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Guter Sex geht anders

So finden Sie Erfüllung zu zweit. Wege aus Langeweile, Frust und Unsicherheit. Aus dem Erfahrungsschatz einer Sexual-Therapeutin

von Berit Brockhausen (Autor:in)
208 Seiten

Zusammenfassung

Schluss mit Unsicherheit und Frust im Bett! Zu wenig Sex, unerfüllte Fantasien, zu selten Lust und zu viele vorgetäuschte Orgasmen? Die Sexualtherapeutin Berit Brockhausen erklärt erfrischend einleuchtend, wie Sie wieder Erfüllung zu zweit finden können. Denn: Befriedigender Sex ist eine Entscheidung, die man selber trifft. Wer bisher seiner Lust mit neuen Stellungen, Techniken oder erotischem Spielzeug hinterhergelaufen ist, merkt beim Lesen schnell: Guter Sex geht anders! Das Erfolgskonzept für mehr Lust zu zweit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ein paar Worte vorweg

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Liebe Leserin, lieber Leser,

hier müsste eigentlich die obligatorische Anmerkung stehen, dass ich der Einfachheit halber von der Leserin und ihrem Partner spreche, aber selbstverständlich alle anderen (also die Leserinnen mit ihren Partnerinnen, die Leser mit ihren Partnern und die Leser mit ihren Partnerinnen) „mitgemeint“ sind. Leider finde ich das blöd. Deshalb möchte ich Sie an dieser Stelle warnen, dass es in diesem Buch wild durcheinander gehen wird. Manchmal spreche ich über Männer, manchmal über Frauen, manchmal über gleichgeschlechtliche Beziehungen und häufig über heterosexuelle Partnerschaften. Und ich hoffe sehr,

  • dass Sie sich beim Lesen nicht allzu sehr über sperrige Formulierungen ärgern, zum Beispiel wenn ich von „dem oder der Liebsten“ spreche,
  • und dass Sie sich grundsätzlich immer dann angesprochen fühlen, wenn Ihnen etwas bekannt vorkommt. Ganz unabhängig von Ihrem Geschlecht und dem des Menschen an Ihrer Seite.

Die Paare, die in diesem Buch auftauchen, gibt es so nicht. Ich habe Beispiele gewählt, die häufig vorkommen, und reale Beratungsgespräche mit veränderten Namen und Situationen nacherzählt. Sollten Sie sich dennoch wiedererkennen, liegt das daran, dass Sie nicht die Einzigen sind, denen es so geht.

Dieser Ratgeber ist keine wissenschaftliche Abhandlung. Deshalb nenne ich im Text Kollegen und Autorinnen, denen ich wichtige Impulse verdanke. Am Ende des Buches finden Sie in den Lesetipps die dazugehörigen Bücher.

Unter www.desafinado.de/guter-sex-geht-anders.html finden Sie Literaturhinweise und weiterführende Links. Sie finden in einigen Kapiteln einen Hinweis auf die Website und die Nummer, unter der Sie weitere Informationen finden können. Der hier abgedruckte Code (QR = Quick Response) ermöglicht es Ihnen, die Internet-Links direkt anzusteuern. Halten Sie die Kamera Ihres internetfähigen Smartphones über den Code, fotografieren/scannen diesen und schon erscheint die Internetseite. (Zum Scannen des QR-Codes ist auf den meisten Smartphones die Reader-Software bereits vorinstalliert, andernfalls können Sie sich diese aus dem Internet herunterladen; siehe Herstellerangaben.)

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www.desafinado.de/guter-sex-geht-anders.html

Ich möchte Ihnen in diesem Buch zeigen, was wirklich etwas nützt und was sich in meiner Praxis bewährt hat. Deshalb werde ich im ersten Teil, „Die Wahrheit“, vier scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage stellen, die es schwer machen, mit dem real existierenden Sex zufrieden zu sein. Im zweiten Teil, „Die Entscheidung“, möchte ich Ihnen zeigen, dass Lust Spielräume braucht, in welchen wir wirklich selbst über uns und unseren Körper bestimmen. Der dritte Teil des Buches, „Der Weg“, basiert auf einem Programm, mit dem ich die Paare in meiner Praxis unterstütze, mehr sexuelles Selbstvertrauen zu entwickeln. Im vierten Teil, „Die Chance“, geht es um zwei zentrale Fragen, die Sie beantworten müssen, um schöne erotische Begegnungen zu erleben, nämlich: Was macht meine Sexualität, meine Lust aus? Und: Was möchte ich damit anfangen? Im letzten Teil, „Die Einladung“, geht es ans Eingemachte, nämlich ob Sie Ihre Sexualität wirklich verbessern werden oder nicht.

Am Ende jedes größeren Abschnitts finden Sie unter der Überschrift „Weiterdenken“ einige Fragen, die Sie anregen sollen, sich mit Ihren eigenen Erfahrungen, Vorstellungen, Wahrnehmungen und Wünschen auseinanderzusetzen. Dadurch steht Ihnen beim Lesen dieses Buches der kompetenteste Experte/die kompetenteste Expertin der Welt zur Seite, den/die es gibt, wenn es um Ihre eigene Sexualität geht: Sie selbst! Denken Sie daran, dass eine positive Wirkung natürlich nur dann eintritt, wenn Sie sich tatsächlich mit den Dingen beschäftigen. Häufig geht das leichter, wenn Sie sich etwas Zeit dafür nehmen und Ihre Gedanken aufschreiben, denn vieles wird klarer, während wir es notieren. Wenn Sie mögen, legen Sie sich ein Heft an, ein „Reisetagebuch“ über Ihre Reise zu gutem Sex, in das Sie Ihre Beobachtungen, Erfahrungen und Ideen eintragen. Sie können die dazugehörigen Arbeitsblätter auch herunterladen: www.desafinado.de/guter-sex-geht-anders.html.

Ich freue mich darüber, Sie auf Ihrer Reise ein Stück zu begleiten, und wünsche Ihnen nicht nur viel Spaß, sondern auch viele an- und aufregende Erkenntnisse.

Ihre

Berit Brockhausen

Die Wahrheit: Warum wir alle schlechten Sex haben

In diesem Teil geht es um vier gravierende Missverständnisse, die uns die Lust verleiden:
Irrtum 1: Alle anderen haben guten Sex.
Irrtum 2: Sex-Tipps sind gut (und führen zu besserem Sex).
Irrtum 3: Sexualstörungen sind schlecht.
Irrtum 4: Sex in Beziehungen ist schlechter, als es gut wäre.

Was guter Sex wirklich braucht

Beginnen wir doch einfach damit, dass wir ehrlich sind. Wenn es so einfach wäre, richtig schönen Sex zu haben, dann würde ich an diesem sonnigen Vormittag nicht am Schreibtisch sitzen und dieses Buch schreiben. Und Sie hätten ganz bestimmt etwas Besseres vor, als es zu lesen. Vielleicht würden Sie stattdessen einen Krimi lesen. Oder Plätzchen backen. Das Auto waschen, im Café sitzen, in die Sauna gehen, ein Musikstück komponieren oder tanzen gehen. Oder verschwitzt, aber glücklich im Arm des Menschen Ihrer Wahl liegen. Eine verführerische Vorstellung: Was könnten Sie nicht alles mit der Zeit anfangen, die Sie (und nicht nur Sie allein!) darauf verwenden, Bücher wie dieses zu lesen und sich damit zu beschäftigen, wie Sie mehr Erfüllung zu zweit finden können.

Stattdessen beschäftigen wir uns mit dem Thema Sex. Sie sind neugierig darauf, was denn nun wirklich den Unterschied zwischen Top oder Flop im Bett macht. Sie sind gespannt, welche klugen Tipps ich habe, mit denen Sie Ihr Liebesleben aufpeppen können. Glauben Sie mir: Ich würde Ihnen wirklich gern vier einfache Ratschläge geben, die Ihre Sexualität in Nullkommanichts verändern, und dann ist es gut. Doch mal ehrlich: Wenn ich Ihnen sagen würde, Sie sollen mit dem oder der Liebsten offen über Ihre Wünsche und Bedürfnisse reden – da wären Sie doch auch von ganz allein drauf gekommen! Und vermutlich tun Sie es trotzdem viel zu selten. Es scheitert also nicht am Wissen. Für guten Sex brauchen Sie also mehr als einen flotten Spruch.

Ratschläge gebe ich Ihnen trotzdem, doch Sie bekommen noch mehr. In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie diese Ratschläge in Ihrem (Liebes-)Leben anwenden, damit Sie in Zukunft wirklich mehr Spaß im Bett haben als bisher.

  • Nehmen Sie Ihre Zweifel ernst. Genau das werde ich in diesem Buch auch tun. Ich werde Ihre Fragen aufgreifen und konsequent zu Ende denken. Sie werden sich möglicherweise über das Ergebnis wundern!
  • Beseitigen Sie die Störfaktoren. Nein, ich meine nicht, dass Sie das Telefon stumm schalten oder einen Babysitter buchen sollen (obwohl auch das ungeahnte Wirkungen haben kann). Sondern ich zeige Ihnen, in welche Fallen wir beim Sex tappen und wie Sie dies vermeiden können. Ich hoffe, dass Ihr Selbstvertrauen nach dem Lesen dieses Buchs gestärkt ist und Sie entspannter leben und lieben, wie es Ihnen gefällt.
  • Entwickeln Sie sexuelles Selbstbewusstsein. Je besser Sie Ihre Stärken, Potenziale, aber auch Grenzen kennen, desto eher können Sie diese nutzen, um richtig guten Sex zu haben. Kein Stress: Was nicht ist, kann noch werden. Dazulernen geht immer.
  • Werden Sie erwachsen. Guter Sex ist nämlich nur was für Erwachsene! Und die sitzen nun mal nicht auf der Bettkante und beklagen das Fehlen der Leidenschaft, sondern sie treffen Entscheidungen.

Wie gut kann Sex eigentlich sein?

Der Titel dieses Buchs verspricht Erfüllung zu zweit. Es geht also um Sexualität mit einem Partner oder einer Partnerin. In meinen Beratungen frage ich die Paare, was sie eigentlich unter Sex verstehen. Die erste spontane Antwort ist normalerweise „Geschlechtsverkehr“. Doch wenn die beiden dann weiter darüber nachdenken, kommen die Einschränkungen. Oder auch die Ausweitungen. Das Petting der Anfangsphase fanden beide auch sehr aufregend … wäre vielleicht Erregung das, was Sex von anderen Formen von Körperkontakt unterscheidet? … Erregung lässt sich natürlich auch ohne Partner oder Partnerin haben … also ist Sex nicht auf die Betätigung mit anderen begrenzt … und was ist überhaupt mit Erotik? Küssen, ist das schon sexuell? Zungenküsse vielleicht … aber was ist mit dem Vibrieren unter den zarten Küssen des Partners auf den Nacken und dem Würgereiz beim ungeschickten Zungenkuss? Ist jede Berührung an unbekleideten „einschlägigen“ Körperpartien sexuell? Nacktheit an sich ja nicht, schließlich zeigen wir uns unbefangen in der Sauna und am FKK-Strand … und was macht eigentlich einen Schlag auf den Po zu einer sexuellen Handlung anstatt zu einer Körperverletzung?

Gut, dass wir darüber sprechen. Es gibt keine einfache Definition, die alle Aspekte beinhaltet, die uns in diesem Zusammenhang einfallen. Selbst wenn Orgasmus das einzige Kriterium für Sex wäre, dann bleibt es trotzdem uneindeutig: Wieso soll die kleine Spannungsentladung im Beckenbereich inklusive Wärme und Zucken der Muskulatur ausgerechnet Sex sein, aber die tiefempfundene Hingabe einer Umarmung ohne Orgasmus nicht?

Was ist Sexualität?

Laut Wikipedia bezeichnet Sexualität im sozio- und verhaltensbiologischen Sinne die Formen geschlechtlichen Verhaltens zwischen Geschlechtspartnern. Im weiteren Sinn bezeichnet Sexualität die Gesamtheit der Lebensäußerungen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Interaktionen von Lebewesen in Bezug auf ihr Geschlecht. Zwischenmenschliche Sexualität wird in allen Kulturen auch als ein möglicher Ausdruck der Liebe zwischen zwei Personen verstanden.

Umfassender ist die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO): „Sexualität bezieht sich auf einen zentralen Aspekt des Menschseins über die gesamte Lebensspanne hinweg, der das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Während Sexualität alle diese Aspekte beinhaltet, werden nicht alle ihre Dimensionen jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, religiöser und spiritueller Faktoren.“ (aus: „Standards für die Sexualaufklärung in Europa“ BZgA 2011)

Wenn es Ihnen wie meinen Klienten geht, und Sie keine schnelle und eindeutige Antwort auf die Frage haben, was Sexualität für Sie eigentlich ist, dann können Sie jetzt beruhigt sein. Es liegt nicht an Ihnen. Sondern dieser Begriff umfasst tatsächlich ganz vielfältige Aspekte und spielt in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen und Lebensäußerungen eine Rolle.

Und als sei das alles nicht schon kompliziert genug, vermischen wir beim Thema „Sex zu zweit“ häufig einiges, was gar nicht zusammengehört. Die Auswirkungen auf unser Liebesleben und unsere Zufriedenheit sind fatal.

Was können wir erwarten?

Wenden wir uns also dem zu, was zwischen zwei Menschen geschieht. Sie werden mir zustimmen, dass sich der Sex in der Verliebtheitsphase von dem in einer langjährigen Beziehung unterscheidet. Beides lässt sich weder mit der Sexualität in einer Affäre vergleichen noch mit Sex in einer anonymen Situation oder gegen Bezahlung … Dennoch wird alles wild durcheinander gemischt, wenn in den Medien über normale Partnersexualität gesprochen wird. Es wird uns vermittelt, dass wir bei jeder sexuellen Begegnung mit dem oder der Liebsten eigentlich alles erleben müssten:

  • Die Vorteile des Verliebtheitssex (die Sehnsucht nach Verschmelzung, Leidenschaft, Begehren, Aufregung, sich gewollt fühlen sowie das Entzücken beim Anblick des andern)
  • Die Vorteile von Beziehungssexualität (die Sicherheit, die körperliche Vertrautheit, die Geborgenheit und die tiefe Zuneigung)
  • Zusätzlich natürlich auch die Vorteile von Affärensex (die Zielstrebigkeit, die Aufregung, die Ausnahmesituation, die Schamlosigkeit des Wollens)
  • Gleichzeitig bleiben wundersamerweise die Nachteile aller drei Formen aus
  • Während schließlich noch eine Prise Glück und Ekstase dem Ganzen das Sahnehäubchen aufsetzt

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Schauen Sie sich die Aufzählung an und vergleichen Sie: Wie ist der „normale Sex“, den Sie haben? Eben. Niemand (in Worten: niemand) erlebt dieses Gemisch aus den schönsten Momenten verschiedener Arten sexueller Begegnung. Sie nicht, Ihr Nachbar nicht und die Sexualtherapeutin aus dem Fernsehen auch nicht. Weil es diesen Sex nicht gibt. Das Konzept ist widersprüchlich und unrealistisch und trotzdem kommt leider kaum jemand auf die Idee, dass es ganz normal ist, diesen angeblich „normalen Sex“ nicht zu haben. Doch die Erwartungen sind groß und die Messlatte hängt hoch – unerreichbar hoch. Wie wollen Sie denn die leidenschaftliche Sehnsucht empfinden, die aus der Aufregung und Unsicherheit des Beziehungsanfangs resultiert und sich gleichzeitig zutiefst geborgen fühlen? Wenn Sie diesen Maßstab anlegen, dann haben Sie schlechten Sex. Nicht nur Sie. Wir alle.

Den „normalen Sex“ gibt es nicht

Noch schlimmer: Wenn Sie sich an diesen oder anderen Vorstellungen orientieren und versuchen, „normalen Sex“ zu haben, dann werden Sie schlechten Sex haben oder überhaupt keinen mehr. Die Versuche, Ihr Liebesleben aufzupeppen, damit es den Erwartungen entspricht, werden Sie unter Druck bringen und Stress auslösen. Letzterer ist ein körperlicher Alarmzustand, der in bedrohlichen Situationen Energie bereitstellt, um die Gefahr zu meistern. Dafür muss der Körper andere, unwichtigere Empfindungen blockieren. Physiologisch geht es ums Überleben, um Kampf oder Flucht. Lust, Genuss, Hingabe und Entspannung sind jetzt alles andere als sinnvoll. Je angestrengter Sie also versuchen, den guten Sex zu haben, der doch angeblich normal ist, desto unbefriedigender werden Ihre realen erotischen Erfahrungen sein. Nicht, weil mit Ihnen etwas nicht stimmt. Sondern weil Ihr Körper völlig angemessen und gesund auf diesen Stress reagiert.

Nehmen Sie sich ernst. Wenn es Ihnen bis heute nicht gelungen ist, den tollen Sex zu haben, der angeblich ganz normal ist, dann sollten Sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es genau deshalb nicht passiert, weil es gar nicht geht. An einer unlösbaren Aufgabe zu scheitern ist keine Schande. Es ist nur schade um die Zeit, in der Sie sich vergeblich daran abarbeiten, anstatt sich damit zu beschäftigen, wie Sie tatsächlich schönen Sex haben können.

Doch so schnell geben die meisten Menschen nicht auf. Zu verlockend ist das Versprechen, das dieser Mythos enthält. Nur Vorteile, keine Nachteile – hey, da sind wir doch alle gern dabei! In den Buchhandlungen gibt es Ratgeber für jede Gelegenheit, Sex-Tipps für Girls, erotische Anregungen für junge Eltern, und schließlich das Handbuch „Silver Sex“, damit auch die ältere Generation ihr Liebesleben abwechslungsreich und befriedigend gestaltet. Die Botschaft: Optimieren Sie Ihren Lustgewinn! Seien Sie offen, experimentierfreudig, unverklemmt, dann können auch Sie leidenschaftliche Sexualität erleben (wie sie normal wäre). Doch wer gehofft hat, nach der Lektüre dieser Ratgeber auf Knopfdruck jede Menge Lust, Erregung und Orgasmus unbeschwert genießen zu können, auf den wartet eine Enttäuschung.

Wer Sex „macht“, verpasst das Beste

Es reicht nicht aus, erotische Gelegenheiten zu schaffen, sexuelle Fantasien auszusprechen, sich mit erotischen Spielzeugen und Dessous einzudecken oder die Stöße beim Geschlechtsverkehr in einem bestimmten Rhythmus durchzuführen. Das sind Dinge, die wir tun können, doch gerade schöner Sex ist ja nichts, was wir einfach nur „machen“. Wir erleben ihn – nicht nur mit Haut und Haaren, sondern wirklich mit Leib und Seele. Und das auf ganz verschiedenen Ebenen, die einander beeinflussen.

  • Ebene der Gefühle: Die Berührungen und Aktivitäten lösen Gefühle aus, manchmal schmerzliche Sehnsüchte oder tiefe Glücksgefühle, vielerlei Ängste (vor Ablehnung, Beschämung, Auflösung, Benutztwerden) und neben Genuss und Wohlgefühlen stehen manchmal Langeweile, Zweifel bis zur Verzweiflung und häufig auch unbestimmte Gefühle, die tief in uns rumoren, ohne dass wir sie einordnen könnten.
  • Ebene der Gedanken und Bewertungen: Wir beobachten, was wir tun und bewerten es. Wir zweifeln, ob wir gut genug sind, ob das, was wir spüren, normal ist. Wir überlegen, was sinnvoll ist, treffen konkrete Entscheidungen für oder gegen bestimmte Stellungen, Techniken, Hilfsmittel oder Empfängnisverhütung. Wir denken über die Formulierung unserer Wünsche nach und beschäftigen uns möglicherweise mit den Reaktionen, die wir darauf erhalten. Wir versuchen zu berücksichtigen, was mit dem Partner in diesem Moment sein mag, verfolgen aufmerksam und besorgt das Geschehen, wenn wir mit Schwierigkeiten rechnen.
  • Körperliche Ebene: Wir nehmen wahr, was mit unserem Körper geschieht, spüren wohltuende und störende Berührungen, registrieren Lust, Erregung und Orgasmus, aber auch Kitzeln, Unwohlsein und Schmerzen, erleben Anspannung oder Entspannung, empfinden uns sinnlich oder von unserer Sinnlichkeit abgeschnitten. Wir erleben die sexuelle Energie bedrohlich oder belebend, wir geben uns den Körpergefühlen hin oder kämpfen um Kontrolle.
  • Beziehungsebene: Wir erleben uns in Kontakt mit dem Partner oder ziehen uns in unser eigenes Erleben zurück. Wir drücken Zärtlichkeit und Begehren aus, ebenso Ablehnung und Aggression. Oder wir versuchen, diese Gefühle wegzuschieben, weil wir sie als unpassend empfinden. Wir fühlen uns gewollt und im wahrsten Sinne des Wortes angenommen, aber vielleicht auch benutzt und nicht gesehen. Wir bestätigen einander unsere Zusammengehörigkeit und nähren das Gefühl von Verbindung zwischen uns durch diesen gemeinsam erlebten beglückenden Moment. Manchmal macht das Angst. Wir spüren die geteilte Intimität oder wir gehen darüber hinweg, dass sie fehlt. Wir sind verunsichert, wie der andere zu uns steht, oder genießen Vertrauen und Sicherheit.
  • Ebene des Selbstgefühls: Wir spüren uns intensiv – oder schalten uns ab, um zu funktionieren. Wir genießen die Bestätigung durch den anderen und das Gefühl eigener Attraktivität bzw. wir zweifeln daran. Wir genießen die Reaktionen unseres Körpers und das Gefühl, sie wirkungsvoll steuern zu können, oder wir fühlen uns ohnmächtig und dem Geschehen ausgeliefert. Wir kämpfen gegen die Gefahr der inneren Auflösung.

Sie hatten schon einmal die Idee, dass Sexualität kompliziert ist? Sie haben völlig recht! Wer schönen Sex haben will, sollte die unterschiedlichen Erlebensebenen nicht ausblenden. Und diese lassen sich nun mal nicht so einfach durch Tipps beeinflussen. Schon die Empfehlung „sei einfach unverkrampft und locker“ mag richtig sein, ist aber schwer umzusetzen.

In diesem Buch werden wir uns mit all diesen Ebenen beschäftigen und Wege finden, wie Sie tatsächlich etwas verändern können.

Warum Sex-Tipps nicht weiterhelfen

Die Menschen, die in meine Praxis kommen, erleben ihre Sexualität auf allen Ebenen. Manchmal sind sie verwirrt, weil eine schöne Begegnung sie wider Erwarten sehr aufwühlt. Andere fühlen sich zwischen widersprüchlichen Gefühlen hin und her gerissen oder sind verunsichert, weil ihr Erleben so ganz anders ist als das, was sie erwartet haben (nicht zuletzt aufgrund des landläufigen Bildes von dem, was „normal“ ist). Häufig suchen sie zunächst in Ratgebern Sicherheit. Was ist gut? Wie muss ich mich verhalten? Doch wenn Sie sich an diesen äußeren Dingen orientieren vergrößern Sie das Problem. Die meisten Sex-Tipps ignorieren, wie tief die gemeinsame Sexualität uns berühren kann. Leider auch dann, wenn sie nicht gut funktioniert.

Der Weg zu schönerem Sex führt nicht über verbesserte Techniken, sondern am Anfang steht die Bereitschaft, sich selbst zu verstehen und zu akzeptieren.

Das Versprechen von Aufklärung und neuen Techniken greift zu kurz. Sex wird zwar tatsächlich gelernt. Aber eben nicht, wer wann wen wo und in welcher Weise anfasst! Sondern jeder von uns bringt beim Sex seine tiefsten und ältesten Lebenserfahrungen mit ein. Zum Beispiel alles, was wir über den Umgang mit Bedürfnissen, Grenzen, Gefühlen, Konflikten und mit unserem Körper gelernt haben. Dazu kommen dann noch unsere Beziehungserfahrungen, unsere Überlebensstrategien und das, was wir über das Mann- oder Frausein gelernt und wie wir Sexualität kennengelernt haben. All dies macht uns als Personen aus und prägt uns – und damit auch die Sexualität, die wir leben (können). Es macht sie gefährlich. Denn sie konfrontiert uns nicht nur mit unseren Fähigkeiten, Lüsten und Potenzialen. Sondern auch mit unseren Ängsten und Sehnsüchten, mit unseren alten Verletzungen und Heilungsversuchen.

Die sexuelle Grundausstattung

Unsere körperliche Grundausstattung ermöglicht uns, sexuelle Lust zu empfinden und einen Orgasmus zu erleben.

Die Genitalien mit ihren Nerven- und Versorgungsbahnen sind die „Hardware“. Die physiologische Reaktion des Körpers ist das „Betriebssystem“, dazu zählen der Erregungsreflex, der sich in der verstärkten genitalen Durchblutung äußert (Vasokongestion, Erektion), und der Orgasmusreflex, bei dem sich die aufgebaute Spannung in einem rhythmischen Zucken der Beckenbodenmuskulatur löst, bei Männern häufig, aber nicht immer, begleitet von einer Ejakulation (Samenerguss).

Was Sie anmacht, worauf Sie stehen, wie Sie Ihre Sexualität leben: Ihre Vorlieben sind Ihre individuellen „Anwenderprogramme“. Und was Sie ganz konkret mit welchem Programm in einer ganz bestimmten Situation und zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt anfangen – das entscheiden Sie. Gut, wenn Sie damit zufrieden sind. Und nicht gut, wenn es dabei zu Kompatibilitätsproblemen mit dem Betriebssystem oder der Hardware kommt.

Es wäre gut, wenn Sie das ernst nehmen. Kein Wunder, wenn Ihnen die Sex-Tipps nicht geholfen haben – es liegt nicht daran, dass Sie ein hoffnungsloser Fall sind. Der Weg zu schönerem Sex führt nicht über verbesserte Techniken, sondern zuerst über die Bereitschaft, sich selbst zu verstehen und zu akzeptieren. Der Versuch, „alles richtig“ zu machen, wäre da genau das Verkehrte. Denn es ist letztlich unmöglich, alles „richtig“ zu machen. Auch ein Oralverkehr, nach allen Regeln der Kunst ausgeführt, kann Selbstverrat sein.

Besser eine Sexualstörung als schlechten Sex

Doch keine Sorge. Auch wenn Sie sich vergeblich bemühen, endlich die Erwartungen zu erfüllen und den Sex zu erleben, den doch angeblich alle haben können – der Körper ist auch noch da. Er ist der unbestechliche Kompass, der in solchen Fällen sagt: „So nicht!“ Er reagiert mit Lustlosigkeit oder fehlender Erregung, wehrt sich mit Schmerz, ausbleibendem Orgasmus oder sabotiert den Versuch, alles im Griff zu haben, mit einem vorzeitigen Samenerguss.

„Was für ein Glück!“, sage ich. „Diese Erektionsstörung ist das Beste, was Ihnen beiden passieren konnte!“ Erik und Elke schauen mich fassungslos an. Damit hatten sie nicht gerechnet. Er ist Mitte 50, sie Anfang 40, beide sind seit einem Jahr zusammen und immer noch sehr verliebt. Sie leben in zwei verschiedenen Städten und sehen sich nur am Wochenende. Am vergangenen Wochenende hatte es zum ersten Mal Probleme bei der gemeinsamen Sexualität gegeben, die sie sofort angehen wollten, bevor sie vielleicht irgendwann einmal zu größerer Unzufriedenheit führen würden.

Ich ließ mir die Situation schildern. Elke war am Freitagabend angekommen und von Erik mit einem wunderbaren Abendessen empfangen worden. Weil beide etwas erkältet und erschöpft waren, entschieden sie bedauernd, auf den ausgiebigen Austausch erotischer Zärtlichkeiten zu verzichten, der eigentlich zu ihrem Willkommensritual gehörte.

Am nächsten Tag entspannte sich Elke in der Badewanne und Erik las ihr dabei etwas vor. Beide fühlten sich sehr wohl zusammen. Dennoch befürchtete Erik, dass Elke enttäuscht sein könnte wegen des vorangegangenen Abends. Auch kam es ihm merkwürdig vor, dass sie an diesem Wochenende noch gar keinen Sex gehabt hatten, und er fragte sich, ob dies vielleicht ein Gefahrensignal sein könnte. Deshalb legte er das Buch zur Seite, kniete sich neben die Wanne und streichelte Elke langsam und zärtlich, was diese sehr genoss. Bald spürte Erik leichte Erregung und zog sich aus. Ihm gefiel die Vorstellung, spontan mit Elke Sex auf dem Badewannenrand zu haben und sie ging gern drauf ein. Doch leider fand Erik keine bequeme Position für sich, und so war sein Vergnügen deutlich beeinträchtigt. Er wollte Elke aber nicht enttäuschen, daher überging er seine Anspannung und die schmerzenden Knie. Da ließ seine Erektion nach, das erste Mal, seit die beiden zusammen waren.

Beschämt und verunsichert zogen sie sich an. Erik haderte mit seinem Körper, der ausgerechnet in einem solch wichtigen Moment den Dienst versagte. Elke war eine attraktive Frau. Würde sie sich einen jüngeren, potenteren Liebhaber suchen? In dem Kopf seiner Partnerin drehte sich indes ein ganz anderes Gedankenkarussell: Fand Erik sie nicht mehr attraktiv? Hätte sie noch aufreizender auf seine Liebkosungen reagieren sollen? Langweilte sie ihn bereits? Es musste doch einen Grund geben! Was stimmte nicht in ihrer Beziehung? „Deshalb sind wir hier“, beendeten sie ihre Schilderung, „wir wollen herausfinden, was nicht stimmt, und dafür sorgen, dass sich diese Katastrophe nicht wiederholt!“

Doch in meinen Augen ist Eriks „Versagen“ keine Katastrophe, im Gegenteil. Menschen sind keine Maschinen. Wenn etwas Unerwartetes beim Sex passiert, eine erwartete Körperreaktion ausbleibt oder früher eintritt, als beabsichtigt, liegt das sehr selten an einem einfachen Schaden der „Hardware“. Im Beispiel von Erik und Elke kann es natürlich sein, dass Eriks Erektion altersbedingt nicht mehr so hart ist wie früher. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass er heute für seine Erregung direkte und gezielte Berührungen braucht, während in früheren Jahren Elkes Anblick bereits gereicht hätte, damit sein Glied spontan steif wird. Doch genau an dieser Stelle kommt die Psyche ins Spiel – wenn auch ganz anders, als von Elke und Erik befürchtet.

Wo bleibt der Spaß?

Erik hat nicht ernst genommen, was er spürte: die unbequeme Haltung und den kalten Luftzug, der ihn mit seiner beginnenden Erkältung frösteln ließ. Als er dies ignorierte, reagierte sein Penis völlig gesund. Das was Erik gerade tat, hinderte seinen Körper, zu genießen und die Lust zu steigern. Also war die Botschaft der nachlassenden Erektion unmissverständlich und lautete schlicht: „Was du da gerade machst, ist nicht schön für mich!“

Die Weisheit des Körpers erfüllt mich immer wieder mit Bewunderung. Leider ist er in solchen Momenten der Einzige, der noch nicht vergessen hat, dass Sex doch eigentlich Spaß machen soll. Überlegen Sie selbst: Warum sollten Sie sich bitteschön sonst auf etwas einlassen, bei dem Sie nackt und verletzlich sind, etwas, bei dem Sie in sehr intimen Kontakt mit Körperöffnungen und Körperflüssigkeiten eines anderen kommen? Seien wir ehrlich – der einzige Grund, so etwas Merkwürdiges freiwillig zu tun, ist: Es fühlt sich toll an! Es macht Spaß! Oh ja, bitte mehr davon!

Aber wenn Sie angestrengt versuchen, eine brauchbare Performance zu liefern, dann ist es nicht angenehm, sondern stressig, manchmal sogar harte Arbeit. Und wofür? Ein gesunder Körper wird nicht damit einverstanden sein, dass Sie ihm diese Mühe zumuten. Er wird versuchen, Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Dazu muss er Sie bei dem stören, was Sie gerade tun. Ihr Körper versagt den Dienst, damit Sie verstehen, was er Ihnen sagen will: „Das, was du da gerade mit mir tust, ist nicht in Ordnung! Und wenn du tatsächlich weiter rackern willst, von mir aus. Aber ohne mich!“

Sie sehen: Wenn es um schönen Sex geht, ist Ihr Körper Ihr bester Verbündeter. Ohne seine Intervention kämen Sie gar nicht darauf, sich zu fragen, was es braucht, damit diese Begegnung wirklich zu einem Vergnügen wird. Und nicht nur zu einem anstrengenden Kraftakt.

Beziehungssex – besser als sein Ruf

„Aber früher war es doch nicht so problematisch!“ Weil es am Anfang der Beziehung solche Schwierigkeiten nicht gab, tun sich manche Menschen schwer mit meiner Erklärung, dass ihre Sexualstörung kein Zeichen einer Fehlfunktion, sondern eine gesunde Reaktion sei. Natürlich war es früher anders. Sie waren schließlich verliebt oder hatten eine Affäre miteinander, je nachdem wie die Liebesgeschichte begann. Es ist nicht fair, die aktuelle Sexualität an dem zu messen, was sie damals miteinander erlebt haben.

Wenn zwei Menschen länger zusammen sind, verändert sich schließlich ganz viel, an ihrem Umgang miteinander, an ihrer Lebensgestaltung, an den täglichen Herausforderungen. Und da soll ausgerechnet die Sexualität immer gleich bleiben? Wie soll das gehen?

Eine empirische Studie an drei Generationen hat gezeigt, dass Paare, die länger zusammen sind, meist seltener miteinander schlafen als zu Beginn der Beziehung, unabhängig vom Alter der Betroffenen. Ein frischverliebtes Paar um die 60 hat mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Sex als zwei 30-Jährige, die bereits seit sechs Jahren zusammen sind. Nichtsdestotrotz finden die meisten sexuellen Begegnungen hierzulande in Beziehungen statt. Wir Sexualtherapeuten und -therapeutinnen sehen natürlich nur die Paare, die unzufrieden sind. Doch das ist bloß ein kleiner Teil. So müssen wir davon ausgehen, dass es viele Paare gibt, die gar nicht darunter leiden, dass sie seltener Sex miteinander haben als früher. Ein wichtiger Grund dafür mag sein, dass zwei Menschen, die sich lieben und die einander vertrauen, den gemeinsamen Sex möglicherweise einmal im Monat oder auch seltener zelebrieren und dies für beide so befriedigend ist, dass sie sich den Stress von mehr Begegnungen unter unpassenden Bedingungen gar nicht antun müssen.

Weitere Informationen finden Sie unter www.desafinado.de/guter-sex-geht-anders.html, Anmerkung 1

Warum scheint es dann trotzdem so, als ob Sex in dauerhaften Partnerschaften unbefriedigend sein muss? Weil eine dauerhafte Partnerschaft – wie der Name sagt – über eine lange Zeit geht. Und weil sich in dieser Zeit nicht nur das Leben und beide Beteiligten verändern, sondern natürlich auch die Sexualität. So wechseln Phasen der Zufriedenheit mit Phasen von Aufbruch, Verunsicherung oder Unzufriedenheit ab. Das ist der unvermeidbare Gang der Dinge. Ja, jedes Paar wird mindestens einmal im Laufe seiner Beziehung unzufrieden mit der gemeinsamen Sexualität sein. Doch das liegt nicht am Beziehungssex selbst, sondern daran, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Flaute steigt, je länger die beiden ihr Leben miteinander teilen. Dennoch möchte ich gern mit Ihnen die Besonderheiten von Sexualität in einer festen Partnerschaft genauer betrachten.

Erotik und Alltag: Die Quadratur des Kreises

Wie schön, wenn eine Beziehung im siebten Himmel beginnt. Und noch schöner, wenn diese erste Zeit auch davon geprägt ist, dass beide einander körperlich begehren und genießen. Wohlgemerkt: Nicht jedes Paar startet so, auch wenn es landläufig angenommen wird. Wenn Sie mit Ihrem (oder Ihrer) Liebsten schon länger als zwei Jahre zusammen sind, dann wissen Sie, dass auf den Zauber des Anfangs die Ernüchterung folgt, ja folgen muss. Eine schwierige Zeit, in der beide Partner herausfinden werden, ob sie mit dem realen Menschen aus Fleisch und Blut ein normales alltagstaugliches Leben führen können und wollen. Selbstverständlich geht diese Krise nicht spurlos am gemeinsamen Liebesleben vorbei! Ebenso wenig wie die folgenden Jahre, in denen ein gemeinsames Leben gestaltet werden will, Themen wie Familiengründung und Zukunftsperspektive auf der Agenda stehen und schwierige Situationen wie berufliche Krisen oder Krankheiten zu meistern sind. Wie wirkt sich das auf die gemeinsame Sexualität aus?

Sicherheit und Vertrautheit

Solange die Unsicherheit das Herzklopfen intensiviert, haben Verliebte Sex vor allem, um sich zu vergewissern, dass der andere da ist, dass er mich wirklich will, dass ich ihm nah und ganz intim mit ihm sein darf. Man zeigt, wie sehr man einander begehrt und genießt diese Sehnsucht und Intensität. Doch wenn aus Verliebtheit Liebe und eine Beziehung wird, dann verändert sich die Funktion der gemeinsamen Sexualität. Anstatt Fremdheit zu überbrücken geht es jetzt darum, sich die Zusammengehörigkeit zu bestätigen. Das Herzklopfen lässt nach, und manchmal fühlt sich die Vertrautheit eher wie Routine an. Menschen, die vor allem über Eroberungsszenarien oder auch über Verschmelzungswünsche oder die Begeisterung der Verliebtheit sexuelle Erregung erleben, stellen fest, dass der vorher so begehrte Partner uninteressant wird und der gemeinsame Sex zum Erliegen kommt.

Verbundenheit

In einer Liebesbeziehung, die auf Dauer und als Lebensgemeinschaft angelegt ist, ist Sexualität nur eine Möglichkeit unter vielen, sich gegenseitig seine Zusammengehörigkeit zu bestätigen. Auch das Gefühl, ein großes Familienfest zusammen gemeistert zu haben, verbindet die Partner. Es entstehen neue gemeinsame Projekte wie Urlaub, Hausbau oder Renovierung, Familiengründung. Man ist nicht mehr ausschließlich auf Sexualität angewiesen, um die Verbundenheit zu spüren.

Prioritäten verändern sich

Manchmal steht Sex in Konkurrenz mit vielen anderen Erfordernissen. Die Kinder, die Ausbildung, der Kampf mit der Schwiegermutter erfordern Kraft und Zeit, die im Alltag sinnvoll eingeteilt werden muss. Äußere Belastungen wie Umzüge, Jobwechsel, Abschlussprüfungen oder Hochzeitsvorbereitungen sind unaufschiebbar und haben Vorrang. In solchen Phasen keine Lust auf Sex zu haben erhöht die Flexibilität und erleichtert das Leben und seine Bewältigung.

Ambivalenz

Wer den Alltag teilt, kann nicht nur begeistert sein vom anderen. Schließlich lernen wir uns über die Zeit sehr genau kennen, und nicht jede Angewohnheit ist erfreulich. Alltagskonflikte finden ihren Weg ins Bett. Was mache ich mit meinem Ärger, dass der Liebste trotz mehrfachen Bittens schon wieder zu spät gekommen ist? Wie soll ich ihn freudig umarmen, wenn ich argwöhne, dass er genau wusste, wie schlimm es für mich ist, allein mit den Kindern ins Krankenhaus zu fahren, und er trotzdem nicht pünktlich kam? Manchmal führt das zu sehr eindeutigen Entscheidungen: Wenn du mich schlecht behandelst, dann will ich keinen Sex mit dir. Manchmal aber sind die Gefühle auch zwiespältig: Einerseits hätte ich gern Sex mit dir, aber andererseits will ich nicht, dass du denkst, dein Zuspätkommen ist völlig in Ordnung und schon verziehen! Und es erfordert eine Menge Selbstvertrauen, demselben Menschen, über dessen Gleichgültigkeit man sich gerade geärgert hat, zu erlauben, dass er einem jetzt wunderschöne Gefühle bereitet.

Gelegenheiten

Wer zusammenlebt, hat theoretisch viele und vorhersehbare Gelegenheiten, mit dem oder der Liebsten Sex zu haben. Das macht es leicht, bei mittlerem Lustpegel das körperliche Vergnügen auch mal zu verschieben, denn Sex kann man auch morgen (oder übermorgen) noch haben, während dieser „Tatort“ eben nur heute Abend läuft. Genauso müssen Entscheidungen zwischen Lust und Ruhebedürfnis, Sex und Elternabend, Küssen und Kneipentour getroffen werden. Allerdings schränkt der normale Alltag die Gelegenheiten auch ein, weil gerade mit Arbeit und/oder Kindern nur noch begrenzt Zeitfenster für die intensive Beschäftigung zu zweit zur Verfügung stehen. Und diese Zeitfenster harmonieren so gut wie nie mit dem Biorhythmus.

Rücksicht

Da man dem anderen ja Vergnügen bereiten möchte, nehmen beide Partner Rücksicht aufeinander. Recht bald haben sie herausgefunden, was mit hoher Wahrscheinlichkeit gut ankommt und welche Praktiken nicht so der Knaller sind. Also werden zunehmend Dinge vermieden, die den Partner irritieren oder ihm nicht gefallen könnten. Etwas anderes wird immer seltener vorgeschlagen und immer seltener gewollt. Auf die Dauer kann dieser „kleinste gemeinsame Nenner“ jedoch öde und langweilig werden.

Egoismus

Je weniger die emotionale Erregung des Verliebtseins den Sex beflügelt, desto wichtiger wird das, was beide miteinander machen. Ungeschickte Stimulierung mindert jetzt die Lust stärker als zu Anfang. Also müssen beide Beteiligten einander deutlicher sagen, was sie brauchen und was sie anmacht. Viele Menschen haben jedoch Skrupel: Ist das nicht unromantisch und egoistisch? Und was passiert, wenn der andere das, was ich mir wünsche, nicht mag? Dann haben wir einen Konflikt anstatt Sex. Besser ich sage nichts und versuche das Beste aus der Begegnung zu machen. Leider wird dann die erotische Begegnung weniger erregend und befriedigend sein, als sie es sein könnte. Ist dies häufiger der Fall, sinkt das Interesse, eine solche Erfahrung zu wiederholen.

Mühe

Was sich gut anfühlt oder was nicht gefällt, ist nicht jeden Tag gleich. Manchmal ist man einfach zu müde und zu faul, um die Anstrengungen der körperlichen Liebe auf sich zu nehmen. Besonders bei Kopfschmerzen, Ärger bei der Arbeit oder Beziehungsstress. Sehr schnell entscheidet man sich, besser keinen Sex zu haben, wenn die Stimmung nicht stimmt. Oder sich nur noch auf erotische Berührungen einzulassen, wenn man auch bereit ist, „bis zum Äußersten zu gehen“.

Routine

In einer längeren Beziehung bildet sich häufig eine Routine der sexuellen Begegnung heraus, mit der sich beide wohlfühlen und bei der die Orgasmus- und Befriedigungswahrscheinlichkeit recht hoch ist. Routine ist nicht prinzipiell schlecht. Das Paar bewegt sich in einem sicheren Bereich, der wohltuend sein kann. Doch durch die Vorhersagbarkeit kann auch Langeweile entstehen, im schlimmsten Fall läuft die sexuelle Begegnung auf Autopilot und ist dann zwar eine sexuelle Betätigung, aber keine Begegnung.

Rollenverwirrung

Wer in einer Beziehung lebt, nimmt mehrere Rollen ein. Die Partner sind Lebensgefährten, Familie, möglicherweise auch Eltern und (hoffentlich) Freunde und Liebhaber oder Liebhaberin. Es ist unmöglich, das strikt getrennt zu halten, doch es ist nicht einfach, einander unter diesen Umständen immer mit Lust zu begegnen. Haben Sie Ihren verunsicherten Partner gerade wegen seiner beruflichen Probleme getröstet, werden Sie ihn vermutlich nicht direkt im Anschluss als leidenschaftlichen Liebhaber herausfordern. Und selbst wenn Sie es versuchen, bleibt die Frage, ob auch ihm der Rollenwechsel so schnell gelingt.

Intimität

Intimität hat nicht nur erotische Seiten. Zu Hause möchte man sich auch einmal gehen lassen, und so sieht man den Liebsten auch in den Momenten, in denen er krank oder wehleidig ist. Sie haben das exklusive Vorrecht, die Partnerin mit Gurkenmaske oder im zwei Nummern zu kleinen Jogginganzug zu bewundern. Sie benutzen dasselbe Bad und haben dort Kontakt mit intimen Körperprozessen. Welche Herausforderung, diesen Menschen dennoch sexuell zu begehren!

Erotik

Die Erotik bleibt im Beziehungssex immer wieder auf der Strecke. Denn das, was einen Menschen sich erotisch fühlen lässt, wie zum Beispiel Flirten und Komplimente, hat im Beziehungsalltag kaum Platz. Der Reiz des Neuen ist vorbei und damit auch die Wachheit, die Neugier und die Vitalität, die erotische Gefühle begleiten. Das Wissen, dass der Partner meine Schwächen kennt, macht es zusätzlich nicht leicht, sich ihm gegenüber attraktiv, selbstbewusst und verführerisch zu fühlen und dies auch zu zeigen.

Respekt

Je mehr sich zwei Menschen im Alltag schätzen, desto schwieriger kann es werden, den anderen als Sexualobjekt zu sehen und auch zu behandeln. Einerseits ist die Geilheit des Partners erwünscht und für lustvollen Sex auch unverzichtbar. Andererseits kann sie verunsichern. Geht es ihm wirklich um mich oder benutzt er mich nur? Ist es nicht rücksichtslos, einen gestressten Workaholic dazu aufzufordern, es einem mal so richtig zu besorgen?

Attraktivität

Auch Veränderungen der Attraktivität können den Zugang zur gemeinsamen Sexualität erschweren, vor allem, wenn beide die Idee haben, dass Lust bedeutet, den anderen zu begehren und ihn attraktiv zu finden. Was also tun, wenn der Bauch wächst, die Haare schwinden und die Falten nicht interessant sind, sondern dazu führen, dass das ganze Gesicht schlaff und unattraktiv wirkt? Nicht jedem gelingt es, die eigenen Schönheitsmaßstäbe zu verändern und die Attraktivität im älter gewordenen Partner beziehungsweise der Partnerin zu erkennen und erotisch zu besetzen.

Körperliche Veränderungen

Nicht nur der eigene Körper verändert sich, sei es über die Zeit, mit dem Älterwerden, sei es durch krankheitsbedingte Prozesse. Auch das sexuelle Empfinden und die sexuelle Reaktion können davon betroffen sein. Manchmal ist es nötig, den eigenen Körper zum Beispiel nach einer Krebserkrankung neu kennenzulernen und herauszufinden, was er mag und was jetzt angenehm ist. Altersbedingte Veränderungen oder Krankheiten führen zu Schmerzen, und es kommt zu Ratlosigkeit, wie schöne gemeinsame Sexualität trotz Einschränkungen aussehen kann.

Wie der Sex sich verändert

Wie sich die Sexualität eines Paares im Laufe der Zeit verändert, hat mein Kollege Bernhard Moritz in dem Buch „Allerhöchste Paarungszeit“ sehr gut zusammengefasst.

  • Sex ist vertrauter geworden um den Preis, dass er auch berechenbarer und kalkulierbarer geworden ist.
  • Sex ist konsensualer (einvernehmlich) geworden – oft so, dass er zum Sex auf kleinstem gemeinsamen Nenner geworden ist.
  • Sex ist orgasmuszentriert. Um den Preis, dass der Sinnlichkeit weniger Bedeutung beigemessen wird.
  • Sex ist routinierter geworden. Er wird nicht mehr gefeiert, inszeniert, zelebriert.
  • Sex ist planbar und vorhersehbar geworden. Deshalb ist er nicht mehr Neugier weckend und erweckend.
  • Sex ist sicherer und beständiger geworden um den Preis, dass er nicht mehr als lebendig und begehrenswert erlebt wird.
  • Sex ist zu einer zwar nicht einklagbaren, aber selbst auferlegten Pflicht geworden („Es gehört dazu.“): um den Preis, dass er nicht mehr als exklusives gemeinsames Geschenk empfunden wird.
  • Sex ist zur emotionalen Beruhigungspille („Ich mach’ es halt, damit ich wieder ein paar Wochen Ruhe habe.“) oder zum „Handelsgut“ für andere eheliche Wünsche geworden („Wenn du dich mehr um unsere Kinder kümmern würdest, dann hätten wir auch wieder mehr Sex.“) geworden. Er wird nicht als Ausdruck eines selbstbestimmten erotischen Selbstbewusstseins gelebt.

Guter Beziehungssex – eine Frage der Entscheidung

Wenn Sie sich jetzt traurig zurücklehnen und bedauernd mit der Flaute im Ehebett abfinden, dann ist das eine legitime, aber nicht zwingend notwendige Entscheidung. Okay, in einer Liebesbeziehung, die auf Dauer angelegt ist, wird Ihnen der Sex nicht mehr geschenkt. Die Lust überfällt Sie nicht aus heiterem Himmel zwischen Abwasch und Steuererklärung. Anstatt dem Liebsten beim Nachhausekommen die Kleider vom Leib zu reißen, ärgern Sie sich über seine ungeschickten Annäherungsversuche, während Sie gerade ein schwieriges Telefongespräch führen.

Doch deshalb müssen Sie Ihre Sexualität noch lange nicht begraben oder in eine Affäre „auslagern“. Das Startguthaben der Verliebtheit ist aufgebraucht und ab jetzt sind Sie nicht mehr Opfer eines Oxytocin-Rausches, sondern Sie sind Herr und Herrin Ihres Liebeslebens. Sie entscheiden, ob Sie wollen, wann Sie wollen und wie Sie es wollen. Sie entscheiden, welche Prioritäten Sie setzen. Und was Sie bereit sind dafür zu tun, damit Sie bekommen, was Sie wollen.

Das ist eine großartige Chance, richtig guten Sex zu haben. Sex, der stimmt, weil er zu Ihnen, dem geliebten Menschen, zur Situation, zur Stimmung passt – weil Sie in jedem Moment den Spielraum haben, ihn passend zu machen. Sie sind frei, nach der Geburt des Babys die Freuden von faulem Sex zu entdecken, Sie können sich in Zeiten beruflicher Belastung zu einem Quickie verabreden und Sie können in der Rekonvaleszenz nach einer schweren Krankheit gemeinsam den Körper und die Lust neu entdecken, vorsichtig oder übermütig, genau so, wie es Ihnen beiden entspricht. Sie sind frei von Vorgaben und Erwartungen. Das Einzige, was zählt, sind Ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse und die Ihres Partners (oder Ihrer Partnerin).

Guter Beziehungssex

Betrachtet man die Veränderungen der Sexualität in einer längeren Beziehung, scheint es, als könne sie nur schlechter werden. Doch in Wirklichkeit gewinnen wir immer mehr Möglichkeiten, selbst zu entscheiden, was wir wann und wo und wie wollen. Und idealerweise haben wir einen Gefährten an unserer Seite, mit dem wir immer wieder das tun können, was uns besonders gut gefällt. Allerdings geschieht nichts davon von allein. Sondern wir müssen uns dafür entscheiden.

Was Sie dafür brauchen, geht deutlich über die Anwendung von Sexspielzeug, Dessous oder Kerzenschein hinaus. Arnold Retzer nennt es die „resignative Reife“, Martin Koschorke das „erwachsene Bedürfnismanagement“ und Margret Hauch „Selbstverantwortung“. Klingt nicht besonders sexy? Möglich. Aber es ist definitiv die Voraussetzung dafür, dass Ihr Liebesleben auf Dauer sexy bleibt.

Niemand würde sein neues Handy wegwerfen, nur weil das Startguthaben aufgebraucht ist. Ebenso wenig würde man es behalten und sich fortwährend darüber beklagen, dass keine Gespräche mehr möglich sind, das sei doch am Anfang ganz anders gewesen. Ja, möglicherweise war der Sex in der Zeit der Verliebtheit ein Selbstläufer. Doch niemand zwingt Sie, ohne Sex zu leben, nur weil Sie inzwischen vom siebten Himmel auf dem Boden der Tatsachen gelandet sind.

Die Sexualität in einer Beziehung braucht immer wieder Ihre Entscheidung. Zum Beispiel die, auch zehn Jahre nach dem Flattern der Schmetterlinge im Bauch schöne erotische Begegnungen mit Ihrem Liebsten haben zu wollen. Dann reicht es nicht zu beklagen, dass das Begehren irgendwie von allein eingeschlafen ist. Sondern Sie müssen wählen, ob Sie bereit sind, ihn knuffig zu finden, oder ob Sie sich weiter darüber ärgern wollen, dass er den Klempner nicht angerufen hat. Sie beschließen, ob Sie den heutigen Abend nutzen, die gemeinsame Lust einzuladen, oder ob Sie gekränkt weiter darauf beharren, dass die Liebste endlich die Initiative ergreift. Es ist Ihnen überlassen, ob Sie sich schlecht gelaunt zurückziehen, wenn Sie die Avancen des Partners unpassend oder unerotisch finden, oder ob Sie ihm liebevoll zeigen, was Ihnen hilft, vom Alltagsstress abzuschalten und sich gemeinsam zu vergnügen.

Sie können natürlich darauf beharren, dass das alles anstrengend und furchtbar unromantisch ist. Damit hätten Sie völlig recht. Doch ich gebe zu bedenken, was Woody Allen einmal so treffend ausdrückte: „Ich hasse die Wirklichkeit. Doch sie ist der einzige Ort, wo man ein anständiges Steak bekommt.“

Weiterdenken

Nehmen Sie Ihr „Reisetagebuch“ zur Hand und notieren Sie die Antworten auf folgende Fragen oder nutzen Sie die Arbeitsbögen unter www.desafinado.de/guter-sex-geht-anders.html.

  • Was verstehe ich unter normalem Sex? Was finde ich normal? Was nicht?
  • Wie sollte Sex sein? Was ist mein Ideal? Was ist meine Erwartung?
  • Warum eigentlich sollte der Sex so sein, wie ich ihn mir vorstelle?
  • Warum habe ich persönlich Sex? Was suche ich? Worum geht es mir? Was soll nach dem Sex anders sein als vorher? Wofür lohnt es sich für mich, Sex zu haben?
  • Bekomme ich auf diese Weise – nämlich durch den Sex, den ich habe – das, was ich brauche?

Wenn Sie in einer Beziehung leben, beantworten Sie bitte auch noch folgende Fragen:

  • Will ich Sexualität mit meinem Partner oder meiner Partnerin haben?
  • Warum will ich das eigentlich?
  • Welche guten Gründe sprechen dafür – und welche sprechen dagegen?
  • Was wäre für mich schöner Beziehungssex, der sich lohnt, ihn zu haben?

Die Entscheidung: Genügen oder Vergnügen?

Wir entscheiden selbst über uns und über das, was geschieht. Diese Selbstbestimmung hat einen wichtigen Einfluss auf die Lust und auf unsere Sexualität. Warum das so ist, und wie Sie dies als Chance nutzen können, erfahren Sie in diesem Kapitel.

Fallstricke für die Lust

Entscheidungen sind einerseits etwas Wunderbares. Wenn Sie sich entscheiden müssen, dann gibt es Alternativen, zwischen denen Sie wählen können. Welch ein Luxus! Andererseits machen die vielen Möglichkeiten das Leben auch kompliziert. Wenn Sie ehrlich sind, haben Sie sich vermutlich auch schon einmal gewünscht, wir würden Sexualität einfach im Brunftrhythmus erledigen, ohne dass wir uns groß den Kopf darüber zerbrechen müssten. Wie einfach könnte das Leben sein, wenn nicht immer wieder die Frage auftauchen würde, ob und wann und wie und mit wem Sie Sex haben wollen!

Doch die Natur hat bei uns Menschen die sexuelle Lust vom Fortpflanzungszyklus entkoppelt. Menschen können sich genussvoll auch zu Zeiten paaren, in denen Fortpflanzung nicht möglich ist. Sie können auch Nachwuchs zeugen und empfangen, ohne dass dieser Akt mit besonders viel Lust erlebt wird. Ebenso haben wir die Wahl, keinen Sex zu haben, was ein ausgesprochener Vorteil ist, ganz besonders in Zeiten, in denen alle Kräfte gebraucht werden, um andere Herausforderungen zu meistern, wie zum Beispiel für eine wichtige Prüfung zu lernen, jemanden durch eine schwere Krankheit zu begleiten oder ein Kunstwerk zu erschaffen.

Anstatt einem instinktgesteuerten Programm zu folgen, können wir Entscheidungen treffen. Die wichtigste Frage dabei lautet: Warum will ich überhaupt Sex haben? Ich hoffe, dass Ihre Antwort in Übereinstimmung mit Ihrem Körper lautet: zum Vergnügen. Doch bevor wir uns dorthin auf den Weg machen, möchte ich Ihnen erklären, was aus meiner Erfahrung die vier gefährlichsten Fallstricke für Lust, Genuss und Erotik sind.

  • Der erste Fallstrick auf der Reise zu gutem Sex ist die Vorstellung, dass es einen natürlichen Ablauf gibt, dem man folgen muss. Wir meinen funktionieren und ignorieren zu müssen, was wir spüren.
  • Der zweite Fallstrick auf der Reise zu gutem Sex ist die Tatsache, dass es schwer ist, etwas zu wollen, wenn man den Eindruck hat, es zu müssen.
  • Der dritte Fallstrick auf der Reise zu gutem Sex ist die Hoffnung auf erotische Erweckung, anstatt sich der eigenen sexuellen Potenz bewusst zu werden. Wir hoffen und warten, anstatt selbst zu entscheiden.
  • Der vierte Fallstrick auf der Reise zu gutem Sex ist die Überzeugung, dass Gemeinsamkeit entsteht, indem man sich entweder gegen den anderen durchsetzt oder nachgibt. Wir meinen uns anpassen zu müssen, anstatt die Verantwortung für unsere Lust zu übernehmen.

Gehen wir diesen Fallstricken auf den Grund. Wie sind sie entstanden? Wieso hindern sie uns heute noch immer daran, guten Sex zu haben? Und vor allem: Wie können wir sie aus dem Weg räumen?

Natur oder Kultur

Der erste Fallstrick ist die Überzeugung: „Wir können nicht anders“. Wir müssen unseren sexuellen Trieb befriedigen, wir müssen auf sexuelle Reize mit sexueller Aktivität reagieren und wir müssen, sobald gestartet, den sexuellen Akt von Anfang bis Ende durchziehen. Sie finden, das klingt merkwürdig? Diese Überzeugung ist aber leider immer noch sehr verbreitet.

In Berlin gibt es schon seit vielen Jahren eine Veranstaltung mit dem Namen „der erotische Salon“. Vor einigen Jahren wurden dort zu den unterschiedlichsten Fragen rund um Sexualität, Erotik und Sinnlichkeit Fachleute eingeladen, die ihre Erfahrungen oder Thesen vorstellten und sich den Fragen eines erotisch sehr aufgeschlossenen Publikums stellten. Umso erschütterter war ich, als ich dort über meine Arbeit als Sexualtherapeutin erzählte und von einem etwa 50-jährigen Herrn mit ausgesprochen kultiviertem Äußeren angesprochen wurde: „Frau Brockhausen, Ihre Ausführungen haben durchaus einen gewissen Charme. Aber wir wissen doch alle, dass diese Entscheidungsfreiheit, von der Sie reden, gar nicht gegeben ist. Schließlich ist Sex ein Grundbedürfnis, genauer gesagt ein Trieb. Und dieser baut sich nun mal kontinuierlich auf und muss regelmäßig entladen werden, sobald die Spannung ein bestimmtes Maß überschreitet.“

Oje. Selbst in dieser Zuhörergruppe von aufgeklärten, aufgeschlossenen und gut informierten Menschen kursierte noch das „Dampfkesselmodell“ der sexuellen Triebenergie, ein Modell, welches die sexualwissenschaftliche Forschung schon vor vielen Jahren widerlegt hatte! Geduldig begann ich zu erklären, dass das, was er da genannt habe, ein weit verbreitetes Missverständnis sei. Das Problem ist: Hunger, Durst und Sex werden gleichgesetzt und man geht davon aus, dass sie nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Doch die Analogie, sexuelle Bedürfnisse bauten sich wie Hunger im Organismus auf, bis sie dann befriedigt werden müssten, ist leider genauso falsch wie simpel.

Nahrung und Flüssigkeit sind tatsächlich unverzichtbar für das Überleben des Einzelnen. Sexualität dagegen ist nur wichtig für das Überleben der Art. Und von daher muss sie nicht so regelmäßig und zwangsläufig stattfinden wie die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. Im Gegenteil: Unter bestimmten Umständen ist es wichtig und sinnvoll, dass sie nicht stattfindet, zum Beispiel in Zeiten schlechter Nahrungsversorgung, bei Überbevölkerung des Lebensraumes oder bei akuter Gefahr. Geschlechtsverkehr in einer bedrohlichen Situation reduziert die Wachsamkeit und erhöht das Risiko. (Nein, ich werde jetzt kein Beispiel mit einem Säbelzahntiger bringen, so sehr es mich auch in den Fingern juckt. Sie wissen trotzdem, was ich meine.)

Außerdem wird auch bei einem viel existenzielleren Bedürfnis wie der Nahrungsaufnahme sich niemand über den nächsten Brotkanten im Rinnstein hermachen, sobald ein Hungergefühl auftritt. Wie wir eine Mahlzeit gestalten, hat Einfluss auf den Genuss, den sie uns verschafft. Und da sind wir Menschen sehr kreativ. Was wir wann, wo und wie essen hat deutlich mehr mit Kultur als mit Natur zu tun. Warum sollte das bei der Sexualität anders sein?

Reize wecken die Lust

Nicht der Triebdruck führt dazu, dass wir Menschen erotische Situationen aufsuchen und unsere sexuelle Energie entladen, sondern die Reize selbst wecken in uns Lust und Erregung. Jede angenehme intensive sinnliche Erfahrung kann als erregend erlebt werden und die Lust auf Sex auslösen, wie zum Beispiel ein erfreulicher Anblick, eine aufregende Stimme oder auch das Betrachten oder Hören sexueller Aktivitäten anderer. Ebenso können angenehme Berührungen die Lust auf mehr wecken. Lust auf Sex entsteht also nicht von selbst und unter allen Umständen, sondern nur unter günstigen Bedingungen.

Ob es tatsächlich zum Sex kommt, ist allerdings nicht vom Reiz abhängig, sondern von den Stationen, die wir bei der Verarbeitung eines potenziell erotischen Reizes durchlaufen.

  • Bewertung: Ist der Auslöser erotisch oder nicht erotisch reizvoll? Wenn der innerliche und äußere Raum dafür fehlt, weckt der Anblick eines attraktiven halbnackten Wesens des bevorzugten Geschlechts weniger Interesse als vielmehr die Besorgnis, dass sich dieser sympathische Mensch erkälten könnte.
  • Erkennen der Körperreaktion: Für Männer ist das leichte Steifwerden des Penis deutlich wahrnehmbar, Frauen verbinden die stärkere Durchblutung der Scheidenwände nicht automatisch mit Erregung.
  • Aufmerksamkeit: Im nächsten Schritt erfolgt die Entscheidung, wie viel Raum wir den aufkeimenden erotischen Gefühlen geben wollen.
  • Konsequenz: Wollen wir mit diesen Empfindungen etwas anfangen? Nicht jede angenehme innere Beschäftigung mit erotischen Reizen und Erregung führt zwangsläufig dazu, dass diese Bereitschaft tatsächlich in eine sexuelle Aktivität umgesetzt wird.

Der Weg vom Reiz (zum Beispiel ein ausgesprochen hübsch geformter Po) zur Reaktion (sexuelle Betätigung) ist ein Weg mit vielen Verzweigungen, vielen Wegkreuzungen, an denen wir jeweils die Richtung einschlagen können, die wirklich für uns stimmt. Und wenn Sie an der letzten Kreuzung stehen und wissen, dass Sie Sex wollen, dann beginnt eine neue Straße mit wieder neuen Gabelungen: Was, wann, mit wem, wie – Sie wählen immer wieder neu. Das klingt kompliziert. Doch wenn Sie einen verlässlichen inneren Kompass haben (und den haben Sie!), werden Sie den Weg zum Genuss finden. Auch wenn Sie dafür andere Richtungen einschlagen müssen als beim letzten Mal.

Das Sexlabor

Die niederländische Psychologin Ellen Laan beschäftigt sich damit, wie sehr die empfundene sexuelle Erregung mit den körperlichen Reaktionen übereinstimmt. Dazu führte sie Männern und Frauen pornografische Filme in unterschiedlichen Variationen vor und maß den Blutfluss in den Genitalien. Zusätzlich gaben die Probanden an, wie sehr sie das Gesehene stimulierte. Die Einschätzungen der Frauen unterschieden sich deutlich von denen der Männer. Trotz verstärktem Blutfluss in der Scheide konnte es sein, dass sie sich gar nicht erregt fühlten. Bei Männern gab es mehr Übereinstimmung zwischen Körper und Erleben.

Gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen wertete Ellen Laan ihre eigenen Studien und Untersuchungen anderer Forscher unter diesem Gesichtspunkt aus. Sie kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass sexuelle Reaktionen des Menschen sich immer aus kognitiven, emotionalen und physiologischen Prozessen zusammensetzen. Ob körperliche Erregung überhaupt wahrgenommen und ob sie als lustvoll empfunden wird, ist also immer mitbeeinflusst durch unsere Bewertungen und Gefühle.

Weitere Informationen finden Sie unter www.desafinado.de/guter-sex-geht-anders.html, Anmerkung 2

Wenn Sex einfach sein muss

Niemand von uns ist seinen Instinkten oder den Fruchtbarkeitszyklen hilflos ausgeliefert. Das macht unser Leben komplizierter als das unserer affenartigen Vorfahren, doch es eröffnet uns die Chance, den Genuss zu vertiefen, indem wir je nach Situation den Sex ganz anders gestalten, nämlich so, wie es sich in diesem Moment richtig gut anfühlt.

Wie bitte? Protest? Auch Sie sind der Meinung, dass das Bedürfnis nach Sex sich aufbaut und unbedingt entladen werden muss? Dann geht es Ihnen wie vielen meiner Klienten und auch Klientinnen. Sie berichten tatsächlich, dass sich über eine bestimmte Zeit ein Druck aufbaut, und sie dann sehr leiden, wenn sie keinen Sex haben können. Doch wenn wir gemeinsam darüber sprechen, wird schnell deutlich, dass es nicht um den Sex an sich geht, sondern um seine Wirkung.

Manche nutzen Sexualität mit einem Partner oder auch mit sich selbst zur Beruhigung oder Entspannung. Für andere ist Sex eine Möglichkeit, sich lebendig zu fühlen. Wieder andere lenken sich von schlimmen Gedanken, Erinnerungen oder Situationen ab. Sex mit einem Partner kann das Gefühl vermitteln, begehrenswert zu sein, oder ganz einfach so angenommen zu werden, wie man ist. Das tut gut und beruhigt die quälenden Selbstzweifel.

All dies ist überhaupt kein Problem. Es wird erst dann zu einem, wenn Sexualität der einzige oder der mit Abstand wichtigste Weg ist, sich gut zu fühlen. Wenn dann nämlich unangenehme Gefühle auftreten und innere Spannungen auslösen, dann steigt der Druck, Sex haben zu müssen, um sie zu lindern. (Interessanterweise fühlt sich für einen Partner oder Partnerin das Ansinnen, Sex zu haben, in solchen Momenten sehr unerotisch an. Man fühlt sich – zu Recht – nicht gemeint, vielleicht sogar benutzt.)

Wenn Sie herausfinden, was das für ein Druck ist, der sich in Ihnen aufbaut, und worum es Ihnen geht, gewinnen Sie Entscheidungsspielraum. Sie können sich für lustvollen Sex entscheiden, wenn dieser möglich ist, oder Sie können sich Entspannung, Anregung oder Bestätigung auf andere Weise verschaffen.

Der erste Fallstrick

Der erste Fallstrick auf der Reise zu gutem Sex ist die Vorstellung, dass es einen natürlichen Ablauf gibt, dem man folgen muss.

  • Doch Lust auf Sex entsteht durch die Entscheidung, sich erotischen Reizen zuzuwenden und sich damit zu beschäftigen.
  • Wir müssen keinem vorgegebenen Paarungsablauf folgen, sondern wir können wählen, ob wir Lust und Erregung in eine erotische Begegnung münden lassen, oder auch nicht.
  • Auch der Ablauf der gemeinsamen Sexualität ist nicht festgelegt. Wir sind frei, sie so zu gestalten, dass sie uns Genuss ermöglicht.

Wir können auch anders

Verabschieden Sie sich von der Idee, dass der Sex mit einem anderen Menschen einem instinktgesteuerten Programm folgen muss, das auch noch für alle gilt. Gehen Sie stattdessen davon aus, dass mit Ihrer persönlichen Art, Sexualität zu genießen, alles in Ordnung ist. Auch wenn Sie das feine Streicheln Ihrer Arminnenseite deutlich erregender finden als die routinierte Klitoris-Stimulation. Oder wenn Ihre Lust einen kräftigen Dämpfer erhält, weil Ihnen plötzlich einfällt, dass das Fenster zum schallverstärkenden Innenhof noch offen ist. Oder wenn Ihnen wie Erik die Knie wehtun und Ihr Körper Ihnen signalisiert, dass diese Nummer in Ihrer Fantasie zwar so richtig geil, aber in der Realität eher eine Quälerei ist.

Diese Haltung verändert radikal, wie Sie Ihre Sexualität in Zukunft erleben werden. Anstatt an sich zu zweifeln oder sich zu bemühen, alles richtig zu machen, können Sie sich endlich darauf konzentrieren, wie sich das anfühlt, was gerade geschieht. Sie folgen Ihrem inneren Kompass. Gut ist, was sich gut anfühlt. Selbst, wenn das schöne Gefühl am Ellenbogen entsteht und nicht an einer der überall gerühmten, ach so erogenen Zonen. Und nicht gut ist, was sich nicht gut anfühlt! Sorgen Sie dafür, dass es aufhört, anstatt daran zu verzweifeln, wenn das angeblich so geile Beknabbern Ihrer Brustwarzen Sie nicht vor Wonne, sondern vielmehr durch Überreizung verrückt macht.

Ja, es ist wirklich so einfach, wie es klingt. Doch es erfordert, dass Sie selbstbewusst für sich einstehen. Das ist es, was viele Menschen zurückschrecken lässt. Es macht ihnen Angst. Andere scheuen die Unbequemlichkeit. Selbst gestalten ist schön, aber auch kompliziert. Ein instinktgesteuertes Sexprogramm würde es so viel einfacher machen, weil es einen durch die Untiefen einer sexuelle Begegnung lotst und nichts anderes erfordert, als den richtigen Moment zu erkennen und einfach mal draufloszurammeln. Nicht wenige Menschen machen Sex so, als gäbe es dieses Programm. Als müsse es durchgezogen werden, sobald es einmal gestartet ist. Doch was geschieht, wenn Sie den ordnungsgemäßen Ablauf des Geschlechtsakts nicht zu stören wagen? Ich verrate es Ihnen: Es läuft schief.

Wie bei Kristin und Niels. Wir sprechen über den letzten gemeinsamen Sex, den die beiden hatten. „Während wir miteinander geschlafen haben, dachte ich darüber nach, ob es dir gut geht, und ob du wohl diesmal deine Erektion halten kannst“, erzählt Kristin. „Dabei war ich selber noch gar nicht besonders erregt. Aber anstatt dich zu bitten, mich zu stimulieren, dachte ich, jetzt bloß nicht unterbrechen, wir können schließlich froh sein, dass das Eindringen gerade funktioniert hat. Besser ich mache fleißig mit, damit du ohne Störung zum Orgasmus kommst.“

Nachdenklich schüttelt Niels den Kopf und sagt: „Ich habe gesehen, dass du gar nicht besonders erregt warst. Ich dachte, es liegt daran, weil es dir mit mir keinen Spaß mehr macht. Schließlich gab es in letzter Zeit häufiger Probleme mit der Erektion. Deshalb wollte ich es unbedingt durchziehen und die Erektion ausnutzen. Und na klar, kaum denke ich das, vergeht mir nicht nur der Spaß, sondern auch mein Penis wird sofort schlaff.“ Er schweigt nachdenklich und sagt dann: „Wie schräg ist das eigentlich: Je mehr wir uns bemühen, desto schneller tritt das ein, was wir beide fürchten.“

Ich nicke. „Es wirkt so, als ob Sie beide versuchen, den Geschlechtsverkehr ordnungsgemäß durchzuführen. Jeder ignoriert, dass ihn eigentlich etwas irritiert, weil Sie Angst haben, den Ablauf zu stören. Aber man fragt sich, warum eigentlich? Für wen machen Sie denn Sex? Für eine unsichtbare Jury, von der Sie sich am Ende eine maximale Punktzahl erhoffen?“ Beide sind sehr nachdenklich, als sie meine Praxis verlassen.

Als sie wiederkommen, hat sich ihre Sexualität deutlich entspannt. Zwar ging Niels Erektion zwischendurch einmal weg, und jeder der beiden stand vor der Frage, ob er versucht, den Geschlechtsverkehr trotzdem durchzuziehen, oder lieber frustriert abbricht. Als Kristin das merkte, öffnete sie die Augen und sah Niels enttäuschten Blick. Sie lächelte ihm zu und plötzlich begannen beide zu lachen. „Schwerer Patzer“, sagte Niels und sie nickte: „Das gibt höchstens zwei von sechs möglichen Punkten!“ Sie hielten einander im Arm und streichelten sich. Als beide zunehmend erregter wurden, brachten sie einander mit der Hand zum Orgasmus, während sie darüber witzelten, dass sie wegen dieses Verstoßes gegen die Wettbewerbsordnung gewiss disqualifiziert werden würden.

Guter Sex

Guter Sex kann nur gut sein, wenn er zu den eigenen Wünschen und Gefühlen passt, wenn er für die aktuelle Situation stimmt und wenn durch das Verhalten der beiden Beteiligten eine Gemeinsamkeit entsteht, die beide genießen. Zum Glück können wir alle diese Dinge beeinflussen, weil wir als Menschen keinem instinktgesteuerten Fortpflanzungsprogramm unterworfen sind.

Wollen statt Sollen

Der zweite Fallstrick trägt den Titel „Ich muss wollen“. Das ist, wie Sie unschwer erkennen, ein Paradox. Aber eines mit gravierenden Auswirkungen auf die Lust.

Die meisten Paare, die meine Praxis wegen sexueller Probleme aufsuchen, kommen, weil einer von beiden kaum noch Lust hat und der andere mehr oder weniger darunter leidet. Manchmal könnten beide den Zustand auch noch länger ertragen, doch bei ihnen tickt die biologische Uhr, weil ein Kind gewünscht und geplant ist, und in vielen Fällen nehmen beide ihre Irritation ernst: „Ich bin noch zu jung, um ohne Sex zu leben.“ Auch die Presse hat das Thema der Zeit erkannt. Kaum eine Frauenzeitschrift, die auf einen Aufmacher zum Thema Sex verzichtet. Sie versprechen, den Leserinnen zu gutem, noch besserem und völlig ekstatischem Sex zu verhelfen. Manche dieser Artikel sind sogar richtig gut. Doch andere verwirren mich: Da werde ich zum Beispiel aufgefordert, meine Tabus über Bord zu schmeißen und exotische Techniken, Sextoys oder Sexchats zu nutzen, um meine eingeschlafene Sexualität zu beleben. Um mir die Hemmungen zu nehmen, folgen dann einige Erfahrungsberichte.

Aber mal im Ernst: Wer von uns braucht denn heute noch eine Erlaubnis beim Sex? Die Zeiten der Tabus sind doch schon lange vorbei. Fragt sich wirklich noch jemand, ob er (oder sie) sich danach sehnen darf, gefesselt zu werden oder beim Liebesspiel auf den Liebsten zu urinieren? Es ist doch eher anders herum: Meine Klienten jedenfalls entschuldigen sich dafür, wenn sie die wilden Sexpraktiken nicht in Betracht ziehen, sondern „Blümchensex“ bevorzugen. Brauchen die wirklich eine Ermutigung, sexuelle Praktiken zu wollen, auf die sie von selbst so nicht kommen?

Was verboten ist, macht uns scharf?

Aus meiner Erfahrung als Sexualtherapeutin weiß ich, dass ein Tabubruch leider keine Garantie für lustvollen Sex ist. Lust entsteht nicht zwangsläufig, indem Sie irgendetwas tun, was bislang verpönt war oder was so exotisch ist, dass es kaum jemand tut (mal ganz abgesehen davon, dass Sie in Zeiten des Internets immer eine Community finden werden, die sich genau damit beschäftigt). Sondern Lust erwächst aus der Sicherheit, dass Sie genau das hier und jetzt unbedingt und so sehr wollen, dass Sie deshalb auf alle Hemmungen pfeifen. Weil Sie keine Erwartungen erfüllen, keine Pflicht abarbeiten und niemandem etwas beweisen müssen. Sie haben einfach nur hier und jetzt Lust darauf (und wenn alles gut geht, einen anderen Menschen, der diese Lust mit Ihnen teilt). Das und nichts anderes macht diesen „Tabubruch“ geil. Hingegen macht ein lauwarmes „Warum nicht, machen ja alle … Die in ‚Shades of Grey‘ fährt ja richtig drauf ab …“ die ganze Aktion zu einem abzuhakenden Punkt auf einer inneren To-do-Liste, und statt des versprochenen Prickelns spüren Sie nur noch eine unangenehme Irritation: Wieso bringt mich das nicht in Fahrt?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869105512
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Oktober)
Schlagworte
Erotik flirten Partnerschaft Sex-Ratgeber Sex-Tipps Sexualität Verführung

Autor

  • Berit Brockhausen (Autor:in)

Die Diplompsychologin und Sexualtherapeutin Berit Brockhausen arbeitet seit 1985 in der Paar- und Sexualberatung. In den Medien ist sie eine gefragte Expertin, weil sie selbst komplexes Wissen einfach auf den Punkt bringen kann. Für diesen Ratgeber lässt sie ihrem umwerfenden Erfahrungsschatz freien Lauf und erklärt, warum viele Männer und Frauen völlig unnötig ein unbefriedigendes Liebesleben haben. Ihre praktischen Tipps sorgen für Lust und Erfüllung.
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Titel: Guter Sex geht anders