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Handschriften deuten

Die Persönlichkeit im Spiegel der Schrift. Mit vielen Beispielen prominenter Persönlichkeiten.

von Dr. Helmut Ploog (Autor:in)
192 Seiten

Zusammenfassung

Extrovertiert oder introvertiert, ängstlich oder sorglos, bescheiden oder arrogant? In der Handschrift spiegelt sich der individuelle Charakter jedes Menschen. Anschaulich und leicht verständlich führt Helmut Ploog in die Handschriftendeutung ein. Mit vielen Schriftproben von Prominenten, zum Beispiel Willy Brandt, Wladimir Putin, Angela Merkel und Papst Benedikt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Graphologie oder Schriftpsychologie zieht aus der Handschrift Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Schreibers. Die Schrift wird dabei als Körpersprache auf feinmotorischer Ebene betrachtet. Da Körpersprache deutbar ist, gehört die Graphologie in den Bereich der Ausdruckspsychologie bzw. der diagnostischen Psychologie. Die Graphologie als Wissenschaft hat sich seit etwa 100 Jahren in Europa entwickelt und ist vor allem in Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Holland und der Schweiz sehr verbreitet. Ihre Lehre bleibt, wie jede grundsätzliche Erkenntnis, stets aktuell und anwendbar.

Selbst ein Laie kann zwischen unausgeschriebenen Kinderschriften, Erwachsenenhandschriften und Schriften alter, kranker oder süchtiger Menschen unterscheiden. Provozierte seelische Veränderungen durch Hypnose, Medikamenteneinnahme oder als Ergebnis einer Psychotherapie finden ebenfalls ihren Niederschlag in der Schrift.

Während die meisten Lehrbücher der Graphologie aus den 50er- und 60er-Jahren stammen, wurde dieses Buch in den Jahren 1997/98 neu verfasst und 2008 neu überarbeitet, sodass neue Erkenntnisse einflossen. Es bietet eine Einführung in die faszinierende Welt der Handschriften und ermöglicht die sofortige Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse. Der Leser wird allerdings dabei feststellen, dass die Beschreibung eines Menschen in einem „Gutachten“ äußerst schwierig ist und viel Übung verlangt. An dieser Stelle sei auch zur Vorsicht gemahnt, nicht leichtfertig einen anderen Menschen ab zuurteilen, vielmehr die Stellung eines Beobachters einzunehmen, der die seismografischen Ausschläge einer Schrift analysiert und in der Realität bestätigt findet.

Der Verfasser wünscht Ihnen bei der Durcharbeitung dieses Bandes viel Freude, Erfolg und vielleicht auch Lust zu einem weiteren Studium. Aber bitte bedenken Sie eines: Die Methode der Graphologie verlangt nicht nur die Aneignung von Wissen, sondern auch das Erlernen einer Fertigkeit, zu der es neben Begabung auch einiger Übung bedarf.

Dr. Helmut Ploog

1. Vorsitzender

des Berufsverbandes geprüfter

Graphologen/Psychologen e. V.

Möglichkeiten und Grenzen der Graphologie

Normalerweise erlaubt eine Handschriftenanalyse zuverlässige Aussagen über:

die Gesamtpersönlichkeit (Lebensziel/Leitbild, Niveau, Format, Struktur, Transparenz, Entwicklungsperspektive bzw. Entwicklungsrückstände)

die Intelligenz

die Willensanlagen (Vitalität, Temperament, Dynamik, Motivation, Leistungsvermögen)

die soziale Kompetenz (Extraversion/Introversion, Teamverhalten, Kollegialität, emotionelle Resonanz)

die Zuverlässigkeit (Korrektheit, Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit).

Nicht aus der Schrift erkennbar ist:

Körperliches (Körperkraft, Größe, Gewicht, Haar- und Augenfarbe, Krankheiten)

Faktisches (Alter, Geschlecht, Erlebnisse, finanzieller Status, Schicksal)

Inhaltliches (Beruf, besondere Kenntnisse und Fertigkeiten in bestimmten Bereichen, wie zum Beispiel Kunst, Wissenschaft und Politik sowie Genialität).

Liegt mangelnde Schreibübung bzw. Schreibbegabung vor oder ist sogar von Schreibhemmung zu sprechen, wird die schriftpsychologische Auswertung sehr erschwert. Gleiches gilt für so genannte Zucht- oder Fassadenschriften, die keinen individuellen Ausdruck zulassen.

Abgrenzung zu Testverfahren

„Der Ursprung von Tests liegt in Bedürfnissen von Behörden. Man kann ihn zeitlich genau fixieren. Die Graphologie dagegen stammt aus schon jahrhundertelang fließenden Quellen von Beobachtungen und Reflexionen, zu denen Handschriften aufgefordert haben. Die Graphologie hat sich gewissermaßen selbst erfunden. So konnte sie sich ohne Zweckgebundenheit und ohne Einengung auf ganz bestimmte Fragestellungen frei entfalten“, so der Graphologe Hans Knobloch.1

Die Graphologie ist kein „Test“ im Sinne eines standardisierten Verfahrens, sondern eine „Technik“ zur charakterologischen Auswertung und Deutung der Handschrift. (Das heißt aber nicht, dass sich die Graphologie als Methode nicht auch den in der Psychologie üblichen Kriterien der Reliabilität [Zuverlässigkeit] und Validität [Gültigkeit] gestellt hätte.2)

Vergleicht man die Brauchbarkeit verschiedener diagnostischer Methoden miteinander, so stehen viele Eignungs-, Psycho- u. ä. Tests wegen ihrer umständlichen Anwendungsweise, ihres Zeitaufwands und ihrer hohen Kosten hinter der graphologischen Diagnose zurück.

Schriftpsychologie und Testpsychologie ergänzen oder überschneiden sich in ihren Fragestellungen und Methoden. Sie wurzeln in unterschiedlichen Traditionen: die Testpsychologie mehr in der Naturwissenschaft, die Schriftpsychologie mehr in der Geisteswissenschaft.

Das graphologische Gutachten stellt eine Interpretation ganzheitlicher Lebensvorgänge dar, während der Test partielle Einzelmessungen vornimmt. Die Auswertung eines Tests kann oft relativ mechanisch vor sich gehen, während die graphologische Interpretation ein hohes Maß an ausdrucksanalytischer Begabung und Schulung sowie an persönlichkeitstheoretischen Kenntnissen verlangt. Aber auch ein Testpsychologe muss die Auswirkungen der von ihm ermittelten Begabungs- und Persönlichkeitsmerkmale im Hinblick auf konkrete Berufssituationen kombinatorisch abschätzen. Der diagnostische Blickwinkel der Graphologie ist breiter als der selbst einer umfangreichen Testbatterie. Damit begründet sich die Sonderstellung der Graphologie im Verhältnis zu anderen psychodiagnostischen Methoden. Das graphologische Persönlichkeitsbild eignet sich hervorragend als Integrationsrahmen für Befunde, die durch Tests, Interviews und andere Methoden gewonnen werden.

Bewerbungstests finden in einer Art Laborsituation statt, und bekanntlich setzen bei häufiger Teilnahme an Tests und Assessmentverfahren Anpassungs- und Lernprozesse ein, die Testergebnisse beeinflussen. Schriftdokumente hingegen sind das Ergebnis einmaliger Schreibleistungen, bei denen sich der Schreiber auf die Mitteilung und nicht auf die Schrift konzentriert. So hinterlässt der Mensch unbewusst mit seiner Schrift ein Bild seiner selbst! Die Graphologie hat es ähnlich wie die Psychoanalyse schwer, als Wissenschaft Anerkennung zu finden. Der Grund ist darin zu sehen, dass subjektive Einfühlung und Interpretation nicht mit der naturwissenschaftlichen Forderung als vereinbar gesehen werden, den Einfluss eines teilnehmenden Beobachters auszuschließen.

Obwohl in den Unternehmen ein Mangel an Persönlichkeiten beklagt wird, lassen sich diese auch nicht mit den üblichen Persönlichkeitstests und Assessment-Centern finden. Alle diese gängigen Verfahren ermitteln nur pflegeleichte Typen und keine innovativen Schrittmacher mit Ecken und Kanten.

Das Hauptproblem besteht zusammengefasst darin, dass eine nur naturwissenschaftlich orientierte Psychologie, die innerhalb der jeweiligen modellhaften Welt statistisch nachprüfbare Zuordnungen macht, hinsichtlich realer Lebensprobleme rasch an ihre Grenzen stößt. Mit Fragebogentests, die ein Persönlichkeitsprofil abbilden, wird oft nur ein ausschnittartiges Bild vermittelt, während psychodynamische Zusammenhänge ausgeklammert werden. Die verstehende Psychologie als geisteswissenschaftliche Disziplin bleibt in der inzwischen notwendig gewordenen Zusatzausbildung hinsichtlich Therapie- und Beratungspraxis nach wie vor von Bedeutung.

In einem schriftpsychologischen Bericht wird die Umsetzung auf die Sprach- und Interpretationsebene im jeweiligen Einzelfall geleistet. Rudolf Knüsel berichtet von seinen Erfahrungen: ,,So verfertigte ich längere Zeit für die Austrian Airlines graphologische Skizzen, die noch am selben Tag mit den übrigen Resultaten (Tests und Interviews) verglichen wurden. Bei der Swissair hingegen ließen wir die Gutachten auswärts verfassen und der Graphologe brachte sie erst zur abschließenden Teamsitzung nach dem über mehrere Monate sich erstreckenden Selektionsprozess mit. So war stets eine gegenseitige Qualitätskontrolle gewährleistet. Die Schriftpsychologie leistete einen Beitrag, der einhellige Anerkennung genoss. Nicht selten vermochte die graphologische Analyse auszuformulieren, was von den übrigen Teammitgliedern bloß als vager Persönlichkeitseindruck wahrgenommen worden war und manchmal klärten sich dank der schriftpsychologischen Beurteilung Widersprüche zwischen den verschiedenen Interviews auf. Die Kandidaten und Kandidatinnen, welche das Angebot nutzten, nach abgeschlossener Selektion ein umfassendes Feedback zu bekommen, waren in der Regel insbesondere von der schriftpsychologischen Analyse sehr beeindruckt und bestätigen explizit und implizit deren Richtigkeit.‘‘3

Abgrenzung der Graphologie zur gerichtlichen Schriftexpertise

Während die Graphologie die Auswertung von Schriftmerkmalen mit dem Ziel der Persönlichkeitsbeurteilung vornimmt, geht es beim gerichtlichen Schriftvergleich um die Untersuchung von Beschriftungen aller Art zur Tatbestands- und Wahrheitsermittlung. Mit anderen Worten, es geht um die Echtheit von Unterschriften auf Kaufverträgen, Schecks oder Quittungen, die Authentizität ganzer Testamente sowie um die Identität oder Nichtidentität eines Schrifturhebers mit einem Verdächtigen bei anonymen Zuschriften.

In Zivil- und Strafprozessen wird die Schriftvergleichung als Beweismittel herangezogen. In § 441 der ZPO heißt es: „Der Beweis der Echtheit oder Unechtheit einer Urkunde kann durch Schriftvergleichung geführt werden.“ Der Schriftsachverständige arbeitet heute nicht mehr ausschließlich unter Heranziehung von Einzelbuchstaben. Vielmehr ist das Gesamtgepräge einer Schrift wichtig: Gewandtheitsniveau, Eigengeprägtheit und Einheitlichkeit. Im deutschsprachigen Raum werden die Gutachten ziemlich einheitlich nach einem bestimmten Schema aufgebaut.

Entsprechend ihrer Gewichtung werden im Rahmen von Schriftvergleichen folgende Merkmale untersucht – damit wird indirekt auch die Herstellungsschwierigkeit von Schriftmerkmalen berücksichtigt:

1. Strichbeschaffenheit

2. Druckgebung

3. Bewegungsfluss

4. Bewegungsführung und Formgebung

5. Bewegungsrichtung

6. Vertikale Ausdehnung

7. Horizontale Ausdehnung

8. Vertikale Flächengliederung

9. Horizontale Flächengliederung

Der Schriftsachverständige hat es in der Regel mit relativ vordergründigen Verstellungen zu tun, weil kaum ein Schreiber imstande ist, die Möglichkeiten der Schriftverstellung voll auszuschöpfen.

Liegt ein Rechtsstreit vor, so wird vom zuständigen Gericht ein „öffentlich bestellter und vereidigter“ Schriftsachverständiger ernannt. Die Bestellung eines Sachverständigen kann durch eine zuständige Industrie- und Handelskammer oder eine Landesregierung erfolgen. Die IHKs führen Listen der Schriftsachverständigen, die in der „Gesellschaft für forensische Schriftuntersuchung e. V.“4 zusammengeschlossen sind. Auch Landeskriminalämter beschäftigen Schriftsachverständige.

Während die älteren Schriftsachverständigen in der Regel auch eine graphologische Ausbildung genossen haben, ist dies bei den jüngeren nicht mehr der Fall. Der Blickwinkel der Sachverständigen verengt sich dadurch, was diese selbst bedauern. Nach ihrer Ansicht helfe eine graphologische Ausbildung, Fehlgutachten zu vermeiden.

Geschichte der Graphologie

Die erste graphologische Bemerkung ist rund 2000 Jahre alt und stammt aus der Feder des römischen Geschichtsschreibers Sueton. Er sagt von der Handschrift des Augustus, dass sie außerordentlich eng zusammengedrängt gewesen sei, so sehr nämlich, dass nicht einmal zwischen den einzelnen Wörtern der übliche Abstand gewahrt blieb. Auch im Fernen Osten ist man seit jeher der Auffassung, dass sich im Duktus einer Schrift die Persönlichkeit eines Schreibers enthüllt. Und es ist bezeichnend, dass die Ostasiaten von Tuschespuren oder von Stempelabdrücken des Herzens sprechen.

Systematische Graphologie wurde erst möglich, als es individuelle Handschriften gab. So ist es auch nicht verwunderlich, dass erst mit dem langsamen Verschwinden der Zierschriften in der Renaissance das erste Buch über ein graphologisches Thema erschien, das von dem Bologneser Medizinprofessor Camillo Baldi stammte.

In der Folgezeit verfassten Liebhaber von Handschriften und Laiengraphologen von Goethe über Lavater bis zu Alexander von Humboldt Schriften zu dem Thema. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Frankreich von Abbé Jean-Hippolyte Michon (1806–1881) der Begriff „Graphologie“ geprägt, bestehend aus den griechischen Worten „graphein“ (schreiben) und „logos“ (Kunde, Wissenschaft). Sein Hauptwerk „Systeme de Graphologie“ wurde erst 1965 ins Deutsche übersetzt.5

Michon war Empiriker und versuchte, Schriftmerkmale von ihm bekannten Personen so zu gruppieren, dass diesen Gruppierungen bestimmte Persönlichkeitsmerkmale zugeordnet werden konnten. Viele der von Michon ermittelten Bedeutungsableitungen sind noch heute gültig. Seine Graphologie spiegelt im Übrigen das damalige Bild des Menschen wider, dessen Psyche als die Summe klar abgegrenzter Eigenschaften gesehen wurde.

In Frankreich wurde das System Michons durch Jules Crépieux-Jamin (1858–1940) weiterentwickelt, vor allem durch die Einführung von Harmonie oder Disharmonie in der Schrift als übergreifendes Merkmal6. Er war der eigentliche Begründer der französischen Graphologie, die noch heute von ihm geprägt ist.

In Deutschland waren es zur gleichen Zeit vor allem Psychiater und Physiologen, die sich mit Fragestellungen der Graphologie befassten. Wilhelm Preyer (1841–1897) interpretierte die Handschrift als das Ergebnis von Impulsen aus der Großhirnrinde. Georg Meyer (1869–1917) untersuchte die Handschriften manisch-depressiver Patienten und kam zur Bestätigung seiner Arbeitshypothese, dass die Merkmalsausprägungen einer Schrift psychischen Ursprungs sind. 1896 wurde in München die „Deutsche Graphologische Gesellschaft“ gegründet, die in kurzer Zeit 300 Mitglieder in der ganzen Welt zählte. Es wurden die verschiedensten Ansätze ausdruckskundlicher Forschungsansätze verfolgt, um diese für die Graphologie nutzbar zu machen. Ludwig Klages (1872 – 1956) war für den deutschen Sprachraum, was Crépieux-Jamin für Frankreich war, d. h., er gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Graphologie in Deutschland. Er hinterließ eine stattliche Zahl an Veröffentlichungen und einen weltanschaulich geprägten Anhängerkreis, der noch heute in der „Klages-Gesellschaft e. V.“ mit Sitz in Marbach am Neckar zusammengeschlossen ist.

Die Handschrift wurde von Klages als Ausdrucksspur betrachtet, als „das bleibend gegenständliche Ergebnis der persönlichen Schreibbewegung“. Bereits 1916 erschien sein grundlegendes Werk „Handschrift und Charakter“, dessen 29. Auflage zuletzt im Jahr 1989 herauskam. Die spezifische Bedeutung der einzelnen Schriftmerkmale ist bei Klages nicht mehr lexikalisch fixiert, sondern muss im Zuge einer dynamischen ausdrucks- und persönlichkeitspsychologischen Analyse des Schreibvorgangs und der Schriftgestaltung ermittelt werden.

Alle Schriftmerkmale und die ihnen entsprechenden Charaktereigenschaften sind doppeldeutig; ob ihnen im einzelnen Falle eine positive oder negative Bedeutung zu kommt, hängt von der jeweiligen Merkmalskonstellation und vor allem von der phänomenologisch erfassten Qualität der Schriftganzheit, d. h. dem Formniveau bzw. dem Rhythmus einer Schrift ab. Danach wird noch heute gearbeitet. Der Schweizer Max Pulver (1889–1952) legt bereits mit dem Titel seines Hauptwerks seine Denkrichtung dar: „Symbolik der Handschrift.“ Er hatte einen Lehrauftrag für Graphologie an der Universität Zürich und verstand es, tiefenpsychologische Erkenntnisse für die Deutung einer Handschrift fruchtbar zu machen. Von ihm wurden die Richtungen der Schreibbewegung Oben-Unten und Rechts-Links als das Koordinatensystem des Schriftraums in die Deutung einbezogen.

Auf der analytischen Psychologie C. G. Jungs baut das Haupt werk der Graphologin Ania Teillard (1889 – 1978) auf, das den Titel „Handschriftendeutung“ trägt und heute noch zu den zehn wichtigsten Fachbüchern der Graphologie gezählt werden kann.

Rudolf Pophal (1893–1966), der ursprünglich von der Medizin kam, befasste sich eingehend mit den physiologischen Grundlagen der Schreibbewegung und stellte eine Theorie der Versteifungsgrade auf, für die er entsprechende Deutungsprinzipien herausgab. Obwohl die Neurologie heute von anderen Voraussetzungen ausgeht, als das zu Pophals Lebzeiten der Fall war, wird in der deutschen Graphologie nach wie vor erfolgreich mit den von ihm aufgestellten Kategorien gearbeitet.

Robert Heiß (1903–1974) war Direktor des Instituts für Psychologie an der Universität Freiburg. Er unterscheidet in seiner Graphologie drei Gesichtspunkte der Schriftbeschreibung, nach denen auch dieses Buch gegliedert ist: Bewegung, Form und Raum. Mit anderen Worten, das Schriftmerkmal entsteht durch einen Schreibvorgang, der als Bewegung im Raum und in der Zeit zur Form wird. Heiß war es übrigens, der auf dem ersten Nachkriegskongress des Berufsverbandes Deutscher Psychologen im Jahr 1947 forderte, eine Person nicht mehr nur als ein Konglomerat von Eigenschaften und auch nicht nur als Struktur anzusehen, sondern als ein Werden, als einen Prozess, der nie als abgeschlossen angesehen werden kann. Betrachtet man die Handschriften eines Menschen aus verschiedenen Lebensaltern mit dieser Grundeinstellung, gewinnt eine Beurteilung automatisch an Weite und Dynamik.

Viele graphologische Forscher mussten Europa während des Nationalsozialismus verlassen: Thea Stein Lewinson, Klara G. Roman, Frank Viktor, Richard Pokorny gingen in die USA oder nach Palästina.

Eine bedeutende Graphologin war auch Roda Wieser (1894–1986), die wie Klages im Rhythmus einen Persönlichkeits-Wertmaßstab sah. Der Grundrhythmus einer Handschrift wird als kosmisch bedingter Sachverhalt interpretiert. „Zu dieser kosmischen Wirklichkeit gehört demnach auch des Menschen integriertes Ich, das wir in der Er scheinungsqualität des starken Grundrhythmus miterleben.“7

Schulvorlage und individuelle Gestaltung der Schrift

In der Graphologie werden Handschriften vor allem dann als schriftpsychologisch aussagefähig betrachtet, wenn der Schreiber ein gewisses Maß an Eigengestaltung erkennen lässt, d. h., von der Schreibvorlage der Schule abweicht. Dann erhält die Schrift neben dem Mitteilungscharakter auch einen Ausdruckscharakter.

Personen, die in Deutschland nach 1953 die Schule besucht haben, wurden auf der Basis einer der drei folgenden Vorlagen im Schreiben unterrichtet.

Lateinische Ausgangsschrift (seit 1953)

Schulausgangsschrift (seit 1968 – neue Bundesländer)

Vereinfachte Ausgangsschrift (seit 1973)

Die vereinfachte Ausgangsschrift wurde auch in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz eingeführt, konnte sich aber in Deutschland nicht in allen Bundesländern durchsetzen. Den Lehrern ist es zum Teil freigestellt, auch nach der alten Vorlage zu unterrichten, die unter anderem Buchstabenanstriche enthält. Der Graphologe hat aufgrund der neu eingeführten Schriftvorlage bei jüngeren Menschen mit folgenden Merkmalsveränderungen zu rechnen:

Winkel am Buchstabenbeginn von m und n,

ausfahrende Endstriche,

fehlende Anstriche,

t-Striche am unteren Buchstabenstamm,

größere Buchstabenabstände sowie

stärker vereinfachte Großbuchstaben und keine Verbundenheit mit nachfolgenden Kleinbuchstaben.

Von Interesse ist für den Schriftpsychologen, wie und in welchem Umfang ein Schreiber von der Schriftvorlage abweicht. Die universelle Anwendbarkeit der Graphologie zeigt sich auch darin, dass Schreiber unabhängig von Nationalität und Zeichensystem ähnliche Abweichungen von der Norm vornehmen: Kreise als i-Punkte, Linkslage der Schrift oder unklar abgegrenzte Zeilen und Buchstaben sind in keiner Schreibvorlage vorgesehen und doch finden sich derartige Abwandlungen bei Schreibern unterschiedlichster Herkunft.

Die Zahl der Beispiele ließe sich beliebig erhöhen, man denke nur an fadig zerlöste Buchstabenformen, übertriebene Formen in den Unterlängen, fallende oder steigende Zeilen usw. Diese individuellen Abweichungen von der jeweiligen Schulvorlage erfolgen unbewusst.

Der erste Schrifteindruck

Die Deutung von Handschriften beginnt mit der Gewinnung eines ersten Schrifteindrucks. Völlig unvoreingenommen wird die Schrift betrachtet, möglichst unter Ausschaltung jeglicher positiver oder negativer Empfindungen. Es wird empfohlen, eine Schrift mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ auf sich wirken zu lassen, wobei auch das Nachfahren der Schreibspur knapp über der Schreibfläche helfen soll, die Gebärden des Schreibers oder der Schreiberin aktiv nachzuerleben.

Die Eindrucksbeschreibung kann sich auf das gesamte Schriftbild beziehen, das spontan, echt, gekünstelt oder stilisiert sein kann. Es empfiehlt sich jedoch, die Eindruckscharaktere bereits bei der Sammlung zu gliedern, um damit auch die Dominanz bzw. die Vernachlässigung des einen oder anderen Bereichs sichtbar werden zu lassen. Vom ersten Eindruck her lassen sich vier Bildtypen unterscheiden, wobei die folgende Auflistung nur Anregungen geben soll. Der eigenen Einfühlungsgabe sind keine Grenzen gesetzt.

Bildtypen

Bewegungsbild: Lebhaft, flink, zögernd, fließend, ausfahrend, gewandt, stockend, strömend, rinnend, forsch, flott, kraftvoll, kraftlos, sprudelnd, gebremst, behände, glatt, sicher, schleichend, schwungvoll, lahm, wischend, reißend, unbekümmert usw.

Strichbild: Farbig, farblos, saftig, trocken, locker, fest, dicht, schwammig, rein, fleckig, granuliert, amorph, vibrierend, tot, elastisch, schlaff, verschmiert, zittrig usw.

Formbild: Bizarr, schlicht, feingliedrig, groß, rund, üppig, mager, aufgeblasen, gedrungen, gekünstelt, natürlich, originell, maniriert, gewachsen, gestaltet, geformt, persönlich, individuell, gekonnt, gepflegt, selbstständig usw.

Raumbild: Weitmaschig, engmaschig, gewebt, gegliedert, ebenmäßig, zerrissen, geordnet, verfilzt, dicht, licht, gespinstartig, durchlöchert, klar, übersichtlich usw.

Am Beispiel der Schrift von Franz Josef Strauß seien die in der Graphologie üblichen Eindruckscharaktere veranschaulicht. Für diese Schrift gilt:

Bewegung: Energisch, kraftvoll, eigenwillig, flink, unruhig;

Form: Gedrungen, gestaucht, fest, belastbar;

Raum: Geordnet, gegliedert, engmaschig, klar, übersichtlich.

Für die Beschreibung des Strichs muss eine Originalschriftprobe vorliegen. Bei der Beobachtung des Bewegungsablaufs in Abb. 6 drängt sich der Vergleich auf: Fahren mit angezogener Handbremse!

In der Graphologie kommen auch Persönlichkeitstypologien zum Einsatz, die als Vorstufen der Individualität betrachtet werden: z. B. die Einstellungs- und Funktions typen von C. G. Jung, die Temperamentstypen nach Hippokrates, die Einordnung in die Bedürfnishierarchie nach Maslow oder die Zuordnung zu den Lebensformen von Spranger. Im Rahmen dieser Einführung kann nur auf die zuletzt genannte Typologie eingegangen werden, mit der nach Werten als Strebenszielen gefragt wird.

Idealtypisch stellt Spranger8 sechs Lebensformen vor, die sich auch aus der Handschrift erkennen lassen:

Lebensform Kulturgebiet Wertrichtung
Theoretischer Mensch Wissenschaft Erkenntnis, Wahrheit
Ökonomischer Mensch Wirtschaft Nutzen
Ästhetischer Mensch Kunst Wille zur Form, Ausdruck
Sozialer Mensch Gemeinschafts-leben Liebe und Hilfe
Machtmensch Politik Macht und Führung
Religiöser Mensch Religion Sinnerfüllung des Daseins

Eindruckscharaktere

Selbstverständlich werden für die Zuordnung zu dem jeweiligen Typus auch relevante Einzelmerkmale berücksichtigt.

Form oder Bewegung

Bei der eindrucksmäßigen Erfassung einer Schrift haben wir uns bereits auf das Form- und Bewegungsbild konzentriert. Es ist nun möglich, dass in einer Schrift entweder die Formgebung oder der Bewegungsfluss dominiert. Die folgenden Abbildungen sollen das Gesagte verdeutlichen:

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Abb. 8: Bewegungsbetonung auf Kosten vernachlässigter Formen

In der Praxis sind die Übergänge vom einen zum anderen Extrem oft fließend. Entscheidend ist aber, dass es sich hier um übergreifende Sachverhalte handelt, die unabhängig von den Einzelmerkmalen in einer Schrift auftreten, diese aber beeinflussen. Deshalb sprechen die Graphologen Müller und Enskat9 auch von „übergreifenden Befunden“.

Das Ideal stellt eine rhythmisch wirkende Schrift dar, in der die Schriftform gut von der Bewegung getragen wird, ohne dass eine Formauflösung eintritt.

Formniveau

Auch der von Ludwig Klages10 in die Graphologie eingeführte Begriff des Formniveaus betrifft keine Einzelmerkmale, sondern einen ganzheitlichen Sachverhalt. Es geht dabei um den Eigenartsgrad und die Ursprünglichkeit einer Handschrift. Obwohl der Begriff des Formniveaus in der Fachwelt zum Teil abgelehnt wurde, lässt sich auch heute noch sehr gut damit arbeiten. Erfahrene Graphologen einigen sich in der Regel ohne Probleme auf das jeweilige Formniveau einer Schrift.

Das Formniveau bestimmt sich durch folgende Elemente: Rhythmus (= Bewegungs-, Form-, Raumrhythmus) + Originalität

Unter Raum- oder Verteilungsrhythmus ist das optische Gleichgewicht auf der beschriebenen Seite gemeint. Der Be wegungsrhythmus beinhaltet die Gestörtheit oder Ungestörtheit des Bewegungsflusses, d. h., ausfahrende Bewegungen in zerrissenen Schriften mindern das Formniveau. Der Formrhythmus bezieht sich auf die Ausgewogenheit spontan erzeugter Buchstabenformen.

Jedes Übermaß – wie Verschnörkelungen und Bereicherungen – mindert das Formniveau!

Man kann also sagen, je ausgeprägter der Eigenartsgrad einer Handschrift ist, je mehr die Einzelbuchstaben eine persönliche Note verraten, indem die Formen natürlich, ursprünglich und gewachsen sind, desto positiver und höher ist die Gestaltungshöhe und damit das Formniveau anzusetzen. Das „Gewicht einer Seele“ (le poids de l’âme) drückt sich im Formniveau aus, um einen Ausdruck des französischen Pantomimen Marcel Marceau zu verwenden. Hohes Formniveau wird erkannt an der Stärke des Rhythmus und dem Eigenartsgrad, niederes an der Schwäche des Rhythmus und der Eigenartslosigkeit.

Schriften mit hohem Formniveau wirken lebendig, eigenartig und ursprünglich, Schriften mit niedrigem Formniveau wirken unlebendig, schablonenhaft und banal. Es lassen sich fünf Stufen des Formniveaus bilden, d. h., man kann eine Bewertung ähnlich dem Schulnotensystem von 1 (hohes Formniveau) bis 5 (niedriges Formniveau) vornehmen.

Weitere Beispiele für die Formniveaueinstufung von Schriften in diesem Buch: FN 1 = Abb. 63, 80; FN 2 = Abb. 78, 79, 87; FN 3 = Abb. 52, 55; FN 4 = Abb. 83, 87. Über den periodischen Rhythmus einer Handschrift (im Gegensatz zum Takt eines Metronoms) wurden bereits un zählige Bücher geschrieben. Die Autorin Roda Wieser sieht darin sogar einen kosmisch bedingten Sachverhalt. Sie versteht und deutet den Menschen in seiner Eigenschaft als kosmisches Wesen. „Durch die Erscheinungsqualität des polaren Rhythmus sehen, erleben und deuten wir den Men schen menschengerecht und kosmisch wirklichkeitsgemäß.“11 Inwieweit sich die kosmische Potenz des menschlichen Bewusstseins verwirklicht hat, glauben die Graphologen der Durchgeistigung des Rhythmus einer Schrift entnehmen zu können (Abb. 80).

Das Schreiben geschieht in unserem Schriftsystem von links nach rechts, man könnte auch sagen vom Ich zum Du. Die Kleinbuchstaben bilden dabei das Mittelband einer Schrift. Schriftzüge, die über das Mittelband nach oben hinausgehen, bilden die Oberlängen. Sie weisen vom eigenen Körper weg. Analog werden Schriftzüge unterhalb des Mittelbandes (G-Schleifen) als Unterlängen bezeichnet, die von der Schriftbasis zum Körper hinführen. Schriftzüge, die sowohl Ober-, Mittel-, als auch Unterzone berühren, werden als Langlängen bezeichnet.

Das Mittelband repräsentiert das Ich eines Schreibers, die Oberzone geht in die Zone des Geistigen und die Unterzone steht für die Triebsphäre und den materiellen Bereich. Die Dreiteilung von Körper, Geist und Seele lässt sich somit auch auf die Schrift übertragen.

Raumbild

Schriftgröße

Die Größe einer Schrift ist ein auffallendes Merkmal, das auch von Schriftfälschern gerne verändert wird. Sie kann abhängig sein vom Sehvermögen, vom Alter oder von Krankheiten, wie z. B. im Fall von extrem klein schreibenden Parkinsonkranken.

Grundsätzlich gehen die Schriftpsychologen aber davon aus, dass die Schriftgröße wie auch andere Merkmale einer Schrift mehr oder weniger konstant bleiben. Werden im Mittelband einer Schrift in den „a“, „m“, „n“, „r“, „w“ usw. drei Millimeter um mehr als zehn Prozent überschritten, wird von einer großen Schrift gesprochen. Bei Unterschreiten von 2,5 Millimetern wird die Schrift als klein beurteilt. Die Langlängen bleiben dabei außer Acht.

Die Größe einer Schrift kann grundsätzlich unter zwei Aspekten interpretiert werden: unter dem der Willensund Persönlichkeitsentfaltung mit entsprechendem Anspruch der Umwelt gegenüber und unter dem des Selbstgefühls. Eine große Schrift wird als Ausgriff, als ein Sich-Entfalten in den Schreibraum hinein erlebt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich das weibliche Selbstgefühl im größeren, das männliche im eher kleinen Mittelband ausdrückt.

In den nachfolgenden Tabellen wird der Einfachheit halber mit Plus- und Minuszeichen gearbeitet, um anzudeuten, dass es sich dabei um eher positiv bzw. negativ einzuschätzende Eigenschaften handelt. Die Wertung bleibt aber letztlich der Leserin, dem Leser überlassen.

Tabelle 1: Schriftgröße im Mittelband als Ausdruck des Willens

  Groß Klein
+ Enthusiasmus, Expansionsdrang, Unternehmungsgeist, Aktivität, Durchsetzungsund Wirkungsdrang Sachliche Konzentration, Wirklichkeitssinn, nüchterne Mäßigung, geringer Expansionsdrang
Betriebsamkeit, schwacher Wirklichkeitssinn, Naivität, Impulsivität Mangel an Dynamik, Passivität, Hemmung

Die negativen Deutungen ergeben sich aus dem Gesamtzusammenhang der Schrift, insbesondere zum Beispiel durch die Höhe des Formniveaus (siehe Seite 33) oder durch auffallende und extreme Bewegungsführungen, zum Beispiel bei Übergrößen und ausfahrender Schrift, bzw. im Fall der Kleinheit bei Bewegungsstarre und übermäßiger Versteiftheit.

Tabelle 2: Schriftgröße im Mittelband als Ausdruck des Selbstgefühls

  Groß Klein
+ Selbstbewusstheit, Selbstsicherheit, emotionaler Anspruch, Geltungsbedürfnisse, Pathos Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit, Unauff älligkeit
Überheblichkeit, Arroganz, Darstellung Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefühl, Depression

Sondermerkmale:

1. Kleiner werdende Wortenden: nachlassender Einsatz, Ungeduld, diplomatische Anpassung

2. Größer werdende Wortenden: zunehmende Selbstbehauptung, naiv forcierter Einsatz und Durchsetzungsdrang

3. Unrhythmische Größenschwankungen im Mittelband: schwankendes Selbstgefühl

4. Extrem kleine Schrift: Angst vor der Wirklichkeit

Schriftweite

Unter der Schriftweite wird der Buchstabenabstand in einer Schrift verstanden. Ist die Breite des Abstands in etwa gleich der Buchstabenhöhe, wird dies als normaler Buchstabenabstand angesehen.

Weite in einer Schrift entsteht in der Regel durch eine expansive Bewegung nach rechts und lässt auf Antriebsausweitung und Gelockertheit schließen. Der Enge dagegen liegt eine Bewegungsbremsung, Antriebszügelung und verstärkte Spannung zugrunde.

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Abb. 18: Weite und kleine Schrift eines Psychologen

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Abb. 19: Enge Schrift mit Oberlängenbetonung

Berücksichtigt man bei der Deutung auch die Bindungsform einer Schrift (siehe Formbild, Seite 100), so deuten Weite und Rundung auf Gefühlsfähigkeit, Weite und Winkel zusammen mit Rechtsschrägheit auf Zielstrebigkeit. Ist die Schrift zusätzlich druckstark, so kann auf Durchsetzungsbemühen geschlossen werden. Es sind also immer mehrere Merkmale miteinander zu kombinieren und in die Deutung einzubeziehen.

Während die Buchstabenweite auf Selbstvertrauen schließen lässt, zeigt der Abstand zwischen den Buchstaben das Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung auf. Dabei lässt sich die Schriftweite sowohl aus dem Raum- als auch aus dem Bewegungsaspekt deuten.

Tabelle 3: Schriftweite als expansive Zuwendung zur Außenwelt bzw. als Verlangen nach Raum

  Weit Eng
+ Eifer, Zielstrebigkeit, Aufgeschlossenheit, Interessiertheit, Zwanglosigkeit, Zukunftsbezogenheit Selbstbeherrschung, Selbstkontrolle, Vorsicht, Konzentration
Ungeduld, Ungebundenheit, Flüchtigkeit, unangemessene Anspruchshaltung Innere Unfreiheit, Hemmungen, Ängstlichkeit, Mangel an Unmittelbarkeit

Sondermerkmale:

1. Unregelmäßiger Wechsel von Weite und Enge: unausgeglichene Einstellung zur Umwelt, zusammen mit Größen- und Lageschwankungen auch innere Unsicherheit

2. Weiter werdende Wortenden: Mangel an Durchhaltekraft und Konsequenz

3. Enger werdende Wortenden: Vorsicht und Zurückhaltung aus Erfahrung

4. Schmale Buchstaben und weite Buchstabenabstände (sekundäre Weite): Betonte Korrektheit und Ordnungsstreben, willensmäßige Konzentration, Selbstkontrolle, evtl. Neigung zu Formalismus

Größenverhältnisse

In der Graphologie unterscheidet man zwischen der Längenteilung einer Schrift, d. h. zwischen dem Verhältnis der Ober- und Unterlängen zueinander und dem Längenunterschied, d. h. dem Verhältnis von Ober- und Unterlängen zum Mittelband.

Längenteilung

Es können also sowohl die Ober- als auch die Unterlängen einer Schrift vergrößert oder verkümmert sein. Gleichfalls kann das vorgeschriebene Verhältnis von Langbuchstaben (mit Ober- und Unterlänge) zu Kurzbuchstaben (ohne Oberund Unterlänge) nicht eingehalten werden. Die Schulvorlage sieht ein Verhältnis von 1 : 2 : 3 vor; Kurzlänge = 1, Oberlänge = 2, Langlänge = 3. Die folgenden Abbildungen verdeutlichen das Gesagte.

In der Praxis können die Ausprägungen auch mehr oder weniger stark schwanken, d. h., einige Unter- bzw. Oberlängen sind extrem groß, andere kleiner oder verkümmert. Die Deutung der Ober- bzw. Unterlängenbetonung leitet sich aus der Raumsymbolik ab, wobei die Oberzone dem geistig-intellektuellen und die Unterzone dem vitalen, materiellen und konkreten Bereich zugeordnet werden kann. Bei ausgewogenen Größenverhältnissen in einer Schrift wird von einem stabilen Verhältnis zwischen Ich-Strebungen und Umweltbeziehungen ausgegangen.

Tabelle 4: Verhältnis von Oberlängen zu Unterlängen als Ausdruck der Orientierung zum Geistigen oder Materiellen

  Oberlängenbetonung Unterlängenbetonung
+ Idealistische Einstellung, geistiges Streben, Auftrieb über das Alltägliche hinaus Praktische Einstellung, Bodenständigkeit, Verwurzeltheit, technische und fi nanzielle Interessen
Überschwänglichkeit, Fantastik, Mangel an Wirklichkeit Materielle Einstellung, Triebgebundenheit, Schwerfälligkeit

Sondermerkmale:

1. Verkümmerte Oberlängen: Ungeistigkeit, Mangel an Auftrieb

2. Verkümmerte Unterlängen: Triebschwäche, Mangel an Verwurzelung oder Triebsublimierung

3. Dreieckige Unterlängen: Eigenwilligkeit, Durchsetzungs willen auch im kleinen Kreis

4. Abgerissene Unterlängen: Triebverdrängungen, Abspaltung des Trieblebens, Störungen

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ISBN (ePUB)
9783869105277
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Mai)
Schlagworte
Graphologe Graphologie Handschrift und Charakter Handschriftendeutung Schriftproben Schrift-Psychologie Wort-Anstrich

Autor

  • Dr. Helmut Ploog (Autor:in)

Der Autor Dr. Helmut Ploog betreibt eine Praxis als Betriebsgraphologe. Er ist 1. Vorsitzender des Bundesverbandes geprüfter Graphologen/Psychologen e.V., Veranstalter des Graphologentages und in zahlreichen berufsständischen Gremien im In- und Ausland tätig. Bis 2007 war er Lehrbeauftragter für Schriftpsychologie an der Universität München.
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Titel: Handschriften deuten