. Wäre uns der Mensch nicht so unglaublich wichtig gewesen, würden wir ihn nicht so sehr vermissen. Unsere Liebe für den Verstorbenen drückt sich nun in Form schmerzhafter Sehnsucht aus.

Wir haben dich sehr geliebt.

Aber unsere Liebe war sprachlos und mit Schleiern

verhüllt. Jetzt schreit sie laut zu dir und möchte

aufgedeckt vor dir stehen.

Es war schon immer so, dass die Liebe ihre eigene Tiefe

bis zu Stunde der Trennung nicht kennt.

Khalil Gibran4

Leider wird uns der Wert von Menschen, aber auch Dingen oder Umständen erst so richtig bewusst, wenn wir sie verloren haben. Nun bereuen wir unsere Ignoranz und machen uns Vorwürfe.

Zur Trauer über den Tod eines Mitmenschen kommt stets das Bedauern über das, was man mit ihm nicht gelebt hat.

Ernst Reinhardt5

Wenn der Tod uns einen Menschen genommen hat, ist plötzlich keine Zeit mehr, noch irgendetwas gemeinsam zu erleben oder Dinge zu klären. Auch all das, was uns in einer Beziehung womöglich gefehlt hat, wird nun nicht mehr nachgeholt. Viele Hoffnungen, die wir in die Zukunft hatten, sind oder scheinen zumindest vorerst mit dem Menschen gestorben zu sein. Auch damit gilt es, in der Trauer umzugehen. Sie sehen, Trauer ist ganz viel auf einmal und ein wirklich großes und wichtiges Thema.

Trauer braucht Ausdruck

Gib Worte deinem Schmerz: Gram, der nicht spricht, presst das beladne Herz, bis dass es bricht.

William Shakespeare6

Trauer braucht Ausdruck. Der Ausdruck sorgt dafür, dass Emotionen überhaupt erst einmal richtig wahrgenommen werden und sie sich dann mit der Zeit verändern können. Oft sind wir uns unserer Gefühle gar nicht wirklich bewusst. Wir meinen, wir wären „nur“ traurig, dabei kann dahinter auch ganz viel Wut, Enttäuschung, Neid usw. liegen. Das sind oft Emotionen, die wir nicht wahrhaben wollen und die wir deshalb teils bewusst, teils unbewusst verdrängen.

Unterdrückte Gefühle können uns aber krank machen. Gefühle, denen keine Beachtung geschenkt wird, bleiben im Körper verhaftet und können dort eine zerstörerische Wirkung entfalten. Manchmal wirken sie ganz im Stillen, manchmal brodeln sie wie ein unterirdischer Vulkan, bei dem es irgendwann zu einem unerwarteten, aber umso heftigeren Ausbruch kommen kann.

Unterdrückte Gefühle sind wie Inhaftierte, die jeden

Ausbruchsversuch wagen, um sich zu befreien.

Du kannst ihrer ebenso wenig Herr werden, wie du

leben könntest, ohne zu atmen.

Peter E. Schumacher7

Der Ausdruck nimmt den Gefühlen ihre Wucht. Dadurch, dass sie akzeptiert und angeschaut werden, können sie anfangen, sich zu verändern.

Drücke deine Gefühle aus und du wirst sie beherrschen.

Unterdrücke deine Gefühle und sie werden dich beherrschen.

Autor unbekannt

Es gibt viele Formen, wie Ausdruck geschehen kann: Reden, Weinen, Tanzen, Aktivität, Kreativität, Schreiben … Erst einmal bevorzugen wir in der Trauer die Ausdrucksformen, die wir ohnehin nutzen. Es lohnt sich aber, bewusst neue Ausdrucksmöglichkeiten auszuprobieren oder sich auf früher genutzte zurückzubesinnen. Viele Trauernde haben für sich z. B. das Malen neu oder auch wiederentdeckt, andere sind über die Trauer zum Schreiben gekommen.

Die Liste der positiven Aspekte, die durchs Schreiben (zum Teil auch wissenschaftlich belegt) beobachtet werden können, ist sehr lang. Hier nenne ich einige:

Schreiben kann Erleichterung bringen. Es heißt nicht umsonst, „sich etwas von der Seele schreiben“.

Es fördert den Prozess der inneren Auseinandersetzung mit der Trauer.

Es hilft, Worte für eigentlich Unbegreifliches und Unaussprechliches zu finden.

Über das Schreiben bekommen wir Zugang zu Unbewusstem, und es hilft uns, neue Perspektiven zu entdecken.

Traueraufgaben

„Traueraufgaben“ klingt für Sie komisch? Das kann ich gut verstehen. Der Begriff stammt aus den sogenannten Trauermodellen. Mit Trauermodellen wird versucht, Trauer besser erklärbar zu machen. Auch wenn Trauer immer ein sehr individueller Prozess ist, so gibt es viele Gemeinsamkeiten, die mithilfe von Modellen verständlich gemacht und festgehalten werden können.

Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Trauermodelle. Zuerst entstanden die Phasenmodelle. Hierzulande ist sicherlich das der Schweizer Psychologin Verena Kast am bekanntesten, die folgende vier Phasen benannt und beschrieben hat:

1. Trauerphase: Nicht-Wahrhaben-Wollen

2. Trauerphase: aufbrechende Emotionen

3. Trauerphase: Suchen und Sich-Trennen

4. Trauerphase: neuer Selbst- und Weltbezug

Phasenmodelle legen die Vermutung nahe, Trauer wäre eher ein passiver und geradliniger Prozess, weshalb sie relativ schnell in Kritik gerieten und sogenannte Aufgabenmodelle entwickelt wurden. Viel zitiert wird das Modell von William J. Worden, der vier Aufgaben beschreibt:

1. Den Verlust als Realität akzeptieren

2. Den Schmerz verarbeiten

3. Sich an die Welt ohne die verstorbene Person anpassen

4. Eine dauerhafte Verbindung zu der verstorbenen Person inmitten des Aufbruchs in ein neues Leben finden

Ich bevorzuge die Arbeit mit den sechs „Notwendigkeiten des Trauerns“ nach dem amerikanischen Trauerbegleiter Alan D. Wolfelt, die der deutsche Theologe und Trauerbegleiter Adolf Pfeiffer für seine Ausbildungskurse um eine siebte ergänzt hat:

Die Realität des Todes anerkennen

Den Schmerz des Verlustes annehmen

Sich des verstorbenen Menschen erinnern

Eine neue Identität entwickeln

Die Suche nach Sinn

Unterstützung von anderen erhalten

In Beziehung bleiben

Sehen wir uns diese „Notwendigkeiten“ einmal genauer an.

Die Realität des Todes anerkennen

Akzeptiere, was ist,

egal, wie schwer es auch immer sein mag.

Auch wenn ein Tränenmeer aus deinem Herzen

durch deine Augen weint,

es ist, wie es ist.

Wenn wir als Mensch gegen das,

was wir nicht ändern können,

ankämpfen, nicht bereit sind zu akzeptieren, was ist,

liegt vor uns ein Weg voller Schmerzen.

Akzeptiere, was ist!

Mike Düring8

Viele glauben, dass diese Aufgabe automatisch und schnell erledigt wird und somit kein großes Thema ist. Das stimmt aber nicht. Es dauert mitunter sehr lange, bis wir den Tod des geliebten Menschen mit jeder Phase unseres Seins wirklich erfasst haben. Der Kopf weiß es als Erstes (und auch er vergisst es immer mal wieder für kurze Momente), aber das Herz braucht viel, viel länger.

So ist das menschliche Herz

Deine Toten sind tot,

dein Verstand weiß es,

aber dein Herz braucht Zeit,

um zu wissen und anzunehmen,

dass sie wirklich gegangen sind.

Darum brennt dein Schmerz von Neuem:

an dem Familientisch,

wo nun ein leerer Platz geblieben ist,

oder an den Tagen um Weihnachten,

wo jemand fehlt,

oder in Tagen einer Geburt ohne den Großvater,

oder an Neujahr,

wo ein Trinkspruch ausgebracht wird

und jemand sein Glas nicht mehr erhebt.

So ist das menschliche Herz!

Es erlebt immer erst nach und nach,

was die Vernunft längst weiß.

Für den Verstand

sterben die Toten ein einziges Mal,

für das Herz sterben sie viele Male.

René Juan Trossero9

Ich sehe dieses verzögerte, nur Nach-und-nach-erfassen-Können der Realität als einen klugen Überlebensmechanismus an, der uns helfen soll, die erste Zeit zu überstehen.

Es geschieht oft, dass verwitwete Frauen erst sechs oder zehn Monate nach dem Tod des Partners in meine Beratung kommen. Sie sagen Dinge wie „Ich verstehe die Welt nicht mehr. Am Anfang dachte ich, ich käme ganz gut damit klar, und nun geht gar nichts mehr. Ich fühle nur Schmerz und kann an nichts anderes mehr denken. Ich habe das Gefühl durchzudrehen.“

Das ist die Zeit, in der die Realität langsam ganz begriffen wird und die Bedeutung hinter den Worten „nie wieder“ gespürt wird. Der Nebel des Nicht-wahrhaben-Könnens und -Wollens hat sich aufgelöst, jetzt ist die Sicht klar auf die Zukunft gerichtet, und die wird erst einmal als niederschmetternd empfunden.

Kein Hand-in-Hand mehr

nie wieder werden wir

Hand-in-Hand gehen

auf Wegen am Wasser

nie wieder werden wir

nebeneinander radeln

durch goldgelben Raps

nie wieder werden wir

Horizonte ermessen

mit staunendem Blick

nie wieder werden wir

uns erspüren

mit warmer Hand

nie wieder werden wir

miteinander spinnen

aus Gedanken ein Netz

nie wieder werden wir

neue Ziele ausmachen

weil du schon am Ziel bist

Annemarie Schnitt10

Einigen Menschen fällt das Akzeptieren der Tatsache, dass der geliebte Mensch wirklich tot ist, unheimlich schwer und sie sträuben sich regelrecht dagegen. Sie möchten die Hoffnung nicht aufgeben, dass alles nur ein böser Alptraum ist, aus dem sie wieder aufwachen. Die Realität zu akzeptieren, kommt ihnen wie ein Verrat am Verstorbenen vor. Sie haben das Gefühl, sie würden ihn damit aufgeben und für immer verlieren. Dem ist aber nicht so. Wenn wir nicht im Trauerprozess stecken bleiben wollen, müssen wir irgendwann unser Schicksal annehmen.

Was nicht angenommen wird, kann nicht geheilt werden.

Gregor von Nazianz11

Zu akzeptieren, dass etwas ist, wie es ist, heißt natürlich nicht, die Tatsache gutzuheißen. Was geschehen ist, bleibt nach wie vor schrecklich. Aber nur das Annehmen führt uns irgendwann zu der wichtigen Frage „Und wie kann ich damit nun umgehen?“.

Den Schmerz des Verlustes annehmen

Der einzige Weg durch die Welt der Schmerzen führt mitten durch den Schmerz hindurch.

nach Hermann Hesse12

Wir müssen durch den Schmerz, damit er sich verwandeln kann. Es geht leider kein Weg daran vorbei, wenn wir irgendwann wieder ein tiefes, erfülltes Leben führen möchten. Verdrängen ist dauerhaft nicht ratsam und führt zu nichts Gutem. Psychische oder körperliche Symptome können die Langzeitfolgen sein.

Es kommt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst wird.

nach Hermann Hesse13

Wir dürfen das Verdrängen aber auch nicht verteufeln, denn es dient manchmal als wichtiger Überlebensmechanismus. Wie schon beschrieben, ist ganz am Anfang die grausame Realität bei uns noch gar nicht wirklich angekommen. Wir fühlen uns wie unter einer Dunstglocke. Wir funktionieren, aber wir sind gefühlsmäßig nicht bei der Sache. Das ist ein Mechanismus, der uns hilft zu überleben. Ich bin davon überzeugt, dass viele Trauernde ansonsten nicht in der Lage wären, die ersten Tage zu überstehen.

Und dann fordern uns oft die Lebensumstände, sodass keine Zeit für Trauer bleibt. Als anschauliches Beispiel möchte ich das Schicksal einer jungen Mutter nennen, die nach dem Tod des Partners plötzlich alleine mit kleinen Kindern dasteht und nun das Überleben der gesamten Familie sichern muss. Ob sie will oder nicht, sie muss die Kinder versorgen. Wie könnte sie für sie da sein und auch noch den Lebensunterhalt verdienen, wenn sie in vollem Umfang von ihrer Trauer in Beschlag genommen würde? Das geht schlichtweg nicht.

Auch bei jungen Menschen erlebe ich immer wieder, dass ihr Leben ein unglaubliches Tempo aufweist und Trauer selten hineinpasst. Daher ist es nicht wirklich verwunderlich, dass sich die Trauer manchmal erst viele Jahre später bemerkbar macht, nämlich dann, wenn eine gewisse Ruhe und Stabilität im Leben eingetreten ist. Für die Betroffenen selbst ist so eine verzögerte Trauer zu diesem Zeitpunkt natürlich sehr verwirrend.

Ich glaube zwar, dass einige Menschen Trauer dauerhaft unterdrücken und dennoch ein halbwegs gutes Leben ohne spätere Symptome führen können. Ich glaube aber auch, dass diese Menschen sich damit gleichzeitig von allen anderen wirklich intensiv erlebten Gefühlen wie tiefer Freude und Dankbarkeit abschneiden. Ich habe da das Bild einer Schaukel im Kopf. Sie schwingt in beide Richtungen in der gleichen Höhe. Wenn wir unsere Gefühle immer komplett kontrollieren und nie wirklich zulassen, schwingen wir nur flach zu beiden Seiten. Haben wir hingegen tiefe Trauergefühle zugelassen und durchlebt, können wir auch wieder tiefe Glücksgefühle erleben.

Ein anderes schönes Symbol ist ein Baum. Er kann nur hoch wachsen, wenn er unter der Erde umfangreiche Wurzeln schlagen kann.

Trauer bringt Tiefe. Freude bringt Höhe.

Trauer bringt Wurzeln. Freude bringt Äste.

Freude ist wie ein Baum,

der sich dem Himmel entgegenstreckt,

und Trauer ist wie die Wurzeln,

die in das Erdinnere hineinwachsen.

Beides wird benötigt – je höher ein Baum wächst,

desto tiefer verwurzelt er sich in der Erde.

So wird die Balance aufrechterhalten.

Osho14

Trauer ist bei den meisten Menschen mit sehr großem seelischem und manchmal auch mit körperlichem Schmerz verbunden. Die wenigsten von uns sind es aber gewohnt, Schmerzen zu ertragen. Schmerz gilt in der Medizin als Symptom, von dem wir uns mit geeigneten Medikamenten schnell befreien können und sollen.

Beim Trauerschmerz sieht es allerdings anders aus. Medikamente helfen hier nicht, der Schmerz muss durchlebt werden, damit er sich verändern kann.

Am Anfang der Trauer steht der Schmerz im

Vordergrund. Lassen wir ihn zu, beginnt er langsam, sich zu verwandeln und in den Hintergrund zu rücken.

An seine Stelle treten Liebe und Dankbarkeit.

Iris Willecke

Ich erlebe in meinen Begleitungen tatsächlich viele Trauernde, die versuchen, den Schmerz gar nicht wirklich zu spüren. Das kann verschiedene Gründe haben. Oft steckt z. B. die Angst dahinter, ihn nicht ertragen zu können oder mit ihm nicht mehr den normalen Alltag bestreiten zu können.

Manche versuchen, sich über Aktionismus dauerhaft beschäftigt und somit abgelenkt zu halten, andere verdrängen konsequent jeden Gedanken an den Verstorbenen oder weigern sich standhaft, die Realität zu akzeptieren, und wieder andere nutzen Alkohol oder Medikamente, um sich zu betäuben. Wie bereits erwähnt, können das am Anfang sogar sinnvolle Bewältigungsstrategien sein, nur nutzen sie uns auf Dauer nicht.

Denn: Wir können Trauer ertragen! Gerade weil es sich oft nicht so anfühlt, sollten wir uns diese Tatsache immer wieder ins Gedächtnis rufen. Trauer kann verdammt wehtun, aber wir sind in der Lage, sie auszuhalten. Trauer will uns nichts Böses. Sie ist wichtig für uns und unser Weiterleben. Es ist völlig normal und absolut in Ordnung, wenn wir nach einem schweren Verlust erst einmal nicht normal weitermachen wie bisher. Und es ist absolut kein Weltuntergang, wenn wir in Zeiten der Trauer nicht so funktionieren, wie wir es selber oder andere gerne hätten. Es ist etwas Schlimmes passiert, wieso sollte das spurlos an uns vorübergehen? Wieso darf es erst einmal keine größere Auswirkung auf uns haben?

Wer sich an der Trauer vorbeischleicht, dem wird sie im Nacken sitzen.

Anke Maggauer-Kirsche15

Manche Trauernde müssen regelrecht ermutigt werden, sich an ihre Trauer behutsam heranzutasten und ihr gewisse Zeiten zuzugestehen. Ich kenne Trauernde, die durch ihren Körper regelmäßig über Krankheiten zu Auszeiten und damit gleichzeitig auch Trauerzeiten gezwungen werden. Im normalen Alltag sind oder halten sie sich so beschäftigt, dass die Trauer keinen Raum hat.

Wenn auch Sie zu den Menschen gehören, die Trauer eher verdrängen, dann wäre es gut, gelegentliche „Dates“ mit Ihrer Trauer auszuprobieren. Sich mit der Trauer zu verabreden meint, Zeiten einzuplanen und diese dann auch konsequent zu nutzen, in denen Sie z. B. über das Anschauen alter Fotos oder Videos bewusst in die Erinnerungen an den verstorbenen Menschen einsteigen. Oder Sie planen im Kalender feste Termine ein, die Sie zur Beschäftigung mit den Schreibimpulsen aus diesem Buch nutzen.

Erlauben Sie sich in diesen Zeiten, dass alle möglichen Emotionen auftauchen dürfen. Auch Tränen sind natürlich willkommen. Diese Zeit gehört Ihrer Trauer. Und egal, wie schmerzhaft sie möglicherweise wird, sie bringt Sie auf Ihrem Trauerweg ein kleines Stück weiter. Jede Minute, die Sie jetzt der Trauer widmen, investieren Sie im Grunde in Ihre Zukunft. Und jede einzelne Träne, die fließt, hilft bei der Umwandlung des Trauerschmerzes in Liebe und Dankbarkeit für die gemeinsam verbrachte Zeit.

Bei anderen Trauernden ist es eher andersherum: Sie haben das Problem, sich keine „Auszeiten“ von der Trauer nehmen zu können. Heftige Schmerzen 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche hält aber kaum jemand unbeschadet über einen längeren Zeitraum aus. Daher sind Trauerpausen gut und wichtig! Wir müssen uns von der enorm anstrengenden „Trauerarbeit“ ab und an erholen, um neue Kraft zu schöpfen. Sich bewusst ablenken zu können, ist also eine wertvolle Ressource in der Trauer.

Auch wenn Ihnen das schwerfällt, probieren Sie es immer wieder, und mit der Zeit wird es leichter gelingen. Wichtig ist, sich selber die „guten“, trauerfreien oder trauerreduzierten Zeiten ohne schlechtes Gewissen zu erlauben. Wir verraten unsere Verstorbenen dadurch nicht, wir vergessen sie auch nicht oder machen den Verlust damit irgendwie kleiner. Wir tun nur etwas für unser eigenes Überleben.

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Sich des verstorbenen Menschen erinnern

Manchmal sind Erinnerungen wie ein Regenguss,

kommen auf dich herab,

erwischen dich ganz unvermutet.

Manchmal sind Erinnerungen wie ein Gewitter,

schlagen auf dich ein, gnadenlos in ihrem Auftauchen.

Und dann, wenn sie aufhören,

lassen sie dich geschafft und ermüdet zurück.

Manchmal sind Erinnerungen wie Schatten,

schleichen sich heimlich von hinten an,

verfolgen dich rundherum,

dann verschwinden sie,

lassen dich traurig und verwirrt zurück.

Manchmal sind Erinnerungen wie eine Daunendecke,

umgeben dich mit Wärme, üppig, überreichlich.

Und manchmal bleiben sie,

hüllen dich in Zufriedenheit.

Marsha Updike16

Erinnerungen können am Anfang unheimlich wehtun, denn wir verknüpfen sie gedanklich schnell mit „Das werde ich jetzt nie wieder erleben“. Manche Trauernde meiden Erinnerungen daher ganz bewusst, um sich so vor Schmerz zu schützen.

Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer

ist die Trennung. Aber die Dankbarkeit verwandelt die

Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt

das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel,

sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.

Dietrich Bonhoeffer17

Erinnerungen können aber zu einem großen Schatz werden, der uns mit unseren Verstorbenen verbindet. Und niemand kann sie uns nehmen.

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können.

Jean Paul18

Durch die Erinnerung halten wir den Verstorbenen ein Stück weit lebendig. Indem wir sein Andenken bewahren, ehren wir ihn und sein Leben. Wenn unser Leben eng mit dem des Verstorbenen verbunden war, ist das Erinnern auch für unsere eigene Lebensgeschichte enorm wichtig, da sie ansonsten unvollständig wäre.

Dass mit der Zeit Erinnerungen verblassen können, ist normal, wird aber manchmal als sehr schmerzhaft empfunden. Viele Trauernde fühlen sich schlecht und schuldig, wenn sie merken, dass bestimmte Erinnerungen einfach wie weggeblasen zu sein scheinen, und sie haben große Angst, dass noch mehr verloren geht. Ich gebe dann gern den Hinweis, dass man z. B. durchs Aufschreiben aktiv Erinnerungen für immer sichern kann. Das nimmt die Angst vor dem Vergessen und ist gleichzeitig wertvolle Erinnerungsarbeit, die uns im Trauerprozess helfen kann.

Unser Gehirn funktioniert am Anfang der Trauer nicht wie gewohnt, da Trauer kognitive Fähigkeiten beeinträchtigen kann. Viele Trauernde erleben, dass sie Konzentrationsschwierigkeiten haben, vergesslich werden oder ständig Dinge verlegen, Wortfindungsstörungen auftauchen und noch einiges mehr. Das sind normale Trauersymptome, die mit der Zeit wieder vergehen. Es kann also gut sein, dass Sie nur vorübergehend Dinge im Zusammenhang mit dem Verstorbenen vergessen haben bzw. Sie nur momentan keinen Zugriff auf diese Bereiche Ihres Gedächtnisses bekommen.

Ich bin übrigens davon überzeugt, dass auch all die Erinnerungen, die wir nach Jahren mehr und mehr vergessen, nicht wirklich verloren sind. Sie sind nur aus dem aktiven Erinnerungsgedächtnis in tiefere Ebenen verschoben worden, und selbst da können wir mit verschiedenen Methoden, z. B. mit Hypnose, auch wieder herankommen. Menschen, Dinge oder Ereignisse, die unser Herz berührt haben, gehen nie mehr wirklich verloren.

Nichts kann jemals verloren gehen,

was im Herzen geschrieben steht

und die Handschrift der Liebe trägt.

Irmgard Erath19

Eine neue Identität entwickeln

Für viele Trauernde ändert sich mit dem Tod einer nahestehenden Person enorm viel und oft auch die bisherige Rolle, die sie selbst hatten. Es macht für das Selbstverständnis vieler Menschen einen großen Unterschied, ob sie beispielsweise Ehefrau oder Witwe sind. Und es macht einen Unterschied, wie sie von der Gesellschaft und ihrem persönlichen Umfeld gesehen und auch zum Teil behandelt werden. Auch Eltern, die ein Kind verloren haben, leiden unter einer Art Identitätsverlust. Zu wenig Beachtung bekommen auch Geschwister, für die sich mit dem Tod von Bruder oder Schwester enorm viel verändern kann, da die bisherige Familienkonstellation nicht mehr existiert.

Sich mit einer neuen Rolle anzufreunden, die man sich nicht bewusst selbst ausgesucht hat, kann ein langwieriger Wachstumsprozess sein.

Die Suche nach Sinn

Ganz automatisch tauchen bei vielen Trauernden Fragen nach dem Warum auf, denn wir Menschen suchen immer nach Erklärungszusammenhängen. Wir wollen Dinge verstehen, wir möchten wissen, warum etwas passiert.

In der Trauer müssen wir sehr oft erfahren, dass es auf viele Fragen keine Antworten gibt. Das zu akzeptieren, gelingt dem einen Menschen leichter, dem anderen schwerer. Das Ringen um Antworten ist ganz normal und auch enorm wichtig für den Trauerprozess, auch wenn das soziale Umfeld in der Regel bereits nach kurzer Zeit wenig Verständnis dafür aufbringt.

Irgendwann sollten sich unsere Fragen allerdings in Richtung „Wie geht es nun weiter?“ und „Was möchte ich mit meinem Leben noch anstellen?“ verändern. Um darauf Antworten zu finden, hilft die Frage „Was würde sich der Verstorbene für mich wünschen?“

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Warum – eine Frage ohne Ende

Warum – eine Frage, die mich immer noch zutiefst aufwühlt

Warum – eine Frage, auf die niemand eine Antwort weiß

Warum – eine Frage, die so unendlich weh tut

Warum – eine Frage ohne Ende

Manchmal denke ich,

es wäre besser,

nicht nach dem Warum zu fragen.

Denn das Wort „Warum“ lebt nur in der Vergangenheit.

Vielleicht wäre es besser,

das Wort „Warum“ in das Wort „Wozu“ zu verwandeln.

Denn das Wort „Wozu“ erlaubt auch den Blick

in die Gegenwart und in die Zukunft.

Vielleicht bekommt dann mein Leben einen neuen Sinn.

Carola Häußler20

In der Trauer beschäftigen uns Themen aus den Bereichen Spiritualität und Glauben. Auch alte, eigene Lebensgrundsätze können plötzlich infrage gestellt werden. Das alles ist völlig normal – dass es keine schnellen Antworten gibt, leider auch.

Über die Geduld

Man muss den Dingen

die eigene, stille

ungestörte Entwicklung lassen,

die tief von innen kommt

und durch nichts gedrängt

oder beschleunigt werden kann,

alles ist austragen – und

dann gebären …

Reifen wie der Baum,

der seine Säfte nicht drängt

und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,

ohne Angst,

dass dahinter kein Sommer

kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,

die da sind, als ob die Ewigkeit

vor ihnen läge,

so sorglos, still und weit …

Man muss Geduld haben.

Mit dem Ungelösten im Herzen,

und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,

wie verschlossene Stuben,

und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache

geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,

ohne es zu merken,

eines fremden Tages

in die Antworten hinein.

nach Rainer Maria Rilke21

Unterstützung von anderen erhalten

Es ist gar nicht leicht, um Hilfe zu bitten oder sie anzunehmen. Ich rate Trauernden immer dazu, Hilfe, die ihnen angeboten wird (und die sie tatsächlich unterstützen würde!), anzunehmen. Oft fühlen sich Menschen gut, wenn sie anderen helfen können, und viele tun es wirklich gern. Trauernde brauchen daher kein schlechtes Gewissen zu haben. Zwischenmenschliche Beziehungen leben von gegenseitiger Unterstützung. Das funktioniert aber nur, solange es Menschen gibt, die Hilfe annehmen oder darum bitten können, ohne sich dabei selber schlecht oder schwach zu fühlen.

Ich wünsche dir den Mut zu fragen,

wenn du nicht weiterweißt;

zu bitten, wenn du etwas brauchst;

Nein zu sagen, wenn es zu viel wird;

abzugrenzen, wenn du bedroht bist;

für dich einzustehen, wenn du angegriffen wirst;

zu helfen, wo Not ist;

zu wagen, auch wenn du nicht ganz sicher bist;

unterwegs zu bleiben, trotz aller Zweifel;

zu sein, wie du bist.

Max Feigenwinter22

Direkt nach einem Todesfall ist die Hilfsbereitschaft meist groß. Sie lässt jedoch auch schnell wieder nach, vor allem, wenn man am Anfang vieles abgelehnt hat. Fragt dann niemand mehr, fällt es den meisten von uns sehr schwer, von sich aus um Unterstützung zu bitten. Da Trauer eine absolute Ausnahmesituation ist, die uns extrem fordert und vor ungeahnte Probleme stellen kann, ist es aber mehr als legitim, sich Hilfe zu wünschen und danach zu fragen. Die Menschen um uns herum wissen in der Regel nicht von sich aus, was uns guttun würde, und brauchen daher konkrete Hinweise.

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In Beziehung bleiben

Wie sehr wünschte ich dich wieder hierher,

aber allein schon dass du mir so fehlst,

lässt mich mit dir verbunden sein,

jetzt und für immer:

Es ist nie ganz vorbei.

Jochen Jülicher23

Der Tod beendet weder die Liebe zum Verstorbenen noch die Beziehung. In der Trauer geht es darum, eine neue Form der Beziehung zu dem geliebten Menschen zu finden, da die bisherige Form nun nicht mehr möglich ist. Der Verstorbene ist als lebender Mensch nicht mehr an unserer Seite, hat aber noch immer einen großen Einfluss auf uns und unser Leben. Wenn wir es wollen, dürfen wir uns bis zu unserem letzten Atemzug mit ihm verbunden fühlen und ihn in unseren Gedanken und im Herzen bei uns tragen. Das berüchtigte „Loslassen“ ist nicht nötig. Wer das Hinterbliebenen nach wie vor rät, hat von Trauer keine Ahnung.

Zwiesprache an deinem Grab:

Ich rede mit dir.

Ich lache mit dir.

Ich frage dich um deinen Rat.

Ich erinnere mich.

Du fehlst mir.

Sabine Coners24

Wenn Sie mit Ihrem Verstorbenen laut oder gedanklich reden, ist daran absolut nichts Verrücktes. Fast jeder Trauernde tut es mehr oder weniger automatisch, und es ist genau richtig, da zu einer Beziehung auch die Kommunikation gehört. Auch das Briefschreiben an den verstorbenen Menschen, wie Sie es im zweiten Teil des Buches kennenlernen werden, ist eine sehr hilfreiche Form der Kommunikation und des In-Beziehung-Bleibens.

Viele Trauernde reagieren erleichtert, wenn man ihnen sagt, dass „Loslassen“ der völlig falsche Weg ist und sie stattdessen ganz bewusst in Liebe verbunden bleiben dürfen.

Nichts und niemand

kann unser Herz mehr trösten

und uns behutsamer

durch das Dunkel unserer Trauer führen

als die Liebe,

die uns mit dem Menschen verbunden hat,

um den wir weinen.

Irmgard Erath25

Manchen hilft es auch, wenn sie in Zeiten großer Sehnsucht versuchen, die Liebe zu visualisieren (siehe Seite 66).

Trauerfacetten

Im „Trauerkaleidoskop“, einem Trauermodell der Trauerbegleiterin und Fachautorin Chris Paul, ist die Rede von sechs Facetten des Trauerprozesses, mit denen sich Trauernde immer wieder beschäftigen. Wie bei einem Kaleidoskop verändert sich dabei ständig das Bild, und einzelne Facetten können zeitweise in den Hintergrund treten. Die von Chris Paul beschriebenen Facetten sind: Überleben – Wirklichkeit begreifen – Gefühle – Sich anpassen – Verbunden bleiben – Einordnen.

Besonders gut gefällt mir an diesem Modell die Facette Überleben. Viel zu oft wird in unserer Gesellschaft verkannt, welch riesengroße Herausforderung Trauer an uns stellt und dass das Allerwichtigste nach einem schweren Verlust erst einmal die Sicherung des eigenen Überlebens ist. Nicht nachzusterben ist für viele alles andere als selbstverständlich, kann doch der Wunsch nach Wiedervereinigung mit dem Verstorbenen riesengroß werden und der Schmerz unerträglich erscheinen. Fluchtgedanken sind da ganz normal, man darf ihnen nur nicht weiter nachgehen. Wenn Sie anhaltende Suizidgedanken haben, suchen Sie sich bitte unbedingt Hilfe!

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es Zeiten gibt, in denen man sich überhaupt nicht vorstellen kann, dass das eigene Leben noch irgendeinen Sinn hat oder jemals wieder ein gutes Leben werden kann. Aber das kann es!

 

 

SCHREIBIMPULSE

Im praktischen Teil dieses Buches möchte ich Sie dazu anregen, sich aktiv mit Ihrer Trauer auseinanderzusetzen. Schreiben hilft, den Weg durch die Trauer bewusster zu gehen. Die zahlreichen Impulse in diesem Kapitel haben alle einen mehr oder manchmal auch weniger offensichtlichen Bezug zu den vorgestellten Traueraufgaben und Trauerfacetten. Sie geben Ihnen die Gelegenheit, viel dafür zu tun, dass der Schmerz mit der Zeit erträglicher wird und immer mehr die Liebe zum Verstorbenen und die Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit in den Vordergrund tritt.

 

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Mit dem Schreiben beginnen

Trauer braucht einen Ausdruck. Sie braucht aber auch Zeit, Raum und Zeugen. All das geben wir ihr, wenn wir uns mit verschiedenen Aspekten unserer Trauer beschäftigen und dazu Notizen machen oder Texte verfassen.

Womit schreiben?

Ich möchte Ihnen das Schreiben mit der Hand ans Herz legen. Es ermöglicht Ihnen einen größeren Gestaltungsspielraum und eignet sich meiner Erfahrung nach besser, die Gedanken zu ordnen. Aber Sie können natürlich auch gerne den Rechner oder Ihr Smartphone nutzen. Mittlerweile gibt es praktische Tagebuch-Apps, die Sie auch mit Fotos befüllen können.

Haben Sie ein schönes Notizbuch oder Schreibheft zu Hause? Falls nicht, besorgen Sie sich etwas Ansprechendes. Ihre Gedanken und Gefühle und die Erinnerungen an Ihren geliebten Menschen verdienen ein liebevoll ausgesuchtes, warmes Zuhause.

Überlegen Sie sich schon im Vorfeld, ob Sie lieber Papier mit Linien, Kästchen oder ganz ohne Markierung nutzen möchten. Da haben wir alle unsere eigenen Vorlieben. Probieren Sie auch aus, mit welchen Stiften Sie gerne schreiben: Füllfeder, Kugelschreiber, Tintenroller, Bleistift? Jede Stiftart liegt anders in der Hand und gleitet anders über das Papier.

Die meisten von uns sind es gar nicht mehr gewohnt, viel mit der Hand zu schreiben. Es ist also gar nicht verwunderlich, wenn es sich für Sie und vor allem Ihre Schreibhand erst einmal komisch anfühlt und bei längerem Schreiben etwas anstrengend werden kann.

Wie schreiben?

Sie sollten immer ganz ohne Anspruch schreiben. Es geht nicht darum, literarische Meisterwerke zu erschaffen. Sie schreiben erst einmal nur für den Moment und nur für sich selbst. Es kommt wirklich nicht auf das Ergebnis an, sondern es geht um das In-Berührung-Kommen und Fließen-Lassen der Gedanken, Gefühle und Erinnerungen. Sie tun es, damit sich Ihre Trauer mit der Zeit in Liebe und Dankbarkeit verwandeln kann. Dennoch kann es natürlich sein, dass aus Ihren Aufzeichnungen irgendwann einmal noch etwas ganz anderes entsteht – das sollte jetzt jedoch keine Rolle spielen.

Stilfragen, Rechtschreibregeln, Schönschrift … all das darf und sollte Ihnen völlig egal sein. Es geht darum, möglichst intuitiv die Gedanken aufs Papier fließen zu lassen und im besten Fall in einen Schreibflow zu kommen. Auf unbedeutende Dinge zu achten, wäre nur hinderlich und lähmend.

Ihr Schreibbuch oder Heft darf ruhig chaotisch und natürlich auch bunt werden. Erlauben Sie sich kreative Seitenmalereien, Kritzeleien und Skizzen. Sie können auch Dinge einkleben. Verstehen Sie Ihr Schreibheft als Arbeitsbuch! Alle Texte, die Ihnen besonders wichtig sind, können daraus später ordentlich in ein anderes Buch oder wohin auch immer übernommen werden.

Autor

  • Iris Willecke (Autor:in)

Iris Willecke war als Krankenschwester u.a. auf onkologischen Stationen und in einem Hospiz tätig und begleitete Familien mit lebensverkürzend erkrankten Kindern. Sie ist ausgebildete Trauerbegleiterin und seit 2016 Heilpraktikerin (Psychotherapie). Für trauernden Menschen bietet sie Einzelgespräche, offene oder feste Trauergruppen, verschiedene Kreativangebote und Trauertherapie an. Iris Willecke ist außerdem Traueraktivistin und End-lich leben-Botschafterin.
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Titel: Wie aus Trauer Liebe und Dankbarkeit wird