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Pubertät

Der Ratgeber für Eltern. Mit 10 goldenen Regeln durch alle Phasen

von Angela Kling (Autor:in) Eckhard Spethmann (Autor:in)
200 Seiten

Zusammenfassung

Kontakt halten – dennoch loslassen: „Das geht dich nichts an! Lass mich in Ruhe!“ Der Alltag mit einem pubertierenden Kind ist häufig nervenaufreibend. Dieser Ratgeber bietet Eltern einen roten Faden, der sie durch alle Phasen der Pubertät führt. Zehn goldene Regeln und das Pubertäts-ABC helfen bei den täglichen Auseinandersetzungen und unterstützen bei dem, was Eltern sowieso richtig machen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wozu und für wen haben wir dieses Buch geschrieben?

Angela

In den Träumen meiner Jugendzeit, von der ich damals nicht einmal wusste, dass man sie Pubertät nennt, stellten sich die wichtigsten Weichen in meinem Leben. Vieles nahm damals seinen Anfang. Meine Jugend war die Zeit der größten Verzweiflung und der intensivsten Freuden! Und alle um mich herum waren in meine Höhen und Tiefen einbezogen, ob sie wollten oder nicht. Ich habe meine Pubertät und die meiner Geschwister erlebt, die meines Sohnes und der Tochter meines Mannes sowie die von deren Freunden und Freundinnen. Im Rahmen meiner Arbeit habe ich über die Jahre beobachtet, wie unzählige Kinder – verspielte, verträumte, witzige, manchmal auch wütende und verletzte junge Menschen – sich wie im Zeitraffer in liebesfähige und verantwortungsbewusste Erwachsene verwandelten und jetzt selbst Kinder großziehen.

Ich bin froh, dass ich damals so viel ausprobieren konnte und es geschafft habe, eine erfolgreiche und zufriedene Frau zu werden. Die abenteuerlustige, aber auch unsichere und verzweifelte junge Frau, die ich einmal war, kann ich jetzt in einem neuen Licht sehen: Sie hat sich selbst gesucht. Jetzt erkenne ich, welchen Halt mir meine Familie, meine Lehrer und meine Freundinnen gegeben haben. Ich bin ihnen sehr dankbar, dass sie mich damals ausgehalten und einfach mit mir weitergelebt haben. Einige besondere Menschen haben mir mit ihrer Aufmerksamkeit und Liebe dabei geholfen, mich meinen Lebensaufgaben zu stellen. Ihnen allen gilt mein Dank! Und ja, dieses Wissen möchte ich weitergeben.

Eckhard

Ich bin der Zweitgeborene: Plötzlich hatte mein Bruder lange Haare, ließ nicht mehr mit sich reden, die Eltern sagten: „Das ist das Flegelalter.“ Ich stand ratlos und irritiert davor – bis es auch mich einholte: Alles Mögliche musste ausprobiert werden, ohne dass die Eltern davon wussten, wir setzten uns mit den großen Lebensfragen, mit Tod und Sterben auseinander. Wir machten Unsinn, dummes Zeug und provozierten die Erwachsenen. Die ersten Erfahrungen mit der Liebe quälten uns …

Und dann, viel später, hatte ich das Glück, als Vater von zwei Söhnen die Perspektive wechseln und die beiden mit viel Angst, aber auch Hoffnung und Zuversicht durch diese so wichtige Zeit begleiten zu können. Heute ist es gelungen und ich lerne immer noch. Und immer ist es ähnlich, und immer wieder ganz anders und nicht vorhersagbar, was passiert – die Pubertät ist eine der spannendsten Zeiten im Leben!

Was wir mit diesem Ratgeber erreichen möchten

Müttern, Vätern, besonders auch Patchworkfamilien und Alleinerziehenden Mut machen.

Sie bei dem unterstützen, was Sie sowieso schon alles intuitiv richtig machen!

Sie neugierig machen auf die Pubertät Ihrer Kinder – was passiert denn da eigentlich?

Sie anregen, in Ihrem eigenen Leben zu forschen: Wie war das damals bei mir? Wer bin ich eigentlich geworden? Was verändert sich jetzt in mir, wenn mein Kind erwachsen wird?

Ihnen interessante Informationen und Sätze liefern, die Ihnen weiterhelfen im Alltag mit Ihrem Teenie.

Dass Sie immer mehr Talente bei Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter entdecken.

Dass Sie junge Menschen, neue Orte und Produkte und neue Musik kennenlernen.

Dass Sie sich immer wieder entspannen und die Komik vieler Situationen und Dialoge genießen können.

Dass Sie die Intensität Ihrer Gefühle bewusst erleben können und weniger Angst haben.

Dass Sie trotz allen Ärgers immer wieder Ihre tiefe Zuneigung fühlen können.

Dass Sie immer öfter zuhören als selber reden.

Dass Sie lernen, sich bei bestimmten Themen zurückzuhalten – aber sich einmischen, wenn es existenziell wird.

Dass Sie in Auseinandersetzungen andere Wege finden, als Vorwürfe zu machen.

Dass Sie Ihre Meinung klar und deutlich ausdrücken.

Dass Sie dem Jugendlichen helfen, Erfolge zu haben.

Dass Sie Ihren Jugendlichen seinen Weg gehen lassen.

Dass Sie Hilfe finden, wenn Sie zu unruhig und besorgt sind.

Dass Sie die Schönheit, Willenskraft und Intelligenz Ihrer Heranwachsenden immer wieder wahrnehmen und sich darüber freuen können!

„Niemals wird seitens der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht,
wie sehr sie den großmütigen Einsatz
und die Kreativität der Jugendlichen braucht.“

Françoise Dolto

Bliebe Ihr Kind für immer im Schoße der Familie, dann bekäme es niemals die Chance, seinen ureigensten Lebensweg zu gestalten und seinen Platz in der menschlichen Gemeinschaft zu finden. Gesellschaften, die auf der ausschließlichen Einhaltung ihrer Traditionen beharren (auch mit Gewalt) und ihre Jugend davon abhalten zu experimentieren, gehen früher oder später zugrunde. Gesellschaftliche Erneuerung kann nur durch die Kreativität und den Mut unserer Jugendlichen gegen viele Widerstände in Gang gesetzt werden.

Es ist schlicht unmöglich, immer wie ein Kind versorgt zu werden und Papa und Mama zu gehorchen, ohne Schaden zu nehmen. Alle, und besonders natürlich das heranwachsende Kind, müssen das akzeptieren. Wie reagieren die noch sehr jungen Menschen auf diese unaufhaltsame Kraft, die von innen nach außen drängt und ihre Gefühle so heftig durcheinanderwirbelt? Vielleicht zieht sich das heranwachsende Kind in sich selbst zurück und verschließt sich in seiner eigenen Welt, um sich so in seiner Verletzlichkeit dem starken familiären Einfluss zu entziehen, oder es geht weg zu seinen gleichaltrigen Freunden – in dem intuitiven Wissen, dass es viel besser ist wegzugehen, als sich abzukapseln. Es gibt bei Jugendlichen alle möglichen Versuche, diesen verwirrenden Gefühlen zu entfliehen – manchmal sind es auch Sackgassen. Darüber schreiben wir in diesem Buch auch.

Schamgefühle, Größenwahn, Aggressions- und Ohnmachtsattacken begleiten die erwachende Sexualität und führen nicht selten zu einem scheinbar chaotischen Verhalten der Jugendlichen. Da ist es hilfreich, wenn Sie in dieser Zeit einerseits Einfühlsamkeit und Mitgefühl entwickeln können sowohl für diesen geliebten jungen Menschen, dessen Körper und Geist sich zusehends verändern, als auch für sich selbst, die Sie diese Veränderungen manchmal zähneknirschend, nervlich am Ende und dann wieder voller Freude und Hoffnung begleiten. Sie sind aber andererseits auch nach wie vor die wichtigste Erziehungsperson des Jugendlichen und können mit Ihrer Lebenserfahrung und Ihrem Wissen um die Anforderungen des Alltags in einer modernen Gesellschaft den notwendigen Halt geben. Sie setzen Grenzen und handeln Regeln aus, immer wieder aufs Neue … Sie sind jetzt gefragt als Vertreter einer gesellschaftlichen Ordnung, gegen die der Teenager anrennt, in der er aber seinen Platz finden möchte und wird.

Möchten Sie die Rolle eines Sparringspartners übernehmen? Dann machen Sie sich Ihre eigenen Werte bewusst und leben Sie sie vor. Seien Sie der Erwachsene, der Sie sind, denn auch Ihre Ehrlichkeit wird jetzt genauer unter die Lupe genommen. Auch Sie als Eltern wachsen jetzt mit: Sie argumentieren, Sie erklären sich, Sie vertreten Ihre Werte und Sie sorgen dafür, dass Ihr Zuhause für die Familie ein guter Ort zum Leben ist. Sie vollbringen den Spagat, sich in den Jugendlichen einzufühlen, ihm zuzuhören, mit ihm herumzualbern und verrückten Plänen zu lauschen, nur um dann wieder konsequent auf Vereinbarungen zu bestehen.

Ja, auch Ihr Leben verändert sich jetzt: Sie haben auf einmal mehr Zeit, sind wieder öfter alleine oder zu zweit, müssen nicht mehr für alles sorgen. Fühlen Sie diese Veränderung. Seien Sie ruhig auch traurig darüber, wenn Sie spüren, dass die Kindheit Ihres Kindes zu Ende geht und damit auch viele wunderbare Momente und Erlebnisse. Sie ist bald endgültig vorbei, und als rundum sorgende Eltern werden Sie nicht mehr gebraucht. Wo vorher eine Fülle von kindbezogenen Gedanken und Aktivitäten den Tagesablauf beherrschte, entstehen plötzlich von heute auf morgen freie Zeiträume. Vielleicht sogar ein merkwürdiges Vakuum. Eine Weile werden Sie noch überlegen: Mische ich mich ein oder lasse ich es laufen? Doch immer mehr werden Sie die Lebensbereiche Ihres Jugendlichen ihm selbst überlassen. Sie erinnern sich wieder an eigene Wünsche, die Sie zurückgestellt hatten, an Träume und Pläne, die Sie vor der Geburt Ihres Kindes beschäftigten oder die im Laufe der Erziehungszeit aufgekommen sind. Irgendwann, geplant oder manchmal ganz unvorhergesehen, ist Ihr Jugendlicher dann ausgezogen oder begibt sich auf große Fahrt und kommt als junger Erwachsener zurück. Darauf können Sie sich mit Ihrem Jugendlichen zusammen vorbereiten: Feiern Sie ein Fest zum Abschied der Kindheit und zur Begrüßung des Neubeginns!

Erobern Sie sich in der Pubertätszeit Ihrer Kinder trotz aller Anforderungen bewusst neue Spielräume für sich und Ihre Partnerschaft, Ihre Arbeit und Ihren Freundeskreis. Stellen Sie sich neue Aufgaben. Nutzen Sie die Veränderungsenergie, die jetzt Ihr Zusammenleben mit einem Jugendlichen beherrscht, für sich: Begeben Sie sich in das Neuland Ihrer Möglichkeiten. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt: Sie werden älter werdende Eltern von erwachsenen Kindern sein. Es ist beängstigend, spannend, manchmal befremdlich, aber auf jeden Fall auch entlastend für Ihren Jugendlichen, wenn er miterlebt, wie Sie sich als Mutter oder Vater wieder nach außen öffnen und sie oder er nicht mehr im Mittelpunkt Ihrer elterlichen Fürsorge steht.

Sprechen Sie, wenn Sie über die Veränderungen Ihres Kindes beunruhigt sind, auf jeden Fall mit jemandem, dem Sie vertrauen und der es nicht weitererzählt. Sprechen Sie auch über die Schwierigkeiten Ihrer eigenen Jugendzeit. Die großen Sorgen, die Sie sich jetzt um Ihr Kind machen, haben ihren Ursprung oft in gefährlichen Situationen, die Sie in Ihrer eigenen Pubertät erlebt und zwar gut bewältigt, dann aber komplett vergessen haben. „Wenn ich mir vorstelle, meine Tochter würde sich in die Situationen begeben, die ich erlebt habe, dann möchte ich sie mit allen Mitteln davor bewahren …“ Ihre Unruhe verstärkt die heimliche und bedrängende Sorge des Jugendlichen, er könnte es nicht schaffen – und dummerweise führen Sie damit manchmal genau das herbei, was Sie vermeiden wollten.

Vertrauen Sie in die Lebenskraft, die Ihr Kind mitbringt, um diese Zeit gut zu durchleben – Sie haben es ja schließlich auch geschafft, erwachsen zu werden!

„Jugend ist eine beständige Trunkenheit: Sie ist das Fieber der Vernunft.“

La Rochefoucauld

„Wenn du echt was darüber hören willst, wirst du wahrscheinlich als erstes wissen wollen, wo ich geboren bin und wie meine ganze beschissene Kindheit abgelaufen ist.“ Mit diesen berühmten Worten lässt J. D. Salinger seine 16-jährige Hauptfigur Holden Caulfield den Roman „Der Fänger im Roggen“ beginnen. Ja, das ist sie, die Pubertät: Einsamkeit, Verzweiflung, Verirrungen, Verwirrungen und Revolte zeichnen sie aus. Oft wird diese Zeit zu einer Achterbahn der Gefühle für alle Beteiligten.

Wissenschaftler bezeichnen Pubertät als die zur Geschlechtsreife führende Entwicklungsphase. Die Zeitspanne bis zur ersten Menstruation bzw. dem ersten Samenerguss wird oft als Vorpubertät bezeichnet. Mit dem ähnlichen Begriff Adoleszenz wird häufig allgemein die Zeit zwischen Kind und Erwachsenem definiert; manche sprechen auch von Spätpubertät. Es gibt also verschiedene Begrifflichkeiten – in jedem Fall aber geht es um eine Zeit der Veränderung und der Entwicklung: um die Bewältigung des körperlichen, sexuellen und geistigen Reifungsprozesses, der den Heranwachsenden ebenso wie die ihn begleitenden Erwachsenen betrifft.

Biologisch

Im rein biologischen Sinne geht es in der Pubertät um die zur Zeugung bestimmten Geschlechtsorgane, die sich in der Pubertät auszubilden beginnen und am Ende voll funktionsfähig sind. Dieser Reifungsprozess wird in erster Linie genetisch-hormonell gesteuert. Bei Mädchen verläuft dieser Prozess anders als bei Jungen (siehe Tabelle).

Bei allen folgenden Altersangaben handelt es sich um statistische Mittelwerte – Abweichungen nach unten oder oben sind dennoch relativ häufig!

Der Reifungsprozess

Mädchen Jungen 1
Beginn der Entwicklung im Durchschnitt zwischen 8 und 10 Jahren Beginn der Entwicklung im Durchschnitt zwischen 9,5 und 12 Jahren
Hypophyse und Hypothalamus starten durch Hormonausschüttungen den Reifungsprozess.
Höhepunkt des Wachstumsschubs mit 12 Jahren Höhepunkt des Wachstumsschubs mit 14 Jahren
Wachstum der inneren und äußeren Geschlechtsorgane: Vagina und Gebärmutter vergrößern sich, äußere Schamlippen werden dunkler, Schamhaare wachsen. Hoden und Hodensack vergrößern sich und werden dunkler, Penis wird länger und dicker, Schamhaare bilden sich.
Brüste vergrößern sich, zum Teil unterschiedlich schnell, Brustwarzen bilden sich. Prostata und Bläschendrüse reifen, Samen und Spermaflüssigkeit bilden sich, Stimmbruch entsteht durch Wachstum des Kehlkopfs und verlängerte Stimmbänder.
Erste Menstruation zwischen 11 und 15 Jahren Erster Samenerguss (oft im Schlaf) zwischen 11 und 16 Jahren
Bildung von Fettgewebe durch hormonellen Einfluss (als Reserve für eine mögliche Schwangerschaft) – Entstehung der typisch weiblichen Gestalt Muskelmasse, Knochen- und Körpergewicht nehmen zu – Entstehung der typisch männlichen Gestalt
Behaarung der Achselhöhlen Bartwuchs, Körperbehaarung, stärkerer Körpergeruch
Abschluss der körperlichen Entwicklung mit etwa 17 Jahren Abschluss der körperlichen Entwicklung mit etwa 19 Jahren

Anthropologisch

In den 1920er-Jahren untersuchte die amerikanische Anthropologin Margaret Mead, ob Konflikte in der Pubertät nur durch biologische Veränderungen zu erklären sind oder auch von kulturellen Normen abhängen. Kurz gesagt ergaben die Ergebnisse ihrer Forschungen, zum Beispiel über heranwachsende Frauen in Samoa (1925) und in Neuguinea (1931), dass die Konflikte in unterschiedlichen Kulturen durchaus verschiedene Qualitäten und Inhalte haben, aber dass die Pubertät überall eine Zeit intensiver Veränderungsprozesse darstellt. Mead entwickelte aus ihren Untersuchungen den Standpunkt, dass die Geschlechterrollen kulturell bestimmt und nicht genetisch angeboren sind.

Soziales Lernen findet in Auseinandersetzungen statt – dabei geht es einerseits immer um die Frage der Anpassung und Übernahme der vorhandenen sozialen Normen und andererseits um die kritische Infragestellung und Modernisierung dieser Normen. Damit wären wir bei einem wichtigen Nutzen der Pubertät für die Gesellschaft: Notwendige gesellschaftliche Veränderungen sind immer wieder durch jugendliche Revolten ausgelöst worden, deren Hintergrund nichts anderes als die Zeit der Pubertät ist. In dieser Phase werden sehr grundsätzliche Fragen gestellt und die kreativen jungen Menschen gestalten neue Lebens- und Gesellschaftsentwürfe.

Was aber, wenn ihnen dieser Gestaltungsraum sozial, politisch, wirtschaftlich nicht zugestanden wird? Wenn die Geschlechtsreife der jungen Menschen nicht mehr mit einem Generationswechsel zusammenfällt? In unserer Gesellschaft steigt die Lebenserwartung kontinuierlich, die älteren Erwachsenen wollen noch lange arbeiten, aktiv sein, politisch Einfluss nehmen. Sie sind nicht bereit, ihren Platz für Jüngere zu räumen und ihnen Verantwortung, Experimente und Erfahrungen zu ermöglichen. Ihnen wird die Kompetenz abgesprochen, einflussreiche Positionen zu bekleiden, und dementsprechend können sie ihre Potenziale nicht entfalten. Als „Generation Praktikum“ befinden sie sich häufig über viele Jahre hinweg in der Warteschleife. Dieser Generationskonflikt, der einer großen Anzahl von gut ausgebildeten, motivierten Menschen keine Einsatzfelder und somit auch keine Familienbildung ermöglicht, wird noch durch die demografische Entwicklung verstärkt: Die jüngere, zahlenmäßig abnehmende Generation muss für diejenigen große Versorgungsleistungen erbringen, die ihnen den Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Positionen verwehrt. Wir brauchen unsere jungen Leute nicht nur als Fachkräfte und Manager, sondern wir benötigen ihre ganze jugendliche kreative Spannbreite in allen Bereichen unserer Gesellschaft.

Neurologisch

Noch bis Mitte der 1990er-Jahre gingen Fachleute davon aus, dass die wesentlichen Entwicklungsprozesse des Gehirns bis zum dritten Lebensjahr abgeschlossen sind und alle übrigen im Wesentlichen bis zum zwölften Lebensjahr. Seitdem jedoch mit dem Kernspintomografen regelmäßig und gefahrlos ins Gehirn geblickt werden kann, haben sich völlig neue Erkenntnisse ergeben. Die graue Substanz der Großhirnrinde, die für die höheren kognitiven Denkaufgaben zuständig ist, erlebt vor der Pubertät einen Wachstumsschub, ähnlich wie es bereits im Kleinkindalter geschehen ist. Es gibt eine riesige Zahl neuer Verschaltungen, von denen diejenigen erhalten bleiben, die häufig benutzt werden, die übrigen verkümmern wieder. Mit anderen Worten: In der Pubertät erhält das Gehirn ein umfassendes „Update“ für die Verarbeitung von Informationen und Emotionen. Der Umbau der Bereiche für Wahrnehmung und Bewegungssteuerung ist relativ bald wieder abgeschlossen, die Neuorganisation der Areale für die Orientierung im Raum, in der Zeit und für die Sprache dauern deutlich länger. Damit wird klar, dass die Pubertät eine Riesenchance ist: Der Jugendliche kann sich selbst völlig neu erfinden! Das schüchterne Kind kann zum beliebten Entertainer werden, das Raubein wandelt sich zum sensiblen Zuhörer …

Ein Trost vorweg: Jeder Erwachsene hat diese Zeit durchlebt. Bei knapp 20 Prozent verläuft die Entwicklung undramatisch und ohne größere Probleme. Die große Mehrheit der Heranwachsenden übersteht die Pubertät nicht nur ohne größere Schäden, sondern entwickelt sich zu modernen und verantwortungsbewussten jungen Erwachsenen. Die neuere Forschung blickt in die konstruktiv-lösungsorientierte Richtung: Was tragen die Beteiligten dazu bei, dass es nicht nur zu Schwierigkeiten kommt, sondern dass diese Zeit auch eine entspannte und konstruktive Entwicklung mit sich bringt?

Krisenhaft und chancenreich

Auf der individuellen Entwicklungsebene gibt es mindestens drei sehr ähnliche Phasen: die Zeit der ersten zwei Lebensjahre, die Zeit der Pubertät und die Zeit der Wechseljahre. Ausgelöst durch hormonelle Veränderungen entstehen umfassende körperliche, geistige und soziale Entwicklungsprozesse – die immer auch krisenhafte Züge tragen. Weit verbreitet ist die Einstellung, Krisen seien lästig, überflüssig und möglichst zu vermeiden. In der Krise ist es aber hilfreicher, sie auch als Chance zu begreifen, um sich weiterzuentwickeln, neue Verhaltensund Erlebensweisen kennenzulernen und den Horizont zu erweitern.

Sie kennen das von Ihrem Kind: Die Entwicklung verläuft nicht linear oder gleichmäßig, sondern in Schüben. Wenn das Kind plötzlich zwei oder drei Tage matt ist, etwas Fieber hat, ganz anhänglich wird oder auch unausstehlich ist, also eine Entwicklungskrise durchmacht, so ist es dann auf einmal über Nacht wieder fit und scheint ein anderes Kind geworden zu sein – es ist wieder ein Stück „erwachsener“ geworden. Krisen zeigen uns in der Regel an, dass ein Entwicklungssprung bevorsteht.

Wahrscheinlich kennen Sie dieses Prinzip auch von sich selbst: Sie haben das Gefühl, in Beruf oder Partnerschaft stimmt etwas nicht – vielleicht langweilen Sie sich, sind unzufrieden und die Konflikte nehmen zu … Sie befinden sich in einer Krise. An irgendeinem Punkt reicht es Ihnen – oft dann, wenn der gefühlte Leidensdruck hoch genug ist: Die Krise eskaliert durch einen Riesenkrach, eine Kündigung oder Trennung, was im Nachhinein oft als befreiend erlebt wird und den Weg zur Weiterentwicklung frei macht. Auch in diesem Fall hängen Krise und Entwicklung direkt miteinander zusammen, sie sind sozusagen zwei Seiten einer Medaille. Und es gibt immer typische Phasen – wir kommen später darauf zurück.

„Sein Kind während der Pubertät zu lieben,
bedeutet regelmäßig einen Kaktus zu umarmen.“

(Sinnspruch des Monats in einer Hamburger Schule)

Die Prozesse der Pubertät werden zu einem bestimmten Zeitpunkt durch genetisch festgelegte Auslöser im Gehirn in Gang gesetzt, in jedem Kind mit unterschiedlicher Ausprägung und Intensität. Und so wie der Körper nacheinander oder manchmal auch gleichzeitig sichtbare neue Formen hervorbringt, so folgen die daran gekoppelten Reaktionen im emotionalen und geistigen Bereich. Die körperliche Möglichkeit, ein Kind zu zeugen oder zu gebären, reicht in unserer hoch spezialisierten Industriegesellschaft noch lange nicht aus, um ein Kind erfolgreich großzuziehen. Die geistige, emotionale und soziale Reifung schließt sich an und dauert viel länger als die körperliche Entwicklung.

In komplexen Systemen (Institutionen, Firmen, Staaten, Familien) durchlaufen alle daran beteiligten Personen bei tief greifenden Veränderungen typische Phasen. In Familien mit pubertierenden Kindern sind das in erster Linie natürlich die heranwachsenden Kinder selbst, aber auch deren Eltern und Erziehungspersonen, die ihren eigenen Wandlungsprozess durchmachen. Gerade wenn wir in engen Lebensgemeinschaften leben, bleibt niemand von diesem stürmischen Wachstumsprozess unberührt, da ja jeder mit dieser Zeit eigene Erfahrungen und Emotionen verbindet und sich auf seine neue Rolle vorbereitet. Wachstumsprozesse sind Veränderungsprozesse und lassen sich als solche beschreiben.

Die Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat 1969 fünf emotionale Phasen beschrieben, die Menschen angesichts des nahenden Todes durchlaufen – ebenso wie ihre nahen Angehörigen, die damit aus einer anderen Perspektive heraus fertigwerden müssen:

1. Nicht-wahrhaben-Wollen

2. Zorn

3. Verhandeln

4. Depression

5. Akzeptanz

Die Schweizer Psychologin Verena Kast unterscheidet 1989 vier ähnliche Phasen, die für Krisen typisch sind:

1. Nicht-wahrhaben-Wollen/Schock, Leugnung

2. Aufbrechende, chaotische Emotionen/Zweifel

3. Suchen, Finden und Sichtrennen/Akzeptieren

4. Neuer Selbst- und Weltbezug/Neuorientierung

In den letzten Jahrzehnten hat man diese Phasen auf Veränderungsprozesse übertragen, die sich in Familien abspielen oder auch in Unternehmen – und sogar in Staaten bei großen politischen Veränderungen.

Wir möchten diese Gefühlsphasen vorstellen, die sich bei Eltern während der Pubertät ihrer Kinder abspielen. Dabei unterscheiden wir – angelehnt an die beiden obigen Modelle – sieben Phasen, die in der Regel deutlich erkennbar sind. Wir beschreiben detailliert, woran man die einzelnen Phasen erkennt. Wir beleuchten Fragen, die sich für die Erwachsenen dabei ergeben, ebenso wie Fragen, die sich die Jugendlichen in dieser Zeit stellen. Wir machen auch Vorschläge, wie Sie in welcher Phase gut reagieren können, um Eskalationen zu vermeiden und sich gelassener und bewusster um die eigene Entwicklung zu kümmern. Denn im Lauf der Pubertät Ihres Kindes gewinnen Sie wieder zunehmend Zeit für sich selbst und Ihre eigenen Ziele und Wünsche – eine große Chance, die Sie unbedingt nutzen sollten!

Wie lange diese Phasen jeweils dauern, kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal hat man den Eindruck, eine Phase hört nie auf, dann wiederum scheint eine andere Phase kaum stattgefunden zu haben. In jedem Fall gilt: Nehmen Sie sich Zeit, in Ruhe darüber nachzudenken, was gerade geschieht und was der mögliche Gewinn daraus sein kann.

Die sieben Phasen

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Wie wir auf Veränderung reagieren

Haben Sie dieses Buch gekauft, noch bevor sich bei Ihrem Kind die ersten Anzeichen einer Veränderung zeigen? Dann liegen noch alle sieben Phasen – von der noch etwas vagen Vorahnung bis zur geglückten Integration – vor Ihnen. Doch auch wenn Sie später „einsteigen“, in der schwierigen Phase der Abwehr etwa, kann es nicht schaden, wenn Sie sich auch die Phasen bewusst machen, die Sie bereits durchlebt und hinter sich gelassen haben.

In der folgenden Tabelle veranschaulichen wir unsere Reaktionen im Zusammenleben mit einem pubertierenden Jugendlichen durch einige typische Sätze, die so oder ähnlich in der jeweiligen Phase gesagt werden. Überlegen Sie doch einmal, welches Ihre typischen Sätze sind!

Phase Typische Sätze
1. Vorahnung Vater: „Ich müsste jetzt schon mit meinem Sohn über das Rauchen reden.“
Mutter: „Ich sollte jetzt mit meiner Tochter über ihre sexuelle Entwicklung sprechen.“
2. Schock „Mich hat der Schlag getroffen, als ich ihn mit seiner neuen Frisur sah!“
„Ich erstarrte, als meine Tochter mich plötzlich anschnauzte!“
3. Abwehr und Widerstand „Sonst hast du immer sonntags mit uns gefrühstückt – ich will, dass das so bleibt.“
„Früher hast du auch nicht zweimal am Tag geduscht – wer soll das bezahlen?“
„Seitdem du mit dieser Janine zusammen bist, haben wir überhaupt kein Familienleben mehr!“
4. Kapitulation „Sie fährt jetzt allein nach Amsterdam – nun kann ich auch nicht mehr verhindern, dass sie Haschisch raucht.“
„Wenn du nichts mehr für die Schule machst, bleibst du eben sitzen – ich kann dir nicht mehr helfen.“
5. Abschied und Trauer „Sie kommt nicht mal mehr zu Omas Geburtstag mit – das macht mich richtig traurig.“
„Ich bin so gern mit ihm schwimmen gegangen – jetzt ist er nur noch mit seiner Clique unterwegs.“
6. Öffnung „Lass uns doch mal gemeinsam überlegen, wie wir das mit dem Weggehen regeln können.“
„Weißt du, ich würde gern mal mit dir in Ruhe darüber sprechen, wie es mit dem Taschengeld weitergehen soll.“
7. Integration „Wie wär’s, wenn wir uns an jedem ersten Sonntag im Monat zum Essen treffen?“
„Ich finde es toll, wie du dich um die Einkäufe kümmerst, seitdem ich wieder ganztags arbeite!“

Haben Sie etwas wiedererkannt? Ist Ihnen ein eigener typischer Satz eingefallen? Natürlich sind diese Phasen nicht immer ganz genau voneinander zu trennen – schauen wir einmal etwas genauer hin.

Phase 1: Die Vorahnung

Wenn unsere 9-jährige Tochter auf einmal ihren kindlichen Körper mit einem bauchfreien Top betonen will oder ihre Jeans mit der Schere traktiert, um den mageren, hohläugigen Models in der „Bravo“ zu ähneln, dann beschleicht uns die Ahnung, dass jetzt bald etwas Unumkehrbares mit ihr passieren wird – und damit auch mit uns, als Vater, Mutter oder andere Person, die ihr nahesteht. Diese Gedanken über das passende Outfit werden stark durch die entsprechenden Medien gefördert, das ist klar, und natürlich wird unsere Tochter wieder ihre Pferdeposter aufhängen und mit ihren Freundinnen Weihnachtskekse backen. Aber wir fühlen es im Inneren: Es ist bereits im Gange, in ihr geschieht die noch unsichtbare Vorbereitung auf den nächsten großen Entwicklungsschritt. Es ist mehr ein Fühlen als eine Gewissheit, und neben der Überraschung halten dann auch die Sorgen Einzug in unsere fürsorglichen Überlegungen: Ist sie in der Schule schon genug aufgeklärt worden? Weiß sie, dass sie ihre Regel bekommen wird, und wie wird sie das verkraften? Worauf muss ich sie vorbereiten? Und wie? Nicht zu viel für ihr kindliches Gemüt und nicht zu wenig für die werdende junge Frau? Wie wird mein Sohn sich verändern? Wird er seinen Sport weitermachen und weiter Gitarre spielen? Stimmt es, dass alle Jugendlichen in der Pubertät unausstehlich werden? Sie und er etwa auch? Wird sie so wütend werden, wie ich damals war? So schweigsam und verschlossen? Wird sie vielleicht auch mit 16 alleine verreisen oder gar ausziehen wollen?

Der Nährboden für die positive oder sorgenvolle Färbung der Gedanken, die wir uns um unser Kind machen, sind – ohne dass wir das gewöhnlich realisieren – unsere eigenen Pubertätserfahrungen, die wir lange vergessen glaubten und die nun mit aller Macht ein bedrückendes Comeback feiern.

Ist bei uns damals alles ganz gut abgelaufen, ohne größere Krisen oder heftige Erlebnisse, dann haben wir innerlich eine ganz gelassene Haltung, etwa so: „Das wird schon alles gut gehen, ihr geht es ja gut und wir haben ein schönes Verhältnis miteinander aufgebaut. Ich denke, das wird seinen normalen Gang gehen.“ Haben wir aber selber schwere Zeiten durchgemacht, seelische oder körperliche Schmerzen durchlitten, waren wir vielleicht in gefährliche Aktivitäten verwickelt und haben unangenehme sexuelle Erfahrungen gemacht, dann kommen besonders nachts und in Träumen diese Erinnerungen hoch und verbreiten eine düstere Stimmung, verstärken unsere Sorge um unser noch nicht einmal pubertierendes Kind. Und immer mächtiger wird der Wunsch, sie oder ihn vor dem zu bewahren, was uns damals so großen Schaden zugefügt hat, oder, schlimmer noch, vor den Gefahren, die wir noch überhaupt nicht kennen.

Wir benötigen den Kontakt zu unserer eigenen damaligen Erfahrungswelt, könnten zum Beispiel Freunden davon erzählen, um dadurch die aktuelle Realität unseres Kindes zu erkennen, seine Stärken und seinen Entwicklungsstand. Es geht immer wieder um das eigene Vertrauen in die Zukunft! Schauen wir vertrauensvoll auf die anstehende Entwicklung, können wir realistische Vorbereitungen treffen: über Liebe und Gefühle sprechen, sexuell aufklären und dafür sorgen, dass unser Kind Zugang zu kindgerechten Informationen bekommt. Wir sprechen über die spannenden Aktivitäten in der Jugendzeit, am besten, wenn unsere Kinder von alleine diese Themen ansprechen: Zigaretten, Alkohol, reisen, lieben, Kinder bekommen, arbeiten, Auto fahren … und wir stellen klar, dass wir unser Kind durch seine ihm gemäße Pubertät begleiten wollen mit allen Möglichkeiten, die uns als Eltern zur Verfügung stehen. Wir bereiten uns darauf aktiv vor, wir werden und wollen uns mit unserem Kind zusammen verändern.

Phase 2: Der Schock

So wie gestern Morgen, als die 12-jährige Tochter sagte: „Mama, ich kann mit dieser neuen Frisur unmöglich in die Schule gehen!“ Ungläubiges Erstaunen: „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Sei doch vernünftig, du siehst doch gut aus!“ Heulen und Zähneklappern: „Mama, du verstehst das nicht!“

Es gibt eine Reihe von Anzeichen für den Beginn der Pubertät:

Das Kind ist jetzt oft müde und lustlos.

Es hat schnell wechselnde Launen.

Immer wieder hat es Gefühlsausbrüche.

Es schwankt zwischen Arroganz und Minderwertigkeitsgefühlen.

Es hört laut Musik, und zwar bevorzugt die angesagten Titel.

Mode, Marken und Styling werden wichtig.

Ins Kinderzimmer halten Jugendposter Einzug, während Kuscheltiere und Teddys nach und nach rausfliegen.

Familienunternehmungen sind out.

Die Clique wird wichtiger.

Jetzt ist es tatsächlich so weit: Das Kind verpuppt sich, im Körper laufen alle Prozesse zur sexuellen Reifung an, äußere und innere Veränderungen finden ihren manchmal sehr unzusammenhängenden Ausdruck. Die Familienmitglieder, Lehrer, die Klassenkameraden, sogar Haustiere, alle geraten in den Strudel der Veränderung. Wer jetzt an alten Verhaltensweisen und Kindergewohnheiten festhält, sich gegen die neuen sperrt und tobt und schimpft, muss leiden.

Der Schock tritt ein, wenn zum ersten Mal wirklich klar ist, dass es kein Zurück mehr gibt und noch kein neuer Horizont an Umgangsformen, erwachsener Körperlichkeit oder Vernunft in Sicht ist. Jetzt wird nur deutlich: Es ist vorbei mit der Kindheit. Es wird nie wieder … so schön? … so einfach? … so harmonisch?, wie es war. Die Fantasie malt sie schön, die vergangene Zeit mit dem Kind. Man wusste, wer das Sagen hatte, hatte sich gut miteinander arrangiert, der Alltag wurde ganz gut miteinander bewältigt. Damit ist jetzt Schluss. Und das Schlimmste: Man hat keinen Schimmer, was daraus werden wird. Man weiß ja nicht einmal, wie das Kind in ein, zwei, fünf Jahren aussehen wird! Es ist dann nicht mehr das Kind, das heranwächst und selbstständiger wird, sondern ein erwachsener junger Mensch, der weggehen und mich verlassen wird! Der Schockzustand hält manchmal nur einen Moment an, manchmal zieht er sich über Monate hin. Je eher wir zulassen, dass wir in dem Strudel mit nach unten gezogen werden, desto schneller hören wir auf, gegen diese mächtigen Kräfte anzukämpfen. Überlassen wir uns dem Strudel der Ereignisse, stehen wir die Konflikte durch, vergießen wir Tränen der Wut und der Trauer, lachen wir und umarmen wir einander … stellen wir uns all dem, was der Moment im Zusammenleben mit Pubertierenden eben so mit sich bringt. Den Schock in uns wahrzunehmen hilft uns dabei, uns selbst zu fühlen und uns der neuen Gegenwart zu stellen.

Phase 3: Abwehr und Widerstand

Wenn die Eltern ihren ersten Schock darüber verwunden haben, dass ihr Kind neue Verhaltensweisen an den Tag legt und seine Freunde wichtiger werden als sie, dann regt sich erst einmal innere Ablehnung: Warum spricht er so respektlos mit mir? Soll ich mir das etwa gefallen lassen? „Das ist keine Musik, das ist einfach nur Krach!“ „Das kommt gar nicht infrage, dass ihr euch Pizza kauft, ich habe gerade gekocht!“ Eltern möchten, dass die Erziehung, die Rituale, die Gewohnheiten, die sie ihrem Kind oft mühevoll unter Entbehrungen von Schlaf und eigener Freizeit über zehn, elf oder mehr intensive Jahre des Zusammenlebens mitgegeben haben, nicht oder nur minimal verändert werden. Das ist verständlich. Schließlich hat es lange gedauert, bis das Kind die wichtigsten Fähigkeiten erlernt hat, und jetzt könnte man eigentlich ein bisschen aufatmen. Stattdessen wird jetzt wieder alles anders! Vom Verstand her weiß man das natürlich und will auch, dass sich das Kind zu einem Erwachsenen entwickelt, aber die inneren Gefühle hängen auch an den vertrauten Ritualen und Aufgaben.

Der Anfang vom Ende der Elternrolle wird jetzt zum ersten Mal sichtbar: Die Kinder beginnen auf- und auszubrechen, auch wenn sie noch weit davon entfernt sind, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Das macht unruhig und tief im Herzen auch Angst – und manche Nacht verbringt man mit bangen Fragen: Wie soll ich mich verhalten? Soll ich mich einmischen? Soll ich verbieten, erlauben, kontrollieren? Solange man noch nicht weiß, wie man mit der neuen Situation, die sich ja zunächst auch nur manchmal zeigt, umgehen soll, wird man die altbewährten eigenen Verhaltensweisen an den Tag legen: Das hat doch immer funktioniert, ich weiß schon, was zu tun ist. Dies ist natürlich auch eine Form der Abwehr dieser neuen Verhaltens-und Gefühlsunsicherheit, ähnlich wie heftige Wut, unverhältnismäßig großer Ärger über Kleinigkeiten oder auch Bestechungs- und Erpressungsversuche, die sich gerne als elterliche Fürsorge tarnen.

Nicht wahrhaben wollen

Manche Eltern merken gar nicht, dass ihr Kind sich verändert hat. Bekannte sagen vielleicht: „Du, die Marie ist ja schon ganz schön weit für ihr Alter, hat die schon einen Freund?“ oder: „Markus ist wohl auch schon in der Pubertät, der grüßt mich ja gar nicht mehr!“ Wir selbst als Mutter oder Vater, der seine Kinder manchmal nicht so oft sieht, nehmen eher noch das Kindgemäße wahr, die Unselbstständigkeit, das Kuschelbedürfnis, die Zeichentrickfilme. Man sieht immer, was man sehen will, und wenn wir noch nicht bereit sind, diese Veränderung zu akzeptieren, streiten wir sie ab. Wir wollen das Kind streicheln, wenn es traurig ist, und sind verwundert und verletzt, wenn es aufspringt und rausläuft. Oder, und das ist wohl die häufigste Form der Abwehr durch Nicht-wahrhaben-Wollen, wir verbieten oder ordnen an und wundern uns, wenn das nicht mehr funktioniert. „Natürlich fährst du mit uns in die Ferien, das hat dir doch immer so gut gefallen!“ „Du machst jeden Tag zwei Stunden Hausaufgaben!“ Es wird einfach so getan, als sei alles wie immer, als würde das weiter so funktionieren.

Auch die Kinder verhalten sich am Anfang so: Der wachsende Busen wird versteckt unter schlabberigen Pullis, die Jungs spielen weiter mit ihren Plastikbausteinen oder hören ihre Jugend-Krimiserie. Manchmal tun sie das auch nur nach außen und verbergen ihre Gedanken und Handlungen, die schon in eine ganz andere Richtung gehen. Wenn die Eltern sie aufklären wollen, merken sie vielleicht, dass sich die Kinder schon intensiv mit Sexualität befasst, im Internet Pornoseiten aufgerufen haben und gar keine Informationen mehr brauchen. Oder sie haben schon mit elf Jahren Bier und auch Schnaps getrunken, als die Eltern nicht im Traum daran gedacht haben, dass ihr Sohn oder ihre Tochter trinken und rauchen könnte. Eltern erleben da manchmal in Gesprächen mit Lehrern oder Nachbarn böse Überraschungen. In diesem Moment hilft es sehr, sich daran zu erinnern, wann man selbst mit all diesem heimlichen Ausprobieren angefangen hat, wer damals dabei war und wie die eigenen Eltern reagiert haben. Spätestens jetzt wird es auch Zeit, aufzuwachen, den Kopf aus dem Sand zu heben, den Blick nach vorne zu richten und sich zu fragen: Was muss ich jetzt anders machen als früher?

Machtkampf, Wut und Zorn

Manchmal fragt man sich selber beschämt nach einem lauten Streit: Was war das denn? Warum bin ich so ausgerastet? Was macht mich daran denn so unglaublich wütend, wenn meine Tochter meine Argumente einfach nicht einsehen will oder mein Sohn einfach keine Antwort gibt, wenn ich ihn anspreche? Der Ärger kommt überfallartig. Oft empfindet man ihn als Reaktion auf Worte oder „enttäuschende“ Verhaltensweisen des Heranwachsenden. Man reagiert spontan heftig, verwendet die gleichen Schimpfwörter wie das Kind und schreit Sachen heraus, die man in ruhigem Zustand niemals gesagt hätte. Kurz, man unterscheidet sich in Sachen Heftigkeit in nichts von seinem jugendlichen Gegenüber.

Das gibt zu denken! Warum kann ich einfach nicht ruhig und gelassen bleiben, wenn mein Kind trotzig vom Tisch aufspringt, in sein Zimmer rennt, die Türe zuknallt und abschließt? Was veranlasst mich, genauso wütend aufzuspringen und an der Türklinke zu rütteln oder mich schmollend zurückzuziehen und den ganzen Tag kein Wort mehr mit ihm zu sprechen?

Die Ähnlichkeit der Verhaltensweisen ist der Schlüssel zum Verständnis: Auch wir fühlen die Ohnmacht angesichts des aufgeladenen Gefühlsausbruchs, der uns ebenso kalt erwischt, wie vielleicht auch das Kind davon in diesem Moment überfallen wird. Wir fühlen heftige Abneigung gegen das unerwünschte und im Moment unerklärliche Verhalten – und wir reagieren genauso verletzt und trotzig wie das Kind. Wir fühlen uns genauso hilflos der Situation ausgeliefert, kämpfen noch dazu gegen Schamgefühle – schließlich sollten wir uns ja erwachsen verhalten – und gegen die Ohnmacht, daran etwas zu ändern. Wir sind mitten in einer Enttäuschung. Wir haben uns getäuscht, sowohl in unserem Sohn, in unserer Tochter als auch in uns selbst. Und in einer späteren Analyse der Situation merken wir vielleicht, in welchem Maße wir zu der Eskalation beigetragen haben, indem wir uns nicht wie vernünftige Erwachsene verhalten haben, sondern genauso emotional wie ein gekränkter Teenie.

Wir waren bis jetzt Eltern eines Kindes, das in uns sein Vorbild sah und unsere Autorität akzeptierte – jedenfalls meistens. Und auf einmal gibt es Widerworte, Rebellion, es kämpft um unmögliche Sachen und man fragt sich gänzlich verwirrt, um was es eigentlich die ganze Zeit geht. Und nach vielen kleinen, aber sehr anstrengenden Machtkämpfen dieser Art (wer gewinnt?) ist es manchmal so erleichternd, den ganzen Frust und manchmal auch verborgenen Schmerz herauszuschreien wie ein kleines Kind – für beide! Leider muss man hinterher den Scherbenhaufen wegräumen und weiß auch eigentlich überhaupt nicht, wie man nun darüber sprechen soll, ohne dass die ganze Situation erneut eskaliert. Bei den Pubertierenden wie auch bei den Erwachsenen wird bei dem Geschrei das Ventil aufgedreht, um den Druck abzulassen. Das kann manchmal sehr entlastend wirken, hat aber auf die Dauer zur Folge, dass der Kontakt darunter leidet. Schließlich könnte man beim nächsten Mal noch schlimmer beschimpft werden oder das sogar selber tun, und das hat Folgen …

In diesen Endlosschleifen des Machtkampfes kann nur der Erwachsene verlieren, obwohl es am Anfang nicht danach aussieht. Man muss verstehen, dass dieses Geschrei auf beiden Seiten nur eine Funktion hat: der Wahrheit nicht ins Gesicht zu blicken, dass es an der Zeit ist, sich wie ein Erwachsener bzw. Heranwachsender zu verhalten und Konflikte zivilisiert und erfolgreich zu lösen, so, dass Kontakt und Respekt auch für die Zukunft erhalten bleiben. Eltern können sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht vorstellen, dass sie später diejenigen sein werden, die darauf angewiesen sind, dass ihr erwachsenes Kind den Kontakt hält, sie besucht oder mit ihnen redet. Das Kräfteverhältnis wird sich unausweichlich umdrehen und erst dann wird sichtbar werden, wie sich die Kämpfe der Pubertät auf die familiären Bindungen ausgewirkt haben.

Rückzug

Mit Rückzug meinen wir hier nicht, dass wir uns zurückziehen, in einem anderen Zimmer nachdenken und zur Ruhe kommen, sondern wir sprechen hier vom Abbruch der Kommunikation, der Kälteschicht, mit der man die gerade erlittene Verletzung überzieht. Vielleicht haben unsere Eltern damals so auf uns reagiert oder auf ihre eigene Ohnmacht, das haben wir allerdings meistens längst vergessen. Es ist ein Muster, mit dem wir je nach Charakter dem Schmerz zu entkommen suchen. Wenn wir allerdings mit dieser Gefriertruhenkälte dem Jugendlichen begegnen, wird der sich seinerseits sofort tiefer in sich zurückziehen, denn Kälte und vorwurfsvolles Schweigen kann man als fiebriger Jugendlicher am allerschlechtesten vertragen. Schließlich will er oder sie ja nur die Grenzen der Beziehung zur Mutter, zum Vater austesten, sie aber keinesfalls abbrechen! Man muss einfach wissen, dass die Jugendlichen, die uns als Kinder geliebt haben, uns in ihrem Leben immer weiter suchen werden, sich mit uns verbunden fühlen, nur eben auf ihre Art und Weise, auch durch Reibereien und Provokationen. Auch die Rebellion ist ein Liebesbeweis, selbst wenn es nicht danach aussieht: Ich kämpfe mit dir, weil ich weiß, dass du es vertragen kannst, dass ich erwachsen werde und von dir weggehe. Ich weiß, dass du mich trotzdem liebst und ich dich auch. Wir werden immer miteinander verbunden sein.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869107097
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Drogen Eltern-Ratgeber Erziehungs-Ratgeber Magersucht Phasen der Pubertät Schul-Probleme Teenager

Autoren

  • Angela Kling (Autor:in)

  • Eckhard Spethmann (Autor:in)

Die Autoren: Angela Kling ist Lehrerin, Mutter, Suchtberaterin, Supervisorin und Leiterin der Agentur für Schulberatung. Zum Thema Pubertät veranstaltet sie Workshops, hält Vorträge und berät Eltern, Pädagogen und Jugendliche. Eckhard Spethmann hat als Klassenlehrer, Beratungslehrer und didaktischer Coach vielfältige Erfahrungen in der Unterstützung junger Menschen und ihrer Eltern gesammelt. Er ist Vater zweier Söhne und arbeitet als Schulentwicklungsberater in der Agentur für Schulberatung.
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Titel: Pubertät