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Streit ist auch keine Lösung

Wie Sie in Ihrer Partnerschaft das bekommen, was Sie wirklich wollen

von Christian Thiel (Autor:in)
208 Seiten

Zusammenfassung

Schluss mit Diskussionen und Verletzungen – zurück in eine glückliche Beziehung! Niemand mag ihn, doch keiner bleibt von ihm verschont: Streit in der Partnerschaft. Paarberater Christian Thiel erklärt, wie Sie alte Muster durchbrechen und die nervigen Auseinandersetzungen endlich beenden. Denn: Selbst der beste Streit macht nicht glücklich!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Sie wollen keinen Streit in Ihrer Beziehung. Auch Ihr Partner ist eher harmoniebedürftig. Und doch ist es neulich passiert. Sie kamen nach Hause, nach einem langen und anstrengenden Tag. Eine Jacke und ein Schal lagen herum. Das störte Sie. Sie sagten ein paar Worte, Ihr Partner auch, und ehe Sie wussten, wie Ihnen geschah, waren Sie in einen unschönen Streit verwickelt, in dessen Verlauf so unangenehme Worte fielen wie „immer muss ich“, „du musst gerade reden“ und „mach doch deinen blöden Abwasch alleine“. In gehobener Lautstärke, versteht sich.

Am Ende waren auch die Nachbarn über alle Details Ihrer Zwistigkeiten informiert. Die Versöhnung – später dann, als sich Ihre Gemüter beruhigt hatten – war reumütig. Und dann hofften Sie beide, dass das so schnell nicht wieder passieren möge. Bis zur nächsten Auseinandersetzung. Und die ließ leider nicht lange auf sich warten.

Wir alle mögen ihn nicht und doch bleibt niemand davon verschont: ein Streit. Bei manchen Paaren ist er nur selten zu Gast. Bei anderen dagegen geht er regelmäßig ein und aus. Ungebeten klopft er immer wieder an die Tür, tritt – so hat es zumindest den Anschein – unaufgefordert ein und verschwindet anschließend genauso überraschend, wie er gekommen ist.

Keine Frage, Streit ist kein gern gesehener, sondern ein unberechenbarer und die Nerven belastender Gast. Viele Paare würden ihn gerne aussperren, verbannen aus ihrer Partnerschaft. Doch wie kann ihnen dies gelingen?

Mythen der Liebe

Mythos Nr. 1

Streitpunkte müssen nun einmal geklärt werden, damit es einem Paar wieder gut miteinander geht. Stimmt das? Nein. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn es einem Paar wieder gut miteinander geht, dann können Streitpunkte besser gelöst werden.

Mythos Nr. 2

Für jeden Streit gibt es auch eine Lösung – ein Paar muss nur lange genug miteinander über die Dinge reden. Stimmt es, dass es für jeden Streit eine Lösung gibt, wenn man nur lange genug darüber spricht? Nein. Auch diese Überzeugung ist falsch. Für manche Probleme in einer Partnerschaft gibt es keine Lösung – und schon gar keine schnelle. Zum Beispiel weil die Konflikte aus dem Charakter der Beteiligten entspringen. Und die Fixierung auf die Schwierigkeiten tut ein Übriges, um zu verhindern, dass ein Paar sich wieder näherkommt. An Stellen, wo es jetzt gerade möglich ist, bei dem Verbindenden. Bei den Dingen, bei denen sie sich nahe sind.

Für manche Probleme in einer Partnerschaft gibt es keine Lösung.

Mythos Nr. 3

Vielleicht hilft Streiten uns ja auch weiter, sagen andere Paare. Der Streit sei ein reinigendes Gewitter, hoffen sie. Glauben Sie mir: Wenn die internationale Forschung und die Erfahrung von Praktikern ergäben hätten, dass Streiten ein guter Weg zu einer glücklichen und langjährigen Partnerschaft wäre – ich würde es Ihnen ohne jede Bedenken empfehlen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Forschung belegt, dass Streiten nicht hilft. Es führt nicht dazu, dass Sie eine Lösung für Ihre Probleme finden. Es verbessert die Stimmung in der Beziehung nicht. Und es führt auch nicht dazu, dass Sie in Ihrer Partnerschaft bekommen, was Sie wollen. Die meisten Streite sind schon deshalb schädlich für eine Beziehung, weil sie Zeit und Energie kosten, die beide Partner für etwas ganz anderes brauchen. Für Lösungen zum Beispiel.

Mythos Nr. 4

Sich zu streiten gehört wahrscheinlich zu einer Partnerschaft dazu, sagen viele Paare nach einigen bewegten Jahren resignierend. Auch die Freunde stimmen dem zu, wenn sie denn überhaupt von den Schwierigkeiten erfahren. Sich zu streiten ist ja so peinlich!

GEHÖRT STREIT ZUR LIEBE?

Stimmt es, dass der Streit zur Liebe dazugehört wie Eier zum Osterfest und Feuerwerk zu Silvester? Nein. Wo Streit ist, da ist – jetzt gerade – keine Liebe. Das ist es, was ihn so gefährlich macht. Und das ist es, was verhindert, dass Sie das bekommen, was Sie wollen. Denn ein Partner, der sich ungeliebt fühlt, ist zum Kompromiss nicht bereit.

Mythos Nr. 5

Streiten? Nein – wir streiten uns nie, sagen andere Paare – und glauben, dass das alleine den Zusammenhalt einer Partnerschaft garantiert. Am Ende aber sind sie doch getrennt. Wie kann das sein? Wo sie doch Streit und Auseinandersetzungen aller Art gemieden haben wie der Teufel das Weihwasser! Nie haben sie etwas gesagt, auch wenn es sie noch so sehr störte. Immer haben sie geschwiegen, selbst wenn es als Geschenk schon wieder das ungeliebte Parfüm gab oder eine weitere gestreifte Krawatte. Streit nur einfach mit aller Kraft zu vermeiden – das alleine ist also auch nicht die Lösung. Sich in einer Partnerschaft nicht auseinanderzusetzen, das ist noch gefährlicher als ab und zu den unangemeldeten Besuch des Streits vor der Tür stehen zu haben.

Mythos Nr. 6

Früher war alles besser. Die Liebe ist heute aber auch schwierig geworden, sagen manche Paare und vermuten, dass wir uns heute öfter streiten als unsere Eltern und Großeltern. War früher wirklich alles besser? Sind Partnerschaften heute komplizierter als ehedem? Streiten wir heutzutage häufiger als frühere Generationen? Nein, früher war es nicht besser. Im Gegenteil! Auch wenn es Sie erstaunen mag, alles deutet darauf hin, dass wir heute deutlich zufriedener mit unseren Beziehungen sind als vergangene Generationen. Der Grund: Die Machtverteilung zwischen Männern und Frauen ist heute weit ausgeglichener als früher. Auch früher waren nur Beziehungen gut, in denen sich beide Partner auf Augenhöhe begegneten. War das nicht der Fall, etwa weil der Mann für sich eine herausgehobene Position beanspruchte, so rächte sich seine unterlegene Ehefrau in der einen oder anderen Weise.

Je gleichberechtigter, desto besser.

In die Vergangenheit lässt sich ja schwer schauen. Doch betrachtet man heutige Partnerschaften weltweit, so ergibt sich ein eindeutiger Befund: Die Zufriedenheit mit der Partnerschaft, insbesondere mit der Sexualität, steht in einem engen Zusammenhang mit einer gleichberechtigten Beziehung von Männern und Frauen. Je gleichberechtigter, desto besser. So ist die Gleichberechtigung der Frau also ein wahres Geschenk für Partnerschaften.

Mythos Nr. 7

Ist Streiten nicht sogar gesund? Nein, sich zu streiten ist sogar ausgesprochen ungesund. Es führt kurzfristig zu Schlafmangel, zu Tränensäcken unter den Augen, einer gramgebeugten Körperhaltung und einer sorgenvollen Miene. Alles zweifellos nicht gesund, aber doch einigermaßen harmlos. Langfristig sind die gesundheitlichen Folgen allerdings erheblich gravierender. Wer sich oft und gerne streitet, wird häufiger krank, denn Streit schwächt das Immunsystem.

Warum das so ist, ist leicht zu erklären. Bei heftigen Auseinandersetzungen ist der Körper ausschließlich darauf aus, seine Kräfte für einen Kampf zu mobilisieren. Die Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin und Cortisol ermöglicht es ihm, sich auf das im Augenblick wichtigste Ziel zu konzentrieren. Andere biochemische Prozesse müssen dagegen zurückstehen. Und dazu gehören auch wichtige Abwehrmechanismen des Körpers. Deshalb ist die Immunabwehr bei Paaren, die häufig streiten, geschwächt. Das macht sie anfälliger für Krankheiten.

Zufriedene Paare dagegen haben mehr weiße Blutkörperchen, die vor gesundheitlichen Gefahren schützen. Körpereigene Killerzellen, die Krankheitserregern entgegentreten, arbeiten bei glücklichen Paaren effektiver.

Nun könnten Sie vermuten, dass es sich bei den durch Streit drohenden Gesundheitsgefahren um Dinge wie einen harmlosen Schnupfen oder eine simple Magenverstimmung handelt und mehr nicht. Doch das ist nicht der Fall. Das menschliche Immunsystem hält auch schwierigere Krankheitsauslöser bis hin zu Krebszellen in Schach.

Außerdem kann Beziehungsknatsch auf Dauer sogar das Herz schädigen, wie Wissenschaftler feststellten. Das liegt vermutlich an einer der Folgen von dauerhaftem Beziehungsstreit, dem hohen Blutdruck.

Schwedische Forscher untersuchten beispielsweise Frauen, die einen Herzinfarkt erlitten hatten. Dabei stellten sie fest, dass Ehestress das Risiko verdreifacht, in den folgenden fünf Jahren neue Herzprobleme zu bekommen.

Aus all diesen Gründen hat das Leben in einer von Streit geprägten Beziehung auf Dauer gravierende Auswirkungen, auch auf die Lebenserwartung von Menschen. Eine unglückliche Ehe erhöht die Gefahr zu erkranken, um ungefähr 35 Prozent und verkürzt das Leben um etwa vier Jahre.

Das alles sind Argumente gegen den Streit und gegen das Leben in einer von Streit geprägten Beziehung. Und doch glauben viele Menschen, es habe eine reinigende Wirkung, wenn es in ihrer Beziehung hin und wieder zu einem heftigen Gewitter kommt. Und dieser Glaube hat, so unwahrscheinlich es klingt, unter anderem mit dem Dampfkochtopf zu tun.

DER DAMPFKOCHTOPF

Nicht nur der Dampfkochtopf hat seit dieser Zeit an Beliebtheit verloren, auch die Theorie des Dampfablassens beim Partner als eines guten Weges zu einer stabilen Partnerschaft ist seither mächtig unter die Räder gekommen. Der Grund: Sie hat sich nicht bewährt. In wissenschaftlichen Untersuchungen hat sich gar das Gegenteil als günstig erwiesen. Glaubt man Wissenschaftlern wie dem amerikanischen Paartherapeuten und Beziehungsforscher John Gottman oder dem Bochumer Psychologieprofessor Hans-Werner Bierhoff, dann ist es für eine Beziehung sogar ausgesprochen förderlich, wenn wir nicht regelmäßig beim Partner oder bei der Partnerin Dampf ablassen. Wir selbst wollen ja auch nicht vom Partner mit Unmut überhäuft werden.

Lassen Sie Ihre Gefühle heraus! Mit dieser Devise gehen auch heute noch viele Paare an partnerschaftliche Konflikte heran. Sie haben immer noch das Bild von einem Dampfkochtopf vor Augen, der ungedingt Druck ablassen muss. Seltsam, warum folgen Menschen gerade in der Partnerschaft so gerne der Devise „Lassen Sie Ihre Gefühle heraus!“, während sie sich in Freundschaften und auch gegenüber Kolleginnen und Kollegen und bei Chefs ganz anders verhalten?

Was dieses Buch will

Seit vielen Jahren berate ich Singles, die nach einer Trennung den Weg zu einer neuen Liebe suchen. Und ich berate Menschen, die in einer Partnerschaft leben und nach Wegen suchen, ihre Schwierigkeiten miteinander zu überwinden. Die Liebe ist meiner Ansicht nach eine Erfahrungswissenschaft. Ich will Sie deshalb in diesem Buch teilhaben lassen an den Erfahrungen, die ich – und andere Experten – mit der Liebe machen. Was wirkt? Und was wirkt nicht? Welche Wege führen Sie immer weiter hinein in partnerschaftliche Konflikte? Und welche führen Sie hinaus?

Die meisten Paare wünschen sich eine Beziehung ohne Streit.

Es ist schon seltsam mit dem Thema „Streit ist auch keine Lösung“. Wenn ich mit Paaren spreche, dann erzählen die allermeisten, wie sehr sie unter dem Streiten leiden. Ein Leben ohne Streit in der Beziehung wäre ihnen viel lieber. Und sie fragen sich: Wie kann uns das gelingen? Wenn ich aber von meinem Vorhaben erzähle, ein Buch darüber zu schreiben, wie es möglich ist, sich nicht zu streiten und dauerhaft ein glückliches Paar zu sein, dann sind die Reaktionen ganz anders. Ob Experten oder Freunde und Bekannte – sie alle sagen das Gleiche: „Nein, das geht doch nicht. Ohne Streit ist eine Beziehung nicht möglich.“

DER FUCHS UND DIE TRAUBEN

Wer eine Beziehung ohne Streit will, der muss bereit sein, sich – bildlich gesprochen – auf die Hinterbeine zu stellen und sich für sein Ziel anzustrengen. Aufgeben gilt nicht!

In diesem Buch werden Sie erfahren, wie es möglich ist, Beziehungsstreit zu vermeiden. Sie werden erfahren, wie es zum Streit kommt und welche Ursachen ihn befeuern. Ich will Ihnen zeigen, warum Streiten uns nicht hilft, in einer Partnerschaft glücklich und zufrieden zu werden, welche kurzfristigen Alternativen es zum Streiten gibt und welche langfristigen Lösungen, damit wir ohne Streit miteinander leben können. Und ich will Ihnen zeigen, wie Sie Ihre Ziele, Ihre Wünsche und Ihre Bedürfnisse in der Partnerschaft ohne kräftezehrende Auseinandersetzungen erreichen können.

In diesem Buch werden Sie erfahren, wie Sie es schaffen können, sich nicht zu streiten und gleichzeitig Ihrem Partner nicht auszuweichen. Denn eines steht fest: Dem anderen zuliebe mal eben auf die eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Wünsche zu verzichten, ist eine noch schlechtere Strategie als sich zu streiten. In der Beratung erlebe ich es leider allzu oft, dass Beziehungen scheitern, weil einer oder beide um der Harmonie willen auf seine Wünsche verzichtet hat.

Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil erfahren Sie vor allem, was ein Streit ist, wie er verläuft und wie Sie gegensteuern können. Im zweiten Teil erfahren Sie, welche Haltungen einen Streit gefährlich machen. Und im dritten Teil schließlich wollen wir uns die wahren Ursachen für Beziehungsstreit ansehen. Was sind die Gründe, die zum Streit führen? Wissen ist – auch in der Partnerschaft – eine ungeheure Macht. Wenn wir wissen, wie ein Streit entsteht, wenn wir die tieferen Ursachen kennen, die zu ihm führen, wenn wir Alternativen zum Streiten kennen, dann haben wir gute Chancen, in einer Beziehung ohne Beziehungsstreit zu leben – und das zu bekommen, was wir wirklich wollen.

Sich nicht zu streiten ist für mich allerdings auch kein Gebot. Es ist ein Ziel, mehr nicht. Ein Ziel allerdings, das nach meiner Überzeugung Anstrengung und Bemühung lohnt. Doch auch wenn Sie sich gemeinsam mit mir auf den Weg machen: Natürlich dürfen Sie sich weiterhin ab und zu streiten. Der Weg ist das Ziel. Und vielleicht finden auch Sie Gefallen daran, ohne schlaflose Nächte und ein reumütiges „Entschuldige bitte!“ von Ihnen oder Ihrem Partner genau das zu bekommen, was Sie wollen: Eine befriedigende Beziehung.

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Ines ist im Wohnzimmer, Markus in der Küche. Die Stimmung war nicht gut, als Ines nach Hause kam, das hat Markus sofort gespürt. „Was hat der blöde Teller hier zu suchen?“, schimpft sie. Stille. Markus setzt zu einer Entgegnung an. „Ach, Fräulein Ordnungssinn hat mal wieder schlechte Laune“, ruft er ihr aus der Küche zu, mit einer Stimme, die vor Ironie nur so trieft. Stille. Ines schnappt nach Luft. „Du denkst ja wohl, ich bin dein Hausmädchen“, brüllt sie ihn an. „Kannst du eigentlich noch normal mit mir reden?“, schreit Markus zurück.

Ines zieht ihren Mantel an und greift nach dem Schlüsselbund. „Ich gehe zu Renate“, zischt sie und knallt die Tür hinter sich zu. „Bleib doch, wo der Pfeffer wächst“, ruft Markus ihr nach. Er ist so wütend, dass er nach dem Teller greift und ihn an die Wand wirft. Dort zerspringt er in tausend Stücke.

Wie sich ein Streit anhört, das wissen wir alle. Doch was ist das eigentlich, so ein handfester Streit? Mit gehobener Lautstärke, Beschimpfungen, knallenden Türen und – wenn es ganz arg kommt – mit zersplitterten Tellern? Ist es ein Fall von geistiger Umnachtung? Oder von schlechter Kinderstube? Wohl kaum. Wie aber kann es sein, dass ein Paar, das sich liebt, urplötzlich in einen Orkan von Verwünschungen und schlechten Gefühlen gerät? Mir scheint das erklärungsbedürftig – und den meisten Paaren, denen das widerfährt, geht es ebenso. Sie wüssten gerne, warum sie immer wieder einmal in so eine – unangenehme – Situation geraten.

Viele Paare nehmen an, ein Streit sei vor allem ein psychischer Vorgang. Ein Vorgang, bei dem sich irgendetwas in der Psyche blitzschnell verändert. „Ich habe ihn kaum wiedererkannt“, sagen Menschen dann ganz erstaunt. Oder: „Ich habe mich kaum wiedererkannt.“ Doch beim Streit ändert sich die menschliche Psyche weniger, als wir denken. Denn es ist vor allem die menschliche Biologie, die hier ihre Hand im Spiel hat. Wer sie nicht versteht, kann auch den Streit nicht verstehen.

Biologie des Streits

Körperliche Reaktionen

Was wir am deutlichsten spüren, ist, dass sich unser Herzschlag abrupt erhöht. „Mir schlug das Herz bis zum Hals“, sagen wir manchmal und so ist es tatsächlich auch. Den hohen Puls spüren wir an der Halsschlagader besonders gut. Der Puls schnellt hoch auf 90, auf 100, auf 120.

Zudem spannen sich auch unsere Muskeln an. Unser Körper reagiert so, wie zu Urzeiten angesichts einer nahenden Bedrohung durch einen großen Feind, einen Tiger zum Beispiel. In dieser Situation stellte sich für den Körper nur noch eine Frage: Kampf oder Flucht.

Die Arbeit, den Körper auf einen Kampf oder ein schnelles Davonlaufen vorzubereiten, wird von Hormonen erledigt. Für die Kampf-oder-Flucht-Reaktion des Menschen sind zahlreiche Botenstoffe zuständig. Sie heißen Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin und Cortisol.

Die Aufgabe dieser Hormone ist es, die optimale Energieversorgung für die Reaktion auf die Bedrohung zu gewährleisten. Ihrem Funktionieren verdanken wir Menschen es, dass wir immer noch auf diesem Planeten leben – und nicht vom Tiger verspeist wurden.

Besondere Bedeutung hierfür kommt dem Adrenalin zu. Adrenalin sorgt dafür, dass sich die Herzfrequenz erhöht und der Blutdruck steigt. Es erweitert darüber hinaus die Bronchien, um die Versorgung des Körpers mit Sauerstoff zu erhöhen, und nimmt Einfluss auf die Energieversorgung. Der Körper braucht jetzt alle Kraft, über die er verfügen kann. Außerdem hemmt Adrenalin die Magen-Darm-Tätigkeit. Verdauen ist später, jetzt zählt das Überleben. Die vorhandene Energie wird für die Bewältigung der anstehenden Bedrohung benötigt.

Überleben, nicht Denken zählt

Aber was denken wir eigentlich, während all diese körperlichen Veränderungen ablaufen? Was denkt Markus, während sein Puls auf 110 hochschnellt? Was denkt Ines, während ihr Blutdruck sich stark erhöht? Die Antwort ist auf den ersten Blick erstaunlich: Beide denken nicht allzu viel. Beide fühlen sich angegriffen und reagieren entsprechend. Sie reagieren schnell und intuitiv. Aber sie denken nicht nach. Der Körper stellt in einer Bedrohungssituation keine Energie für so etwas Überflüssiges wie Nachdenken zur Verfügung. Er reduziert ganz im Gegenteil sogar die Aktivitäten des Großhirns, das für komplizierte Gehirnfunktionen wie das Denken zuständig ist, auf ein absolutes Minimum. Stattdessen mobilisiert er alle Kräfte. Für den Kampf. Für die Flucht.

Auch das Gehirn wird also angesichts einer bedrohlichen Lage kurzgehalten. Nachdenken ist später, jetzt zählt das Überleben. Das macht es unmöglich, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Unsere Biologie lässt das nicht zu.

EIN ERHÖHTER PULS VERHINDERT WIRKLICHE GESPRÄCHE

Kosten eines Streits

Ein Streit besteht aus Angriffen, verbalen Angriffen in der Regel. „Was hat der blöde Teller hier zu suchen?“, sagte Ines zu Markus. Das ist ein verbaler Angriff, also ein Angriff mit Wörtern. „Ach, Fräulein Ordnungssinn hat mal wieder schlechte Laune“, antwortete Markus. Er ließ sich ihren Anpfiff nicht gefallen, hat zurückgeschlagen. Im Streit reagieren wir auf einen Angriff mit einer deutlichen Verteidigung. Wir schlagen zurück. Häufig steigern wir den Pegel der Auseinandersetzung sogar noch, indem wir die Stärke des Gegenangriffs erhöhen.

Der andere gibt nicht etwa nach. Er verstärkt vielmehr seinerseits den Angriff. Er erhöht zum Beispiel die Lautstärke. Oder die Schwere der verbalen Verletzungen. Und so kann aus einer gerade noch friedlichen Beziehung binnen Minuten ein Kampfplatz werden, bei dem nur noch die Frage interessiert, wer ihn – bildlich gesprochen – leicht und wer ihn schwer verletzt verlässt.

Kampf- oder Flucht-Reaktionen bereiten den Körper aber nicht auf einen verbalen Schlagabtausch vor, sondern auf eine drohende körperliche Auseinandersetzung. Deshalb sind auch körperliche Angriffe im Zusammenhang mit Beziehungsstreiten nicht selten. Das betrifft Männer wie Frauen. Frauen greifen, was wenig bekannt ist, sogar häufiger zu körperlicher Gewalt als Männer. Unbestritten ist allerdings, dass körperliche Übergriffe von Männern in aller Regel gefährlicher sind. Das liegt zum einen an ihrer körperlichen Überlegenheit. Männer sind häufig stärker als ihre Frauen. Zum anderen liegt es aber auch an der größeren Bereitschaft vieler Männer, ihr Gegenüber bei Auseinandersetzungen tatsächlich zu verletzen.

Verlust der Gefühle

Ein Streit ist aber nicht nur ein körperlicher, von Hormonen gesteuerter Vorgang. Er spielt sich auch auf der Gefühlsebene ab. Hier sind die Kosten des Streits außerordentlich groß. Wer da verliert, ist bei Ines und Markus gut zu sehen: Beide Partner verlieren. Sie verlieren – für eine Weile – ihre Liebe zueinander. Wo Streit ist, da ist keine Liebe. Das schmerzt und verunsichert zusätzlich. Kein Wunder, dass Ines das Weite gesucht und Markus vor lauter Wut über Ines den Teller an die Wand geworfen hat.

Beide Partner verlieren. Sie verlieren die Chance, den anderen zu einer einvernehmlichen Lösung zu bewegen. Wer streitet, will ja keine Abstriche von seinen Vorstellungen machen. Beide verlieren langfristig ein Stück von ihrer Liebe. Wer dauerhaft streitet und keine Lösung findet, der erlebt, dass seine Liebe Stück für Stück schwindet. Von Tag zu Tag und von Streit zu Streit.

Sicher, es sind nur kleine Stücke der wechselseitigen Zuneigung, die da verloren gehen. Aber sie gehen verloren. Und auch das hat seinerseits wieder Folgen. Denn ihr Verlust stimmt beide Partner nicht optimistisch in Bezug auf die Zukunft der gemeinsamen Beziehung. Unsicherheit macht sich breit und vergiftet die Atmosphäre zusätzlich. So fügt das Streiten der Liebe möglicherweise auch langfristig enorme Schäden zu. Möglicherweise, habe ich gesagt. Das kann also so sein. Muss es aber nicht. Unter welchen Bedingungen es gelingt, die Auswirkungen häufiger Streite auf eine Partnerschaft gering zu halten, das werden wir später noch sehen.

Doch so logisch die biologischen Erklärungen des menschlichen Streitverhaltens auch sind, eine Frage drängt sich doch auf: Warum sind wir eigentlich so leicht – und so schnell – dazu zu bringen, auf den Menschen, den wir lieben, mit dem wir unseren Alltag, die Wohnung und unser Bett teilen, so heftig zu reagieren, wie Ines und Markus es taten? Warum spitzt sich ein Streit so schnell zu?

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Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein wenig ausholen. Denn bei einem Streit wie dem von Ines und Markus greifen vier unterschiedliche Räder ineinander. Das partnerschaftliche Unglück hat also eine ganze Reihe von Mit-verursachern. Neben der biologischen Erklärung, die Sie ja schon kennen, gibt es weitere Umstände wie beispielsweise Stress, die den Beginn eines Streits genauso wahrscheinlicher machen wie seine anschließende Zuspitzung. Zudem findet man soziologische Begründungen. Sie sehen unser modernes Liebeskonzept und die damit verbundene große Abhängigkeit von einer Partnerschaft als eine Ursache für Partnerschaftsprobleme an. Und schließlich gibt es auch psychologische Erklärungen.

Psychologische Gründe

Biologisch ist die Sache überschaubar einfach: Tiger – Bedrohung – Adrenalin – Streit. Das war’s. Psychologisch ist das alles weitaus komplizierter. Denn mal ganz im Ernst: Wo, bitte schön, war da eigentlich ein Tiger? Ein stehen gelassener Teller ist eine harmlose Sache und ein sich hochschaukelnder Streit wie der zwischen Ines und Markus ist keinesfalls eine Selbstverständlichkeit, ein Fakt, der uns von der Biologie diktiert wird. Ein Teller ist kein Tiger.

Die Frage, vor der wir stehen, lautet also: Warum reagieren Menschen angesichts eines stehen gelassenen Tellers oder einer ungehaltenen Bemerkung des Partners so, als ob gerade ein Tiger aus dem Busch gesprungen wäre – angriffslustig, mit aufgerichtetem Schwanz und einem weit aufgerissenen Maul, in dem furchteinflößende Zähne zu sehen sind?

Um das zu verstehen, müssen wir uns genau anschauen, was die beiden innerlich bei ihrem Streit bewegte. Was passierte, als Ines das Geschirr im Wohnzimmer stehen sah und mit ihrer Bemerkung über den „blöden Teller“ den Streit der beiden lostrat? Was genau lief da in ihr ab? Ines ist schon seit geraumer Zeit genervt davon, dass Markus immer wieder Geschirr im Wohnzimmer stehen lässt. Markus macht das nicht jeden Tag. Doch zwei- bis dreimal in der Woche trägt Ines Markus’ Sachen in die Küche. Das geht schon seit Monaten so und lange hat Ines nichts dazu gesagt. Vor ein paar Wochen aber bat sie ihn, alles, was er aus der Küche herausträgt, auch wieder zurückzubringen. Es stört sie eben. Markus nickte, sagte ein wenig geistesabwesend „Ja, ja“ zu ihr und damit war die Angelegenheit für ihn auch schon erledigt. Dann trug er eine Weile tatsächlich alles in die Küche zurück. Doch nun ist es wieder passiert. Aber sie ist doch nicht sein Hausmädchen! Das ist ihre Sicht.

Markus seinerseits ist genervt, wenn Ines frustriert von der Arbeit kommt und ihn dann wegen irgendetwas kritisiert, das er als eine Kleinigkeit, als eine Bagatelle ansieht. Er empfindet ihre Kritik dann als ungerecht und überzogen. Er findet es unfair, wenn sie den Stress ihrer Arbeit an ihm auslässt. Das ist seine Sicht.

So weit zur unterschiedlichen Sichtweise von Ines und Markus. Diese Vorgeschichte macht deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen der beiden sind. Warum aber dann diese schnelle Aufschaukelung der Auseinandersetzung? Ist doch klar, könnten Sie versucht sein zu sagen, Ines hat ihn angegriffen – da musste er doch wohl reagieren, oder? Sicher musste er das – doch musste er wirklich so reagieren, wie er es gemacht hat? „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil“, sagt der Volksmund. Kein Zweifel: Markus hat diesen Spruch beherzigt. Die Frage ist aber: Musste er sich wirklich auf den Streit mit Ines einlassen – oder hatte er andere Möglichkeiten zu antworten? Er hatte, doch er hat sie nicht genutzt.

Nicht nur Markus hatte nettere Alternativen. Das gleiche gilt auch für Ines. Sie hätte ihrerseites die spitze Bemerkung über den Teller im Wohnzimmer nicht machen müssen. Auch sie hatte nettere Alternativen. Beide hatten freundlichere Möglichkeiten, beide haben sie nicht genutzt. Und das hat mit den Gedanken zu tun, die sie während ihres Streits beschäftigten.

Gedanken bewerten eine Situation

Ein Teller ist kein Tiger. Ein Teller wird nur dann zu einer Bedrohung, wenn er mit den entsprechenden Gedanken einhergeht. Es sind – oftmals – nicht die Dinge selbst, die uns wütend oder ängstlich machen, sondern die Gedanken, die sie in uns auslösen. Das ist keine neue wissenschaftliche Erkenntnis, sondern eine sehr alte Idee, die nicht aus der Psychologie stammt, sondern aus der antiken griechischen Philosophie. Mit unseren Gedanken bewerten wir eine Situation. Diese Bewertungen können sehr unterschiedlich ausfallen. Wir können dem anderen die Absicht unterstellen, uns ärgern zu wollen. So eine – negative – Annahme führt beinahe automatisch in die Zuspitzung. Oder wir können davon ausgehen, dass Markus ein wenig vergesslich war, abgelenkt vielleicht von Gedanken an die Arbeit. Eine solche – wohlwollende – Bewertung des Partnerverhaltens hat ganz andere Konsequenzen. Es sind diese inneren Bewertungen, die die Verstärkung des Streits von Ines und Markus bewirken.

Was denkt Ines, während sie den Teller auf dem Wohnzimmertisch stehen sieht? Sie denkt „Setz dich zur Wehr!“ und „Lass es Markus spüren, wenn er dich verletzt hat!“ Das sind typische Reaktionen auf Ärger – und Frauen ärgern sich häufig. Häufiger als Männer. Ines’ Gedanken sind keinesfalls das Ergebnis eines wie auch immer gearteten Nachdenkens über die Situation, über den Teller, über Markus und darüber, wie sie Markus dazu bekommt, sein Geschirr nicht stehen zu lassen, wie es ihm gerade passt. Sie hat nicht nachgedacht. Das ist in der Schnelle, in der sie reagiert, auch gar nicht möglich. Und biologisch – wir haben es schon gesehen – ist das ebenfalls nicht drin. Ines’ Gedanken sind, wie die Psychologie sie nennt, automatische Gedanken.

Automatische Gedanken

Das alles ist Ines natürlich nicht bewusst. Sie denkt, dass sie sich im Hier und Jetzt befindet und auf eine Situation in ihrer Partnerschaft auf eine angemessene Weise reagiert. Sie meint, sie steuere das Schiff ihres Lebens. Doch das ist ein Irrtum. In Wahrheit hat ein Autopilot bei ihr das Ruder übernommen: Es sind ihre automatischen Gedanken, die ihre Reaktionen Markus gegenüber leiten. Sie steuern ihr Verhalten und lenken die Situation unerbittlich in Richtung Streit, in Richtung Zuspitzung.

Nicht anders verhält es sich bei Markus. Auch er hat seine, den Streit befeuernden Gedanken. „Das muss ich mir doch nicht gefallen lassen!“, denkt er. Und: „So sollte sie doch nicht mit mir reden, nicht wenn sie mich liebt!“ Schon als Kind konnte er den kritisierenden Ton seiner Mutter nicht ausstehen, fühlte sich ihren Vorstellungen von Ordnung hilflos ausgeliefert. Schlägt Ines heute diesen kritischen Tonfall an, dann reagiert er automatisch pampig.

Auch Markus glaubt, er reagiere bei Auseinandersetzungen mit Ines so, wie es die jeweilige Situation erfordert. Doch auch ihn lenken seine automatischen Gedanken. Auch er hält nicht das Ruder in der Hand, obwohl er davon natürlich fest überzeugt ist.

Automatische Gedanken sind aber kein Schicksal, dem wir nicht entgehen können. Sie lassen sich erkennen, benennen und zurückverfolgen. Ihre Macht über unser Verhalten ist berechenbar. Wir können sie durch angemessenere Gedanken ersetzen.

Das setzt allerdings die Erkenntnis voraus, dass wir bei einem Streit nicht einfach „im Recht sind“. Hand aufs Herz: Wenn eine Auseinandersetzung tobt, dann denken wir das alle. Im Recht zu sein ist ja auch eine tolle Sache. Wir haben gute Gründe für unsere Sicht der Dinge – der andere nicht. Wir sind mit unseren Wünschen und Bedürfnissen im Recht – der andere nicht.

Später aber, wenn wir uns beruhigt haben, wenn das Gehirn vom Körper endlich wieder voll versorgt wird, sollten wir in der Lage sein zu begreifen, dass jeder von uns seine persönliche Sicht der Dinge, seine automatischen Gedanken und seine Gefühle hat. In einer Partnerschaft kommt es darauf an, die eigenen automatischen Gedanken zu kennen. Und darüber hinaus zu verstehen, dass sie ein Teil der eigenen, höchst individuellen Biografie sind.

Externale und internale Ursachenzuschreibungen

Aus psychologischer Sicht steigern sich Konflikte noch aus einem anderen Grund. Natürlich hat sich Ines auch in der Vergangenheit schon gefragt, warum Markus immer wieder seine Sachen im Wohnzimmer stehen lässt. Die Antwort, die sie sich im Laufe der Zeit auf diese Frage zurechtlegt, entscheidet mit darüber, ob sich die Situation zuspitzt oder nicht.

Denn auf das Verhalten anderer Menschen machen wir uns immer einen Reim. Und ihre Handlungen sind für uns immer dann besonders erklärungsbedürftig, wenn die Ergebnisse in unseren Augen negativ ausfallen. So fragen wir uns in der Regel nicht, warum der andere den Müll in den Mülleimer geworfen hat, wohl aber schon, warum er es nicht getan hat.

Solche Ursachenzuschreibungen nehmen wir unablässig vor. Wir bewerten unser eigenes Verhalten und das anderer Menschen in zwei verschiedene Richtungen.

1. Sind die Umstände schuld? Das nennt man eine externale Ursachenzuschreibung, also eine Erklärung durch äußere Umstände.

2. Oder ist der andere schlicht ein unverträglicher Zeitgenosse – also eine schwierige Persönlichkeit? Eine solche Bewertung der Ursachen heißt internal.

Bei dieser Einordnung haben wir – wie Wissenschaftler herausfanden – alle einen regelrechten Knick in der Optik. Wir neigen zu einer ausgesprochen positiven Beurteilung unseres eigenen Verhaltens und zu einer Abwertung der anderen.

EINE EXTERNALE DEUTUNG SCHONT DAS EGO

Bei anderen sind wir weniger nachsichtig. Deren Verhalten interpretieren wir weitaus häufiger als internal, als Teil ihrer Persönlichkeit. Zerschlägt der Partner etwa eine Kaffeetasse, sind wir geneigt, mit abwertenden Gedanken auf sein Missgeschick zu reagieren: Er ist aber wirklich ungeschickt. Unser eigenes Verhalten erleben wir dagegen stark von äußeren Umständen gesteuert. Zerschlagen wir selbst eine Kaffeetasse, dann erklären wir das zum Beispiel damit: „Ich bin gestern aber wirklich spät ins Bett gekommen.“ Oder mit: „Das Vorstellungsgespräch heute macht mich furchtbar nervös.“ Diesem fundamentalen Erklärungsfehler unterliegen alle Menschen.

Negative Bewertungen

Wird das Verhalten des Partners negativ bewertet, dann steigt die Zahl der Konflikte und die Zufriedenheit mit der Partnerschaft sinkt. Wir gehen zum Beispiel davon aus, dass er uns ärgern will, dass er absichtlich zu spät kommt, den Teller absichtlich stehen lässt. Wenn dem Partner für sein Verhalten eine böse Absicht unterstellt wird, verschlechtert sich die Beziehung.

Das Endergebnis dieser Partnerabwertung lautet: Für negatives Verhalten ist die problematische Persönlichkeit des Partners verantwortlich. Mit dem kann es keiner aushalten.

Die Frage der Ursachenzuschreibung ist für die Zuspitzung eines Konfliktes sehr wichtig. Denn das Erfolgsrezept glücklicher Paare ist recht einfach. Glückliche Paare bewerten das Verhalten des Partners in einer ganz bestimmten Art und Weise: Verhält er sich positiv, dann ist seine große Zuneigung dafür verantwortlich und die Vielzahl seiner guten Eigenschaften. Verhält er sich aber negativ, dann sind die äußeren Umstände gerade ungünstig. Und das ist im menschlichen Leben bekanntlich ja hin und wieder der Fall.

Streitbegünstigende Umstände

Sind die Belastungen des Alltags gering, streiten sich Paare erheblich seltener. Dann sind sie eher in der Lage, eine drohende Auseinandersetzung zu erkennen und ihr schon im Vorfeld die Spitze zu nehmen – zum Beispiel durch eine humorvolle Bemerkung. Ganz anders aber, wenn uns der Alltagsstress gefangen hält. Dann kann eine Partnerschaft schnell wie zwischen Mühlsteinen zerrieben werden.

Wollen Sie wissen, wie Ines’ Tag verlaufen ist, bevor sie auf Markus traf und auf den unseligen, stehen gelassenen Teller? Zunächst einmal kam sie zu spät zur Arbeit – kein guter Einstieg in den Tag. Es hatte den ersten Frost gegeben. Ines musste die Scheiben frei kratzen. Danach setzte Sie sich in den eiskalten Wagen, drehte den Zündschlüssel und hörte, wie der Anlasser sich mühte und mühte. Doch es half alles nichts. Ihr Auto sprang nicht an und mit dem Bus – ja, da verspätete sie sich eben. Als Ines abgehetzt ins Büro kam, hatte ihr Chef schon nach ihr gefragt, was ihre neue Kollegin Heike ihr süffisant lächelnd erzählte, während sie sich sorgfältig die lackierten Fingernägel polierte. Na super! Ines’ Chef war mürrisch – wie so oft – und konnte die Unterlagen zu einem wichtigen Projekt nicht finden. Ines erledigte das im Handumdrehen, doch er hatte nicht einmal ein Danke für sie übrig. So ging der Tag weiter. Nach dem Mittagessen geriet Ines dann auch noch mit Heike wegen der Urlaubsplanung aneinander. Es war zum Heulen.

Alltagsstress kann eine Partnerschaft zerreiben.

Wie sie jetzt mit ihrem Stress umgeht, hat einen sehr großen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Ereignisse. Man kann sich Ines’ Stimmung ausmalen, wenn sie nach Hause kommt. Sie ist schlecht. Und so steigt die Wahrscheinlichkeit ein weiteres Mal, dass sich der Streit zuspitzt. Von Ines’ Reaktion hängt eine Menge für sie ab. Glücklichen Paaren gelingt es, den Stress miteinander zu teilen und dadurch abzubauen. Unglückliche Paare schaffen das nicht. Sie richten den Ärger des Tages gegeneinander – und berauben sich so einer wichtigen Stütze, des Rückhalts durch den Partner oder die Partnerin.

Nun heißt dieses Buch „Streit ist auch keine Lösung“, weil ich der Überzeugung bin, dass die allermeisten Streite zu keinem sinnvollen Ergebnis führen, uns Kraft und Energie rauben und uns den Blick auf die wirklich wichtigen Dinge verstellen. Auf Lösungen zum Beispiel. Oder schlicht auf die dringend notwendige Anteilnahme am anderen. Lassen Sie uns also diese Hypothese, diese Grundannahme, am Beispiel von Ines’ und Markus’ Streit untersuchen. Lassen Sie uns einen Moment überlegen, welche Ziele Ines verfolgt und ob sie ihnen mithilfe des Streits näher gekommen ist.

Ines möchte sich respektiert fühlen und wünscht sich, dass Markus sein Geschirr selbst abräumt. Sie will nicht seine Reinemachefrau sein. Verständlich. Ines möchte sich darüber hinaus nach der Arbeit vom Stress des Tages erholen. Dazu braucht sie das Gespräch mit Markus, sein Verständnis, seine Anerkennung. Auch verständlich.

Es ist leicht zu erkennen, dass Ines keinem ihrer Ziele durch den Streit näher gekommen ist – weder kurzfristig noch langfristig. „Streit ist auch keine Lösung“ wäre für Ines die bessere Alternative in Hinblick auf ihre Ziele.

Soziologische Erklärungen

Moderne Lebensform

Anerkennung und Bestätigung – das ist heutzutage der Dreh- und Angelpunkt einer Partnerschaft. Ursprünglich stellte sich uns dieses Problem der Anerkennung nicht in der Form, wie wir es heute kennen. Vor 500 oder 5000 Jahren hätten Paare diese Forderung nicht einmal verstanden. Eine Partnerschaft war eine Wirtschaftsgemeinschaft, eingebettet in ein dichtes Beziehungs- und Solidargeflecht, das Verwandte und Angehörige der eigenen Gruppe umfasste.

Der steinzeitliche Mensch lebte in einem festen Gefüge, in dem jeder seinen Platz hatte und in laufendem Kontakt und Austausch mit den anderen Gruppenmitgliedern stand. Kein steinzeitlicher Jäger kam nach einem langen, mit Fremden verbrachten Arbeitstag nach Hause in sein beschauliches Heim, um seiner Frau von seinem Tagwerk zu erzählen. Oder auch alleine im Hobbykeller einen kaputten Stuhl zu reparieren und dabei seinen Gedanken nachzuhängen und sich auf diese Weise von dem Tag zu erholen.

Erst die Moderne hat Arbeit, Familie und Freizeit so weit auseinandergerissen, wie wir es heute kennen. Und damit das Bedürfnis nach Anerkennung in der heutigen Form erst geschaffen. Heute kommen ein Mann und eine Frau beinahe immer nach einem langen Arbeitstag in unterschiedlichen Aufgabenbereichen erst wieder zusammen und möchten das Erlebte mit dem Menschen teilen, der ihnen am nächsten steht. Sie wollen es teilen. Aber nicht nur das. Sie wünschen sich auch Bestätigung, eine Bestätigung für ihre Sicht der Dinge.

Partnerschaften sind heute wichtiger als früher, um uns als Individuum zu bestätigen. Wir streben nach der Bestätigung unserer Sicht und unserer Individualität durch den Partner. „Das Sein des Selbstbewusstseins besteht in der Bestätigung durch ein anderes Selbstbewusstsein“, sagt der Philosoph Friedrich Wilhelm Hegel. Diese Selbst-Bestätigung durch Bezugspersonen spielt in der Gegenwart eine wichtigere Rolle als früher, weil Traditionen für uns nicht mehr so bedeutsam sind wie für frühere Generationen. Noch vor hundert Jahren war die Kultur so eindeutig und die gesellschaftlichen Vorstellungen von richtig und falsch so ausgeprägt, dass man keine individuelle Bestätigung für jede Einstellung benötigte, die man für richtig hielt.

Wir haben für die gefühlsmäßige Unterstützung durch den Partner keinen Ersatz. Und genau das macht Partnerschaften heute anfällig für Streit. Darüber hinaus sind unsere sozialen Netze grobmaschiger geworden. Das feste Gruppengefüge ist einer lockeren Verbundenheit gewichen. Tagtäglich sehen wir unsere Kolleginnen und Kollegen, die uns gefühlsmäßig meist nicht allzu nahestehen. Seltener aber treffen wir uns mit Freundinnen und Freunden, die oft weit entfernt wohnen. Die Folgen liegen auf der Hand: Wir erwarten vom Partner deutlich mehr, als wir es in früheren Zeiten getan hätten. Ein Streit schaukelt sich also auch deshalb so schnell hoch, weil wir ausgesprochen bedürftig nach Anerkennung durch den Partner heimkehren. Schwieriger noch: weil beide Partner jeweils mit diesem Bedürfnis aufeinandertreffen.

Soziologische Erklärungen für einen Partnerschaftsstreit wie diesen sind auf den ersten Blick für viele Menschen enttäuschend. Was soll man denn machen? Unsere gesellschaftliche Realität ist nun einmal, wie sie ist. Markus zieht nicht morgens mit anderen Stammesmitgliedern zur Jagd. Ines verbringt den Tag nicht mit den Frauen des Stammes, den Kindern und den Alten.

Modernes Liebeskonzept

Und auch unser gesellschaftliches Liebeskonzept ist nun einmal, wie es ist. Wir leben jetzt – und nicht in früheren Zeiten. Der Einwand ist berechtigt. Aber vielleicht lässt sich doch zweierlei aus alledem lernen.

1. Wenn es uns oft schwerfällt, im alltäglichen Miteinander für den Partner da zu sein, dann ist das nicht einfach nur unser persönliches Versagen. Das gesellschaftliche Leitbild der Liebe hängt die Messlatte für uns hoch, ausgesprochen hoch sogar. Kein Wunder, dass wir sie ab und zu reißen.

2. Je enger wir unsere Partnerschaft gestalten, je mehr wir ausschließlich den Partner oder die Partnerin für die Erfüllung unserer Bedürfnisse in die Pflicht nehmen, desto schwieriger läuft eine Beziehung. Wer sich darüber im Klaren ist, dass eine Partnerschaft besser funktioniert und es seltener zum Streit kommt, wenn auch Außenstehende, wenn Freunde an wesentlichen Teilen unseres Lebens Anteil haben, der erleichtert sich und seiner Beziehung das Leben. Freunde zu haben erhöht nachweislich die Zufriedenheit mit der eigenen Partnerschaft und deren Stabilität.

Wir haben jetzt ein deutlich klareres Bild davon, was ein Streit ist und was ihn befördert: Zu Beginn eines Streits steht eine Situation, die von einem der Partner als Bedrohung gedeutet wird. Automatische Gedanken und Ursachenzuschreibungen haben das Verhalten des Partners ausgesprochen negativ bewertet. Der Streit spitzt sich zu, weil jeder durch die Art seiner Verteidigung den anderen heftiger angreift, als er sich selbst angegriffen fühlt. Jeder sieht sich im Recht und den Partner im Unrecht. Zum Ende kommt die Zuspitzung erst, wenn beide ermattet sind von den erlittenen und zugefügten – verbalen – Verletzungen. Oder wenn beide spüren, dass sie ihre Beziehung aufs Spiel setzen.

Jetzt wird der Streit ausgesetzt. Jeder zieht sich wütend und verletzt zurück, geht in sich. Jeder fragt sich, wie es dazu hat kommen können, wieso er so heftig wurde, warum der Partner so verletzend war. Jetzt erst kommt es zu einer Auszeit, einer Auszeit vom Streit. Na endlich!

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Streit schnellstmöglich beenden

Die Antwort auf die Frage, wie man einen Streit beendet, ist kurz und einfach. Sie lautet: So schnell wie möglich. Das gilt auch für Ines und Markus. Markus hätte sich schon nach Ines’ ungehaltener Bemerkung über den Teller gegen einen Streit entscheiden können. Er hätte zum Beispiel sagen können: „Ich will mich nicht streiten. Mein Tag war sehr anstrengend und deiner vielleicht auch. Ich gehe eine Runde um den Block und dann reden wir.“ Leider hat er das nicht getan.

Doch auch wenn ein Streit bereits in vollem Gange ist, gilt weiterhin: Die vernünftigste Lösung ist, ihn zu beenden. So schnell es geht und mit so wenigen Verletzungen wie möglich.

Eine Fortsetzung des Streits bringt beiden nichts. Ines nicht und Markus nicht. Da sie gefühlsmäßig sehr erregt sind, können sie keine Lösung für ihr Problem finden. Viele Paare glauben in solch einer Situation, sie müssten erst einmal das aufgetretene Problem lösen, um dann wieder zur Ruhe kommen zu können. Doch diese Ansicht ist falsch. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir müssen einander zuhören, um weiterzukommen. Solange das nicht geht – weil der Puls zu hoch ist und der Körper sich mit der Frage „Angriff oder Flucht?“ beschäftigt –, gibt es keine Fortschritte. Um einander zuhören zu können, müssen wir uns zunächst einmal beruhigen. Wenn das nicht geschieht, gerät die Situation immer weiter außer Kontrolle.

Eine Auszeit ist deshalb die beste Lösung. So gesehen war es gar nicht so schlecht, dass Ines wütend die Wohnung verlassen hat und zu ihrer Freundin Renate gegangen ist. Was sollte es denn auch bringen, sich weiter mit Markus zu streiten? Beide fühlen sich ungerecht behandelt. Beide sind im Moment außerstande, zur Beruhigung und Klärung der Situation beizutragen. Mit ein wenig Abstand zueinander gelingt das besser. Der Puls beruhigt sich, der Blutdruck sinkt und das Gehirn nimmt seine Arbeit wieder auf. Beste Voraussetzungen, um nach Lösungen Ausschau zu halten und andere, rationalere Verhaltensweisen in Erwägung zu ziehen!

Welche Lösung die beiden für ihre Auszeit finden, ist einerlei. Sie können in getrennte Zimmer gehen, um sich so eine Weile aus dem Weg zu gehen. Einer kann das Haus verlassen, um sich zu beruhigen.

Der Trick mit dem Wasserglas

Eine besonders effektive Methode, einen Streit schon im Ansatz zu beenden und zu einer Auszeit zu kommen, ist der Trick mit dem Glas Wasser. Schließlich geht es vielen Paaren so wie Ines und Markus. Ein Wort gibt das andere und nachher tut es ihnen leid. Und dann fragen sie sich: Geht das nicht auch ein bisschen ruhiger?

Aber klar geht das. Sie müssen nur einige ganz einfache Regeln beherzigen. Zunächst einmal sollten Sie ein großes Glas Wasser bereitstellen, das ist für den Erfolg ganz entscheidend. Kommt es dann zu einem Streit, beginnt der Ernstfall. Versuchen Sie es bitte mit folgender Methode: Statt zu antworten und aus dem Bauch heraus die eine oder andere Beschimpfung loszuwerden, atmen sie einfach ruhig durch. Meinetwegen zählen Sie dabei auch noch zum Beispiel bis zwanzig. Besser bis hundert. In der Zwischenzeit ist die erste Wut oft verraucht und das ruhige Atmen sorgt auch im Körper für Beruhigung.

KEIN KLARES DENKEN AB EINEM PULS VON 90

Beim Zählen achten Sie dann noch genau auf die abwertenden Gedanken, die Ihnen in Bezug auf Ihre Partnerin oder Ihren Partner kommen, und auf Gedanken, die Sie zum Kampf aufhetzen. Gedanken wie „Die spinnt ja wohl!“ oder „Das muss ich mir doch nicht gefallen lassen!“. Treten Sie diesen Aufstachelungen zum Kampf mutig entgegen. Sagen sie einfach Stopp! In Erregung fällt schnell ein unbedachtes, ein verletzendes Wort. Wenn Sie das wirklich und ernsthaft sagen wollen, sollten Sie ruhig und beherrscht sein – vielleicht möchten Sie es dann überhaupt nicht mehr sagen. Und wenn Sie schließlich bis hundert gezählt haben, ist Ihnen möglicherweise eine Erwiderung eingefallen, die so konstruktiv ist wie die eben gerade von Markus.

Wozu aber nun das Glas Wasser, wollen Sie wissen? Sehen Sie, der geschilderte Plan ist zwar gut, misslingt aber doch oft, weil wir unseren Mund nicht halten können. Nehmen Sie also, wenn Sie anfangen zu zählen, einen großen Schluck Wasser in den Mund und lassen Sie ihn dort, bis Sie zu Ende gezählt haben. Sie werden feststellen, dass es Ihnen auf diese Weise viel leichter fällt, nicht auf eventuelle Angriffe zu antworten.

Die Top Five zur Beruhigung

Auf ein Angebot zum Streit gar nicht erst einzugehen, das ist der Idealfall. In der Realität finden wir den Weg heraus aus dem Streit oft erst viel später. Nach einigen verbalen Entgleisungen. Nach lautem Schimpfen. Nach wütendem Türenschlagen. Im Allgemeinen braucht der Körper dann mindestens 20 Minuten, um die Spannung abzubauen, die durch die Auseinandersetzung entstanden ist. Bei Männern sind es sogar eher 30 Minuten. Für diesen Spannungsabbau will ich Ihnen die fünf besten Vorgehensweisen vorstellen.

1. Durchatmen

Atmen Sie ruhig und tief ein. Beobachten Sie, wie sich Ihr Bauch und Ihre Brust dabei weiten. Atmen Sie dann mit der gleichen Aufmerksamkeit wieder aus. Sich auf die Atmung zu konzentrieren hat eine beruhigende Wirkung auf den gesamten Körper.

2. Bewegung

Durch Bewegung lässt sich die Spannung sehr gut verringern, die ein Streit körperlich aufbaut. Gehen Sie eine Runde durch den Park oder um den Block. Gehen Sie zügig. Sie dürfen ruhig ein wenig außer Atem kommen. Bewegung verringert die Stresshormone, die den Körper bei einem Streit überfluten.

3. Für gute Stimmung sorgen

Einerlei was sonst so Ihre Stimmung hebt: Tun Sie es jetzt. Hören Sie Musik, genießen Sie die Sonne. Trinken Sie einen Kaffee.

4. Negative Gedanken bewusst machen

Machen Sie sich klar, welche negativen Gedanken über Ihren Partner oder Ihre Partnerin auf Ihrer Seite den Streit mit ausgelöst haben.

5. Negative Gedanken stoppen

Sagen Sie bewusst Stopp zu allen abwertenden und zum Kampf anstachelnden Gedanken. Hüten Sie sich auch vor dem Gedanken „Ich bin im Recht“. Wenn Ines nach ihrem Besuch bei ihrer Freundin Renate mit Markus reden möchte, dann bringt es ihr nichts, darauf zu beharren, dass sie im Recht war mit ihrer Bemerkung über den blöden Teller. Solche Gedanken stacheln ihre Wut nur immer wieder aufs Neue an. Besser ist es, wenn sie sich fragt, wie Markus die Auseinandersetzung erlebt hat, wie seine Sicht der Dinge ist.

Mit Freunden sprechen?

Vielleicht haben Sie eine Vorgehensweise an dieser Stelle vermisst, das Gespräch mit Freunden nämlich. Gespräche mit Freunden sind nach meiner Erfahrung eine zweischneidige Angelegenheit. Das ist der Grund, warum ich sie nicht grundsätzlich empfehle.

Aus der Beratung kenne ich viele Fälle, bei denen Männer wie Frauen von ihren Freunden regelrecht zum Weiterkämpfen aufgestachelt werden. „Die spinnt ja wohl!“, sagt dann der beste Freund. „Der braucht aber dringend einen Psychiater!“, empfiehlt die beste Freundin. Wer solche Freunde hat, der nimmt besser Abstand davon, mit ihnen über die eigene Beziehung zu reden. Beide gießen Öl in ein ohnehin schon bedenklich loderndes Feuer.

Freunde stärken uns den Rücken. Das ist zunächst einmal gut so. Schließlich sind Freunde ja auch genau dazu da. Freunde aber, die Ihnen ausschließlich recht geben, die Sie darin bestärken, im Recht zu sein, sich durchzusetzen und dass der andere doch einfach einen Hau hat oder gar dringend eine Therapie braucht – solche Freunde sind keine Hilfe, um sich nach einem Streit wieder zu beruhigen. Das Gleiche gilt für Freunde, die mit Unverständnis oder harscher Kritik auf Sie reagieren.

Sie wissen jetzt, dass es am besten ist, einen Streit so schnell wie möglich zu beenden. Sie wissen auch, wie Sie sich beruhigen können, wenn es doch zum Streit gekommen ist. Aber, so ließe sich einwenden, könnte die Zuspitzung der Auseinandersetzung nicht auch vermieden werden, wenn es Ines und Markus gelänge, anders miteinander zu streiten? Ist faires Streiten also vielleicht die Lösung?

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Bei Wut hilft faires Streiten nicht

Wie wäre es, wenn beide Partner sich verpflichteten, während eines Streits fair zu bleiben? Keine Vorwürfe, kein erhobener Tonfall. Dieser Vorschlag steht seit einigen Jahrzehnten im Raum. „Faires Streiten“ heißt dieses Konzept und es hat mehrere Teile. Zunächst einmal sollen Streitende sich aktiv zuhören. Sie sollen das, was der andere zu sagen hat, nicht einfach mit Gegenargumenten kontern, sondern erst einmal wiederholen, wie sie es verstanden haben. Sie sollen Verständnis signalisieren, Ich-Botschaften formulieren – „Ich finde, dass du übertreibst“ statt „Du übertreibst.“ So soll dem Streit seine destruktive Kraft genommen werden.

Ist faires Streiten also die Lösung für das Streit-Problem? Nein, weil faires Streiten schlicht nicht funktioniert. Der Grund: Es ist unmöglich, dem Partner gegenüber gleichzeitig wütend und ihm zugewandt zu sein. Bestenfalls kommt eine seltsame Mischung von beidem heraus. Im schlimmsten Fall aber wird der Streit nur einfach ein bisschen länger dauern als ohne die Bemühung, fair zu streiten.

Erst wenn die Wut verklungen ist, wenn Ruhe und Besinnung wieder einsetzen, dann haben aktives Zuhören, Ich-Botschaften und all die anderen Werkzeuge aus dem Baukasten der Anhänger des fairen Streitens eine gute Chance. Wenn Sie also schon einmal in erregtem Zustand versucht haben, Ihrem Partner eine Ich-Botschaft zu sagen, und das Ergebnis niederschmetternd war – dann wissen Sie jetzt, warum. Es ist nicht möglich, denn es kommt nur zum Teil darauf an, was Sie sagen. Auch der Ton macht die Musik.

Solange Ihr Puls über 95 ist, kommt eine Anwendung des fairen Streitens nicht in Betracht. Manche Experten empfehlen sogar einen Pulsmesser, um bei Konflikten nicht das Unmögliche zu versuchen: von einem von Adrenalin und Cortisol überfluteten Partner Verständnis und Einfühlung zu erwarten.

Haben sich die Gemüter beruhigt, kann das Repertoire der Fairness in der Tat eine Menge zur Lösung von Paarkonflikten beitragen. Oder zumindest dazu führen, dass der Austausch der – möglicherweise unvereinbaren – Positionen in zivilisierter Form abläuft und Sie dadurch eine Menge über die Sicht Ihrer Partnerin oder Ihres Partners erfahren. Denn das ist das eigentliche Ziel des fairen Streitens: Sie sollen lernen, wie Ihr Partner die Sache sieht. Sie sollen erleben, dass auch Ihr Partner Ihre Position versteht, wenn es auch nicht die seine ist. Und dann sollen Sie beide besser in der Lage sein, eine für Sie passende Lösung zu finden.

Männer streiten anders

„Auf meinen Partner trifft Ihre Beschreibung aber überhaupt nicht zu. Er ist bei Streiten immer völlig ruhig.“ Das ist ein häufiger Einwand von Frauen an dieser Stelle. Viele Männer reagieren auf Streit in der Beziehung in der Tat äußerlich absolut ruhig. Sie wirken für einen Unbeteiligten sogar regelrecht gelassen.

Dies liegt daran, dass sie ihrer inneren Unruhe durch äußere Ruhe begegnen wollen. Sie wollen sich im Griff haben. Wie ein Mann sich wirklich fühlt, das erkennen Wissenschaftler eher an einem Pulsmesser als an seinen beherrschten Gesichtszügen, seinem ruhigen Tonfall oder seinen genau abgewogenen Worten.

Manche Männer bekommen schon, wenn sie allein die Worte „Wir müssen reden!“ hören, einen Puls, der ein rationales Gespräch vollkommen unmöglich macht. Sie fürchten das Gespräch. Sie fürchten den Streit. Sie fürchten ihn so sehr, dass schon die bloße Erwartung eines Konfliktgespräches ihren Körper in die Situation „Kampf oder Flucht“ katapultiert.

DIE REAKTION AUF STREIT BEI MANN UND FRAU

Darüber hinaus sind Männer aber von ihrer Beziehung auch deutlich abhängiger als Frauen. Vielleicht verwundert Sie diese Aussage, weil Sie als Frau von Ihrem Mann noch nie gehört haben, wie sehr er Sie braucht. Ich behaupte hier nicht, dass Männer diesen Umstand auch zugeben. Aber die Forschung belegt es eindeutig: Für das gefühlsmäßige Wohlbefinden sind Männer stärker auf Frauen angewiesen als Frauen auf Männer. Männer haben weniger Freunde als Frauen. Und das ist nicht alles. Mit den wenigen Freunden, die sie haben, unterhalten sich Männer nicht unbedingt über heikle Erlebnisse, die ihre Gefühlswelt betreffen. Lieber sprechen sie über Erfolge im Beruf, über das neue Auto, das sie sich nach langem Zögern nun doch endlich geleistet haben, oder über andere angenehme Dinge wie beispielsweise Sport oder Freizeitvergnügungen. Zwei Drittel aller Männer haben keinen Freund, den Sie auch in einem emotionalen Ernstfall anrufen könnten – zum Beispiel wenn der Arzt Krebs diagnostiziert oder der Job unsicher wird, weil die Firma gerade an einen Finanzinvestor mit zweifelhaftem Ruf verkauft wurde. Bei all diesen seelisch belastenden Ereignissen kennen Männer oft keine Dritten, mit dem sie sprechen könnten. Hierfür haben Sie nur ihre Frauen.

Frauen hingegen verfügen über einen größeren sozialen Rückhalt. Sie haben beste Freundinnen, die diesen Namen auch verdienen. Denn sie erfahren wirklich vieles, auch sehr Persönliches voneinander. Frauen verfügen im seelischen Krisenfall deutlich häufiger als Männer über engmaschige soziale Netzwerke. Das alles erklärt, warum Männer deutlich empfindlicher sind, wenn sie die Harmonie in ihrer Beziehung bedroht sehen. Und deutlich stärker verunsichert, wenn es doch einmal zu einem Streit gekommen ist.

Zugegeben: Das ist für beide Partner eine anstrengende Situation. Sie stehen dann vor einer schwierigen Aufgabe: Sie müssen sich wieder mit dem anderen vertragen. Die wenigsten Menschen schmeißen nach einem Streit die Brocken gleich enttäuscht hin und wenden sich der nächsten Liebe zu. Zum Glück! Wie aber geht das am besten – sich zu vertragen?

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Wie man sich am besten wieder versöhnt, das ist eine Frage, auf die wir alle gerne eine Antwort wüssten. Wir alle haben uns schon einmal gestritten. Und wir alle haben danach versucht, wieder zueinander zu finden. Mit mehr oder weniger großem Erfolg.

Auch Ines und Markus stehen jetzt vor der Frage, wie sie sich am besten wieder vertragen. Wer wie Ines wutschnaubend zur besten Freundin flüchtet, der muss doch irgendwann einmal wieder nach Hause kommen. Und muss sich vertragen. Und wer wie Markus heilfroh ist, dass der andere das Feld räumt und voller Wut das Geschirr an der Wand zerschmettert, der muss sich später, nach dem Wegfegen der Scherben in seiner Küche, fragen, wie er die Scherben in der Beziehung wieder kitten will. Er muss sich vertragen. Doch wie?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869106670
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Beziehungs-Krisen Beziehungs-Probleme Beziehungs-Streit Ehe-Ratgeber Kommunikation Lebensführung Partnerschafts-Ratgeber

Autor

  • Christian Thiel (Autor:in)

Der erfolgreiche Beziehungscoach und Buchautor Christian Thiel gibt sein Wissen in Beratungsgesprächen, Workshops und Online-Seminaren weiter. Für dieses Buch bündelte er seine Erfahrungen als Coach mit den aktuellsten Forschungsergebnissen – herausgekommen ist ein Ratgeber, der Beziehungen besser und Paare glücklicher macht.
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Titel: Streit ist auch keine Lösung