Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Liebe Leserinnen und Leser,
jeder Mensch kennt das Gefühl von Angst. Egal wie mutig man sich gibt oder wie heldenhaft man wirkt, keiner ist gefeit vor dieser Empfindung, und das ist auch gut so. Die Angst als eine der ältesten Emotionen war und ist wichtig für den Fortbestand der Menschheit, da sie uns dabei unterstützt, Gefahren richtig einzuschätzen, und in uns Kräfte mobilisiert, zu denen wir sonst nicht fähig wären. Angst zeigt uns aber auch auf erschreckende Art und Weise unsere Verletzbarkeit und unsere Endlichkeit.
Umso schlimmer ist es, wenn sich Ängste in unserem Kopf festsetzen und unser Leben bestimmen. Handelt es sich um Ängste, die durch bestimmte Situationen ausgelöst werden, die an sich gar kein Gefahrenpotential beinhalten, spricht man von Angststörungen beziehungsweise Phobien. Obwohl den Betroffenen völlig klar ist, dass es sich um eine irrationale Angst handelt, versuchen sie die Situation mit allen Mitteln zu vermeiden.
Abgesehen davon, dass der Alltag durch solche Phobien extrem eingeschränkt wird, kommt es bei vielen zu emotionalen Dauerschäden und psychischen Folgeerkrankungen. Um diese langfristigen Schäden zu vermeiden und Ihnen als Betroffene wieder Lebensqualität zu ermöglichen, ist eine kognitive Verhaltenstherapie Mittel der Wahl und absolut notwendig, denn Sie erarbeiten sich Erklärungsmodelle und entwickeln daraus Therapiemöglichkeiten.
Die Grundvorrausetzung für eine erfolgreiche Therapie besteht aber in der Ermittlung der exakten Diagnose. Und leider hapert es da in vielen Bereichen der Medizin – und damit auch der Phobien.
Viele Menschen leiden an einer Phobie mit unterschiedlicher Ausprägung. Zu den bekanntesten gehören die Platzangst, die Angst vor Spinnen und die Angst vor Höhe. Diese sind so verbreitet, dass wir sogar die genauen Fachbezeichnungen dafür kennen wie Arachnophobie oder Klaustrophobie. Aber es gibt eben auch Phobien, die sehr speziell sind. Dazu gehört die Emetophobie, die Angst vor Übelkeit und Erbrechen. Einer von 1000 Menschen ist laut der Dresden Mental Health Studie betroffen, dabei sind es überproportional mehr Mädchen und Frauen. Der Leidensweg der zum Teil noch sehr jungen Patientinnen und Patienten zieht sich oft qualvoll in die Länge, da die Symptome falsch gedeutet und damit auch falsch therapiert werden, oder sie werden in der Familie, im Freundeskreis oder von Medizinerinnen und Psychologen nicht ernst genommen.
Wenn man sich dann noch bewusst macht, wie lebenseinschränkend die Emetophobie sein kann – angefangen bei Angst vor schlechtem Essen bis hin zum nicht gelebten Kinderwunsch aus Angst vor der Schwangerschaftsübelkeit –, wird deutlich, wie wichtig eine Sensibilisierung der Gesellschaft, der Ärzte, Psychotherapeutinnen, Familie und Freunde ist, um eine schnelle, richtige Diagnose mit nachfolgender Therapie zu realisieren.
Hier leistet die Autorin Martina Effmert einen sehr wichtigen Beitrag. In ihrem Buch beleuchte sie die Erkrankung aus verschiedensten Blickwinkeln und gibt Denkanstöße und praktische Tipps für Betroffene und ihre Familien. Sie klärt umfassend über mögliche Ursachen der Erkrankung auf und weist auf Fallstricke bei der Diagnosefindung hin.
Ich würde mir wünschen, dass Sie bei der Lektüre dieses Buches einen „Aha-Moment“ erleben und erfahren, dass Sie mit Ihrer Erkrankung nicht alleingelassen werden. So haben Sie die Möglichkeit, in ein normales Leben zurückzufinden.
Heinz-Wilhelm Esser
Doc Esser – Der Gesundheits-Check
Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Kardiologie mit der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin
Emetophobie, die unbekannte Krankheit
„Das glaube ich jetzt nicht! Es gibt eine Angst vor dem Erbrechen?“
Diese Reaktion erlebe ich häufig, wenn ich von meinem Schwerpunkt innerhalb der Phobien in der Praxis spreche. Angstbehandlung ist mein zentrales Thema. Das können ganz unterschiedliche Ängste oder Phobien sein, z. B. Flugangst, allgemeine Ängste, Schulangst, Hypochondrie, die Angst vor Spinnen, die Angst vor der Zukunft, Panikattacken und viele mehr. Den weitaus überwiegenden Teil meiner Arbeit widme ich seit vielen Jahren Patienten, die an einer Emetophobie erkrankt sind – das ist der Fachbegriff für die Angst vor dem Erbrechen.
Wahrscheinlich halten Sie das Buch in den Händen, weil Sie selbst oder ein Angehöriger an dieser Krankheit leiden oder weil Sie vermuten, dass Ihre bisher unerklärlichen Symptome mit dieser Krankheit endlich einen Namen bekommen und damit auch der erste Schritt zu einer Genesung getan werden kann. Vielleicht haben Sie oder Ihr Kind aber auch längst andere Diagnosen gestellt bekommen und sind schon lange in Behandlung, aber irgendwie geht es nicht weiter …
Dieses Buch wird Ihnen helfen, die Emetophobie auch in Abgrenzung zu vielen anderen Ängsten und Krankheiten zu erkennen und zu verstehen. Der Ratgeber enthält viele praktische Anleitungen zur Selbsthilfe und unterstützt Sie dabei, Ihren Weg zu finden und die Emetophobie zu überwinden.
Schleichender Verlauf
Das Gemeine an dieser Krankheit ist, dass sie häufig so unspektakulär anfängt. Meistens beginnt es mit Übelkeit. „Mir ist schlecht“ ist ein Satz, den die Betroffenen bis zur Ausprägung der Phobie wahrscheinlich schon viele Tausend Mal gesagt haben – und den Sie sicherlich auch kennen!
Die Übelkeit mutiert mit der Zeit zu einer ungeliebten Dauerbegleiterin. Jeden Morgen beim Aufwachen oder einfach zwischendurch ist sie da. Immer wieder wird den Betroffenen aus unerklärlichen Gründen schlecht und sie sind deshalb häufig beim Arzt. Mütter klagen bei Kinderärzten über ständige Bauchschmerzen des Kindes und Erwachsene wissen häufig nicht, was sie überhaupt noch kochen oder essen sollen. Nichts vertragen sie mehr, ständig ist ihnen einfach nur schlecht. Die Tests bei den Ärzten sind negativ und die Verzweiflung steigt. Schulmedizinisch wurde mehrfach alles abgeklärt und die Ergebnisse von diversen Untersuchungen waren ohne Befund. So oder ähnlich beginnt Emetophobie, und der Verlauf zieht sich häufig über Jahre und Jahrzehnte – ohne Behandlungserfolg.
Wenn ich mit Freunden und Bekannten über diese Krankheit spreche, dann erlebe ich meistens eine große Ungläubigkeit und stoße auf Unverständnis. Das zeigt mir jedes Mal, dass Emetophobie noch wenig bekannt und in der Gesellschaft noch nicht richtig angekommen ist. Hinter vielen Patienten liegt ein langer Leidensweg und sie haben den Fachbegriff für ihre Krankheit oftmals erst aus dem Internet erfahren. Überhaupt, dass es sich tatsächlich um eine Krankheit handelt, das war vielen Betroffenen vorher nicht klar.
Eine meiner Patientinnen hat 55 Jahre ihres Lebens mit dieser Krankheit verbracht. Erst ihre Tochter fand heraus, dass es für die Erkrankung der Mutter Hilfe gibt. Vielleicht haben auch Sie bereits eine jahrelange Odyssee durch Arztpraxen und unterschiedlichste Therapien hinter sich und waren schon wegen verschiedenster Diagnosen im Krankenhaus – nur die Diagnose der Emetophobie ist selten darunter zu finden.
So wechseln sich im Laufe der Krankheit erst Hoffnung, dann Zweifel und Enttäuschung ab. Die Emetophobie gewinnt einen zentralen Stellenwert im eigenen Leben und im sozialen Umfeld. Das Unverständnis in der eigenen Familie oder im Freundeskreis, die körperlichen Folgen durch Gewichtsabnahme und der damit verbundene Verlust an Lebensfreude, Lebenskraft und Lebensmut führen zu einer als immer schlechter empfundenen Lebensqualität.
Vielfach zweifeln Betroffene dann auch an ihrer eigenen Wahrnehmung: Ist ihnen nun wirklich schlecht oder bilden sie sich diese Übelkeit nur ein? Denn wenn sie sich die Übelkeit nur einbilden, dann müssten sie ja theoretisch keine Angst davor haben, sich zu übergeben. Auf der körperlichen Ebene ist ärztlich irgendwann auch alles abgeklärt: Magen-Darm-Spiegelungen, Ultraschall, MRT, die Schilddrüsenfunktion, HNO-Untersuchungen … Diese Liste lässt sich schier unendlich fortsetzen, und wenn der Arzt keine körperliche Ursache finden kann, dann ist das sehr frustrierend. Hinzu kommt, dass Emetophobiker von ihrer Umgebung häufig nicht ernst genommen und als Simulanten eingestuft werden.
Vielleicht gehören Sie zu den jungen Müttern, die wegen ihrer Emetophobie große Schwierigkeiten haben, ihre kranken Kinder zu versorgen. Es gibt auch viele junge Frauen, die sich wegen der Emetophobie den Kinderwunsch vollständig verwehren. Auch Eltern erkrankter Kinder kommen zu mir, da sie im Umfeld und auch beim Kinderarzt auf Unverständnis stoßen und mit ihren Erlebnissen und Erfahrungen nicht ernst genommen werden.
So verschleppt sich diese Krankheit manchmal über Jahre oder Jahrzehnte, zum Leidwesen der Erkrankten, der Angehörigen und des Freundeskreises – und aus fachlicher Sicht völlig unnötig. Denn es gibt eine gute Nachricht: Man kann diese Krankheit mit all ihren Ausprägungen, Facetten und Besonderheiten gut behandeln.
Wir werden uns im Laufe des Ratgebers die einzelnen Bausteine der Emetophobie anschauen und sie genau beleuchten. So können Sie für sich selbst entscheiden, welche Bausteine für Sie relevant sind und wie Sie am besten mit ihnen umgehen können. Das hilft Ihnen dabei, sich selbst oder einen anderen Betroffenen besser zu verstehen und die einzelnen Bereiche der Behandlung anzugehen.
Katharina, 61 Jahre
Nicht zu fassen, dass diese namenlose Angst, die mich schon mein Leben lang begleitet, einen Namen hat: Emetophobie – und dass nicht nur ich davon betroffen bin!
Seit ich denken kann, war diese Angst Teil meines Lebens – nicht immer präsent, doch die Möglichkeit, dass irgendetwas diesen lauernden Schatten im Hintergrund aufwecken könnte, war immer latent vorhanden. Und wenn es mich ‚erwischt‘ hat, war ich diesem Schrecken, dieser alles überragenden Angst, hilflos ausgeliefert. Flucht nach draußen – am liebsten in die Natur –, ‚Notfallmedikamente‘, viel Disziplin und ein komplettes Verschweigen meiner immensen inneren Not: Das waren meine Möglichkeiten der Angst- und auch der Schambewältigung.
Durch das Wissen, dass auch andere Menschen davon betroffen sind, durch das mir nun zugängliche Rüstzeug, durch die Arbeit mit meinem inneren Kind, durch das Löschen vergangener Erfahrungen, die mit dem Krankheitsbild verbunden waren, sowie durch die Erschaffung neuer innerer Realitäten bin ich zutiefst erleichtert und kann zukunftsfroh weitergehen.
Wenn Angst zu Panik wird, sollte gehandelt werden
Ich kenne niemanden, der es schön findet, sich zu übergeben. Dennoch ist es für die meisten Menschen irgendwie erträglich, und meistens geht es einem danach ja auch tatsächlich besser. Im Unterschied dazu erlebt der Emetophobiker jedoch mehr als Ekel und Furcht: Er erlebt diese Angst als existenziell bedrohlich. Es geht für ihn um Leben und Tod. Kommt Ihnen dieses Gefühl bekannt vor?
Spätestens dann, wenn die Vorstellung des Übergebens zu einer Panikattacke führt, oder ein Magenknurren bzw. ein kurzes Husten ausreicht, um eine Angstkaskade bis hin zur Panik auszulösen – allerspätestens dann sollte gehandelt werden. Je früher, desto besser.
Auf der rationalen Ebene ist eine solche Angst oder Phobie selten zu lösen. Sie können Ihre Phobie vermutlich bis ins kleinste Detail beschreiben, vielleicht liegen auch schon langjährige Verhaltenstherapien hinter Ihnen – und dennoch beherrscht die Angst den Alltag. Höchstwahrscheinlich ahnen Sie, dass diese Angst unverhältnismäßig und übertrieben ist. Das macht das Ganze allerdings nicht besser, sondern führt ergänzend zu einer gewissen Scham.
Behandlungsziel: ein guter Umgang mit der Krankheit
Die meisten Betroffenen erwarten von einer Behandlungstherapie eine hundertprozentige Angstfreiheit. Doch hier ist die Enttäuschung im Grunde genommen vorprogrammiert, denn die Bandbreite der Ergebnisse reicht von:
1. Sie denken nicht mehr an Ihre Angst. Das wäre eine einhundertprozentige Lösung.
2. Sie können mit Ihrer Krankheit sehr viel besser umgehen und denken im Alltag fast gar nicht mehr daran. Das ist ein realistisches Ziel und eigentlich fast immer zu erreichen.
Die Akzeptanz von verbleibenden Ängsten ist wahrscheinlich die größte Herausforderung für Menschen mit Emetophobie. Und genau das ist der erste Schritt auf dem Weg hin zur Überwindung der Krankheit.
Ängste werden vom Unterbewusstsein angetrieben, und die Macht des Unbewussten ist groß. Gegen diese Stärke kommt der Verstand oft nicht an. Das ist ein Grund, weshalb Verhaltenstherapien – trotz allgemein guter Resultate – bei der Emetophobie nicht immer zum gewünschten Ergebnis führen.
Die Verzweiflung der Patienten nach langjährigen Therapien und meine Erfahrungen in der Behandlung haben mich dazu gebracht, ein eigenes Konzept zu entwickeln, im dem auch die Hypnosetherapie eine Rolle spielt. In der Hypnosetrance begegnen wir der Angst dort, wo sie entsteht: im Unterbewusstsein.
Im vorliegenden Buch werde ich Ihnen eine Reihe sehr wirksamer Techniken erklären und genaue Anleitungen zur Durchführung aufzeigen (mehr dazu ab Seite 139). Auch wenn Sie zu den Menschen gehören, die nicht an die Wirksamkeit mancher Methoden glauben, dann seien Sie offen und machen Sie die Übungen trotzdem – ganz oft stellt sich der Erfolg überraschend schnell ein. Lassen Sie sich von den positiven Ergebnissen überzeugen.
Merkmale einer Emetophobie
Worüber reden wir, wenn wir über eine Emetophobie sprechen? Die Emetophobie ist eine sehr stark in den Alltag eingreifende und das Leben verändernde Phobie. Betroffene haben hauptsächlich Angst davor, sich zu übergeben. Sie wachen häufig bereits mit dieser Angst auf.
Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor: Sie fühlen bereits morgens direkt nach dem Aufstehen in sich hinein und überprüfen gedanklich die einzelnen Organsysteme im Körper, ob alles in Ordnung ist oder ob sich vielleicht eine leichte Übelkeit einstellt. Sie denken rund um die Uhr an Ihre Angst und lassen von ihr weitestgehend Ihren Alltag bestimmen, da Sie sich selbst gewisse Unternehmungen oder Lebensmittel verwehren, um sich nicht mit Ihren schlimmsten Befürchtungen konfrontieren zu müssen. Somit schränken Sie sich in vielen Bereichen stark ein.
Die Krankheit sorgt zudem bei vielen dafür, dass nur bestimmte, als „ungefährlich“ eingestufte Lebensmittel verzehrt werden. Wenn Nahrungsmittel abgelaufen sind, steigt wiederum die Panik. Es wird alles versucht, um triggernde Situationen zu vermeiden. Dabei spielt auch die Hygiene eine große Rolle. Betroffene neigen dazu, ihre Umgebung zu kontrollieren sowie sich und andere (z. B. ihre Kinder) regelmäßig zu desinfizieren – aus Angst, sich mit einem Magen- Darm-Virus anzustecken. Auch Restaurantbesuche werden vermieden, da die hygienischen Verhältnisse vor Ort nicht bekannt sind, geschweige denn eigenmächtig kontrolliert werden können.
Nicht nur die Angst vor der eigenen Übelkeit steht bei der Emetophobie im Vordergrund – auch andere Menschen oder sogar Tiere zu sehen, die sich übergeben, ist mit starker Panik verbunden. Aus diesem Grund werden soziale Kontakte und auch Großveranstaltungen wie z. B. Jahrmärkte, Betriebsfeiern, aber auch Partys, Silvesteroder Karnevalsfeiern bewusst gemieden – zum einen, um nicht auf speiende Betrunkene zu treffen, und zum anderen, um das Risiko einer eventuellen Ansteckung mit einem Magen-Darm-Virus zu minimieren.
Dies ist für viele ebenfalls der Anlass, um öffentliche Verkehrsmittel so wenig wie möglich in Anspruch zu nehmen und nach Möglichkeit mit dem eigenen Auto in den Urlaub zu fahren, anstatt den Flieger zu wählen. Selbst die Wahl des Fernsehprogramms unterliegt der alles bestimmenden Phobie, denn selbst fiktive Bilder einer sich übergebenden Person können die Angst ins Unermessliche triggern.
Besonders schwierig ist die Situation für junge Frauen, die sich aufgrund ihrer Krankheit den Kinderwunsch verwehren. Dies geschieht aus Angst vor einem möglichen Schwangerschaftserbrechen oder auch, weil Kinder sich generell häufiger übergeben als Erwachsene und die Patientinnen Sorge haben, damit nicht zurechtzukommen. In meiner Praxis sitzen nicht selten weinende Mütter vor mir, weil ihnen die Betreuung ihrer Kinder schier unmöglich erscheint.
Ich könnte diese Liste problemlos fortführen. Es sind tatsächlich nur Beispiele, um Ihnen zu veranschaulichen, wie vielfältig sich diese Phobie im Alltag durchsetzt. Wenn Sie selbst betroffen sind oder jemanden in Ihrem näheren Umfeld haben, der unter dieser Krankheit leidet, kommen Ihnen sicherlich einige dieser Punkte bekannt vor.
Theodora, 30 Jahre
Es kommt schleichend und beherrscht Schritt für Schritt dein Leben. Mit vier Jahren habe ich mich das letzte Mal erbrochen. Jetzt bin ich 30 Jahre alt, und das damalige Ereignis hat sich tief in meine Erinnerungen eingebrannt: das Cordon Bleu, das ich zuvor gegessen hatte, die Farbe des Erbrochenen, die beruhigenden Worte meines Vaters, das verschmutzte Handtuch.
Damals habe ich mir geschworen, mich nie wieder zu übergeben. Es hat funktioniert, aber zu welchem Preis?
All meine Gedanken drehen sich darum, wie ich es vermeiden kann, mich übergeben zu müssen. Diese Zwangsgedanken rund um das Thema Übelkeit führen dazu, dass ich im Alltag sehr gestresst bin. Ich überlege mir Taktiken, wie ich jeder „gefährlichen“ Situation aus dem Weg gehen kann. Diese ständige Anspannung in Verbindung mit den Zwangsgedanken führt zu einer stetigen latenten Übelkeit, die meine Gedanken und die Anspannung wiederum verstärkt. Ein ewiger Teufelskreis.
Jahrelang ging ich zu verschiedenen Therapeuten und Psychologen. Ich kannte das Wort ‚Emetophobie‘ zwar nicht, wusste aber, dass meine Ängste, Zwänge, Depressionen und Selbstverletzungen dort ihren Ursprung haben mussten. Ich wurde von Ärzten und Therapeuten häufig belächelt: ‚Jeder muss sich übergeben. Niemand macht das gerne. Sie sind da keine Ausnahme.‘
Ich bekam Psychopharmaka verschrieben und verbrachte viel Zeit in Psychiatrien, mit den Diagnosen Borderline Persönlichkeitsstörung, generalisierte Angststörung, Depressionen und Essstörung. Mit 21 Jahren war ich für zwei Jahre arbeitsunfähig, konnte mein Studium nicht fortsetzen und mein Zimmer nicht verlassen. Ich wog nur noch 45 Kilo und hatte alle Hoffnung verloren.
Heute bin ich Erzieherin, verlobt und genieße mein Leben so weit, wie es die letzten Reste der Phobie zulassen. Die Hypnosetherapie hat vieles positiv verändert. Die Worte ‚Erbrechen‘ und ‚Kotzen‘ erschüttern mich nicht mehr bis ins Mark, und im Fernsehen kann ich Szenen von Erbrechen häufiger ertragen. Ich lebe wieder gerne und ich bin dankbar, dass ich Martina Effmert kennengelernt habe und mit ihr gemeinsam den Weg meiner Genesung gehen darf.
Warum Emetophobie so unbekannt ist
Diese vielseitigen und vor allem unterschiedlichen Symptome erklären zumindest zum Teil das Nichterkennen der Phobie bzw. die häufigen Fehldiagnosen – wie z. B. Anorexie, Soziale Phobie oder auch Klaustrophobie (mehr dazu ab Seite 44). Diese Fehldiagnosen führen dann schlussendlich zu entsprechend falschen Behandlungen, und das manchmal über Jahre bzw. Jahrzehnte hinweg.
Ein weiterer Grund dafür, weshalb die Emetophobie immer noch so unbekannt ist, könnten zudem die Abrechnungsformen der Ärzte und Therapeuten sein, die nach einem bestimmten Diagnoseschlüssel abrechnen. Es gibt zwei Systeme zur Verschlüsselung von Diagnosen, und in beiden wird die Emetophobie nicht explizit aufgeführt. Dabei würde es positiv zum Bekanntheitsgrad dieser Krankheit beitragen, wenn diese Phobie dort konkret verzeichnet wäre.
Zurzeit ist die Emetophobie in dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5), einem Klassifikationssystem, an dem sich Therapeuten für ihre Diagnosen orientieren, im Kapitel der Angststörungen eingeordnet. Die WHO (World Health Organisation) gibt ein noch viel größeres und umfassenderes Klassifikationsschema für Krankheiten heraus: die ICD-10 (International Classification of Disease). Hier fällt die Emetophobie in das Kapitel der psychischen Störungen, genauer gesagt unter die spezifischen (isolierten) Phobien. Tatsächlich ist die Angst vor dem Erbrechen aber nirgendwo explizit aufgeführt. Aktuell sind dort folgende Phobien notiert: Tiere, Höhen, Dunkelheit, Fliegen, geschlossene Räume, Urinieren oder Defäzieren auf öffentlichen Toiletten, Verzehr bestimmter Speisen, Zahnarztbesuch, Anblick von Blut oder Verletzungen.
Es ist also nicht überraschend, dass nur wenige von der Existenz dieser Krankheit wissen, wenn sie selbst in den offiziellen Werken nur schwer zu finden ist.
Die Heilungschancen
Ist Emetophobie heilbar? Auf diese Frage habe ich eine sehr klare Antwort, und die lautet: „Ja – eine Heilung ist möglich!“
Viele meiner Patienten fragen mich, wie es sich anfühlt, wenn die Krankheit geheilt ist. Im besten Fall ist es so, dass Sie nicht mehr daran denken. Bestimmt hatten Sie schon einmal Kopfschmerzen oder eine Erkältung. Wenn man unter Kopfschmerzen leidet oder eine Erkältung hat, dann ist das sehr nervig und man denkt vielleicht, das geht nie vorbei. Wenn die Erkältung dann doch endlich überstanden ist, dann ist die Erkrankung in der Regel „aus dem Sinn“, und man erinnert sich nicht mehr daran, wie sehr man ursprünglich darunter gelitten hat.
Bei der Emetophobie wird es wahrscheinlich nie so sein, dass Sie „Hurra“ rufen, wenn Sie an einem Magen-Darm-Infekt erkrankt sind – das tut vermutlich niemand. Dennoch wird das Ganze für Sie generell handhabbarer sein, es wird Sie weniger belasten und Sie nicht mehr aus der Bahn werfen. Mütter können ihre Kinder im Krankheitsfall ohne Angstgefühle betreuen und verspüren auch keine Fluchtgedanken mehr.
Das bedeutet dennoch nicht automatisch, dass Sie nie mehr in Ihrem Leben eine Panikattacke bekommen werden. Aber selbst wenn es zu einer solchen Attacke kommen sollte, dann geht diese erfahrungsgemäß schneller vorbei, ist weniger bedrohlich und Sie werden damit besser umgehen können.
Sie dürfen sich das so vorstellen: Jeder Mensch hat eine individuelle Art, auf Belastungen zu reagieren. Da gibt es die Kopfschmerzpatienten und diejenigen, denen alles auf den Magen schlägt, ebenso wie Menschen, die bei hoher Belastung schlecht schlafen etc. Der Emetophobiker reagiert bei Stress und Belastungssituationen mit einer Angst- oder Panikattacke. Das ist seine „Schwachstelle“ – und diese bleibt vorerst auch erst einmal als solche vorhanden.
Aber: Umfang, Bedeutung und Ausmaß der Attacken werden sich verändern. Sollten Sie im Anschluss an Ihre (Selbst-)Therapie eine Attacke erleben, dann ist es wichtig, diese nicht als Rückfall zu bewerten. Verstehen Sie sie stattdessen als Botschaft und sagen Sie sich liebevoll: „Ich habe verstanden. Ich darf mich wieder etwas mehr um mein seelisches Gleichgewicht kümmern.“ Die Attacke ist zwar nach wie vor unangenehm – aber das Katastrophisieren, das bleibt aus. Manchmal sofort, aber auf jeden Fall mit der Zeit verschwinden auch diese Symptome vollständig.
Für wen dieses Buch ist
Dieses Buch ist hauptsächlich für Betroffene, die darin viel über ihre Erkrankung erfahren und wirkungsvolle Maßnahmen der Selbsthilfe an die Hand bekommen. Natürlich ersetzt dieses Buch keine professionelle Therapie. Dennoch habe ich in der Praxis über die Jahre eine Vielzahl von Übungen entwickelt, vielfach erprobt und in diesem Buch sinnvoll zusammengestellt. Diese Übungen ermöglichen es Ihnen, Ihre Emetophobie im Alltag besser zu bewältigen und sie im besten Fall eigenständig in den Griff zu bekommen.
Außerdem wurde dieses Buch für Eltern, Verwandte, Partner und Freunde von Emetophobikern geschrieben, die sich über die Erkrankung informieren möchten. Ehe und Partnerschaften sind durch die Erkrankung oft sehr belastet und stehen im Laufe der Zeit vor einer schweren Probe, weil sich das Verhalten des Partners verändert – meist in Form von sozialem Rückzug und Veränderungen im Alltag. Ehepartner sind oft verzweifelt, weil sie sich die Verhaltensweisen der Betroffenen weder erklären noch diese nachvollziehen können. Da insgesamt so wenig über diese Krankheit bekannt ist, kommen manchmal Paare zu mir, deren Ehe im Laufe der Zeit so schwer belastet wurde, dass die Scheidung bereits eingereicht war.
All diesen Bezugspersonen – sozusagen den „sekundär Betroffenen“ – soll dieses Buch dabei helfen, die Krankheit als solche zu verstehen, zu akzeptieren und ihren Partner, ihren Freund oder ihr Familienmitglied sinnvoll zu unterstützen.
Insbesondere Eltern junger Kinder oder Jugendlicher soll dieses Buch dazu dienen, diese besondere Lebenssituation mit ihren Kindern zu meistern. Meistens leiden die Eltern und das ganze familiäre Umfeld sehr unter der Erkrankung, weil diese für Außenstehende sehr verwirrend sein kann und die Eltern nie genau wissen, wie sie sich dem Kind gegenüber verhalten sollen. Sollen sie eher streng sein, über die Symptome hinweggucken, oder lieber verständnisvoll reagieren? Wie gehen sie mit dem erweiterten Umfeld, also z. B. der Schule um? Und wie genau passen eigene Gefühle wie Ohnmacht, Wut und Verzweiflung in die Situation?
Außerdem möchte ich interessierte Therapeuten weiter aufklären. In meiner Praxis habe ich mit vielen Patienten zu tun, die mit einer langen Therapieerfahrung zu mir kommen und mit anderen Diagnosen behandelt wurden, weil die Emetophobie nicht erkannt wurde. Das liegt mitunter daran, dass diese Phobie auch unter Therapeuten noch nicht allzu bekannt ist – das möchte ich mit diesem Buch ändern.
Wie dieses Buch Ihnen hilft
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Sie über die Krankheit zu informieren und aufzuklären. Die Erkrankung besser zu verstehen und die Anteile an der Entstehung zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt hin zur richtigen Behandlung und wirksamen Heilung. Der Ratgeber soll Ihnen eine gute Orientierung über angrenzende und überschneidende Krankheiten geben und die Möglichkeiten der verschiedenen Behandlungsmethoden aufzeigen. Viele praktische Übungen aus meiner Praxis eignen sich auch zur Selbsthilfe, um die Emetophobie Schritt für Schritt – und vor allem langfristig – zu überwinden.
In den einzelnen Kapiteln berichte ich von realen Beispielen aus meiner Praxis. Im zweiten Teil des Buches finden Sie dann kompakt zusammengestellt die Übungen, die Sie selbstständig durchführen können. Wenn Sie die Methoden und Techniken kontinuierlich anwenden, dann werden Sie mittel- und langfristig sehr gute und entlastende Ergebnisse erzielen:
• Die empfundene Angstintensität wird reduziert.
• Die Häufigkeit der Angstattacken nimmt ab.
• Es wird mehr Verständnis für die eigenen Körpervorgänge erlangt.
• Ungünstige Gedankensysteme werden erkannt, entschlüsselt und verändert.
• Gefühle des Ausgeliefertseins werden modifiziert, positiv verändert und neu abgespeichert.
• Das Vertrauen in den Körper und das Gefühl für Ihren Körper verbessert sich.
• Selbstheilungskräfte werden aktiviert.
• Lebensmut, Lebenskraft und Lebensfreude nehmen wieder zu.
Sie können die Übungen ganz einfach zu Hause durchführen und so Ihre Angst und Panik und damit die Emetophobie Schritt für Schritt überwinden. Außerdem finden Eltern Anleitungen für kindgerechte Übungen. Manche davon sind durchaus auch für Erwachsene geeignet. Lesen Sie sich also am besten alle Übungen durch und entscheiden Sie dann, was Ihnen zusagt und womit Sie beginnen möchten.
Test: Leiden Sie unter Emetophobie?
Der folgende Test ersetzt natürlich keine Diagnose eines Arztes oder Heilpraktikers. Er soll Ihnen vielmehr einen ersten Eindruck davon vermitteln, ob Sie oder ein Angehöriger vermutlich an einer Emetophobie erkrankt sind und wie stark die empfundene Belastung und Einschränkung durch die Phobie ist.
Bewertung: | |
Stimmt: | 2 Punkte |
Stimmt zum Teil: | 1 Punkt |
Stimmt nicht: | 0 Punkte |
Auswertung:
0–14 Punkte: Für Sie ist die Emetophobie kaum ein Problem. Die Angst beeinflusst Sie im täglichen Leben wenig. Dennoch sollten Sie nach Möglichkeiten suchen, damit umzugehen. 15–28 Punkte: Sie leiden mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer Emetophobie und werden von der damit einhergehenden Angst stark vereinnahmt. Ihre persönlichen und beruflichen Aktivitäten leiden darunter. Ihre sozialen Kontakte sind eingeschränkt, und Sie befinden sich immer öfter in einer Negativschleife von Unwohlsein – Angst – Stress und der Angst, dass etwas passieren könnte. Jetzt geht es darum, zu lernen, diesen Teufelskreis zu beenden und Ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Die Übungen in diesem Buch können sehr wertvoll für Sie sein und Ihnen dabei helfen, mit dieser Angst umzugehen. 29–38 Punkte: Für Sie ist die Emetophobie ein zentrales Thema und eine wirkliche Herausforderung. Ihr gesamtes Denken und Handeln wird von der Krankheit besti mmt – bis hin zu Ihrer persönlichen Lebensplanung. Wahrscheinlich haben Sie schon viel ausprobiert, um dieser Phobie zu entkommen, und Sie haben kaum noch Hoffnung, dass sich jemals etwas ändern wird. Die Emetophobie ist zu einem Teil Ihres Lebens geworden und beeinträchtigt Sie so sehr, dass Sie sich unbedingt Hilfe von außen holen sollten. Sprechen Sie mit anderen Menschen über Ihre Probleme und vertrauen Sie sich einem Arzt, Heilpraktiker oder Psychotherapeuten an.
Angst gehört zum Leben dazu
Die Emetophobie ist eine Angst und gehört, wie bereits erwähnt, zu den spezifischen Phobien. Aus diesem Grund und zum allgemeinen besseren Verständnis schauen wir uns das Thema Angst jetzt einmal ganz genau an.
Angst gehört zu unserem Leben, sie ist eines unserer urmenschlichsten Gefühle und schützt uns vor Gefahren. Angst erinnert uns daran, vorsichtig zu sein. In der Angst handeln wir unserem Instinkt folgend und können so Gefahrensituationen gut überstehen. So hat Angst also im Grunde genommen einen durchaus positiven Nutzen für uns – sie kann am Ende sogar lebensrettend sein.
Angst macht generell keinen Spaß und ist unerfreulich, aber normalerweise ist sie vollkommen ungefährlich. Wovor wir Menschen uns ängstigen, hat sich im Laufe der Jahrtausende geändert: Zu Zeiten des Neandertalers waren es hauptsächlich große Mammuts oder merkwürdige, ihm unbekannte Geräusche, die ihn in Angst versetzten. Heutzutage machen wir uns um andere Dinge Gedanken und entwickeln andere Ängste; so etwa die Angst vor Umweltkatastrophen, die Angst vor Krieg und Terror und neuerdings die Angst vor Viren wie dem Coronavirus.
Jeder hat schon einmal Bekanntschaft mit dem Thema Angst gemacht. Jeder kennt Ängste aus seiner persönlichen Erfahrung. Und fast jeder kennt die Gefühle der Angst in einer stärkeren oder einer weniger starken Ausprägung. Dazu gehören Symptome wie Herzrasen, Schwitzen, Schwindel- oder Beklemmungsgefühle sowie Zittern, Atemnot oder Übelkeit. Wir ordnen diese Gefühle der Angst zu und können sie in der Regel akzeptieren, wenn sie der Situation angemessen scheinen.
Wenn aus normaler Angst krankhafte Angst wird
Deshalb ist die erste Frage immer, wo eine normale Angstreaktion aufhört und ab wann es sich um eine krankhafte Angst handelt. Sicherlich ist der Übergang schleichend und das macht eine klare Abgrenzung schwierig, denn es ist ein Stück weit uneindeutig, wo genau die „normale“ Angst aufhört. Jedoch sollten Sie ärztliche oder therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, wenn:
• Sie über einen längeren Zeitraum mehr als die Hälfte des Tages über Ihre Angst nachdenken oder sich in irgendeiner Form damit beschäftigen;
• die Angst häufig auftritt und besonders lange anhält;
• Sie wegen der Angst Ihr normales Leben einschränken – das kann im Beruf oder zu Hause sein, z. B. in Bezug auf Ihre normalen Gewohnheiten wie Freunde zu treffen oder in den Urlaub zu fahren;
• Sie Ihre Ängste mit Alkohol, Drogen oder Beruhigungsmitteln bekämpfen.
Es kommen viele Gründe zusammen, warum jemand eine Angststörung entwickelt. Das können belastende Ereignisse in der Vergangenheit sein, ebenso wie eine aktuelle schwierige Lebenssituation. Erbliche Faktoren werden ebenfalls als mögliche Ursache angesehen; außerdem können Persönlichkeitsmerkmale und ungünstige Erziehungsstile das Entstehen einer Angststörung beeinflussen. Die einzelnen Komponenten werden wir im Verlauf des Buches genauer analysieren, ein entsprechendes Schaubild finden Sie auf Seite 74.
Typische Angstsymptome
Angst kann sich sehr unterschiedlich äußern und setzt sich aus verschiedenen Symptomen zusammen – die Gesamtheit der Symptome nennt man dann „Syndrom“. Die jeweiligen Anteile der Symptome innerhalb eines Syndroms sind unterschiedlich ausgeprägt. Bei manchen stehen die körperlichen Symptome im Vordergrund, bei anderen die Gedanken, die Gefühle oder die Verhaltensweisen.
Die verschiedenen Symptome hängen nicht immer unbedingt miteinander zusammen und beeinflussen sich dennoch gegenseitig. So geht beispielsweise mit der körperlichen Äußerung der Angst in Form von Luftnot oft der Gedanke „Ich drehe durch“ einher. Ein typisches Verhalten in diesem Fall wäre dann das Öffnen eines Fensters in der Hoffnung, der Angst und dem damit einhergehenden unangenehmen Körpergefühl zu entkommen. In der folgenden Darstellung sehen Sie Beispiele für die einzelnen Anteile und erkennen so vielleicht auch das Zusammenspiel der einzelnen Symptome.
Die unterschiedlichen Anteile (Körpersymptome, Gedanken, Gefühle und Verhalten) treten individuell in verschiedenen Gewichtungen und Ausprägungen auf. Bei manchen bestimmen die körperlichen Symptome wie Übelkeit, Beklemmungsgefühle oder Luftnot die Angst. Bei anderen Menschen wiederum spielt sich die Angst überwiegend im Kopf ab. Bei ihnen kreisen die Gedanken unaufhörlich und führen somit immer weiter in die Angst hinein.
Gefühlsbetonte Menschen fühlen sich häufig kraftlos, verzweifelt, deprimiert oder wütend, bei anderen wiederum dominieren die Verhaltensweisen, z. B. bei Kindern, die nicht zur Schule gehen wollen oder abends nicht mehr allein einschlafen können.
In der Regel treten die verschiedenen Anteile selten losgelöst auf, sondern eher in Kombinationen, die sich gegenseitig verstärken. Diese einzelnen Bausteine spielen eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der Angst und später bei der Aufrechterhaltung der Krankheit.
Wie sich die Angst vor Übelkeit entwickelt
Sowohl Kinder als auch Erwachsene können von einer Emetophobie betroffen sein. Wenn ich in der Praxis meine Patienten frage, seit wann sie an der Krankheit leiden, erhalte ich oft die Antwort, dass sie seit ihrer Kindheit von dieser Angst betroffen sind. Leider haben damals weder die Eltern noch die Ärzte diese Angst erkannt geschweige denn ernst genommen. Aus diesem Grund schauen wir uns später im Detail an, wie sich diese Angst bei Kindern äußert. Ich möchte Ihnen als Angehörigen eines Betroffenen damit die Möglichkeit geben, die Symptome schneller zu entschlüsseln.
Emetophobie bei Erwachsenen
Entsteht die Krankheit erst im Erwachsenenalter, dann kann der Beginn häufig mit einer besonderen Belastungssituation in Verbindung gebracht werden. Das kann zum Beispiel eine Abschlussprüfung oder eine wichtige Klausur im Studium sein, ebenso wie eine Trennung, eine Schwangerschaft oder der Verlust eines Menschen. Die Emetophobie beginnt dann individuell verschieden, ich habe in der Praxis jedoch überwiegend zwei Entstehungsabläufe beobachten können:
1. Da gibt es die eine Gruppe, die wie aus dem Nichts plötzlich eine Panikattacke erlebt. Der Betroffene hat vielleicht vorab ein üppiges Mahl zu sich genommen und im Anschluss ein Unwohlsein verspürt. Wurde dann schulmedizinisch alles abgeklärt, dann bleibt der Betroffene zunächst mit einem Fragezeichen zurück.
Zu dieser Panik, die gegebenenfalls unterschwellig über einen längeren Zeitraum weiter schwelt, kommen dann je nach dem individuell überwiegenden Anteil des Betroffenen weitere Symptome hinzu. Dies können sowohl körperliche Symptome sein als auch Gedankenmuster oder bestimmte Verhaltensweisen. Diese Anteile stabilisieren dann die Angst und die Erkrankung entwickelt sich ungut weiter.
2. Die andere Patientengruppe reagiert auf die bereits erwähnte Belastungssituation mit Übelkeit oder Bauchschmerzen. Das wird am Anfang der Erkrankung den belastenden Umständen zugeschrieben. Häufig entwickelt sich daraus eine chronische Übelkeit, und die Suche nach der körperlichen Ursache beginnt. Wenn auf der körperlichen Ebene keine Ursachen gefunden werden können, die Übelkeit aber weiter bestehen bleibt, dann befeuern auch hier wieder die individuell ausgeprägten Anteile der typischen Angstsymptome (Gedanken, Gefühle, Verhalten, Körpersymptome) das Geschehen. Die Angst nimmt schleichend ihren Lauf und weitet sich Schritt für Schritt aus.
Emetophobie bei Kindern
Kinder reagieren zu Beginn einer Emetophobie häufig mit bekannten Symptomen wie Bauchweh, Schluckbeschwerden oder einem Kloß im Hals. Das wird von Bezugspersonen wie Eltern, Erziehern oder Lehrern häufig eher wenig beachtet und selten in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht. Treten diese Symptome häufiger auf, dann werden diese kinderärztlich abgeklärt – meistens ohne Befund. Die Symptome geraten dann häufig in den Hintergrund – vielleicht sogar in Vergessenheit.
Nach einem erneuten Erleben von Erbrechen, z. B. nach einem Magen-Darm-Infekt, wird die Angst oft schleichend präsenter. Die betroffenen Kinder machen sich Gedanken, ob ihnen übel ist, vermeiden bestimmte Nahrungsmittel und essen insgesamt weniger. Erst wenn sich im weiteren Verlauf der Krankheitsentwicklung massiver Gewichtsverlust oder andere beängstigende Symptome zeigen (Schlaflosigkeit, sehr lang anhaltendes, starkes Zittern, Weinen bis hin zur puren Verzweiflung oder die Aussage, „nicht mehr Leben zu wollen“), erinnert man sich als Eltern häufig an den Beginn der Krankheit und an die allerersten Symptome.
Die Kinder verhalten sich im Verlauf der Krankheit oft nicht ihrem Alter entsprechend, sondern eher regressiv: Selbstständigkeiten, die sie bereits erlangt hatten, werden häufig wieder aufgegeben. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Bewältigungsstrategien sinkt, die Kinder werden zunehmend unsicher. So wird z. B. der Schulweg, der bisher problemlos allein bewältigt wurde, zur großen Herausforderung. Besuche bei Freunden sind oftmals nur in Begleitung möglich. An Emetophobie erkrankte Kinder und Jugendliche schlafen auch häufig wieder im Elternbett. Das führt dann dazu, dass Väter aus dem gemeinsamen Ehebett ausziehen und so – vorerst vorübergehend und dann fast dauerhaft – Platz machen für ihre Kinder.
Bisher stabile Familienabläufe ändern sich, alles dreht sich mehr und mehr um das Kind bzw. um die Phobie. Bei betroffenen Kindern wird auch Körperkontakt wieder wichtiger. In meiner Praxis sehe ich immer wieder auch ältere Kinder auf dem Schoß der Eltern sitzen. Bei Kindern unter zehn Jahren habe ich häufig als Sitzhaltung die Embryonalhaltung beobachten können. Die Problematik verstärkt sich exponentiell mit der beginnenden Pubertät.
Der Emetophobiker leidet an einer Vielzahl körperlicher Symptome. Und um es hier noch einmal deutlich zu sagen: Er bildet sich diese Symptome nicht ein. Sie sind ein Resultat der Angst und der Vorgänge, die im Körper durch die Angst ausgelöst werden.
Alles begann mit der Geburt unserer Töchter. Meine Angst war wieder da. Allein hatte ich mich im Griff – ich konnte schwierige Situationen ja immer vermeiden, wenn es nötig war. Aber mit eigenen Kindern? Da kann man ja schlecht einfach alles stehen und liegen lassen. Und so baute ich mir ein Leben voller Ausreden und Vermeidungen auf – dennoch immer verbunden mit heftigen Ängsten, wenn im Kindergarten oder in der Schule ein Magen-Darm- Virus herumging. Denn man kann ja die Kinder nicht einfach zu Hause lassen.
Leider fing unsere jüngere Tochter mit Schulbeginn an, ebenfalls eine Angst gegen Magen-Darm-Grippe zu entwickeln. Erst nur dann, wenn Freunde oder Bekannte krank waren, nach einiger Zeit kamen die Panikattacken aber auch scheinbar grundlos jeden Abend. Das war der Punkt, an dem wir uns gesagt haben, dass wir Hilfe brauchen. Ich wollte auf keinen Fall, dass die Angst unsere Tochter ein Leben lang begleitet.
Auffällig ist, dass nicht nur unsere Tochter und ich diese Angst haben, sondern auch meine jüngere Schwester und meine Tante. Mein Bruder hat auch Ängste; allerdings wissen wir nicht, worauf diese begründet sind. Er spricht nicht darüber und meint auch, dass er keine Hilfe benötige. Von meinen Eltern weiß ich, dass auch meine Cousine Ängste hat und nicht allein wohnen kann.
Mittlerweile gehen wir davon aus, dass die Ängste eventuell sogar vererbt wurden. Sie sind ein Teil unserer Familie geworden. Wir hoffen, dass mit der Hypnosetherapie eine sorgenfreiere Zukunft vor uns liegt. Und wer weiß, vielleicht können wir den Rest der Familie auch noch von der Therapie überzeugen!
Die Verursacher: das vegetative Nervensystem
Das vegetative Nervensystem steuert viele lebensnotwendige Körperfunktionen. Dazu gehören unsere Atmung, die Verdauung und auch der Stoffwechsel. Das vegetative Nervensystem sorgt gemeinsam mit unserem Hormonsystem dafür, dass alle Organe gut funktionieren. Es steuert die Bereiche, die wir mit unserem Willen nicht direkt beeinflussen können, beispielsweise unseren Blutdruck, den Speichelfluss und ob sich die Adern weiten oder verengen. Das System besteht aus zwei Bereichen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Das sind zwei Antagonisten, d. h. sie wirken in entgegengesetzter Weise auf den Köper ein.
Das läuft alles ganz automatisch und – solange es gut funktioniert – vollkommen unbemerkt ab. So schickt das vegetative Nervensystem beispielsweise am frühen Morgen das Signal, den Blutdruck zu erhöhen, damit uns nicht schwindelig wird, wenn wir aus dem Bett aufstehen. Oder wenn uns durch Anstrengung warm wird, dann aktiviert das System die Schweißbildung, um unseren Körper abzukühlen.
Der Sympathikus ist ein starker Motor, der uns auf Touren bringt. Er sorgt dafür, dass der Köper sich auf Höchstleistung einstellt. Das Herz schlägt schneller, die Atmung wird beschleunigt und die Verdauung wird gehemmt. Ganz gleich, ob im Beruf, beim Sport oder in einer Stresssituation.
Der Parasympathikus auf der anderen Seite kümmert sich um Körperfunktionen wie Herzschlag, Atmung und Verdauung in einer Entspannungs- oder Ruhephase. Er dient der Regeneration und dem Aufbau von Kraftreserven.
Ein kleines Beispiel
Vielleicht haben Sie schon einmal in einem Wartezimmer beim Arzt die wartenden Menschen beobachtet. Beide Gruppen sind dort vertreten und gut voneinander zu unterscheiden. Menschen im Stressmodus, d. h. in einer Sympathikusaktivierung, fällt das ruhige Warten und stille Sitzen häufig körperlich sehr schwer. Sie sitzen dann angespannt auf der Stuhlkante – jederzeit bereit, aufzuspringen. Sie blättern nervös in Zeitschriften, stehen auf, wühlen in ihrer Tasche, nehmen das Handy heraus, stecken es wieder ein … Sie sind insgesamt sehr unruhig.
Sind wir im Stress, dann dominiert der Sympathikus unsere Körperfunktionen. In der heutigen, hektischen Zeit ist der Sympathikus vieler Menschen daueraktiv, das heißt in Anspannung. Diese Anspannung und Aktivierung programmiert den Organismus auf ein mögliches Fluchtverhalten.
Im Wartezimmer können Sie aber auch eine andere Gruppe beobachten. Da gibt es diejenigen, die in Ruhe eine Zeitung oder ein Buch lesen und einfach nur warten, bis sie an der Reihe sind. Bei dieser Gruppe ist der Parasympathikus aktiviert, was im Körper für Ruhe und Entspannung sorgt.
Dafür zum überwiegenden Teil verantwortlich ist der Vagusnerv. Vagus kommt aus dem Lateinischen und heißt „der Umherschweifende“. Er ist der längste unser zwölf Gehirnnerven und verläuft vom Gehirn durch den Hals und über den Brustkorb hin zu Herz, Lunge, Magen, Bauchspeicheldrüse, Darm usw. Er ist an der Regulation aller inneren Organe beteiligt und steuert Prozesse wie Atmung, Herzfrequenz, Ausschüttung von Verdauungssäften und vieles mehr. Der Vagusnerv kann stark oder schwach ausgeprägt sein.
Angstpatienten – und damit auch Emetophobiker – haben in der Regel einen überaktivierten Sympathikus und im Umkehrschluss ein eher schwaches Parasympathikussystem. In der folgenden Tabelle sehen Sie noch einmal auf einen Blick die entsprechenden Reaktionen und Symptome, je nachdem, ob der Sympathikus oder der Parasympathikus aktiviert ist.
Die körperliche Kettenreaktion setzt sich in Gang
Wie im folgenden Schaubild dargestellt, haben wir die beiden Gegenspieler in uns: den Sympathikus und den Parasympathikus. In der Angst- bzw. Stresssituation steuert – wie bereits erwähnt – der Sympathikus das Geschehen.
Im Zusammenhang mit einer Angsterkrankung wie der Emetophobie interessieren uns vor allem die Vorgänge im Körper, die sich bei einer Überaktivierung des Sympathikus abspielen. Dieser arbeitet in einer stressauslösenden Situation im Wechselspiel mit zahlreichen Hormonen. Was genau dabei im Körper passiert, schauen wir uns nun etwas genauer an.
Adrenalin, Noradrenalin, Kortisol und Co
Startpunkt der Angstreaktion sind biochemische Prozesse und die Ausschüttung von Hormonen aus den Nebennieren. Das geschieht automatisch und ist evolutionsbedingt in unserem Körper vorprogrammiert.
Im Falle von (realer oder empfundener) akuter Gefahr kennt unser Körper nur zwei Reaktionen: Angriff oder Flucht. Auf beide muss sich der Körper innerhalb von Millisekunden einstellen – viel schneller, als unser Bewusstsein nachdenken kann. Das alles geschieht im Hintergrund, vollautomatisch. Im Gehirn gibt es für diese extrem schnellen Reaktionen eine kleine Schaltzentrale – die Amygdala, auch Mandelkern genannt. Sie ist sozusagen unsere innere Alarmanlage.
Innerhalb kürzester Zeit werden so Situationen bewertet, Gefahren eingeschätzt und entsprechende Reaktionen eingeleitet. Wenn z. B. der viel zitierte gefährliche Säbelzahntiger vor zigtausend Jahren am Horizont auftauchte, wäre es fatal und möglicherweise tödlich gewesen, erst einmal zu überlegen: „Ist es ein gefährlicher Säbelzahntiger oder eine freundliche Antilope, mit der ich spielen kann?“
Mit der Bewertung durch die Amygdala startet dann auch die Angstkaskade. Der Körper schaltet in Millisekunden in den Fightor- Flight-Modus. Die chemischen Botenstoffe des vegetativen Nervensystems, die in diesem Prozess von der Nebenniere ausgeschüttet werden, sind Adrenalin und Noradrenalin. In geringem Maße werden zudem Glukokortikoide wie z. B. Kortisol, das auf den Fett- und Kohlenhydratstoffwechsel wirkt, in den Blutkreislauf ausgeschwemmt.
Diese Nervenbotenstoffe (Neurotransmitter) lösen dann Prozesse aus, die den Körper in Sekundenschnelle in eine extrem hohe Leistungsbereitschaft versetzen. In Folge der Hormonausschüttung schnellt der Herzschlag von 70 Schlägen auf 180 bis 200 Schläge in der Minute hoch. Außerdem werden gespeicherte Energien wie Fett und Glykogen aktiviert und mobilisiert. Der Blutdruck steigt und Glukose wird freigesetzt. Das alles führt zu einer verstärkten Durchblutung der Muskulatur. Die Muskelzellen können mehr Glukose aufnehmen und haben so ausreichend Energie für den bevorstehenden Angriff bzw. die Flucht zur Verfügung.
Die Blutverteilung verändert sich
Die typischen körperlichen Beschwerden einer Emetophobie entstehen hauptsächlich durch die Umverteilung des Blutes im Körper.
Die Hormone sorgen dafür, dass unser Herz schneller schlägt, damit mehr Blut in die Muskeln gepumpt werden kann. Starke Muskeln, um uns zu verteidigen oder wegzulaufen. Damit die Muskeln gut arbeiten können, benötigen sie Sauerstoff, weshalb wir schneller atmen.
Durch die Hormonausschüttung steigt in der Vorbereitung auf die Flucht oder den Angriff zudem die Körpertemperatur an. Unsere körpereigene Klimaanlage kühlt den Körper daraufhin wieder herunter und bildet Schweiß, um nicht zu überhitzen. Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Ihr sogenannter Angstschweiß kalt ist. Umgangssprachlich heißt es auch „Ihm stand der kalte Schweiß auf der Stirn“.
Die Muskeln zittern vor Anspannung, sämtliche Muskelfasern sind in Alarmstellung – bereit für den Angriff oder die Flucht. Das Blut wird zur Sauerstoffversorgung und Energiebereitstellung vom Kopf herunter in die Muskeln gepresst. Die dadurch entstehende Blutleere im Kopf führt bei Betroffenen von Prüfungsängsten in Prüfungssituation beispielsweise zum allseits bekannten Blackout. Die gelernten Inhalte sind nicht mehr abrufbar – und das liegt tatsächlich an der Blutumverteilung im Körper als Reaktion auf die Angst.
Die verstärkte Durchblutung der Muskeln bedeutet, dass andere Organsysteme weniger gut durchblutet werden. Dies wiederum führt zu den typischen Symptomen, die den Emetophobiker zusätzlich in Panik versetzen – der Beginn eines Teufelskreises.
Auch die Funktion der Verdauungsorgane wird heruntergeschraubt, um mehr Blut und Sauerstoff in die Muskeln pumpen zu können. Die Magen-Darm-Tätigkeit wird kurzfristig fast vollständig außer Betrieb gesetzt. Die Erklärung dafür ist simpel: Wenn man auf der Flucht ist, dann bleibt keine Zeit, um zur Toilette zu gehen, weder für das kleine und erst recht nicht für das große Geschäft.
Und so ist die Volkskrankheit der Darmträgheit und Verstopfung eine eher stressbedingte Reaktion, die vom Sympathikus ausgelöst wird. In einer starken emotionalen Erregung kann es aber durch die Überreaktion des Sympathikus auch zu genau entgegengesetzten Körperreaktionen kommen. Dann stellt sich Durchfall ein – im Volksmund auch „Angstschiss“ genannt.
Bedingt durch die verminderte Blutversorgung im Verdauungstrakt und die daraus entstehende Appetitlosigkeit ist auch der Speichelfluss vermindert. Das führt zum unangenehmen Gefühl des „trockenen Mundes“. Zusätzlich verkrampft sich in der Angst der obere Bereich der Speiseröhre, was häufig als „Kloß im Hals“ wahrgenommen wird. Zur Entspannung der Speiseröhrenmuskulatur hilft es, einen Schluck Wasser zu trinken. Das einfache Schlucken reicht hier nicht aus.
Manche berichten auch von unscharfem Sehen oder Pünktchen bzw. bunten Kreisen vor den Augen. Das kommt daher, dass unsere Pupille sich in einer Angstsituation weit öffnet. Wenn wir auf das Beispiel mit dem Säbelzahntiger zurückkommen, dann sollte diese Körperreaktion dafür sorgen, dass wir bei Dunkelheit besser sehen können, weil mehr Licht durch die Pupille ins Auge fällt und das She feld dadurch vergrößert wird. Bessere Sicht bedeutete einen besseren Schutz vor möglichen Angreifern.
Die für den Emetophobiker typischen Beschwerden sind also maßgeblich auf die Blutumverteilung zurückzuführen. All das wird durch die Ausschüttung der Hormone in Gang gesetzt und geschieht innerhalb von Sekundenbruchteilen. Die Blutumverteilung führt z. B. zu Beschwerden wie:
• Unwohlsein
• Appetitlosigkeit
• Übelkeit
• Völlegefühl
• Magenschmerzen
• Aufstoßen
• Sodbrennen
• Durchfall
• Verstopfung
Wenn die Bedrohung als so groß eingestuft wird, dass gar nichts mehr geht und keine Flucht mehr möglich ist, dann sorgen der Stress und die Angst dafür, dass der Betroffene ohnmächtig wird. Im Beispiel vom Säbelzahntiger bedeutet dieses Umkippen, sich tot zu stellen und damit als Beute für das Raubtier uninteressant zu werden.
Die körperlichen Symptome der Angst sind also erst einmal gesund und richtig. Sie schützen uns vor unmittelbaren Gefahren und geben uns die Kraft und die Energie, die wir in dieser Situation zum Angriff oder zur Flucht benötigen. So weit, so gut.
Die Angst ist im Gehirn programmiert
Schwierig wird es erst, wenn Sie in diesen Angst- und Fluchtmodus verfallen, ohne dass es eine Situation gibt, die tatsächlich bedrohlich ist. Wie ist es also zu erklären, dass es Menschen gibt, die in Angst und Panik geraten, wenn sie mit einem Aufzug fahren sollen oder eine Spinne sehen? Auf welche Gefahr bereitet sich der Körper vor, wenn Sie Angst davor haben, sich zu übergeben? Welches gefährliche Ereignis rechtfertigt diese Angst? Viele Betroffene wissen, dass ihre Angst logisch betrachtet unsinnig ist und schämen sich sogar häufig dafür. Trotzdem kann man sie nicht einfach abstellen.
Wie kommt es dazu?
Wir wissen bereits, dass Angst normalerweise von einer echten, unmittelbaren Gefahr (dem Säbelzahntiger) ausgeht. Und wir wissen auch, dass ein Fahrstuhl, eine kleine Spinne oder Ähnliches keine tatsächlichen Gefahren darstellen. Würden wir also die vermeintliche Gefahrensituation rational bewerten, dann wäre für ein Angstgefühl tatsächlich kein Platz.
Angst, Panik und die damit zusammenhängenden körperlichen Reaktionen werden allerdings vom Unterbewusstsein gesteuert. Sie nehmen also bewusst oder unbewusst Reize aus der Umgebung mit all Ihren Sinnen wahr, und Ihr Unterbewusstsein bringt ganz automatisch einen oder mehrere dieser Reize mit Gefahr in Verbindung – ohne dass Sie in der Situation selbst aktiv etwas dagegen tun können.
Auch Reize, die lange Zeit neutral oder positiv wahrgenommen wurden, können durch Lernprozesse, die durch verborgene Trigger immer wieder aktiviert werden, irgendwann mit Gefahr assoziiert werden und später ebenfalls Angst auslösen. Diese Verknüpfung mit unseren Sinnesorganen geschieht unbewusst. Es sind Verknüpfungen mit Bildern, mit Geräuschen, Gerüchen oder Gefühlen, die im Unterbewusstsein abgelegt werden. Was folgt, sind die Ihnen bereits bekannten Angstsymptome, die nichts anderes tun, als den Körper auf eine drohende, unmittelbare Gefahr vorzubereiten – auch wenn diese in vielen Fällen gar nicht so real ist, wie sie uns erscheint.
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783842642461
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2024 (Mai)
- Schlagworte
- Emetophobie Unverständnis Angst Selbsthilfe praktische Anleitung Krankheit Kopf Sache Lebensqualität Angehörige Ratgeber betroffene nachhaltig behandeln Leiden Diagnose Phobie Erbrechen