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Der Fibromyalgie-Ratgeber

Trotz Dauerschmerz ein gutes Leben führen. Der Ratgeber der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung e. V.

von Holger Westermann (Autor:in) Deutsche Fibromyalgie Vereinigung e.V (Herausgeber:in)
144 Seiten

Zusammenfassung

Auf den Punkt gebracht:
Topaktuell: Mit allen neuen Erkenntnisse zur Behandlung
der Fibromyalgie gemäß der neuen Leitlinie 2017.
Der Ratgeber der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung e.V.
Über 3 Mio. Menschen in Deutschland leiden unter Fibromyalgie, das Verhältnis Frauen zu Männern ist 7:3.
Das Fibromyalgie Syndrom auf allen Ebenen beleuchtet:
somatisch, psychisch, psychosomatisch.
Ein Ratgeber, der Betroffenen die Bedeutung von Selbsthilfe
und einer optimistischen Lebenseinstellung vermittelt.

Die Ursache bleibt ein Rätsel: Selbst die aktuelle medizinische Leitlinie für das Fibromyalgie Syndrom vom März 2017 nennt keine Ursachen
für die Erkrankung. Eine seriöse medizinische Therapie versucht also vielmehr, gezielt Symptome zu lindern – insbesondere den Dauerschmerz.
Was man weiß: Elemente der multimodalen Schmerztherapie, Entspannungsübungen und gezielter Stressabbau haben einen positiven Einfluss auf die Schmerzintensität. Auch die ganz persönliche
Einstellung zum Leben mit Dauerschmerz spielt eine wichtige Rolle. Alles, was dazu wichtig ist, hat Autor Holger Westermann mit der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung e.V. in diesem Ratgeber zusammengetragen.
Damit wird ein Leben mit Fibromyalgie zwar kein
unbeschwertes, aber ein zunehmend gutes.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Anlass und Motivation für die DFV, einen eigenen Fibromyalgie-Ratgeber herauszugeben, war die 2017 aktualisierte medizinische S3-Leitlinie „Fibromyalgie-Syndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie“. Für diese Zusammenfassung haben medizinische Fachgesellschaften und spezialisierte Ärzte sowie die Patientenorganisationen als „Experten aus Betroffenheit“ die aktuelle Fachliteratur gesichtet, bewertet und diskutiert, um evidenzbasierte Konsensempfehlungen zu formulieren. So wurde beispielsweise festgestellt: Fibromyalgie ist keine Rheumaerkrankung, auch kein Weichteilrheuma!

Inzwischen hat die Amerikanische Schmerzgesellschaft im Jahr 2019 neue Diagnosekriterien für Fibromyalgie veröffentlicht und die Weltgesundheitsorganisation zum 1.1. 2022 den Diagnoseschlüssel ICD-11 in Kraft gesetzt. Darin wird Fibromyalgie als „chronisches primäres Schmerzsyndrom“ klassifiziert. Mit dieser Neubewertung ist der Dauerschmerz nicht mehr Symptom einer körperlichen oder psychosomatischen Ursache, sondern eine eigenständige neurologische Erkrankung. Daraus ergeben sich weitreichende Folgen für das Selbstbild der Patienten, für die Kommunikation über Fibromyalgie, für die Arztwahl und für die Therapie. Diese aktuellen Erkenntnisse und die neue Sicht ist Anlass für die 2., aktualisierte Auflage.

Was bedeutet das für die Behandlung von Menschen mit Fibromyalgie? Nach wie vor empfehlen Experten eine multimodale Schmerztherapie, die auch Entspannungsübungen und Maßnahmen zur Stressbewältigung sowie leichten Sport nutzt. Medikamente allein können die Schmerzen nicht stoppen, jedoch manchmal lindern. Gegen die anderen Symptome wurde eine jeweils spezielle Behandlung als sinnvoll erkannt.

Dieses Buch erklärt Ihnen den aktuellen Wissensstand über das Fibromyalgie-Syndrom. Besonderes Augenmerk habe ich dabei auf Erklärungen zur Entstehung von Schmerzen gelegt: Denn wer die Wirkung von akutem und andauerndem Stress auf die Schmerzbelastung versteht, kann die Linderung aktiv unterstützen. Wer die Funktion von Körper und Geist beim Fibromyalgie-Syndrom kennt und an sich selbst nachvollziehen kann, ist auch weniger empfänglich für obskure Heilversprechen: Fundiertes Wissen schützt vor Scharlatanen.

Für ein gutes Leben trotz Fibromyalgie lohnt es sich, dass Sie in ein solides soziales Umfeld investieren. Nicht Geld, sondern gemeinsam verbrachte Freizeit an guten Tagen mit geringem Leidensdruck und gute Laune, auch wenn es manchmal schwerfällt, zahlen sich aus. Dieses Buch gibt Ihnen deshalb Tipps, wie man mit Lebenspartnern, Familienangehörigen, Freunden und Kollegen, aber auch mit Ärzten und Menschen in Behörden oder bei Krankenkassen über Fibromyalgie sprechen kann. Wer die Interessen der Gesprächspartner berücksichtigt, kann die wichtigen Informationen zur Fibromyalgie weitergeben, damit ein rücksichtsvolles Miteinander gelingt.

Die Geselligkeit mit Menschen, denen man die Besonderheiten des Lebens mit Fibromyalgie nicht jedes Mal aufs Neue erklären muss, ist eine wichtige Stütze für ein gutes Leben trotz Dauerschmerz. Das Engagement in der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung schafft Gelegenheit dazu! Hier trifft man Menschen, die sich gegenseitig Optimismus vermitteln, indem sie gemeinsam nach Lösungen für typische Fibromyalgie-Probleme im Alltag suchen.

Ihr

Holger Westermann

GELEITWORT

der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung (DFV)

Liebe Menschen mit Fibromyalgie,

dieser Ratgeber wendet sich an Sie und Ihre Partner, Familie und Freunde. Sie müssen mit dem Dauerschmerz leben – nach aktuellem Kenntnisstand gibt es keine heilende Therapie. Möglich ist jedoch eine Linderung der Beschwerden, denn viele Begleitsymptome können heute erfolgreich behandelt werden.

Zugegeben: Sie werden weiterhin schlechte Tage haben, mit quälendem Schmerz, anhaltender Müdigkeit, Konzentrationsproblemen und dem übermächtigen Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. Doch was wirklich zählt, sind die guten Tage. An denen können Sie sich um Angenehmes und Schönes kümmern; Sie können sich selbst und anderen zeigen, dass Sie trotz Fibromyalgie in erster Linie ein fröhlicher, nachdenklicher, geselliger, neugieriger und manchmal auch zorniger, eben ein ganz normaler Mensch sind.

Unterstützend wirkt dabei eine stabile und verständnisvolle Partnerschaft sowie das Zusammensein mit Menschen, denen man die Besonderheiten des Lebens mit Fibromyalgie nicht jedes Mal aufs Neue erklären muss: Wer sein Leid ständig schildern muss, verstärkt es nur unnötig. Deshalb wollen wir in der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung nicht andauernd die Krankheit besprechen, sondern viel lieber gemeinsam die dadurch auftretenden Probleme lösen. Die Unterstützung von Menschen mit Fibromyalgie durch die DFV ist nicht immer unmittelbar spürbar.

So stellt die Klassifikation der Fibromyalgie als „chronisches primäres Schmerzsyndrom“ der Patientenselbsthilfe zwei neue Aufgaben, die in den kommenden Jahren viel Aufmerksamkeit und Engagement verlangen: Einerseits muss diese Erkenntnis unter Ärzten bekannt gemacht werden, andererseits müssen wir als Betroffene dafür werben, dass sich zukünftig mehr Ärzte über die Weiterbildung „Spezielle Schmerztherapie“ zu Schmerztherapeuten qualifizieren – denn Menschen mit Fibromyalgie benötigen zukünftig Schmerzexperten.

Als größte Organisation der Patientenselbsthilfe, die sich ausschließlich für Menschen mit Fibromyalgie engagiert, haben wir dabei die wichtige Aufgabe, in den Jahren bis zur verbindlichen Gültigkeit des ICD-11 in Deutschland möglichst viele Mediziner für diese Zusatzqualifikation zu gewinnen. Dabei findet unsere Stimme umso deutlicher Gehör, je mehr Menschen sich bei uns als Mitglieder einbringen: Herzlich willkommen in der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung!

Mit optimistischen Grüßen

Ihre

Eva-Maria Westermann

Erste Vorsitzende der DFV

FIBROMYALGIE – WAS WIR HEUTE WISSEN

Zwölf verschiedene Ärzte und rund elf Jahre dauernde Schmerzen haben Menschen mit Fibromyalgie im Schnitt hinter sich, bis ein Arzt die richtige Diagnose stellt. Die Ursachen dieser unheilbaren Krankheit sind bis heute nicht bekannt. Die Fibromyalgie gehört leider zu den Krankheiten, über die wir im Vergleich zu anderen wenig wissen. Welche Fortschritte die Medizin macht und welche Erkenntnisse sie über den Zusammenhang von Stress und Schmerz gewonnen hat, erfahren Sie in diesem Kapitel. Auch wenn sich Fibromyalgie nicht heilen lässt, so gibt es doch viele Möglichkeiten, wie Sie einen guten Umgang mit der Erkrankung finden.

Was genau ist Fibromyalgie eigentlich?

Die Diagnose Fibromyalgie oder Fibromyalgie-Syndrom (FMS) bedeutet für viele Betroffene im ersten Moment Genugtuung oder gar Erleichterung. Die andauernden Schmerzen, die mit wechselnder Intensität an mehreren Körperstellen auftreten, die Angst vor schmerzhaften Berührungen, die Schlafprobleme bei Nacht und ständige Müdigkeit am Tag, angeschwollene Gliedmaßen und aufgedunsenes Gesicht, nervöser Magen oder Darm, begleitet von Heißhungerattacken, der ständigen Angst zu versagen und Phasen mit quälender depressiver Stimmung: Für diese Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Symptome konnten die Ärzte endlich einen gemeinsamen Nenner finden: Fibromyalgie oder Faser-Muskel-Schmerz.

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Der Begriff Fibromyalgie bezeichnet erst einmal nur, wo die Schmerzen auftreten.

Der Begriff setzt sich zusammen aus dem lateinischen Wort fibra für Faser und den griechischen Wörtern mys für Muskel und algos für Schmerz. Doch so, wie die Bezeichnung Bauchschmerzen noch nichts über deren Entstehung aussagt, beschreibt auch der Begriff Fibromyalgie lediglich, wo die Schmerzen auftreten: Nicht die Gelenke oder zentrale Bereiche der Skelettmuskulatur schmerzen, sondern vorrangig die gelenknahe Region am Übergang zwischen Muskel und Sehnen. Die genaue Beschreibung des Leitsymptoms ist notwendig, um die Erkrankung zu erkennen.

Weitere Beeinträchtigungen der Gesundheit, die Sie sicherlich kennen und die von Betroffenen und auch von einigen Ärzten nicht immer mit den Schmerzen in Verbindung gebracht werden, sind ebenfalls FMS-Symptome und damit wichtige Hinweise für die Diagnose. Erst seitdem verstanden wurde, dass auch diese Symptome zur Schmerzerkrankung gehören, gelingt eine zuverlässige Diagnose und reift in der Medizin das Verständnis für die psychologisch-physiologischen Zusammenhänge beim FMS.

Die Medizingeschichte der Fibromyalgie ist eine Abfolge von Erklärungsversuchen und Irrtümern, die heute noch nachwirken.

Eine erste systematische Beschreibung der Fibromyalgie im Jahr 1816 ging davon aus, dass es sich dabei um eine Entzündung des Bindegewebes handele. 1904 vermutete man dagegen eine Faserentzündung und sprach folgerichtig von „Fibrositis“. In den 1930er- und 1940er-Jahren ergänzte man die Entzündungstheorie durch den drucksensiblen Effekt aufgrund vermehrter Zellteilung im schmerzhaften Gewebe (Hyperlapsie) und sprach nun von einer „Fibromyositis“ (Muskelfaserentzündung) oder einem „myofaszialen Schmerzsyndrom“.

Aus dieser Zeit rührt auch die, wie wir heute wissen, falsche Zuordnung des FMS zu den generalisierten Entzündungserkrankungen, auf die der Titel „Weichteilrheuma“ zurückgeht. Zwar wurde bereits in den 1950er-Jahren erkannt, dass auch psychische Belastungen am FMS beteiligt sind, doch bis in die 70er-Jahre hinein hielten viele Experten an der Zuordnung zu den rheumatischen Erkrankungen fest.

Erst in den späten 1980er-Jahren erkannte man, dass Schlafprobleme und chronische Müdigkeit sowie eine depressive Grundstimmung zum Krankheitsbild gehören. Seither setzte sich immer mehr die heute allgemein anerkannte Charakterisierung des FMS als Störung der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung durch, man spricht heute von einem „chronischen primären Schmerzsyndrom“. Dabei meint „primär“, dass der Schmerz nicht als Symptom auf einen Gewebeschaden zurückzuführen ist oder als ein infolgedessen verstetigter Schmerz entstanden ist (Schmerzgedächtnis), sondern als eigenständige neurologische Erkrankung verstanden werden muss. Ein Schmerzauslöser am Ort des Schmerzempfindens, beispielsweise der Muskeln oder Sehnen, konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Erklärungen, die einen solchen Zusammenhang konstruieren oder sich darauf stützen, beruhen mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem Irrtum.

Die aktuelle medizinische Leitlinie

Inzwischen kann man die Erkrankung also beschreiben, den Betroffenen kann der Begriff Fibromyalgie als Ursache für ihr Leiden genannt werden. Doch das bedeutet noch nicht, dass man die Erkrankung tatsächlich verstanden hat. Die Vielzahl und Vielfalt der Symptome ergibt leider noch kein einheitliches Bild, um eine „Theorie der auslösenden Ursachen“ (die sogenannte Ätiologie) zu formulieren und den Krankheitsverlauf vorherzusagen. Das ist auch das Fazit der aktuellen medizinischen Leitlinie „Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgie-Syndroms“ vom Juni 2017. Darin wurde unter Leitung der Deutschen Schmerzgesellschaft und Mitwirkung von zwölf medizinischen und heilberuflichen Fachgesellschaften sowie von Patientenorganisationen wie der Deutschen Fibromyalgie Vereinigung (DFV) e. V. der aktuelle Wissensstand zum FMS zusammengetragen und diskutiert.

Die Bewertungen und Empfehlungen erstellte dieses Expertengremium nach intensiver Diskussion letztlich im Konsens. Weiterhin strittige Punkte werden ebenfalls ausdrücklich benannt. Für Patienten und Interessierte wurde eigens eine allgemeinverständliche Fassung der Leitlinie formuliert, die weitgehend auf medizinische Fachbegriffe verzichtet. So können Sie und auch mittelbar Betroffene wie Ihre Angehörigen und Ihre behandelnden Ärzte sich anhand spezieller Versionen der Leitlinie zum aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand über das FMS informieren.

Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafprobleme sowie geistige und körperliche Erschöpfung charakterisieren das FMS. Zudem belasten depressive Phasen das Leben vieler Menschen, die mit dieser Erkrankung leben müssen. Dabei betonen die Experten in der Leitlinie, dass die Klassifizierung als psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung definitiv falsch ist. Ebenfalls mit „starkem Konsens“ abgelehnt wurden aktuelle Tendenzen, bei der Diagnosestellung das FMS mit einer „anhaltenden somatoformen Schmerzstörung“ oder „chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren“ oder „somatischen Belastungsstörung“ gleichzusetzen. Der Kommentar zum Konsens verweist auf den derzeit in Deutschland noch aktuellen ICD-10 als Quelle für die irreführenden Alternativformulierungen. Der ICD-11 spricht dagegen eindeutig von einem „chronischen primären Schmerzsyndrom“. Das sind Schmerzen in mehreren Körperregionen, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität bewirken und zumindest ein halbes Jahr anhalten, für die aber keine körperliche Krankheitsursache gefunden wurde.

Das FMS ist eine Krankheit, die keine sichtbaren Spuren am Körper hinterlässt; dass Sie Fibromyalgie haben, sieht man Ihnen nicht an. Auch eine Betrachtung mit technischen Hilfsmitteln wie Röntgenapparat oder MRT (Magnetresonanztomografie) liefert keine eindeutigen Ergebnisse. Bislang sind keine Laborwerte bekannt, die eine klare Diagnose erlauben. Deshalb kann die Diagnose Fibromyalgie nur als Ausschlussdiagnose gestellt werden. Das heißt, alle anderen Erkrankungen, die vergleichbare Symptome hervorrufen, müssen sich als falsche Diagnose herausgestellt haben. Dieses Vorgehen erfordert viele Untersuchungen und Arztbesuche – wie Sie vielleicht selbst erlebt haben, ist das oftmals ein quälend langwieriges Verfahren. Zudem kann niemand seriös Auskunft darüber geben, wie sich die Beschwerden weiterentwickeln werden. Fibromyalgie ist eine sehr individuelle Erkrankung, mit einer Vielzahl und Vielfalt körperlicher und psychischer Symptome, doch dominant ist der Schmerz.

Auch wenn Fibromyalgie nicht geheilt werden kann, so gibt die Leitlinie Ärzten und Patienten doch eine Vielzahl von Behandlungsmöglichkeiten an die Hand. Grundsätzlich gilt: Die Entscheidung für eine Therapie sollten Arzt und Patient immer gemeinsam treffen.

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Im Mittelpunkt der Empfehlungen stehen die körperbezogenen Therapien wie Ausdauertraining (Walking, Schwimmen oder Fahrradfahren) sowie ein niedrig dosiertes Krafttraining oder Funktionstraining. Ebenfalls hilfreich können Angebote wie Tai Chi, Yoga oder Qi Gong sein.

Empfohlen werden Patientenschulungen, in denen wichtige Themen rund um die Erkrankung behandelt werden. Wer beispielsweise weiß, wie Schmerzen entstehen und wie man damit umgehen kann, hat den ersten großen Schritt hin zu mehr Lebensqualität getan. Patientenschulungen werden im Rahmen von Reha-Maßnahmen, aber auch in Selbsthilfeverbänden durchgeführt.

Über die Gesprächs- und Verhaltenstherapie hinaus können Entspannungsverfahren wie Autogenes Training oder Progressive Muskelentspannung eingesetzt werden.

Eine zeitlich begrenzte Behandlung mit Medikamenten kann ebenfalls sinnvoll sein. Eines wird jedoch offensichtlich: Die FMS-Therapie erfolgt überwiegend ohne Medikamente – weil die meisten bei Fibromyalgie nicht helfen. Ziel ist weniger die Heilung als eine Linderung der einzelnen Symptome.

Wesentliche Therapiesäulen sind, um es nochmal auf den Punkt zu bringen, Aufklärung, Verhaltenstherapie, sportliche Betätigung sowie das Erlernen von Entspannungstechniken. Es sollen vor allem individuelle Strategien entwickelt werden, die dabei helfen, mit der Erkrankung, insbesondere mit den Schmerzen, gut zu leben. Arzneien wie NSAR, Opioide und andere sollen zurückhaltend eingesetzt werden. Mehr zu diesen Therapieoptionen erfahren Sie in späteren Kapiteln.

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Aus Sicht der Mediziner ist das Krankheitsbild eine Collage spezifischer Symptome, wobei nicht jeder Betroffene alle Symptome zeigt und deren Bedeutung für den individuell empfundenen Leidensdruck variieren kann. So repräsentiert jeder Patient eine eigenständige Komposition von FMS-Symptomen. Aufgabe des Arztes ist es, auf dieser Grundlage eine Diagnose zu stellen. Unter den Anforderungen einer Ausschlussdiagnose ist dazu der Blick auf die Vielfalt möglicher Symptome notwendig, die gemeinsam ein Krankheitsbild ergeben. Deshalb sprechen Ärzte vom Fibromyalgie-Syndrom.

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Für die Betroffenen sind dagegen die persönlich erlebten Symptome ausschlaggebend, nicht die beim FMS möglichen. Insofern können Erkrankte genaue Aussagen über ihre Fibromyalgie machen – im Gespräch mit anderen Patienten sollten sie aber genau diesen Umstand berücksichtigen: Fibromyalgie ist eine individuelle Erkrankung, die sich bei anderen Menschen ganz anders darstellen kann als bei einem selbst. Allen Betroffenen gemeinsam ist aber die Belastung durch den Dauerschmerz.

Ein Blick in die Zukunft: Fibromyalgie im ICD-11

Der aktuell zur Diagnose und zur Abrechnung mit den Krankenkassen genutzte ICD-10 (International Classification of Diseases) listet Fibromyalgie mit dem Code M79.7 unter der Kategorie „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes, anderenorts nicht klassifiziert“. Damit wird der Fokus der Ärzte auf den Ort des Schmerzempfindens gelenkt. Experten sind Rheumatologen, Orthopäden sowie Allgemeinmediziner und Hausärzte, seltener auch Neurologen.

Am 1. Januar 2023 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO den ICD-11 als international gültigen Diagnoseschlüssel eingeführt. Darin wird unter der Codierung MG30 die Erkrankung Fibromyalgie als „chronisches primäres Schmerzsyndrom“ klassifiziert. Damit wird der Dauerschmerz als eigenständige Erkrankung (und nicht als Folge oder Symptom eines Körperdefekts) definiert und das FMS als neurologische Erkrankung verstanden. Für die Versorgung der Patienten sind zukünftig vorrangig Neurologen und Schmerztherapeuten, Experten für multimodale Schmerztherapie sowie Allgemeinmediziner und Hausärzte zuständig.

Bis der internationale Diagnoseschlüssel ICD-11 hierzulande eingeführt wird, vergehen sicherlich noch einige Jahre. Beim letzten Wechsel vom ICD-9 auf den ICD-10 lagen zwischen der Revisionskonferenz 1989 und der verbindlichen Gültigkeit in Deutschland 1998 immerhin fast neun Jahre. Womöglich erzwingt oder ermöglicht die Digitalisierung im Gesundheitswesen diesmal eine raschere Umstellung auf den neuen ICD; andererseits könnte auch die enge Verflechtung des Diagnoseschlüssels mit der Kostenerstattung für Arzneimittel (Rabattverträge) und der Vergütung von Leistungserbringern (Kliniken, Ärzte, Therapeuten), die Umstellung verzögern. Sicher ist aber: Früher oder später wird die Neuklassifikation der Fibromyalgie im ICD-11 das medizinische Verständnis der Fibromyalgie bestimmen. Das wird den Blick der Ärzte auf Menschen mit Fibromyalgie verändern. Das wird auch das Selbstbild von Menschen mit Fibromyalgie verändern.

Fibromyalgie beginnt unauffällig. Schlafstörungen, Motivationsschwierigkeiten, Konzentrationsschwankungen und wiederkehrende Magen-Darm-Probleme werden oftmals als Stress-Symptome gedeutet. Die Interpretation scheint auf den ersten Blick auch schlüssig zu sein, denn Menschen mit Fibromyalgie gelten als besonders stresssensibel. Erste Schmerzschübe treten als vorübergehende Episoden auf, bis sie sich zu chronischem Dauerschmerz verdichten. Diese zunehmend quälende Entwicklung kann sich über mehrere Jahre hinziehen. Die Mehrzahl der Fibromyalgie-Betroffenen empfindet dann den Schmerz als dominantes Symptom. Drängt sich der Schmerz nicht in den Vordergrund, sondern liegen eine Magen-Darm-Reizung, Schlafprobleme, Antriebslosigkeit oder Angst und depressive Stimmung im Fokus, wird die korrekte Diagnose „Fibromyalgie“ oftmals übersehen.

Fibromyalgie kann folgende Beschwerden umfassen:

anhaltende Schmerzen in mehreren Körperregionen, vorrangig, aber nicht ausschließlich an den sogenannten „Tender Points“

Schmerzorte und Schmerzintensität können sich von Tag zu Tag verändern

Schlafprobleme und stark schwankende Schlafqualität

Müdigkeit am Tag, Antriebslosigkeit, Motivationsprobleme und Konzentrationsschwierigkeiten; Erholungsphasen sind ungewöhnlich lang

Wassereinlagerungen (Ödeme) in den Händen, Füßen oder dem Gesicht erzeugen ein Spannungsgefühl

Morgensteifigkeit der Muskulatur und in den Gelenken

Reizmagen, Reizdarm und Reizblase erzeugen ein ständiges Unwohlsein und schränken die Bewegungsfreiheit stark ein

Trockenheit und Überempfindlichkeit der Schleimhäute erhöhen die Verletzungsgefahr und bewirken ein sehr lästiges Missempfinden

allgemeines unbestimmtes Angstgefühl und Neigung zu depressiver Verstimmung

Stress kann die Symptome verstärken

Schmerzen verstehen und besser mit ihnen umgehen

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Helfen kann ein rationaler Umgang mit Schmerzen.

Schmerzen können Menschen in die Verzweiflung treiben. Bei Schmerzen, deren Ursache man nicht erkennen kann, ist diese Gefahr besonders groß. Man kann den Schmerzauslöser nicht meiden oder sich schmerzlindernd verhalten. Helfen kann dagegen ein rationaler Umgang mit dem Phänomen „Schmerz“. Wenn Sie Funktion, Entstehung und Verarbeitung bis hin zu den psychologischen Folgen verstehen, verändert sich zwar Ihr Schmerzempfinden nicht, es ermöglicht Ihnen aber eine souveräne Beurteilung, mit der die Angst vor dem „Schmerz ohne Ursache“ kleiner wird.

Die Schutzfunktion von Schmerz

Es gibt eine Vielzahl sinnvoller Schmerz-Alarmzeichen, beispielsweise rumort und krampft bei Vergiftungen der Darm oder gezerrte Muskeln mahnen zur Schonung. Auch Entzündungen an Zähnen oder intensiver Alkoholgenuss machen sich durch Schmerz bemerkbar.

Schmerzen sind stets eine unangenehme oder quälende Empfindung, doch für die Gesundheit sind sie – wie anhand der Beispiele deutlich wurde – unverzichtbar. Sie informieren über Verletzungen und aktivieren einen abrupten Wegziehreflex oder motivieren nachhaltiges Schonverhalten. Schmerzort und Schmerzintensität bestimmen, wie das Gehirn die Schmerzursache wahrnimmt. Eine geeignete Reaktion verringert den Schmerz und schützt den Körper vor weiterem Schaden.

Akuter Schmerz ist unangenehm, aber biologisch notwendig. Menschen, denen aufgrund eines genetischen Defekts oder einer Stoffwechselerkrankung solche alltäglichen Schmerzerlebnisse fehlen, erfahren keine Warnsignale, wenn der Körper von außen verwundet oder aufgrund einer akuten inneren Reizung alarmiert wird, wenn eine Entzündung das Gewebe reizt oder ein Bewegungsschmerz die Überlastung der Muskulatur anzeigt. Gänzlich schmerzunempfindliche Menschen mit dem sehr seltenen CIPA-Syndrom und manche vermindert schmerzsensible Zuckerkranke mit diabetischem Fuß erleiden deshalb erhebliche Verletzungen, die sie nicht bemerken. Die Folge sind massive Körperschäden, die oft Amputationen notwendig machen.

Körperliche Reaktionen auf Schmerz

Die schnellste Reaktion auf Schmerz ist der Wegziehreflex (sogenannter Spinalreflex oder nozizeptiver Reflex). Er verläuft in drei Schritten:

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1. Spezielle Schmerzrezeptoren im Gewebe werden durch einen Reiz, beispielsweise eine mechanische Verletzung wie das Einklemmen eines Fingers oder eine Verbrennung aktiviert.

2. Diese leiten den Reiz über Nervenknoten direkt über die für Bewegung zuständigen Nervenfasern (Motoneuronen) des Beugemuskels an den entsprechenden Körperteil weiter.

3. Dort lösen sie ein Zusammenziehen des Muskels aus, also z. B. das Wegziehen der Hand.

Das Gehirn ist an dieser unwillkürlichen Reaktion auf einen Schmerzreiz gar nicht beteiligt. Deshalb kann der Reflex auch nicht unterdrückt werden, wenn der Schmerz überraschend auftritt.

Für eine kontrollierte Reaktion auf den Schmerz wird die Information an das Gehirn weitergeleitet. Nehmen wir einmal als Beispiel, dass Sie sich den Fuß an einem Stein anstoßen: Gemeinsam mit der optischen Information (Auge), der akustischen (Ohr), olfaktorischen (Nase) und haptischen (Haut, Berührung) wird die Schmerzinformation genutzt, um ein aktuelles Bild der Gesamtsituation zu erstellen. Dabei dienen Erfahrungen und Erinnerungen als Vorlage. Das Auge z. B. „sieht“ im eigentlichen Sinn keinen Stein, sondern lediglich eine grau abgegrenzte Struktur. Er wird erst im Gehirn zu einem Stein: Im Kontext einer Wiese mit bunten Blumen im Gras und dem besonderen Duft erkennt das Gehirn zuverlässig einen kleinen Felsen. Schmerzt der Fuß beim Anstoßen, unterstützt diese Information die Interpretation des Gehirns und kann die Schmerzursache identifizieren.

Jede Wahrnehmung ist eine Interpretation des Gehirns auf Grundlage der Sinneseindrücke. Schmerz ist eine dieser Informationsquellen. Die Reaktion auf eine bereits vertraute schmerzauslösende Situation ist daher besonnener als bei einem bislang unbekannten schmerzhaften Erlebnis. So haben Schmerzen beim Spazieren einen höheren Alarmeffekt als beim Fußballspielen: Wer sich um den Ball balgt, rechnet mit Blessuren. Die große Begeisterung und körperliche Anstrengung, aber auch der Wundschock bei akuten Verletzungen senken die Schmerzsensibilität. Das ist biologisch sinnvoll, denn im engagierten Spiel haben leichte Schmerzen keinen relevanten Informationswert, das gehört einfach dazu. Beim gemächlichen Gehen dagegen genügen sehr viel geringere Belastungen, um ein alarmierendes Schmerzniveau zu erreichen.

Aus Sicht des erkennenden Gehirns gehört der Körper bereits zur Außenwelt. Rumoren in Magen und Darm ist eine wichtige Information darüber, wie wenig sich beispielsweise das soeben Verzehrte als Nahrungsmittel eignet. Aussehen, Geruch und Geschmack werden als Warnsignal abgespeichert und dienen zum Schutz vor zukünftigen Schäden. Deswegen ist es ein wichtiges Signal, wenn man bestimmte Lebensmittel oder Nahrungsbestandteile „einfach nicht mag“: Die Unverträglichkeit wurde gelernt, ohne dass man sich dessen bewusst ist.

Emotionale Reaktionen auf Schmerz

Besonders effektiv ist diese Erinnerung an Schmerzsituationen, wenn starke Emotionen beteiligt waren, wie Angst oder Furcht. Angst ist ein diffuses Gefühl der Bedrohung. Furcht wird dagegen von einer ganz konkreten Ursache ausgelöst. Man ängstigt sich, fürchtet sich aber vor etwas. Dementsprechend wirken bestimmte Situationen angstauslösend. Auch bestimmte Geräusche können Angst hervorrufen. In Kino- oder Fernsehfilmen macht man sich diesen Effekt zunutze, um die Dramatik zu steigern. Dunkelheit in fremder Umgebung, Schatten, in denen sich Gefährliches verbergen könnte, ein Knacken oder Rascheln lässt die Anwesenheit von Unbekanntem vermuten, schrille Musik im Rhythmus eines hektischen Herzschlags verstärkt die allgemeine Anspannung. Im Gegensatz dazu ist Furcht rational begründbar und orientiert sich an der Wirklichkeit: Die Auslöser lassen sich konkret benennen. Beide Emotionen versetzen Körper und Geist in Alarmzustand.

Wie der Körper mit Stress umgeht

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Angst und Furcht sicherten uns das Überleben.

Der Psychologe, Neurowissenschaftler und Mitbegründer der biologischen Emotionsforschung Prof. Dr. Joseph LeDoux von der University of New York formuliert es anschaulich: „Sobald man sich in Gefahr befindet, reagiert man schon. Die Evolution denkt für dich.“

Nun kann die Evolution letztlich nicht wirklich denken. Richtig ist aber, dass schon die Vorgängerspezies des modernen Homo sapiens Angst und Furcht kannten. Zumeist überlebten die Individuen, die angemessen darauf reagierten. Ganz einfach: Wer nicht kompetent reagierte, starb früher. Wer alles Ungewohnte als Gefahr wahrnimmt, geht am Dauerstress zugrunde, und wer eine tatsächliche Gefahr ignoriert, lebt nicht lang genug, um sein Erbgut weiterzugeben. Wir sind Nachfahren der Erfolgreichen und repräsentieren deren evolutionär bewährte Strategien. Insofern können wir von Natur aus mit Angst und Furcht umgehen.

An der kompetenten Reaktion sind zwei zentrale Regulationssysteme beteiligt, das limbische System im Gehirn und das vegetative Nervensystem. Beide sind stammesgeschichtlich sehr alt und bei allen Säugetieren zu finden. Sie sind miteinander verknüpft und beeinflussen sich wechselseitig.

Dauerstress macht schmerzempfindlich

Das limbische System im Gehirn reguliert die emotionale Grundstimmung und das Triebverhalten, indem hier die Informationen der Sinnesorgane zusammengeführt und unter Rückgriff auf Erinnerungen interpretiert werden. Wird eine Situation als bedrohlich wahrgenommen, erfolgt die Reaktion unmittelbar: Angriff oder Flucht. Die Frage, ob es sich dabei um ein kluges oder angemessenes Verhalten handelt, wird erst anschließend, in einem zweiten Schritt, über die Großhirnrinde analysiert und das Verhalten gegebenenfalls angepasst. Dazu ein Beispiel: Man glaubt, auf der Wiese eine Schlange zu sehen, erschrickt und springt zurück. Die Amygdala im limbischen System hat ganze Arbeit geleistet, denn dieser Reflex entscheidet über Leben und Tod. Wenn sich dann bei näherem Hinsehen herausstellt, dass es sich nur um einen Gartenschlauch handelt, hat sich die Großhirnrinde eingeschaltet und festgestellt, dass es sich um einen Fehlalarm handelte – man kann sich wieder beruhigen.

Der Neurowissenschaftler LeDoux ist sich sicher, dass erst die Rückkopplung mit den rationalen Entscheidungszentren eine bewusste Angstempfindung möglich macht.

Das limbische System beeinflusst auch, wie wir Schmerzen wahrnehmen, da die Einstellung der emotionalen Grundstimmung über die situationsabhängige Abgabe körpereigener Glückshormone (Endorphine) erfolgt, die auch schmerzstillend wirken. Das heißt, wenn wir uns nicht geborgen fühlen und wenig Zärtlichkeit erfahren, schüttet unser Körper weniger Endorphine aus und die die Schmerzsensibilität steigt.

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Dauerstress, beispielsweise durch Probleme in der Partnerschaft oder im Beruf, verändert die emotionale Grundstimmung. Zudem hemmt das Stresshormon Cortisol genau die Strukturen des limbischen Systems, über die das Gedächtnis korrigierend auf das Verhalten wirkt: Die rationale Korrektur wird behindert. Unter Dauerstress ist man folglich immer weniger in der Lage, Emotionen zu kontrollieren, wodurch die Wahrscheinlichkeit für stressauslösende Situationen wächst und psychische und psychosomatische Störungen sich häufen. Dauerstress fördert also nachhaltig unreflektiertes Verhalten, das dann auch noch mit einer erhöhten Schmerzsensibilität einhergeht.

Andauernde Anspannung macht krank

Das vegetative Nervensystem arbeitet unwillkürlich, ohne Kontrolle des Bewusstseins. Sympathikus und Parasympathikus regeln als Gegenspieler (Antagonisten) die innere Anspannung, die Aktivitätsbereitschaft und Reaktionsfähigkeit des Körpers:

Erlaubt uns die aktuelle Lebenssituation Ruhe und Entspannung, ist das parasympathische System zuständig. Es ist bei der Nahrungsaufnahme und beim Verdauen oder beim Faulenzen und Nichtstun aktiv.

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Das sympathische System versetzt den Körper in Aktionsbereitschaft. Es ist aktiv bei intensiver Anstrengung, bei Gefahr, aber auch bei positiv anregender Stimulation.

Das vegetative Nervensystem reguliert Organe, die nicht bewusst gesteuert werden können, und passt deren Aktivität den aktuellen Erfordernissen an. Der natürliche Normalzustand ist entspannte Ruhe. Dann ist das parasympathische System aktiv, die Körperfunktionen fokussieren auf Faulenzen und Verdauen. Der geringe Energiebedarf erlaubt lange Phasen ohne die riskante Mühe, Nahrung zu sammeln oder zu jagen.

Ist Aktivität notwendig oder besonders attraktiv, droht Gefahr oder lockt Genuss, wird dagegen das sympathische System aktiv. Die Körperfunktionen wechseln von träger Genügsamkeit zu wacher Anspannung. Dabei kann der Auslöser bedrohlich oder besonders interessant sein. Das alarmierende Rascheln im Gebüsch kann auf jagdbare Beute oder einen lauernden Gegner hinweisen. In jedem Fall ist maximale Reaktionsbereitschaft notwendig. Der Körper stellt sich darauf ein und erhöht die Effektivität der Sinnesorgane und die innere Anspannung.

Hier finden Sie die Wirkungen des vegetativen Nervensystems noch einmal zusammengefasst:

ORGAN SYMPATHIKUS PARASYMPATHIKUS
Auge/Pupillen weiten verengen
Mund/Speichelfluss reduziert erhöht
Lunge/Bronchien geweitet verengt
Herz/Schlagfrequenz erhöht reduziert
Herz und Adern/Blutdruck steigt sinkt
Magen und Darm* inaktiv bei Bedarf aktiv
Gallenblase* inaktiv bei Bedarf aktiv
Nebenniere aktiv, Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin keine Reaktion
Haut/Schweißdrüsen aktiv inaktiv
Harnblase entspannt zieht sich zusammen (entleerungsbereit)

* Der Magen-Darm-Trakt wird über das enterische Nervensystem gesteuert.
Es arbeitet unabhängig vom Gehirn, wird aber durch Signale von Sympathikus und Parasympathikus beeinflusst.

Hält ein hohes Anspannungsniveau länger an, weil Auslöser ohne Unterlass einwirken, entsteht Stress:

Eustress, wenn es positive Reize sind wie engagiertes Spiel, Aussicht auf soziale Anerkennung, Flirten oder Erleben konkreter Glücksmomente

Disstress bei negativen Reizen oder bedrohlichen Auslösern wie sozialer Aggression oder Isolation, Überforderung oder akuter Gefahr

Eustress erhöht die Aufmerksamkeit und fördert die Leistungsfähigkeit, ohne zu schaden, auch wenn er häufig und nachhaltig auftritt. Auch Disstress wirkt zunächst aktivierend und motivierend. Erst wenn die Auslöser länger einwirken oder unmittelbar ein Gefühl der Überforderung, Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit hervorrufen, sinken Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit. Damit schwindet auch die Aussicht auf aktive Beseitigung und Bewältigung der Distress-Ursachen. Es entsteht eine enorme emotionale und mentale Belastung mit schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit.

Diese Disstress-Eskalation ist gemeint, wenn von Stress gesprochen wird. Typische Folgen für die Gesundheit sind Rückenund Gelenkschmerzen, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Magenund Darmreizung, Hautausschlag, Erschöpfung, Depression, Schlafstörungen und Aggressivität sowie eine wachsende Neigung zu gesundheitsgefährdendem Verhalten wie Rauchen und Alkoholkonsum.

Soziale Konflikte lösen Dauerstress aus

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Um die Evolution der körperlichen Reaktionen auf Stress, Angst und Furcht anschaulich darzustellen, wird oftmals das Bild vom lauernden Löwen im Gebüsch oder von der Schlange im hohen Gras unmittelbar vor den eigenen Füßen bemüht. Solche Szenarien sollen uns zeigen, dass der Stärkere und Schnellere bessere Überlebenschancen hatte und letztendlich die Fähigkeiten der heute lebenden Menschen prägte.

Doch die evolutionär besonders wirkmächtigen Selektionsfaktoren beruhen nicht auf Räuber-Beute-Beziehungen, sondern sind sozialer Natur. Unter Primaten und unter frühen Menschengemeinschaften ging das größte Risiko von den Artgenossen bzw. Mitmenschen aus: Je enger die soziale Beziehung uns aneinander bindet, desto größer ist auch die gegenseitige Verletzbarkeit. Dabei besteht besonders große Gefahr vonseiten stärkerer Gruppenmitglieder. Forschungen zeigten, dass bei der direkten Konkurrenz um Nahrung oder die Nähe zu attraktiven Sozialpartnern Streitereien eskalieren können.

Die Anwesenheit ranghoher, körperlich überlegener oder besonders aggressiver Individuen wirkt also als Stressauslöser. Das war nicht nur in der „Urhorde“ so, sondern dieses Muster wirkt bis heute fort: Der jähzornige Chef im Büro, der Drängler im Auto hinter uns, selbst abstrakte Dinge wie eine Terminarbeit, die unbedingt fertig werden muss – es gibt unzählige Beispiele. Und weil wir in einer Zivilisation leben, in der wir uns bestimmte Regeln gegeben haben, können wir nicht einfach zur offenen Auseinandersetzung schreiten, sondern leiden stattdessen lieber still, haben eine stressintensive Zeit und erkranken schließlich häufig an den typischen Symptomen: Herz-Kreislauf-Beschwerden, Nervosität, Schlafproblemen.

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Sozialkonflikte wirken indirekt. In früher Jugend sind die Querelen mit den Eltern eine alltägliche Stressquelle. Das ist kein modernes Phänomen, sondern lässt sich in allen Kulturen der Menschheit und sogar bei heranwachsenden Primaten beobachten. Indirekte Sozialkonflikte können in allen Lebensphasen auftreten. Eine Extremsituation ist der drohende Ausschluss aus der Gruppe: Ohne den Schutz der anderen erhöhte sich in archaischer Zeit das Risiko, Opfer von Raubtieren oder feindselig gesinnten anderen Menschen zu werden, erheblich. Und die Wahrscheinlichkeit sank, ausreichend Nahrung zu finden oder einen sicheren Ruheplatz nutzen zu können. Daher wirkte bereits die Androhung von sozialer Ausgrenzung oder eine Lockerung sozialer Bindungen alarmierend. Wenn etwa bei einer ungerechten, grundlosen oder eskalierenden Attacke die Unterstützung oder Aufmunterung durch andere ausbleibt, ist das schon eine Vorstufe der sozialen Isolation.

Diese Sensibilität hat sich beim modernen Menschen erhalten. Soziale Ausgrenzung ist, in Anlehnung an einen Begriff aus der Verhaltensforschung, heute als „Mobbing“ bekannt: Wird man geärgert, schikaniert, gemieden oder gar ausgegrenzt, hat das Folgen für die Psyche. Ebenso kann die intensive und aktive Nutzung von Online-Kommunikation über soziale Medien Menschen mit Fibromyalgie so sehr unter sozialen Stress setzen, dass sich der Schmerz und andere Symptome verstärken.

Der Aufbau und die Pflege von innigen persönlichen Bindungen, die Vertrautheit, Vertrauen und Sicherheit bewirken, benötigen Zeit für Gespräche und wechselseitige Unterstützung. Ein Vergleich der Gehirnkomplexität sozialer Säugetiere ergab, dass Menschen ein Netzwerk von 100 bis 250 Verwandten und Freunden managen können (die sogenannte Dunbar-Zahl). Dabei gilt es sorgsam abzuwägen, wem wie viel Zeit gewidmet wird. Nur selten bedenken wir mehr als zwanzig Sozialpartner regelmäßig mit nennenswerten Zeitbudgets, und hier tun wir gut daran zu überlegen, wem wir wirklich unsere Zeit schenken möchten: nämlich am besten den Zuverlässigen, denen wir vertrauen können. So reduzieren wir unser Stressrisiko.

Ein gutes Miteinander senkt das Stresslevel

So ist ein schlecht gelaunter Chef keine kurzzeitige Bedrohung, der man durch Flucht ausweichen kann: Man sieht ihn schließlich am nächsten Arbeitstag wieder. Gegen die übermächtige Wirkung hochrangiger Sozialpartner hilft jedoch ein solides, belastbares Netzwerk von Unterstützern. Nicht, um sich zu verteidigen, sondern um Solidarität und Aufmunterung zu erfahren. Diese „mentalen Streicheleinheiten“ entsprechen der Fellpflege der Primaten, auch Grooming genannt, und haben auch denselben physiologischen Effekt: Die Konzentration der Stresshormone sinkt, und das beruhigende Hormon Oxytocin (auch als „Kuschelhormon“ bekannt) wird ausgeschüttet. Damit wir auf diesen positiven Effekt nicht verzichten müssen, falls es einmal ernst werden sollte, sind enge und gute Sozialbeziehungen nötig.

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Oftmals entsteht Stress nicht durch äußere Einflüsse, sondern durch Druck, den man sich selber macht. Menschen mit lässiger Einstellung zur eigenen Arbeit empfinden selten Stress. Perfektionisten gelingt es dagegen kaum, eine Arbeit termingerecht fertigzustellen, die ihren Ansprüchen genügt. Selbstbewusste und selbstgerechte Menschen empfinden nur selten sozialen Stress, emotionale Menschen mit hohem Bedarf nach Anerkennung und Bestätigung sind leicht verletzlich und sozial gestresst.

Wie Stress und Schmerz zusammenhängen

Der Fibromyalgie-Dauerschmerz kann eine sehr hohe Intensität erreichen und damit die Fähigkeit und Bereitschaft zur Bewegung beeinträchtigen sowie die Lebensqualität massiv einschränken. Der Schmerz kann plötzlich einschießen oder langsam ansteigen, dabei durch den Körper wandern und anderntags fast verschwunden sein. Auf sehr schlechte Tage folgen auch immer wieder einmal bessere Tage, ohne dass man das beeinflussen könnte. Diese Unvorhersehbarkeit weckt das Gefühl, den Schmerzen ausgeliefert zu sein. Das erhöht den Stress und damit wieder das Schmerzrisiko.

Auch die Schmerzerfahrung beeinflusst die Wirkung von Schmerz als sogenannter Stressor, das heißt, als stressauslösender Faktor. Darf darauf vertraut werden, dass auf den „Schmerzensschrei“ unmittelbar Hilfe, Schmerzlinderung und soziale Tröstung folgt, so alarmiert der Schmerz das Gehirn, löst aber noch keinen Stress aus. Ist dagegen ein akuter Schmerz erfahrungsgemäß Auftakt zu weiteren Schmerzen, ist statt Trost nur soziale Zurücksetzung oder gar Demütigung zu erwarten, wirkt Schmerz zuverlässig stressauslösend.

Eine von Gewalterfahrungen geprägte Kindheit gilt als erhebliches Risiko für Schmerz-Stress-Eskalationen. Zumeist kommt ein Gefühl der Schutz- und Hilflosigkeit dazu, das die Erwartung weiterer oder noch schlimmerer Schmerzen zur Gewissheit verdichtet, auch „Katastrophisierung“ genannt. Der Schmerz hat dann seine biologische Qualität als Teil der sinnlichen Umweltinformation zur Konstruktion eines möglichst präzisen Bildes der Welt eingebüßt und nur noch wenig mit der Realität zu tun.

Dauerstress führt zu chronischen Schmerzen

Etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland (das sind rund acht Prozent der Bevölkerung) leben mit monate- oder jahrelang andauernden Schmerzen. Sie spüren Schmerzen, obwohl kein akuter Reiz die Schmerzinformation auslöst. Ursache ist oft ein zurückliegendes, lang anhaltendes Schmerzerlebnis. Solche Dauerreize erzeugen am Schmerzort lokale Entzündungen, die das umliegende Gewebe besonders schmerzsensibel machen. Ein neuer oder wiederholter Schmerzreiz an dieser Stelle löst ein übernormal starkes Schmerzempfinden aus.

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Gleichzeitig verändert sich auch die Verschaltung und Weiterleitung der Schmerzen im Rückenmark. Neben dem konkreten Schmerzort werden auch benachbarte Körperregionen in den Schmerzalarm mit erhöhter Schmerzsensibilität einbezogen. Damit erweitert sich der Schutz durch Schonung auf funktionell angebundene Körperregionen, die der Schmerzreiz nicht direkt traktiert: Sie werden ebenfalls ruhiggestellt und geschützt, dadurch steigt die Chance auf zügige Heilung.

Verstärkt wird der Effekt durch eine Veränderung der Botenstoffe in den Nervenzellen. Nun werden auch die Signale aus Zellen, die nicht Schmerzreize, sondern Berührungen registrieren, als Schmerzinformation zum Gehirn weitergeleitet. Die Folge: Zartes Streicheln wird als schmerzhaft empfunden. Auch hier ist die ursprüngliche biologische Funktion Schonung der vermeintlich verletzten Körperregion. Hält so eine großräumige Reizung mit erhöhter Schmerzsensibilität über einen langen Zeitraum an, steigt auch die Wahrscheinlichkeit für eine wiederholte Aktivierung. Je größer die besonders sensible Körperregion ist und umso länger die empfindliche Phase anhält, desto größer ist das Risiko.

Andauernder Schmerz und Stress verändern auch das Gehirn. Es bleibt andauernd in Alarmbereitschaft, die Sensibilität für Umweltinformationen aus den Sinnesorganen und für Schmerz bleibt dauerhaft hoch. Dass es sich dabei um eine allgemeine Stressreaktion handelt, verdeutlichen hoher Blutdruck, rascher Puls, tiefe Atmung und kräftige Muskelspannung.

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Ärzte sprechen von chronischem Schmerz, wenn die Beschwerden länger als drei Monaten anhalten und den Betroffenen psychisch oder körperlich beeinträchtigen. Im Gegensatz zu akuten Schmerzen sind chronische Schmerzen ein eigenständiges Krankheitsbild. Sie sind eine Schmerzerkrankung, bei der sich andauernder Schmerz, Anspannung und Stress gegenseitig verstärken.

SYMPTOME UND DIAGNOSE – SO INDIVIDUELL WIE DER MENSCH

Sie haben schon gelesen, dass eine Fibromyalgie sich bei jedem Menschen auf andere Weise ausprägt. So unterschiedlich das Krankheitsbild ausfallen kann, viele Symptome sind jedoch bei allen Betroffenen gleich. Welche das sind und wie sie sich äußern können, lesen Sie in diesem Kapitel.

Die Symptome – bei jedem etwas anders

Die aktuelle medizinische Leitlinie „Fibromyalgie-Syndrom: Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie“ bezeichnet das FMS als zentrale Schmerzsensibilisierung aufgrund der Veränderung zentraler und peripherer Schmerzverarbeitung. Einfacher ausgedrückt: Stress, insbesondere emotionaler Stress, bewirkt eine Störung der Hirnregion für die Organisation und Verfestigung des Gedächtnisses. Auch die Aktivität des vegetativen Nervensystems entspricht bei FMS-Patienten der nachhaltigen Stressbelastung. Das vegetative Nervensystem steuert rund um die Uhr alle lebenswichtigen Grundfunktionen des menschlichen Körpers, die willentlich nicht beeinflusst werden können. Es entwickelt sich dann über die Zeit ein Vorrang des sympathischen Nervensystems, Körper und Geist befinden sich im andauernden Alarmzustand. Körperliche und emotionale Stressoren und Verletzungen provozieren bei FMS Reaktionen des vegetativen Nervensystems, der Hormonsteuerung und der Gehirnaktivität, die eine Vielzahl und Vielfalt vegetativer, funktioneller und psychischer Symptome hervorrufen, die wir uns später noch genauer anschauen werden.

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Leitsymptom des Fibromyalgie-Syndroms ist der Dauerschmerz.

Leitsymptom des Fibromyalgie-Syndroms ist der Dauerschmerz, doch die Betroffenen leiden unter einer Vielzahl von Gesundheitsbeschwerden. Diese sind meistens mit einer so gravierenden Einschränkung der Lebensqualität verbunden, dass die oftmals verwendete Bezeichnung „Begleitsymptome“ eher beschönigend anmutet. Zudem sind diese Symptome wesentlich für die Diagnose des FMS. Zum Syndrom wird das FMS durch die Vielzahl und Vielfalt dieser Symptome, die sich zeigen – nicht alle Symptome bei allen, aber bei jedem Menschen zumindest einige.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842688513
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (September)
Schlagworte
Faser-Muskel-Schmerz Schmerzdruckpunkte Tender Points Dauerschmerz Multimodale-Schmerztherapie Patienten-Ratgeber Selbsthilfe Stressabbau Gesundheits-Ratgeber

Autoren

  • Holger Westermann (Autor:in)

  • Deutsche Fibromyalgie Vereinigung e.V (Herausgeber:in)

Die Deutsche Fibromyalgie Vereinigung (DFV) e.V. ist Deutschlands größte Patienten-Selbsthilfe-Organisation für Menschen mit FMS. Kooperierende Ärzte und Mitglieder informieren über das Krankheitsbild in den Medien. Dabei wendet sich die DFV gegen die Psychiatrisierung von FMS. Der Selbsthilfegedanke und eine optimistische Lebenseinstellung trotz Dauerschmerzen stehen an erster Stelle. Dipl.-Biologe und Anthropologe Holger Westermann ist Dozent an der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. Als Inhaber der Agentur memeconcept entwickelt er Kommunikationskonzepte für Selbsthilfegruppen und andere Patientenorganisationen. Er engagiert sich seit vielen Jahren für die DFV und kennt die Erkrankung aus vielfältiger Perspektive.
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Titel: Der Fibromyalgie-Ratgeber