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Burnout

Erkennen, verhindern, überwinden. Die eigenen Emotionen steuern lernen. Wie neueste Erkenntnisse helfen

von Prof. Dr. Wolfgang Seidel (Autor:in)
212 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Ratgeber hilft Ihnen mit neuen psychologischen Strategien, den Teufelskreis „Burnout“ zu durchbrechen. Der Autor erklärt, warum unsere Emotionen bei dieser Volkskrankheit außer Kontrolle geraten und wie Sie ein weiteres „Ausbrennen“ verhindern. Die praktischen Anregungen helfen Ihnen, Burnout vorzubeugen und zu besiegen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einführung: das Wichtigste in Kürze

Liebe Leserin, lieber Leser,

lassen Sie mich überlegen: Wenn Sie dieses Buch über Burnout in die Hand nehmen, gibt es vier Möglichkeiten. Die erste ist: Sie kennen einen Menschen, von dem Sie glauben, dass er gefährdet oder schon in den Prozess verwickelt ist, und wollen ihm irgendwie helfen. Die zweite Möglichkeit ist, dass Sie fürchten, selbst betroffen zu sein, weil gewisse Umstände darauf hinweisen könnten. Nun suchen Sie Informationen zu Ihrer Beruhigung oder zur Bestätigung. Sie wollen notfalls auch vorbeugend gegensteuern können. Als dritte Möglichkeit rechne ich mir aus, dass Sie sich ganz gesund und normal fühlen und auch keinen Betroffenen kennen, dass Sie aber Ihre Lebensweise immer gesund und risikoarm einrichten und nun auch unnötigen Gefahren für Geist und Gemüt aus dem Wege gehen wollen.

Gut! In allen drei Fällen ist dieses Buch für Sie geschrieben. Sie sollen ohne alle Fremdworte und ohne ausgefallenes Spezialwissen erfahren, worum es geht. Schrittweise werden Sie in alles Wesentliche über Burnout eingeführt. Sie werden dann einige sehr interessante psychologische Prinzipien kennenlernen. Und daraus werden sich praktikable Hilfsmöglichkeiten ergeben.

Und die vierte Möglichkeit? Es könnte sein, dass Sie bei diesem Thema kein Laie sind. Dann wissen Sie vieles, was in den Kapiteln 1, 3 und 4 dargestellt wird. Bei den weiteren emotionspsychologischen Erklärungen zum Burnout-Phänomen werden Sie jedoch Argumente angeführt finden, die in der gegenwärtigen Literatur nicht stehen. Ich empfehle Ihnen, zunächst im zweiten Kapitel meine Deutungen zur Ausgangspersönlichkeit kennenzulernen und dann die spezielleren Ausführungen ab Kapitel 5 durchzusehen.

Eine moderne Zivilisationserscheinung

Burnout ist eine Krankheit unserer Zeit. Gehetzte Menschen, die mit Problemen in ihrer Umwelt nicht zurechtkamen und daran verzweifelten, hat es zwar auch im Altertum gegeben. Dafür hat man Belege gefunden. In den letzten beiden Jahrhunderten wurde die Zahl der Gehetzten jedoch immer größer. Die Ärzte sprachen von „Neurasthenie“, also einer generellen Schwäche des Nervenkostüms oder der seelischen Kräfte, später auch von „Psychasthenie“, die häufig einherging mit Ermüdung, Ängstlichkeit, Kopf- und anderen Schmerzen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen bis zur Arbeitsunfähigkeit. Und sie wunderten sich, dass die Depression im 20. Jahrhundert besonders bei Frauen immer häufiger wurde. Die Neurasthenie galt schon vor 100 Jahren als typische Lehrererkrankung.

Sie hatte keinen sonderlich guten Ruf, sondern war eher ein Tabuthema. Kaum einer wird gerne von sich behauptet haben, dass er darunter leide.

Das ist ganz anders beim Burnout, der seit etwa 40 Jahren zunehmend häufig diagnostiziert und diskutiert wird. Beim Burnout wird den äußeren Umständen, also besonders den Arbeitsbedingungen ein wesentlicher Anteil am Entstehen zugesprochen. Das löst bei den Mitmenschen Mitleid und Hilfsangebote aus, man gewinnt sogar eine gewisse Achtung, weil man die schwierigen Umstände so lange aushalten musste. Gerade die Soziologie und speziell die Arbeitsmedizin haben bis heute wesentlich zur Sammlung von Befunden bei wahrscheinlich Betroffenen beigetragen und die vielen äußeren Einflussfaktoren analysiert. Sie bemühen sich natürlich zudem, die vermutlich schädlichen, Stress erzeugenden Umstände, sogenannte Stressoren, auszuschließen oder wenigstens abzumildern.

Was ist das: „Burnout“?

Was versteht man denn überhaupt unter „Burnout“? Die Fachleute sind sich noch nicht einig. Das liegt daran, dass sowohl die Gehirne der Beteiligten als auch die Umwelt, von der sie gestresst werden, ungeheuer komplex sind. Und es liegt daran, dass der sehr variable Burnout-Prozess schleichend, fast unmerklich beginnt und über lange Zeit fortschreitet, und zwar nach ganz individuellen Bedingungen, die ebenso stark variieren wie die Umwelt. Auch ist man sich noch unklar darüber, ob und inwieweit andere, ähnliche Prozesse wie etwa Mobbing oder Stressfolgen vom Burnout abzugrenzen sind.

Man sollte die entscheidenden Ursachen wohl vorrangig in der Umwelt suchen. Ich werde zeigen, dass in den vergangenen 40 Jahren, in denen das Phänomen aufgetreten ist und stark zugenommen hat, einerseits die Technik einen enormen zusätzlichen Druck auf viele Menschen ausübt. Ich werde aber auch betonen, dass genau in dieser Zeit der zunehmende Individualismus und der Anspruch auf Selbstverwirklichung bei vielen Menschen zu Isolation, Einsamkeit und psychischer Belastung führten.

Äußere Ursachen bedingen ohne Zweifel die auffällige Häufung derartiger Prozesse in unserer Zeit. Sie können auslösend oder verstärkend schuldig sein. Man hat eine riesige Zahl von ihnen eingehend analysiert, und man kann einige eindeutig als Verursacher ausmachen. Aber ihre Elimination hilft im fortgeschrittenen Zustand eines Burnout nicht mehr: Der seelische Prozess hat sich offensichtlich verselbstständigt.

Neben den äußeren Ursachen ist natürlich die Persönlichkeit des Betroffenen der zwar komplizierte, aber übersehbare Schauplatz, auf dem sich der Burnout-Prozess abspielt. Ich werde zeigen, dass die vielen Ursachen an wenigen wichtigen Psychomechanismen angreifen. Für das Verständnis des Prozesses und für Bemühungen um Vorbeugung oder Hilfe ist es besser, von diesen heute schon einigermaßen verstandenen Funktionen des Gehirns und nicht von den Ursachen auszugehen.

Anfangs handelt es sich um einen Zustand allgemeiner, besonders aber geistiger und gefühlsmäßiger Erschöpfung. Das Gehirn kann man nämlich ähnlich überfordern wie die Muskeln. Aber dann können auch Regelkreise des Verhaltens ähnlich überstrapaziert werden wie solche des Stoffwechsels. Selbstvertrauen, Zielstrebigkeit und Interesse an der Arbeit gehen verloren. Es kommt zu Unruhe und Anspannung; später tauchen auch soziale Schwierigkeiten auf. In einer Abwärtsspirale stellt man schrittweise den Verlust des Lebenswillens fest, schließlich Verzweiflung bis zur Depression.

Die äußeren Umstände

Der Burnout-Spezialist Mathias Burisch (siehe Lesetipps) notiert 130 Symptome. Das sind reichlich viele für ein einziges krankhaftes Geschehen. Wenn die Fachärzte eine Theorie bilden oder gar die Erkrankung bei einem Patienten erkennen wollen, dann ist so eine Fülle hinderlich und verwirrend. Bei näherem Betrachten ergibt sich ein Teil der Vielseitigkeit der krankhaften Reaktionen aus der großen Zahl von „Gegenspielern“, die alle als Stressoren, also als ursächliche Belastungsfaktoren einwirken können. Aber manche Forscher haben auch vermutet, dass mehrere ähnliche Verlaufsformen vorliegen könnten, die die Wissenschaft noch von einander trennen muss.

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Abb. 1: Burnout-Verlauf: Die Anfänge sind wieder umkehrbar, ständiger schwerer Psychostress (z. B. Mobbing) kann jedoch zu schweren seelischen Problemen führen. In der oberen Hälfte der Abbildung befinden sich Stressfolgen, die sich wieder zurückbilden. Ab einer gewissen Stärke (unterer schraffierter Bereich) stellt man schwere Persönlichkeitsveränderungen fest. Dann ist eine professionelle Therapie notwendig. Jedoch auch in leichteren Fällen ist Wachsamkeit und schnelle Hilfe angezeigt.

Äußere Umstände können einen Menschen „prägen“. So ändert sich das Verhalten im Verhältnis zu Freunden und Bekannten, gegenüber den Arbeitsbedingungen, gegenüber den Vorgesetzten oder den Kollegen, in Bezug auf die selbstgewählten oder die gestellten Aufgaben oder auch auf die Freizeitgestaltung. Der Charakter kann sich auffallend und beängstigend ändern, wenn die Einwirkungen sehr stark sind oder die Persönlichkeit besonders sensibel. Das könnte auch im Stress der Fall sein. Ein anderer Grund für die große Zahl der Symptome ist natürlich der lange Verlauf, in dem eine Persönlichkeit über viele Stufen hinweg völlig verändert wird. In den ersten Kapiteln des Buches werde ich auf diese Wirkbeziehungen näher eingehen.

Mit Burnout wird vermutlich viel bezeichnet, das diesen Namen nicht verdient, also z. B. nachvollziehbare Folgen von Überarbeitung oder Stress, die nach einer angemessenen Erholungszeit auch ohne besondere Therapie wieder zurückgehen. Andererseits sind sich die medizinischen Fachleute auch noch nicht einig, welche Arten der Wesensveränderungen tatsächlich einer einheitlichen Krankheit entsprechen. Vielleicht wird man eines Tages mehrere verschiedene Krankheitsverläufe auseinanderhalten können. Einige Fachleute sprechen daher von einem Burnout-Syndrom. Sie meinen damit eine ganze Gruppe ähnlicher Veränderungen.

So gibt es noch Schwierigkeiten, Burnout überhaupt als Krankheit anzuerkennen. Aber man wird zu Ergebnissen kommen müssen trotz der Schwierigkeiten, die sich z. B. durch den schleichenden Beginn, den langen Verlauf und auch die lange Dauer mancher Behandlung ergeben. Sicher ist nämlich heute schon, dass die Zahl der Betroffenen rasch zunimmt. Ich werde im vierten Kapitel den Verlauf des Prozesses noch einmal kritisch beleuchten: Meiner Ansicht nach sollte man wenigstens in denjenigen Stadien des Burnout von einer Krankheit sprechen, in denen ein Arzt hinzugezogen werden muss.

Sechs Phasen der fortschreitenden Verschlimmerung

In der psychologischen Forschung wurde der Burnout-Prozess wiederholt in verschiedene Phasen eingeteilt. Allerdings werden bei derartigen Einteilungen nur die beobachteten Symptome geordnet. Über interne Ursachen oder psychische Zusammenhänge sagen sie wenig aus. Daher gibt es noch Abweichungen, aber die Einteilung ist hilfreich, wenn man nachvollziehen will, wie Betroffene immer tiefer in einen förmlichen Strudel psychischer Problematik hineingetrieben werden. Den Weg durch diese Phasen werden Sie gleich im ersten Kapitel an drei Beispielen miterleben (siehe auch Abbildung 2 auf Seite 39 und Abbildung 3 auf Seite 47).

Warum drei Beispiele? Im Rückblick auf viele Verlaufsbeobachtungen stellt man fest, dass mancher Betroffene anfangs eher zu viel Energie, Ehrgeiz, Leistungswillen gezeigt hat.

Wer sich zu viel vornimmt, wird an seine Grenzen stoßen. Das Erkennen dieser Selbstüberforderung und die rechtzeitige Beschränkung gelingen oft nicht. Diese Phase einer anfänglichen Hyperaktivität, also eines überbordenden Tatendranges ist auffallend, aber nicht die Regel. Häufiger werden ganz normale Mitmenschen mit einem für sie überwältigenden Stress konfrontiert. Sie versuchen zunächst, mit den Belästigungen fertig zu werden oder sie zu verdrängen. Ohne es selbst zu merken, werden sie dann aggressiv, zynisch, später nervös und kraftlos, enttäuscht. Viele greifen zum Alkohol, dem allgemein bewährten Mittel, um (Versagens-)Ängste zu betäuben.

Auf die Phase der Enttäuschung folgt dann meistens eine Phase der Lustlosigkeit und der Antriebsschwäche mit Gleichgültigkeit und entsprechenden Misserfolgen. Es schließt sich daran eine Phase an, die durch Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist: Der Betroffene traut sich keine Leistung mehr zu und macht dadurch alles noch viel schlimmer. Körperliche Beschwerden aller Art können früh hinzutreten. Sie begleiten meistens eine weitere Phase mit echten Funktionsdefiziten, in der der Betroffene also seine Aufgaben nicht mehr so löst, wie man es von ihm bisher erwarten durfte. Er leidet unter Konzentrationsschwäche und Erschöpfung. Schließlich führt die Krankheit in die Endphase mit Verzweiflung, Hilflosigkeit und Depression.

Bereits diese Vorausschau auf das erste Kapitel lässt erahnen, dass man mit dem Begriff Burnout nicht spaßen sollte, sondern dass man beim Verdacht auf das Vorliegen eines solchen Prozesses unbedingt hellhörig und aktiv werden muss. Sicher kennen auch Sie einen Menschen, der einmal „einen Burnout hatte“.

Burnout als „Ausbrennen“

Wir wissen inzwischen, dass der als Burnout bezeichnete Prozess ohne Hilfe fast schicksalsmäßig verläuft, ähnlich wie eine chronische Erkrankung, also wie die Zuckerkrankheit oder ein Nierenleiden oder gar wie ein Tumor oder unerbittlich wie Alzheimer. Die psychische Verfassung der Betroffenen verschlechtert sich meist über Jahre hinweg, wenn kein gutes Mittel gefunden wird oder die Hilfe nicht fachgerecht ist. Irgendwann kann der Betroffene nicht mehr arbeiten. Er zieht sich zurück, verzweifelt, sieht keinen Ausweg.

Das englische Wort „Burnout“ bedeutet „Ausbrennen“. Der Vergleich des Prozesses mit einem Schwelbrand, der sich langsam fortschreitend ausbreitet und Schäden anrichtet, ist auf den ersten Blick recht anschaulich. Daher hat sich der Name wohl auch so schnell weltweit durchgesetzt. Das unterschwellige innere Brennen verursacht zunächst kaum Rauch oder Hitze, also keine typischen Symptome, und wird daher anfangs unterschätzt, verdrängt, fehlgedeutet und falsch angegangen. Das „Ausbrennen“ greift immer mehr um sich, zehrt die Kräfte aus. Aber der Endzustand, also „ausgebrannt“, ist mit der Bezeichnung nicht gemeint. Dann müsste man „Burnedout“ schreiben. Wenn der Prozess im Gefühl völliger Ausweglosigkeit endet, liegt eine Depression vor, eine sehr schwere Gemütskrankheit. Diese war früher gar nicht mit Burnout in Verbindung gebracht worden, heute jedoch kann man Burnout als eines der Anfangsstadien der Depression bezeichnen.

Dennoch ist es so, dass bei diesem Prozess im Gehirn nichts wirklich verbrennt, also nichts konkret zerstört wird (vielleicht mit Ausnahme der Schlussperiode). Mein Vergleich mit dem Morbus Alzheimer ist also in dieser Hinsicht falsch, weil dort das Fortschreiten durch schwere Zerstörungen an den Nervenzellen bedingt ist. Es handelt sich beim Burnout um Fehlinterpretationen des Gehirns, falsche Gewichtungen von Informationen und um Fehlschaltungen in einem hochkomplizierten Netzwerk der Informationsverarbeitung, die sich unter günstigen Umständen auch wieder rückgängig machen lassen.

Fehlerhafte Prozesse in einem Netzwerk

Vielleicht sollte man Burnout besser mit der Verwaltung eines großen Betriebes vergleichen. Dort können empfindliche Schwachstellen bestehen wie z. B. unfähige Mitarbeiter oder alte Software. Wenn dann saisonbedingt viel Arbeit kommt, haben die Angestellten viel zu tun. Sie machen in der Hektik aber vermehrt Fehler. Einige Produkte werden falsch ausgeliefert (dies entspricht etwa sarkastischen Reaktionen oder Wutausbrüchen im Anfangsstadium des Burnout). Die Führungsebene des Betriebes interpretiert die Reklamationen falsch. Sie reglementiert die vermeintlich unfähige Belegschaft mit schärferen Vorschriften, die in der Eile nicht gut durchdacht sind. Da die neuen Regeln aber schriftlich festgelegt sind (auch seine Fehleinschätzungen legt der vom Burnout Betroffene in seinem Gedächtnis ab und verwendet sie dann wieder), können sie über lange Zeit Sand ins Getriebe bringen. Es gibt Produktionsausfälle und viele ärgerliche Retouren, nun auch wegen säumigen Betriebsablaufs. Produktionsanweisungen werden falsch bezeichnet und führen zu Konstruktionsfehlern (beim Burnout verrennt sich der Betroffene etwa in falschen Anschuldigungen). Die Mitarbeiter streiken (der Betroffene zieht sich zurück) oder revoltieren. Der Betrieb macht Verluste (psychosomatische Krankheit), er erhält keine Aufträge mehr (Arbeitsunfähigkeit beim Burnout), und das Ende ist der Konkurs. Beim Burnout-Betroffenen bedeutet das, dass sein Charakter nun grundlegend verändert ist und er im Extremfall ein menschliches Wrack geworden ist.

Der Vergleich hinkt natürlich über weite Strecken. Aber wenn man das Problem des Burnout als tiefgreifende Organisationsstörung einer komplizierten Informationsverarbeitung auffasst, wird man bis zuletzt auf einen guten „Konkursverwalter“ hoffen können, der das katastrophale Durcheinander wieder ordnen kann. Besser wäre natürlich, wenn die Betriebsleitung schon nach dem ersten Versagen ihrer internen Krisensitzungen einen guten „externen“ Unternehmensberater hinzuziehen würde, der also von außen geholt wird und daher nicht voreingenommen ist. Er kann am besten frühzeitige und radikale Gegenmaßnahmen einleiten. Und noch besser wäre, wenn kluges Management oder auch kluge Gesetzgebung grundsätzlich verhindern, dass es zu derartigen Katastrophen kommt. Ich werde gegen Burnout entsprechende Vorschläge machen.

Darüber, wie das Gehirn sich und den Körper regelt, weiß man noch wenig. Aber was man weiß, werde ich später erläutern, weil es sehr wichtig für die Vorbeugung ist.

Das Zusammenspiel von Persönlichkeit und Umwelt

Zum Burnout gehören stets zwei Akteure: außer vielen Einflüssen einer stressigen Umwelt auch eine komplizierte Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen. Am Beginn des Prozesses ist meist nur eines von beiden problematisch, aber es kommt dadurch zu einer Unausgewogenheit, einem Konflikt.

Das Nervenkostüm einer Junglehrerin ist womöglich z. B. dem Stress in einer ganz normal lebendigen Schulklasse nicht gewachsen, obwohl sie sich sehr auf die Aufgabe als Erzieherin gefreut und sich gut auf ihren Unterricht vorbereitet hat. Sie wollte fachlich gut sein und mit moderner Pädagogik auf die Kinder eingehen. Das Problem lag in ihrer inneren, in ihrer psychischen Konstitution. (Wie man diese vorher testen kann, werden Sie in Kapitel 9 erfahren.) Ein anderes Beispiel: Eine erfahrene Krankenschwester muss nicht nur fürsorglich, sondern auch robust und nervenstark sein. Aber wenn der Chef seinerseits ausrastet, kein Verständnis für eine persönliche Bitte von ihr hat, ihr zusätzliche Aufgaben aufbürdet, ihr gleichzeitig aber die Anerkennung versagt, ihr stattdessen die Schuld für Misserfolge zuschiebt und ihr in seinem Zorn totale Unfähigkeit vorwirft, dann ärgert sie sich nicht nur, sie wird auch unsicher, zweifelt und schläft schlecht. Es erschüttert ihre psychische Stabilität, die unter normalem Klinikstress mit Unfällen, Überstunden und Nachtdienst bisher immer voll ausgereicht hat. Eventuell zweifelt sie an ihrer Befähigung zur Pflege und wechselt den Beruf. Ohne die Beeinträchtigung ihrer Selbstsicherheit, also ohne die zusätzlichen äußeren Faktoren hätte sie weiterhin Freude an ihrem Beruf gehabt und sich von ihrem Arbeitsumfeld nicht unterkriegen lassen.

Es gibt sehr viele Lehrer und Lehrerinnen, die mit dem Schulstress gut zurechtkommen, und auch viele Krankenschwestern, die trotz mangelhafter sozialer Kompetenz ihrer Vorgesetzten mit voller Kraft ihre Arbeit verrichten. Es sind immer nur einige, die an einer Herausforderung scheitern, aber es werden rasch mehr. Hochrechnungen sind zwar mit großer Vorsicht zu behandeln, aber man hat mehr als zehn Millionen Burnout-Betroffene allein in Deutschland geschätzt. Sie verteilen sich auf etwa 60 verschiedene Berufe, wobei Lehrkräfte und Krankenhauspersonal besonders häufig betroffen sind.

Grenzen für unsere geistige Anpassungsfähigkeit?

Dem Phänomen Burnout kann man sich auf sehr verschiedene Arten nähern:

Soziologen versuchen, Arbeitsbedingungen zu optimieren, Stress zu verringern, das Betriebsklima zu verbessern, geeignete Führungsstile vorzuschlagen. Die wichtigsten Ergebnisse werde ich konzentriert darstellen.

Psychologen berichten über ihre Erfahrungen. Sie haben das Verhalten der Betroffenen und ihrer Kontaktpersonen analysiert, haben es statistisch aufgearbeitet und als Coach zu beeinflussen versucht. Sie haben viele Theorien zu Entstehung wie Verschlimmerung des Burnout aufgestellt, von denen einige hier Erwähnung finden werden.

Ärzte werden wegen des psychologischen Versagens oder wegen vieldeutiger Krankheitssymptome zurate gezogen und bemühen sich aus ihrer Warte um Hilfe. Ihre medizinischen Erkenntnisse werde ich alle in den ersten vier Kapiteln berücksichtigen.

In der bisherigen Literatur wird die Burnout-Problematik ganz überwiegend aus der Sicht des Verstandes behandelt. Das entspricht der herrschenden Lehrmeinung der Psychologie im vergangenen Jahrhundert. Ich werde in den weiteren Kapiteln zwei zunehmend wichtige jüngere Zweige der Psychologie einbeziehen: die Evolutionspsychologie und die Emotionspsychologie.

Die Evolutionspsychologie geht von genetischen Zusammenhängen aus. Sie untersucht, welche Reaktionen, welche Verhaltensweisen dem Menschen angeboren sind – nämlich diejenigen, auf die sich der Mensch in schwierigen Situationen immer verlassen konnte, weil sie in den letzten 500000 Jahren eingeübt und in den Genen festgelegt wurden und auch heute noch automatisch funktionieren. Allerdings: Sie passten damals für kleine, meist friedliche Gruppen von Jägern und Sammlern.

Schon nach der Einführung von Ackerbau, Viehzucht und Eigentum vor 10000 Jahren konnten sie den Menschen nicht mehr sicher leiten, und auch in der „kurzen“ Zeit seither konnten die Gene nicht angepasst werden. In der Hektik unserer Zeit sind sie sozusagen veraltet und nützen eher selten, wenn es auf das Verhalten in unserer technisierten Welt ankommt. Der Mensch muss sich ständig aktiv an Umstände anpassen, die anders sind als diejenigen, für die er – auch heute noch – zunächst geboren wird.

Aus dieser Perspektive muss man die Neuzeit betrachten, wenn man über vererbte Eigenschaften redet und über deren Bedeutung im Rahmen der spektakulären Errungenschaften in unserer menschlichen Umwelt. Wir wissen ja selbst um deren Vielfalt und deren Hektik, um die vielseitigen Abhängigkeiten, Vorschriften, Sachzwänge. Ich will Ihren Blick aber auf die moderne Geisteskultur richten, auf Pluralismus und Individualismus, die den Menschen aus der Geborgenheit eines Familienclans früherer Jahrtausende in eine auf den zweiten Blick nicht gerade fürsorgliche und friedliche Zivilisation katapultierten.

Wegen der Bedingungen unserer Zeit muss jedes Individuum nach der Geburt einen rund 18 Jahre (!) langen Lernprozess durchlaufen, um die wechselseitigen Einflüsse der modernen Kultur und Technik kennenzulernen und eigene Anpassungsstrategien zu entwickeln und einzuüben. Nicht nur schreiben, lesen und rechnen muss der Mensch lernen. Alles, was die Technik bietet und bedeutet, alle Errungenschaften der Zivilisation in seinem Umfeld muss er kennen und bedienen lernen. Aber er muss auch wissen, wann er welche Kleidung anzieht und bei welcher Gelegenheit er sich am besten wie benimmt. Jeder braucht dafür Hilfe von den Eltern, den Lehrern, von Kollegen und Freunden. Das Gehirn des einen schafft die Anpassung an die vielen Erfordernisse besser, ein anderes schlechter. Ein jahrelanges Streben ist es für alle. Natürlich hat „der“ Mensch mit seinem Verstand diese Zivilisation selbst geschaffen. Warum sollte er darin mit eben diesem Verstand nicht zurechtkommen?

Machen Sie einmal folgendes Gedankenexperiment: Die Anpassungsleistung jedes einzelnen Menschen an die (von den Menschen selbst) so radikal veränderte Lebensweise insbesondere in einer Großstadt ist gewaltig. Nahezu jede Kleinigkeit muss man lernen: Wie bediene ich einen Fahrkartenautomaten, wie überquere ich eine befahrene Straße? Und wie viel taugen unsere angeborenen Gefühle angesichts der modernen Situation? Wann sollte ich meine Freude zeigen und wann meinen Zorn zurückhalten? Bei dem ständigen Zuwachs an Komplexität in unserer Umwelt ist es nicht verwunderlich, dass Forscher überlegen, ob jetzt nicht ein Zeitpunkt gekommen ist, in dem immer mehr Menschen diese Anpassung nicht mehr schaffen.

Ich werde einige interessante Aspekte dazu in Kapitel 3, das von den äußeren Ursachen des Burnout handelt, diskutieren.

Auch die emotionalen Systeme müssen dazulernen

Viel wichtiger und interessanter noch ist die Einbeziehung der Emotionspsychologie in unsere Betrachtungen. Nicht nur die Gefühle selbst, sondern manche unbewussten Mechanismen unseres Gehirns wie Stimmungen, Antriebe oder Temperamente, die man als emotionales System zusammenfassen kann, spielen eine meist gewaltig unterschätzte Rolle bei unserem Verhalten und ganz speziell beim Burnout. Das gilt insbesondere für diejenigen, deren Anpassungsmöglichkeiten an den Stress des modernen Lebens, an die Notwendigkeit ständiger individueller Entscheidungen, an das Einfügen in knappe Zeitpläne und anderes mehr an ihre persönlichen Grenzen getrieben werden.

Ich werde ab Kapitel 5 die Grundlagen des emotionalen Systems besprechen. Hier erfahren Sie, wie man den schädlichen Folgen von psychischem Stress vergleichsweise einfach, aber wirksam begegnen kann, wie man seine Stimmung wieder weitgehend in den Griff bekommt, wie man eine pessimistische Haltung in den nachweislich viel erfolgreicheren Optimismus wandelt, wie man mit der inneren Kündigung so umgeht, dass man selbst als Sieger zurückbleibt, oder wie man mit Hilfe guter Freunde und einiger Ausdauer sogar falsche Einstellungen und Vorurteile korrigiert. Der Prozess des Burnout verstärkt sich selbst im Sinne eines Teufelskreises, einer sogenannten positiven Rückkopplung. Während dieser Entwicklung ändert Burnout sein Gesicht, das heißt, es ändert sich das seelische Befinden des Betroffenen und sein Verhalten. Diese Veränderung werden Sie auf drei Ebenen kennenlernen: Erstens wird die direkte Reaktion auf die vielfältigen wechselnden Ursachen geschildert (Kapitel 2), zweitens wird der Verlauf mit seinen vielen Symptomen begleitet (Kapitel 1 und 4) und drittens werden Sie ab Kapitel 5 wichtige psychologische Phänomene in ihren vernetzten Funktionen erkennen lernen.

Stress und Selbstzweifel als Hauptprobleme

Wenn man die vielen Puzzleteile, die eine fast unübersehbare Forschung inzwischen zusammengetragen hat, mit etwas Abstand betrachtet, ergibt sich tatsächlich ein schlüssiges Bild, wie ich im Folgenden zeigen werde. Sie werden nachvollziehen können, dass widrige äußere Einflüsse auch sehr robuste Persönlichkeiten zum Straucheln bringen können, wenn die Umstände ungünstig sind. Es wird offensichtlich, dass übermäßige Selbstzweifel in einem überlasteten Gehirn einen Wendepunkt markieren, weil sie eine Weiche umstellen.

Und natürlich weiß jeder, dass es dann nichts nützt, wenn man zwar das gestörte Selbstwertgefühl stützt, aber die krankmachenden Stressursachen nicht radikal ausschließt. Inzwischen wissen wir, dass es keine „typische Burnout-Persönlichkeit“ gibt, keine psychische Konstellation, mit der man wahrscheinlich Burnout bekommt. Aber man kennt problematische Ausgangslagen. Es ist also einerseits unsere komplizierte Technik, die den Menschen stresst, und andererseits der zur Selbstverwirklichung ermunternde Individualismus, der das „soziale Wesen“ Mensch in mancher Hinsicht isoliert, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so scheint. Der Mensch hat beide mit seinem Verstand geschaffen. Jetzt muss er diesen Verstand nutzen, um gesund zu bleiben und um vom Fortschritt auch zu profitieren. Dazu werde ich Ihnen Möglichkeiten aufzeigen.

Dem in diesem Buch vorgegebenen roten Faden werden Sie allein mit den psychologischen Erfahrungen, die Sie in Ihrem bisherigen Leben gesammelt haben, folgen können. Einige sehr interessante psychologische Zusammenhänge werden Sie hinzulernen. Daraus können Sie einleuchtende Möglichkeiten zur Hilfe für die Betroffenen und für die eigene Vorsorge ableiten. Auch wenn Forschung und Literatur zum Burnout mittlerweile geradezu unübersehbar geworden sind, sind die wichtigsten Fakten und Zusammenhänge in diesem Buch verständlich und nachvollziehbar dargestellt. Wenn Sie dann noch weiter ins Thema einsteigen wollen oder sich tiefer mit dem emotionspsychologischen Hintergrund beschäftigen wollen, empfehle ich Ihnen die weiterführende Literatur in den Lesetipps im Anhang. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie durch dieses Buch angeregt werden, sich mit den vielfältigen Aspekten des Themas auseinanderzusetzen.

Ich habe grundsätzlich davon abgesehen, für jeden interessanten Gedanken, mit dem ich argumentiere und der nicht von mir stammt, einen oder mehrere Autoren zu zitieren. Das würde flüssiges Lesen erschweren. Mein Buch soll Verständnis schaffen für sehr praktische Bedürfnisse von Laien. Es könnte vielleicht Ideen auslösen für weiterführende Forschungen. Aber in der Form eines Ratgebers muss es keine Fundgrube für Literaturrecherchen sein, zumal von Mathias Burisch eine ausgezeichnete Zusammenstellung vorliegt.

1 Der Weg in den Burnout

Der Burnout-Prozess hängt immer vom Wechselspiel zweier Faktorenkonstellationen ab: Auf der einen Seite sind das die psychischen Reaktionen des Betroffenen, der sich zunehmend „unnormal“ verhält, auf der anderen ist das seine Umwelt, die er auf vielfältige Weise und immer stärker als feindlich erlebt.

Fallbeispiele: drei Schicksale

Sie haben bereits erfahren, dass das Burnout-Phänomen rund 130 Symptome umfasst. Da eine bloße Aufzählung mit all diesen Symptomen jedoch eher verwirrend als aufschlussreich wäre, schildere ich im Folgenden zunächst die Krankheitszeichen von drei unterschiedlich veranlagten Menschen als Beispiele für den Krankheitsverlauf (im übernächsten Kapitel erhalten Sie dann eine Zusammenstellung der wichtigsten Symptome in Gruppen).

Der Prozess des „Ausbrennens“ wird zweckmäßig in Phasen eingeteilt, auch wenn der Weg in die Aussichtslosigkeit bei jedem anders verläuft. Durch diese Gliederung ist es leichter nachzuvollziehen, warum das charakteristische Verhalten einerseits von der Konstitution des Betroffenen und andererseits von Art und Intensität der Probleme mit seiner Umwelt abhängt. Derartige Persönlichkeitsveränderungen können tiefgreifend und schrecklich sein.

Die Lehrerin Beate K. wirkt vielleicht etwas streng, mag keine Widerworte, weiß viel und teilt dies gerne mit. Sie meint es gut mit ihren Schülern und versucht auf sie einzugehen. Man spürt, wie viel ihr daran liegt, dass die Kinder die Materie verstehen und möglichst viel davon für das Leben mitnehmen. Und sie bringt Verständnis dafür auf, dass die Kinder auf einen spielerischen Umgang mit den Lehrinhalten am besten ansprechen. Wenig Verständnis hat sie dagegen für Unaufmerksamkeit, Unordnung oder ungezogenes Benehmen. Bei der Überwachung von Strafarbeiten ist sie unerbittlich.

Ganz reibungslos verläuft ihr Unterricht natürlich nicht. Sie hat einige Schwierigkeiten, die Disziplin aufrechtzuerhalten. So wird sie gelegentlich laut und energisch, was viele Schüler jedoch bald nicht mehr beeindruckt. Sie ertappt sich gewissermaßen dabei, wie sie ihre guten Vorsätze durchbricht und Kinder anschreit, die Unsinn treiben oder andere von der Mitarbeit abhalten. Beate K. bemüht sich, ihr aggressives Verhalten auszugleichen, indem sie Problemkinder nach dem Unterricht zu sich holt, mit ihnen zu sprechen versucht und ihnen ins Gewissen redet. Ihre Bemühungen scheinen jedoch selten zu fruchten; Beate K. meint Undankbarkeit zu spüren, obwohl sie sich doch so engagiert und sogar kostenlos Nachhilfe gibt.

Fragt man bei den Schülern nach ihrer Beliebtheit, hört man, dass sie „ganz in Ordnung“ sei. Beim Elternabend wirkt sie gut informiert, ruhig, aufgeschlossen – insgesamt könnte man „souverän“ sagen.

Jahrelange Überaktivität steht oft am Anfang

Wir verlassen Beate K., die in dieser Art nun schon jahrelang ihrem Beruf nachgeht, um Herrn Sven B. kennenzulernen. Er ist 30 Jahre alt, wirkt eher jünger und sehr dynamisch. Er hat sein Studium der Betriebswirtschaft mit sehr gutem Erfolg abgeschlossen. Aufgrund seiner hervorragenden Zeugnisse und mit persönlichen Empfehlungen bezüglich seiner charakterlichen Eignung hat er sofort eine führende Position in einem großen Betrieb seiner Heimatstadt erhalten.

Die Chance erfüllt ihn mit Freude und gewaltigem Eifer. Er will allen beweisen, dass er zu weit überdurchschnittlichen Leistungen in der Lage ist. Sven B. fühlt sich stark genug, die Firma voranzubringen – und er setzt das um: Morgens kommt er als Erster ins Büro, abends bleibt er länger als alle anderen. Er führt zahlreiche Neuerungen ein, begegnet allen Widerständen und lässt sich auch durch Misserfolge nicht bremsen.

Durch diese Erfolge in diversen Abteilungen erringt er zuletzt Schlüsselpositionen, und es ist wenig verwunderlich, dass er sich schließlich für wichtig und unentbehrlich hält: Er ist es. Sein Terminkalender ist übervoll, sein Smartphone fast immer aktiv. Er absolviert einen Kurs in „Multitasking“ und geht in jeder Minute in seiner Arbeit auf, auch zu Zeiten, in denen er nicht in der Firma ist, sondern beim Essen, auf Reisen, beim Sport und sogar während eines freien Wochenendes. Sein persönliches Umfeld kommt dabei zwar zu kurz, auch zu einem richtigen Urlaub ist keine Zeit, doch das hohe Einkommen und die Aussicht auf eine weitere Gehaltserhöhung spornen Sven B. an, so weiterzumachen.

Eigentlich genießt er diese Phase der Hyperaktivität. Er ist in seinem Element: Er verkehrt mit zahlreichen Geschäftsfreunden in ähnlichen Aufsteigerpositionen und unter ähnlichen Arbeitsbedingungen. Er ist stolz auf seine Belastungsfähigkeit. Der regelmäßige Gesundheitscheck zeigt nichts Besonderes. Gegenüber Freunden, die zur Mäßigung mahnten, verweist er auf die vielen Arbeitskollegen, die ein derartiges Arbeitspensum schon jahrelang ohne Schaden absolvieren.

Selbstzweifel

Natürlich gibt es im Betrieb zunehmenden Widerstand von Kollegen, denen er auf die Füße getreten ist, von Mitarbeitern, die seine Gewalttour nicht mitmachen konnten oder wollten oder infolge von einsamen, aber falschen Managemententscheidungen zunehmend in die Opposition gingen. Bisher hat Sven B. dergleichen immer durchgestanden, weggesteckt, verdrängt.

Aber jetzt verfolgen ihn die Probleme in der Nacht. Hatte er immer richtig entschieden? War er überhaupt in der Lage, alles noch zu überblicken? Er spürt im Unterbewusstsein, dass er nicht mehr nachhaltig entspannen kann, dass er getrieben und eigentlich erschöpft ist. Doch er will nicht wahrhaben, dass er nicht mehr Herr der Lage ist. Sven B. geht nicht mehr mit dem früheren Elan zur Arbeit, sondern fühlt sich schon morgens unausgeschlafen.

Das beeinträchtigt seine frühere Souveränität. Dass er auf einmal ganz anders ist als all die Jahre vorher, spüren seine Mitarbeiter deutlicher als er. Er reagiert immer häufiger aggressiv und explodiert sogar hin und wieder. Seine frühere idealistische Sicht auf berufliche Angelegenheiten und seine Umgänglichkeit werden durch einen harten Zynismus verdrängt. Eigentlich findet Sven B., dass seine unfähige Umgebung diesen harten Umgangston verdient hat: Er gibt ihr die Schuld an den verschlechterten Beziehungen und zieht sich schrittweise auch aus allen persönlichen Bindungen zurück. Schließlich wirkt er verbittert.

Dass andere von ihm enttäuscht sind, weiß er nicht, da er die „störenden“ Kritiker und Gegner längst aus seinem Einflussbereich entfernt hat. Vielleicht erkennt er selbst, dass eine Veränderung seines Verhaltens stattgefunden hat, vielleicht spürt er auch nur eine Minderung seiner Energie und Lebensfreude oder die Angst, dass er seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen war. Immer häufiger versucht er sie nun mit Alkohol zu verdrängen, immer häufiger kommt er später zur Arbeit oder geht unter einem Vorwand vorzeitig. Auf die anfängliche Phase der Lustlosigkeit folgte damit eine der beginnenden Selbstzweifel.

Bei Sven B. hatte eine Persönlichkeitsveränderung stattgefunden. Früher hatte er sich mit Freude und aus innerem Antrieb zu Höchstleistungen gesteigert. Nun steht er vor der Frage, ob er sich schlicht überfordert hat, ob seine Kraftreserven aufgezehrt sind oder ob äußerer Einfluss irgendeinen Schalter in seinem Gehirn umgelegt hat. Er ist ein anderer geworden, wie er sich schließlich eingestehen muss. Seine letzten Freunde bedauern ihn und überlegen, wie sie ihm helfen können; Übelmeinende vermuten, dass sein wahrer Charakter jetzt erst zutage trete.

Es trifft nicht nur die, die besonders aktiv sind

Im Vergleich zu Herrn B. hatte die Lehrerin Beate K. keine anfängliche Phase der Hyperaktivität durchgemacht (siehe Abbildung 2, Seite 39). Diese ist für eine Burnout-Karriere auch nicht zwingend, aber immerhin typisch. Es ist also nicht immer so, dass die Betroffenen sich erst einmal über Gebühr verausgaben müssen, ehe das Versagen beginnt. Bei Frau B. erfuhr der ganz normale Lebensweg allmählich und heimtückisch eine Wende. Aber schließlich geriet auch sie in eine Phase der Aggressivität und der psychisch bedingten Leistungsschwäche, ähnlich wie Sven B.

Vordergründig ist sie enttäuscht, dass ihre so gut gemeinten Bemühungen gerade um Problemschüler so häufig zum Misserfolg werden. Sie muss sich eingestehen, dass ihr Engagement nicht anerkannt und dass ihre Leistungen ihr nicht gedankt werden. Leise Zweifel kommen auf, ob es nicht an ihr selbst liegt: Vielleicht ist es ja sie, die Fehler macht und den Aufgaben nicht wirklich gewachsen ist? Wieder einmal hatte sich ein besorgter Vater und Elternvertreter darüber beschwert – ungerechtfertigt und in plumper Weise, wie sie meint, – dass sie gelegentlich im Unterricht laut werde und den „armen gestressten Kindern“ so viele Strafarbeiten aufgebe. Sie habe sie eben nicht genügend motiviert. Auch der Direktor hatte wegen zu viel Lärm in ihrer Klasse wieder gemahnt.

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Abb. 2: Persönlichkeitsverfall und Leistungsabnahme beim Burnout-Prozess: Der Verlauf ist fortschreitend, solange die auslösende Stresssituation aufrechterhalten wird. Die vielfältigen Symptome, von denen hier nur eine kleine Auswahl aufgeführt ist, werden häufig in Phasen zusammengefasst (zu den Symptomen siehe auch Abbildung 3, Seite 47).

Früher hatte Beate K. bei solchen Vorwürfen nur mit den Achseln gezuckt in der Überzeugung, dass ihr pädagogischer Weg der richtige sei. Jetzt rauben ihr die Vorwürfe den Schlaf. Am Ende eines anstrengenden Schuljahrs steht jeder neue Schultag wie eine kaum überwindbare Wand vor ihr. Sie mag die Kinder nicht mehr so wie früher, meidet Kinder eigentlich generell, weil ihr deren Lärm auf die Nerven geht. Sie steht nicht mehr über den kleinen Zwistigkeiten, sondern verwickelt sich darin. Sie stimmt in die allgemeinen Klagen mit ein, dass die Kinder heutzutage immer schlimmer würden. Für die Korrektur von Klassenarbeiten braucht sie immer länger. Sie kann sich einfach nicht mehr richtig konzentrieren.

Die Persönlichkeitsveränderung, die wir in dieser Schilderung bei zwei ganz unterschiedlich veranlagten Personen miterlebt haben, geschieht in aller Regel nicht plötzlich, sodass man eine bestimmte Begebenheit als Ursache ausmachen könnte und alle Mitmenschen aufmerksam würden oder gar Hilfe anböten. Es ist ein Prozess über Monate oder Jahre, daher für die Betroffenen und ihre Umgebung nicht gleich erkennbar.

Aus größerem Abstand betrachtet könnte man die veränderten Reaktionen noch mit den widrigen Umständen erklären. Grundsätzlich wäre jetzt wohl kaum zu entscheiden, ob hier ein Burnout beginnt oder ob Beate K. und Sven B. nicht nur stark belastet gewesen waren und sich nach einem ordentlichen Urlaub wieder fangen könnten.

Persönlichkeitsveränderung: anfangs schwer zu erkennen

Wer nun weiterliest, wird „nachträglich“ erkennen, dass man schon in dieser Phase dringend Ratschläge hätte geben sollen. Gegen die geschilderten Wesensveränderungen anzugehen ist schwierig, aber Sie werden in späteren Kapiteln erfahren, wie man das mit Erfolg machen kann. Wenn man allerdings einen Test oder ein Maß hätte, an dem man schon so früh den ungünstigen Verlauf ablesen könnte, könnte man mit viel größerem Nachdruck eine Therapie in Erwägung ziehen.

Doch zunächst zurück zu Beate K. Sie ist inzwischen fast unmerklich bereits in ein weiteres Stadium des Prozesses hineingeglitten: vom Stadium der psychischen Schwäche und der Selbstzweifel in eine Phase der Lustlosigkeit und des verminderten Engagements. Sie kann ihre Aufgaben durchaus noch korrekt ausführen, wenn es notwendig wird, aber es fehlt das Interesse und die frühere Freude. Sie versucht, ihre Gleichgültigkeit zu verbergen, aber bei genauer Betrachtung hat sie viele ihrer bisherigen Lebensziele aufgegeben, konkrete und prinzipielle. Sie zieht sich von ihren Bekannten zurück mit einer Ausnahme: An ihre Tochter klammert sie sich förmlich, als hätte sie Angst vor dem Verlust des letzten Haltes.

Sven B. erlebt dieses Stadium, das die Wissenschaft auch das der Stagnation nennt, auf seine Weise: Er lässt sich infolge der Minderung seiner ursprünglich so anspornenden Motivation gehen und macht nur noch Dienst nach Vorschrift. Er behauptet, dass er sich nicht ausnutzen lassen will, fühlt sich aber auch wieder irgendwie schuldig. Problemen versucht er aus dem Weg zu gehen, weil alles Kämpfen doch keinen Sinn hat. Seine frühere optimistische Einstellung ist in einen allgemeinen Pessimismus umgeschlagen: Er glaubt selbst nicht mehr an seine alte Effektivität, wird unsicher, will es aber nicht wahrhaben. Jegliche Hilfsangebote von anderen lehnt er ab. „Die paar Psychoreaktionen“ sind für einen Mann wie ihn kein Grund zur Aufregung, das vergeht sicher schnell wieder von selbst, redet er sich ein. Er will nicht begreifen, dass sich sein Charakter in bedenklichem Ausmaß verändert hat.

Auch Arbeitslosigkeit kann hochgradiger Stress sein

Es gibt nun auch Menschen, die nicht aus einer erfolgreichen Karriere heraus in den Burnout-Prozess hineingeraten, sondern umgekehrt aus einer tristen Situation. Ich möchte daher kurz ein drittes Beispiel anführen, nämlich den Versicherungsangestellten Peter S., der arbeitslos geworden ist. In den ersten Monaten schreibt er noch fleißig, aber erfolglos Bewerbungen, verliert daraufhin seine Familie und seine Freunde, schließlich zunehmend sein Selbstbewusstsein und findet schließlich, dass alles keinen Sinn habe.

Das klingt trotz der knappen Beschreibung logisch, die Hintergründe verdienen es aber, besser beleuchtet zu werden. Herr S. verlor durch die Kündigung nicht nur seine tägliche Arbeit. Sein ganzer Lebensentwurf zerbrach dadurch. Der Beruf war zwar nur eine Leitschiene gewesen, aber er gab seinem Alltag die Richtung und die wesentlichen Inhalte. Peter S. hatte gewusst, wo er hingehört, und für seine Zukunft schien gesorgt. Die Firma war auch ein Stück Heimat. Das existiert plötzlich alles nicht mehr. Der Boden scheint ihm unter den Füßen weggezogen. Wie soll es weitergehen?

Auf die erste Nachricht hin hatte er wütend überreagiert, dann reichlich Alkohol getrunken. Seine Frau verließ ihn deshalb mit den Kindern. Nun war er ganz allein, ohne sozialen Halt, ohne Ansprache. Er war verstört, verunsichert, haderte mit seinem Schicksal, aber er gab nicht auf. Arbeitsamt, Bewerbungen, Vorstellungsgespräche – zunächst war er beschäftigt. Aber jede Absage, jeder bedauernde Bescheid nagte an seinem Selbstwertgefühl. Eigentlich waren es keine negativen Beurteilungen. Aber er bekam zunehmend Zweifel an seiner Befähigung. Er wurde unsicher, immer mehr schmolz sein Selbstvertrauen.

Peter S. geriet in den Burnout, ohne vorher besonders erfolgreich gewesen zu sein. Denn: Langfristige Arbeitslosigkeit ist psychisch schwerer zu ertragen als ein stressiger Beruf. Dies soll deutlich machen, wie breit die Palette möglicher Ausgangssituationen ist bei einem Prozess, den man ursprünglich fast nur bei überforderten Leistungsträgern vermutet hatte.

Leistungseinbußen durch Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit

Sven B. beginnt nun nach neuerlichen Misserfolgen zu resignieren. Mit seinem Pessimismus und der nun aufkommenden Angst, nicht mehr Herr der Lage zu sein, ist die Tür aufgegangen zur „Phase der Hoffnungslosigkeit“. Sein früher so ausgeprägtes Selbstwertgefühl war im Grunde schon stark eingeschränkt. Das Gefühl, im Beruf und im Leben zu versagen, in letzter Konsequenz weitgehend machtlos geworden zu sein, mündet jetzt in Niedergeschlagenheit und tiefer Enttäuschung. Ein Gefühl der inneren Leere lässt ihn immer öfter längere Zeiten antriebs- und tatenlos verharren. Soweit er noch Kontakt zu seinen Freunden hat, versuchen diese ihn zu motivieren oder ihm eine gründliche Erholung vorzuschlagen. Die konkurrierenden Kollegen zucken mit den Schultern oder drücken ihn an die Wand.

Beate K. ist auf vergleichbare Weise in das tiefe Tal der Frustration und Hoffnungslosigkeit abgerutscht. Sie lebt zurückgezogen und verbittert. Abrupte Stimmungsschwankungen machen ihr zu schaffen. Ihre Launenhaftigkeit, das Nörgeln an allem führt zu Konflikten mit den Angehörigen, die es doch gut mit ihr meinen, sich nun aber zurückziehen. Durch Misstrauen und entsprechende Unfähigkeit zu Kompromissen vergrault sie die früheren Kollegen.

Die Aufzählung der psychologischen Fehlanpassungen oder auch Entgleisungen und des Persönlichkeitsverfalls könnte man bei beiden Personen verlängern. Sie betreffen überwiegend das persönliche Empfinden und Befinden. Parallel fallen weitere Veränderungen auf, die man gewöhnlich beim Burnout als gesondertes Stadium der Funktionsdefizite abgrenzt. Erinnern Sie sich an den Vergleich des Burnout mit einem Industriebetrieb (siehe Seite 20): Bis zu diesem Zeitpunkt war nur Sand im Getriebe der Firma, Ärger bei den Mitarbeitern, Ratlosigkeit bei der Führung. Aber jetzt kommt es zu Produktionsschäden, zu Verzögerungen bei der Auslieferung an die Kunden usw. Wie geht es weiter?

Es ist eine Periode der verminderten Leistungsfähigkeit durch kognitiven Abbau, also ein Rückgang der geistigen, verstandesmäßigen Reaktionsfähigkeit. Der Umgebung fällt die Unsicherheit besonders bei Entscheidungen auf, aber auch im Auftreten und in der Verfolgung von Zielen und bei der Ausführung von Pflichtaufgaben. Die offensichtliche Konzentrations- und Gedächtnisschwäche ist bei der Durchführung komplexer Aufgaben hinderlich, offensichtliche Ungenauigkeiten führen zu Fehlleistungen. Die verringerte geistige Flexibilität zeigt sich in der Ablehnung von Neuerungen und provoziert Probleme mit den Mitarbeitern. Desorganisation der Gedankengänge resultiert in Führungsfehlern und entsprechendem Organisationschaos. Nach unterschiedlich langen, aber immer häufigeren Perioden der Arbeitsunfähigkeit wird letztlich die Berufsunfähigkeit offensichtlich.

Derartige Störungen müssen im Berufsleben auffallen, auch wenn sie natürlich nie alle bei jedem und schon gar nicht abrupt und gleichzeitig auftreten. Bei der Schilderung des subjektiven Befindens war bereits zur Sprache gekommen, dass vom Burnout betroffene Personen häufig jede Hilfe bezüglich der Schwäche ihrer Leistung oder der Veränderung ihres Verhaltens ablehnen. Das ist für den Beobachter auch bis zu einem gewissen Grade nachvollziehbar: Man mag diese Schwächen nicht wahrhaben und nicht eingestehen. So rechtfertigen oft erst gravierende Vorkommnisse ein energisches Einschreiten. Dann ist schon kostbare Zeit vergangen, viel Porzellan zerschlagen und vielleicht der günstigste Zeitpunkt zum Helfen schon verstrichen. Aber es ist dafür nie zu spät.

Wenn nichts mehr geht, ist ein Arzt nötig

Heute wissen wir, wie gefährlich ein Burnout ist. Um rechtzeitig einzugreifen, müssen wir ihn noch besser kennenlernen, damit wir umso eher die Notbremse ziehen können. Die Abbildung 3 verdeutlicht, dass man Burnout mit vergleichsweise einfachem psychologischem Rüstzeug in den Griff bekommen kann, solange eine gewisse Grenze noch nicht überschritten ist, dass aber jenseits dieser Grenze die Hilfe eines Arztes oder Psychotherapeuten notwendig ist. Dieses Verständnis von gewissen Mechanismen, die ich in den weiteren Kapiteln noch genauer erläutern werde, ermöglicht sogar dem Betroffenen, selbst gegenzusteuern, sofern er einsichtig ist.

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Abb. 3: Persönlichkeitsverfall und Leistungsabnahme beim Burnout-Prozess (die wichtigsten Symptome): Bis zu einer gewissen Übergangszone handelt es sich um „übliche“ Stressfolgen, in erster Linie um Erschöpfung. Sie gehen meist nach einem langen Erholungsurlaub oder einer Kur wieder vollständig zurück. Unterhalb der Übergangszone jedoch finden wir Persönlichkeitsveränderungen, die der Betreuung eines Arztes oder Psychotherapeuten bedürfen.

Familienangehörige oder Kollegen haben oft schon lange Zeit den Verdacht, dass bei einem bestimmten Mitmenschen ein Burnout vorliegt. Aber der will es nicht wahrhaben. Da ist dann immer die Feststellung eines eindeutigen Funktionsdefizits eine hilfreiche Bestätigung dieses Verdachts. Konkretes intellektuelles Versagen bei einem zuvor immer leistungsfähigen Menschen kann als verständlicher Grund dienen, eine nachhaltige Hilfe zu empfehlen, ehe es zum Verlust des Arbeitsplatzes oder anderen nur noch schwer auszugleichenden Nachteilen kommt. Wichtigste Maßnahme dürfte dann immer das Hinzuziehen eines Arztes sein.

Begleitphänomene: psychosomatische Erkrankungen

Damit komme ich zu einem anderen Thema, nämlich zu organisch-gesundheitlichen Begleiterkrankungen. Es ist nicht verwunderlich, dass bei einem letztlich derartig brutal in die psychische Konstellation eines Menschen eingreifenden Prozess früher oder später auch körperliche Beschwerden empfunden werden, meist im Sinne von psychosomatischen Erkrankungen (Näheres dazu im Kapitel 4). Grundsätzlich werden dabei bisher kompensierte körperliche „Schwachstellen“ des Körpers durch Vermittlung von Nerven oder Hormonen derart gestört, dass in ihrem Organbereich eine echte Erkrankung ausgelöst wird. Diese bedeutet, so merkwürdig es klingt, einen großen Vorteil für Außenstehende, die über den psychischen Zustand des Betroffenen besorgt sind und daher helfen wollen.

Derartige psychosomatische Beschwerden können im Prozess des Burnout schon früh auftreten, und zwar an verschiedenen Organsystemen. Sehr häufig sind außer den schon genannten Symptomen solche im Herz-Kreislauf-System, also Herzschmerzen, Herzjagen (schneller Puls), Herzklopfen (oft wegen erhöhten Blutdrucks), Rhythmusstörungen, Kreislaufschwäche (siehe Tabelle 1, Seite 63). Das kann sich bis zum Herzinfarkt, also einer echten Gefahr, steigern. Häufig ist auch als erstes Organsystem der Magen-Darm-Trakt betroffen: Da stören dann Übelkeit und Erbrechen, Bauchschmerzen, auffällige Unverträglichkeiten, Durchfälle. Im schlimmsten Falle entwickelt sich ein Magengeschwür, das auch durchbrechen und damit lebensgefährlich werden kann.

Hilflosigkeit in der Schlussphase

Der psychische Leidensweg der drei Burnout-Betroffenen in unseren Fallbeispielen kann zu noch Schlimmerem führen , wenn er in dieser Phase nicht beendet wird. Man definiert noch eine Phase der Desillusionierung und Verzweiflung: Der jetzt offensichtlich psychisch Kranke zieht sich in sich selbst zurück. Falls er überhaupt noch arbeitet, gelingt das nur mit großer Anstrengung, auch nur mit Überwindung einer inneren Abneigung. Denn seine negative Lebenshaltung resultiert in der Entwicklung sogenannter „dysfunktionaler Einstellungen“. Er fühlt sich angegriffen, verfolgt, weist anderen ungerechtfertigt die Schuld an seinem Zustand zu. Er kann jetzt sehr niedergeschlagen, misstrauisch oder verzweifelt sein. Schließlich wird er depressiv.

Wer noch nie direkt mit Depression zu tun hatte, kann diesen Zustand völliger Hilflosigkeit und Apathie nicht wirklich ermessen. Der oder die Betroffene weiß meist noch recht genau, dass er dieses oder jenes nun dringend machen müsste. Man kann es ihm auch immer wieder sagen, kann ihm gut zureden. Aber er sitzt nur noch da, zusammengesunken, und hat nicht mehr die Kraft, sich zu irgendeiner Reaktion aufzuraffen. Es fehlt nicht nur die körperliche und die psychische Kraft, es ist für ihn auch alles einfach sinnlos.

Zum Glück wird in dieser schrecklichen Situation nur sehr selten Selbstmord verübt. Obwohl der Kranke zu keiner Aktivität mehr fähig ist, sieht er oft im Tod die einzige Lösung, da er so nicht weiterleben will. Wird eine Behandlung eingeleitet, muss der Arzt genau darauf achten, dass nicht nur die Kräfte des Patienten zurückkehren, sondern gleichzeitig auch seine Hoffnung auf Besserung.

Sie haben nun, gewissermaßen im Schnellverfahren, einen Überblick über die vielseitigen Veränderungen gewonnen, die ein Burnout-Prozess zur Folge haben kann. In der Schilderung von Einzelfällen dürften bereits viele der zahlreichen Symptome, die man dem Burnout zuschreibt, nachvollziehbar geworden sein, zumal auch schon manche begleitenden Psychomechanismen angedeutet wurden. Ich werde im nächsten Kapitel versuchen nachzuempfinden, was in den betroffenen Menschen vorgeht und wie man sich Schritte des Prozesses vorstellen kann. Derartige Erkenntnisse können dann nämlich die Grundlage für Vorschläge von Gegenmaßnahmen oder zur Vorbeugung sein.

2 Burnout verändert die Persönlichkeit

Das Burnout-Syndrom kann eine erschreckende Entwicklung nehmen und für den Betroffenen schwerwiegende Konsequenzen haben. Jedoch: Wirksame Hilfe ist möglich. Dazu müssen wir zunächst verstehen, was da überhaupt vor sich geht, was in der Psyche des Betroffenen falsch läuft und welche Mechanismen des Gehirns betroffen sind. Die Fallbeispiele haben gezeigt, dass letztlich die ganze Persönlichkeit verändert ist. Daher beginne ich mit einigen Erörterungen aus der Persönlichkeitspsychologie: Ich werde zeigen, dass der Burnout-Prozess den Kern der Persönlichkeit angreift, dass das Geschehen dort wichtige Funktionen stört und dass man genau dort auch mit der Hilfe beginnen muss.

Das Selbstbewusstsein lebt von Erinnerungen und Selbstwertgefühl

Ein Zentrum jeder Persönlichkeit ist das Selbstwertgefühl. Das hat selbstverständlich jeder Mensch, darum denkt man nicht extra darüber nach. Da das Selbstwertgefühl aber für das Verständnis des Burnout wichtig ist, müssen wir uns näher damit beschäftigen: Dieses innerste Gefühl ist eine Quelle des Selbstbewusstseins, mit dem man nach außen hin auftritt. Wenn Sie an unsere drei Beispielfälle zurückdenken, wird deutlich, dass bei allen drei Personen dieses Selbstwertgefühl zunehmend beschädigt und am Schluss praktisch verloren gegangen war. Das trifft sogar für den Arbeitslosen Peter S. zu, von dem man allerdings annehmen kann, dass sein Selbstwertgefühl von Anfang kein sehr starkes Selbstbewusstsein erzeugt hat. Das bedeutet aber nur, dass auch ein schwaches Selbstbewusstsein erschüttert werden kann, dass also ein zu starkes Selbstbewusstsein des Überaktiven keine zwingende Voraussetzung für die Erkrankung ist.

Die Psychologie lehrt uns, dass beides, das Selbstwertgefühl und das Selbstbewusstsein, wesentlich aus dem sogenannten autobiografischen Gedächtnis gespeist werden: Alles, was das Individuum getan oder erlebt hat, allem voran seine Erfolge, auf die es stolz ist, die seinen Wert in dieser Welt begründeten und auf denen es weiter aufgebaut hat, sind mehr oder weniger vollständig, zumindest aber als Erinnerungsanteile oder Einzelinfos dieser Funktion des Gedächtnisses zusammengeschaltet: Man kann sich an sie erinnern. Je weiter die Ereignisse zurückliegen, desto mehr sind sie natürlich verblasst. Aber auf irgendeine Weise prägend waren sie alle einmal. Sie formten die Lehren, die wir im Leben aus unseren Erlebnissen, aber auch aus abstrakten Erwägungen gezogen haben, und die dann zu Erfahrungen wurden. Das Gehirn hat sie alle „gelernt“, und zwar automatisch. Man weiß, „wer man ist“, dass man sich behaupten kann, und man kennt auch seine kleinen Schwächen und die Tricks, sie zu überspielen – kurz, wir haben ein bestimmtes Bild von uns.

Ich schweife hier kurz ab und beschreibe eine Grundlage der Lernpsychologie. Unser Gehirn lernt auf zweierlei Weise ganz automatisch: Einmal speichert es Einzeldaten, also z. B. Vokabeln einer Sprache, (Fach-)Begriffe, Ereignisse. Jeder weiß das aus seinem Alltag. Andererseits bildet das Gehirn von sich aus, also automatisch, aus mehreren Einzeldaten, die einander ähnlich sind, Mittelwerte. Das ist sogar eine bedeutende Spitzenfähigkeit des Gehirns: Gruppen von Daten zu einem Begriff zusammenzufassen und dafür ein Symbol zu schaffen, um schließlich mit solchen Symbolen zu arbeiten. Gemeint ist die Fähigkeit, z. B. aus vielen Bäumen einen Wald zu abstrahieren, um dann über Waldwirtschaft oder Waldsterben reden zu können. Wer „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ kann, hat große intellektuelle Nachteile.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869104362
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2012 (August)
Schlagworte
Bunrout-Therapie Burnout Burnout-Vorbeugen eigene Emotionen steuern Psychomechanismen Selbstcoaching Selbstcoaching-Ratgeber

Autor

  • Prof. Dr. Wolfgang Seidel (Autor:in)

Der Autor: Prof. Dr. med. Wolfgang Seidel beschäftigt sich mit der Emotions- und der Persönlichkeitspsychologie, hält Vorträge und ist Autor von psychologischen Ratgebern wie „Emotionale Kompetenz“ oder dem fachlichen Leitfaden „Emotionspsychologie im Krankenhaus".
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Titel: Burnout