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Das Trotzkopfalter

Der Ratgeber für Eltern von 2- bis 6-jährigen Kindern. Der richtige Umgang mit kindlichen Emotionen. Das Erziehungs-ABC mit Tipps und Strategien

von Doris Heueck-Mauß (Autor:in)
176 Seiten

Zusammenfassung

„Ich will aber nicht!“ Trotzanfälle stellen Sie als Eltern auf eine harte Geduldsprobe – und bringen Sie häufig an den Rand der Verzweiflung. Dieser leicht verständliche Ratgeber erklärt typische Trotzreaktionen und kindliche Aggressionen aus Sicht der Eltern und der Kinder. Er hilft allen Eltern, die Gefühle und Verhaltensweisen ihrer Kinder zu verstehen und gelassener damit umzugehen.

Gelassen durch die Trotzphase!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Liebe Mutter, lieber Vater,

wie unzählige andere Eltern haben sicher auch Sie sich mit viel Idealismus, gutem Willen und Neugierde auf Ihr erstes Kind eingestellt. Die Babyzeit bedeutete für Sie intensive Zuwendung und Pflege. Ihr Kind zeigte täglich neue Entwicklungsschritte und verlangte nach wiederkehrenden Ritualen und Verhaltensmustern, um sich entwickeln zu können. Und natürlich stand und steht es ganz im Mittelpunkt Ihres Lebens. Diese Zeit der größten Veränderungen und Umstellungen mit vielen schönen, aber auch oft anstrengenden und sorgenreichen Stunden haben Sie bereits gemeistert.

Im zweiten Lebensjahr stellt Sie Ihr Kind nun vor ganz neue Herausforderungen: Seine Mobilität und Neugier sind oft nicht zu bremsen, seine Sprachfreude nimmt immer mehr zu, und Sie erfahren tagtäglich eine Menge über die Persönlichkeit Ihres Kindes. Zugleich stellt es Sie ständig vor neue Situationen und Entscheidungen: Es will seine Umwelt jetzt intensiver erfahren und entdecken! Dabei gibt Ihr Kind auch sehr deutlich seine Bedürfnisse und seinen Willen zu erkennen und fordert Sie heraus. Es braucht seelischen Halt, viel Verständnis und deutliche Grenzen, um zu erkennen, was erlaubt oder nicht erlaubt oder gar gefährlich ist. So lernt das Kleinkind Schritt für Schritt die Regeln der Erwachsenen kennen und erfährt, welche Gebote und Verbote Sie als Eltern vermitteln wollen: eine wichtige Erziehungsaufgabe, damit Ihr Kind später eine selbstbewusste Persönlichkeit werden kann.

Doch Ihr pflegeleichtes und fröhliches Kleinkind kann auch ein kleiner Zornickel werden. Es widersetzt sich Ihren Anweisungen, es schreit und schlägt um sich und kann sehr heftig in Tränen ausbrechen. Sie reagieren überrascht, verunsichert, sicher auch manchmal ärgerlich oder hilflos und fragen sich, ob Ihr Kind böse ist? Von Freunden haben Sie schon von der berüchtigten Trotzphase gehört. „Ist unser Kind nun mittendrin?“, fragen Sie sich. „Wie wird diese Phase bei unserem Kind ablaufen, und wie sollen wir am besten damit umgehen?“

Die Bezeichnung „Trotz“ hat für viele Eltern eine sehr negative Bedeutung, so ähnlich wie auch die Bezeichnung „Pubertät“ für manche Eltern jetzt schon graue Wolken am Himmel aufziehen lässt. Doch keine Sorge: Mit ein wenig Hintergrundwissen werden Sie diesen Entwicklungsabschnitt Ihres Kindes besser verstehen und damit gelassener auf seine Trotzausbrüche reagieren können. Die jetzt häufiger auftretende „Bockbeinigkeit“ Ihres Kindes hat nichts mit „Bösartigkeit“ zu tun, vielmehr ist sie eine Reaktion auf Begebenheiten und Verhaltensweisen in seinem unmittelbaren Umfeld, ausgelöst durch seine beginnende Autonomieentwicklung. Das elterliche Verhalten hat einen wesentlichen Einfluss darauf, wann der Trotz wieder aufhört oder ob er sich gar verfestigt.

Dieser Ratgeber will dazu beitragen, dass Sie und Ihr(e) Kind(er) das Trotzkopfalter – diese wichtige Phase der Willens- und Ich-Entwicklung – gemeinsam meistern. Es gibt keine perfekten Kinder und auch keine perfekten Eltern. Doch mit Einfühlungsvermögen und Humor wird der tagtägliche Entwicklungs- und Lernprozess im Umgang miteinander zu einem harmonischen Familienleben führen, in dem Kinder mit gesundem Selbstbewusstsein und Durchsetzungswillen aufwachsen können.

Doris Heueck-Mauß

Das Trotzalter ist genetisch nicht festgelegt wie beispielsweise das Lauf- und Sprechalter. Es ist eine ganz individuelle Entwicklungsphase zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr des Kindes, in der es seinen Willen und sein Ich-Bewusstsein entdeckt.

Manche Entwicklungspsychologen möchten das Wort Trotz ganz aus dem Vokabular streichen und sprechen lieber von „Koller“, „Rappel“ oder „Erregungszustand aus einer Enttäuschung heraus“. Denn Trotz hat eine negative Bedeutung, die die Perspektive genervter Eltern wiedergibt, nicht aber, was im Kind bei einem „Koller“ vorgeht.

Trotz hat nichts mit „bösem“ Willen oder Ungehorsam zu tun!

Wenn das Kind erlebt, dass seine Willenskräfte Wirkung zeigen, probiert es diese neue Kraft (Macht) erst einmal eine Zeit lang verstärkt aus. Sehen die Eltern darin nun „bösen“ Willen oder Ungehorsam, den man schnell wieder „austreiben“ muss, dann werden sich regelrechte Machtkämpfe entwickeln. Je mehr die Eltern mit Strenge reagieren, desto mehr Widerstand wird beim Kind ausgelöst. Druck erzeugt Gegendruck: Das Kind wird vermehrt trotzig reagieren und sich mit aggressivem Verhalten „wehren“. Der Trotz verfestigt sich, Kind und Eltern geraten immer mehr in eine negative Verhaltensspirale und sind frustriert.

So weit muss es aber nicht kommen. Völkervergleichende Studien belegen es: Je freundlicher, liebevoller und aufnehmender Kleinkinder im Alter zwischen eineinhalb und drei Jahren behandelt werden, desto weniger kindlichen Widerstand gibt es. Trotz kommt in manchen Kulturkreisen überhaupt nicht vor. Das sollte uns nachdenklich machen.

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Zum Aufbau dieses Buches

Beim ersten Kind haben Eltern meist noch wenige Erfahrungen und Vergleichsmöglichkeiten, um mit Ruhe und Gelassenheit auf die Zornesausbrüche ihres Kleinkindes zu reagieren. Viele Eltern reagieren eher spontan und unüberlegt, sind häufig verunsichert und fühlen sich hilflos. In dieser sensiblen, besonders anstrengenden Entwicklungsphase Ihres Kindes sollten Sie deshalb über Hintergrundwissen verfügen. Nur dann werden Sie seine neuen Fähigkeiten – Selbstständigkeit, den Willen entdecken und ausüben, die Grenzen austesten – besser verstehen und seine Motive und Gefühle besser erkennen können.

Dieses Wissen über den Ablauf des kindlichen Trotzes, das der erste Teil dieses Ratgebers vermitteln möchte, wird Ihnen helfen, zorniges Verhalten Ihres Kindes nicht mit Provokation oder Aggression zu verwechseln. Fallbeispiele veranschaulichen die Problematik.

Diese Unterscheidung zwischen Trotz und Aggression ist deshalb wichtig, weil ein Kleinkind, das seinen Rappel bekommt und dabei schreit und um sich schlägt, durchaus aggressive Verhaltensweisen zeigt. Es setzt diese aber noch nicht bewusst ein, sondern bringt seine Enttäuschung mit seinem ganzen Körper spontan zum Ausdruck. Auf einen trotzenden Winzling sollten Sie übrigens anders eingehen als auf ein älteres Kind, das seinen Willen schon sehr gezielt und bewusst durchsetzen möchte. Im schlimmsten Fall tritt es nach der Mutter, schlägt Bruder oder Schwester, beißt oder schreit provokativ laut. Da die aggressiven Impulse in jedem Menschen stecken, also angeboren sind, stellt es eine große Erziehungsaufgabe für Eltern dar, diese Durchsetzungskraft ihres Kindes in sozial erwünschte Bahnen zu lenken. Die kindliche Aggressivität kann also konstruktiv (sich wehren, durchsetzen) oder eher destruktiv (angreifen, verletzen, zerstören) ausgelebt werden. Ihr Kind muss im Laufe seiner Entwicklung mit Ihrer Hilfe lernen, Emotionen wie Wut und Ärger in sozial erträglichem Maße auszuleben. Das bedeutet, über „friedliche“ Verhaltensweisen zu versuchen, seinen Willen zu äußern und eventuell durchzusetzen. Kinder zwischen ein bis drei Jahren reagieren noch sehr emotional und spontan, wenn sie ihre Gefühle ausleben. Da können Eltern helfen, indem sie Grenzen aufzeigen, die ihre Kleinen verstehen. Das Kindergarten- und Vorschulkind dagegen erlebt ganz andere Ursachen als Auslöser für sein rebellisches Verhalten. Es kann seine aggressiven Handlungen sehr gezielt und bewusst einsetzen und damit seine Eltern durchaus herausfordern.

Das zweite Kapitel informiert über die Entwicklung der kindlichen Aggressionen und ihre vielfältigen Ursachen. In typischen Beispielen werden auch die möglichen unterschiedlichen Ausdrucksformen kindlicher Aggressivität sowie die Motive und Absichten dargestellt. Mit „menschlicher“ Aggression (Ihres Kindes, Ihres Partners und Ihrer Mitmenschen) werden Sie ein Leben lang konfrontiert werden, mit den trotzigen Verhaltensweisen Ihres Kleinkindes nur in einer vorübergehenden Entwicklungsphase. Falls Ihr Kind behindert ist, kann diese Phase allerdings länger andauern. In diesem Fall ist besondere Hilfestellung notwendig. Natürlich zeigen sich auch ältere Kinder oder Jugendliche mal „bockig“ und uneinsichtig. Hier handelt es sich, streng genommen, freilich nicht um Trotz, sondern um ein passiv-aggressives Verhalten, nach dem Motto: „Jetzt erst recht nicht …“, denn die Folgen werden bewusst in Kauf genommen.

Wie Sie mit Ihrem Trotzkopf oder Ihrem kleinen Rebellen umgehen sollten und worauf es dabei ankommt, lesen Sie im Kapitel „Erziehungshilfen für Eltern“ (S. 104). Darin erfahren Sie einiges über lernpsychologische Erkenntnisse, beispielsweise auch, wie sich elterliche Verhaltensweisen – z. B. Liebe, Verständnis und Konsequenz, verwöhnendes oder hartes, strafendes Handeln – auf das Verhalten des Kindes auswirken. Außerdem: wie kindliches und elterliches Verhalten tagtäglich in Wechselwirkung stehen, wie typische, immer wiederkehrende Erziehungssituationen (Essen, Anziehen, Aufräumen, Zubettgehen) zu Konflikten führen können. Dieser Ratgeber möchte verständlich machen, wie Sie möglichst ohne Machtkämpfe zu einem Miteinander im Familienleben kommen. Es gibt keine perfekten Kinder und auch keine perfekten Eltern, aber einen tagtäglichen Entwicklungs- und Lernprozess im Umgang miteinander.

Mit der Bezeichnung Trotz wird ein Entwicklungsschritt des Kleinkindes bezeichnet, nämlich seine Fähigkeit, sich als Individuum zu erleben und einen eigenen Willen zu haben. Seinen Willen kann zwar auch der Säugling ausdrücken; er lässt sich aber immer schnell ablenken.

Die emotionelle Welt der Zwei- bis Vierjährigen

In der Phase zwischen zwei und drei Jahren verändert sich das Selbstempfinden des Kindes. Das hängt mit seiner seelischen und motorischen Reifung zusammen. Das zweijährige Kind spricht nicht mehr von sich in der dritten Person, sondern es wird zunehmend die Wörtchen „ich“, „mich“, „mir“ oder „mein“ verwenden. Es kann sich jetzt im Spiegel oder auf einem Foto erkennen. Im zweiten Lebensjahr bekommt das Kind auch einen Begriff von seinem Körper: Es empfindet sich als groß oder klein, es entdeckt die anatomischen Unterschiede zwischen Junge und Mädchen. Es erlebt, dass es in seinen motorischen Handlungen immer sicherer wird und sich damit auch ein Stück unabhängiger von den Erwachsenen machen kann.

Das Wörtchen „alleine“ wird jetzt ganz wichtig.

Das Kind versucht immer mehr selbst zu machen und wehrt sich gegen die Anforderungen anderer. Der Trotz ist eine Möglichkeit, seine zunehmende Selbstständigkeit auszudrücken, denn oft fehlen ihm ja noch die sprachlichen Möglichkeiten. Dadurch kann es leicht zu Missverständnissen kommen: Das Kind fühlt sich nicht verstanden. Es löst die Enttäuschung und die Spannung, die durch das Missverständnis entstanden sind, mithilfe eines Wutanfalls. Dieser kann dann so heftig ausfallen, dass der Zusammenhang mit dem Anlass gar nicht mehr zu erkennen ist. Eltern stehen dann oft eher hilflos vor dem heftigen Gefühlsausbruch und wissen nicht, wie sie ihrem Kind da wieder heraushelfen können. Es hat ja noch nicht gelernt, mit widerstreitenden Bedürfnissen und Anforderungen oder mit Enttäuschungen und Misserfolgen umzugehen.

Immer wieder gibt es Anlässe, die Ihr Kind in eine Spannung oder einen Konflikt geraten lassen, wie die folgenden typischen Fallbeispiele verdeutlichen sollen.

Trotz als positiver Entwicklungsabschnitt

Die Trotzphase, oder besser gesagt die Phase der Willensund Ich-Entdeckung, ist eigentlich ein positiver Entwicklungsabschnitt, denn die Fähigkeit, wütend zu werden, enttäuscht zu sein und sich zu wehren macht deutlich, dass das Kind lernt, sich als Persönlichkeit zu empfinden. Diese Selbstwahrnehmung hat sich zwar auch schon im ersten Lebensjahr ansatzweise gezeigt, aber erst ab dem Laufalter äußert sie sich konkreter: Das Kind beginnt „mein“ zu sagen oder sich selbst auf einem Foto zu erkennen. Wenn diese Phase auch extrem anstrengend sein kann, so dauert sie zum Glück nicht ewig! Das Kleinkind baut ab dem dritten Lebensjahr auch eine immer höhere Frustrationstoleranz auf. Es ist jetzt in der Lage, über längere Zeit eine psychische Spannung auszuhalten. Es lernt abzuwarten und kann Zusammenhänge besser erkennen. Es entwickelt ein Zeitgefühl. Es beginnt allmählich zu akzeptieren, wenn seine Wünsche nicht sofort befriedigt werden. Und es gerät nicht mehr so oft in die Sackgasse eines Wutanfalls, aus dem es alleine nicht herausfindet. Seine Willensäußerungen werden ab dem dritten Lebensjahr zunehmend ziel-und personenorientiert. Ihr Kind wird zur Durchsetzung seines Willens öfter seine verbale und aktive Aggressionskraft einsetzen. Wie Sie damit am besten umgehen können, lesen Sie im Kapitel „Kindliche Wutausbrüche und Aggressionen“ (Seite 52).

Anlässe für trotziges Verhalten

„Ich will alleine!“

Beispiel:

Anna, zwei Jahre alt, ist schon recht geschickt im Anziehen, und ihre Mutter ist sehr stolz auf sie. Sie hilft Anna zwar bei schwierigen Kleidungsstücken, was sie aber selbst an- oder ausziehen kann, das lässt sie Anna ganz alleine machen – auch wenn es länger dauert. Heute hat es die Mutter jedoch sehr eilig. Sie hat einen Arzttermin und möchte Anna deshalb schnell anziehen. Als Anna dies bemerkt, schreit sie: „Nein, nein, Anna will alleine machen“, verschränkt die Arme und läuft weg. Die Mutter fängt sie wieder ein. Anna wehrt sich nun mit Händen und Füßen, wirft sich auf den Boden, strampelt wie wild, tritt nach der Mutter und schreit immer wieder: „Nein, nein, alleine machen!“

Was geht in Anna vor?

Ist Anna bockig, böse oder gar aggressiv geworden? Keinesfalls. Anna ist nur enttäuscht, dass sie heute der Mama nicht zeigen kann, wie gut sie es alleine schafft; denn das ist für sie im Moment ganz wichtig. Da sie aber noch kein Zeitgefühl hat, weiß sie auch nicht, was für die Mutter ein Arzttermin und Pünktlichkeit bedeuten. Die Enttäuschung löst sich in einem Wutanfall und in einem Tränensee. Anders kann das Kind diese Spannung noch nicht abbauen.

Was geht in Annas Mutter vor?

Die Mutter steht unter Zeitdruck und ist enttäuscht, dass Anna sich so uneinsichtig verhält – wo sie ihr doch sonst so viel Freiheiten und so viel Zeit lässt, sich selbst anzuziehen. Sie wird immer nervöser, fängt nun an, Anna zu ermahnen und auszuschimpfen. Darauf reagiert die Kleine noch enttäuschter: Wo sie sonst gelobt wurde, wird sie heute ausgeschimpft. Anna erregt sich immer weiter und steigert sich so richtig in ihr Unglück hinein. Die Mutter weiß sich nun nicht mehr anders zu helfen und gibt Anna einen Klaps auf den Po. Anna schluchzt, lässt sich aber jetzt widerstandslos hochheben und anziehen. Die Mutter fühlt sich unwohl und ist traurig, dass ihr wegen so eines geringfügigen Anlasses die Hand ausgerutscht ist. Später am Tag ruft sie ganz bekümmert eine Freundin an und erzählt ihr alles. Diese tröstet sie und meint: „Na ja, deine Anna kommt halt jetzt ins Trotzalter.“ Damit sind die Schuldgefühle keineswegs gelindert, die Mutter fühlt sich eher noch hilfloser.

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Die Mutter hätte Anna von dem Arzt erzählen sollen und sie fragen können, welches Kuscheltier sie dem Arzt zeigen möchte. Sie kann Anna erzählen, dass sie in der Praxis malen darf und dass es hinterher beim Bäcker eine Brezel gibt. Jetzt müssen sich aber beide rasch anziehen, und die Mama muss heute mithelfen, damit es schneller geht. Sie weiß ja, Anna kann es so gut alleine. Anna wäre in diesem Fall abgelenkt worden; die Mutter hätte sie auf den Arztbesuch neugierig gemacht, und damit wäre Anna sicher auch kooperativer geworden.

Das Kind hat noch kein Zeitgefühl

Beispiel:

Max, drei Jahre, ist Einzelkind. Ein Grund, weshalb die Mutter jeden Nachmittag mit ihm auf den Spielplatz geht: Dort kann er mit anderen Kindern im Sand spielen. Max freut sich immer sehr auf diese kleinen Ausflüge und steht schon erwartungsfroh mit Eimer und Schaufel vor der Tür. Dann dreht er sich um und bringt der Mutter seine Gummistiefel. Diese ist aber noch mit Bügeln beschäftigt und sagt: „Ja, Max, ich komme gleich – wir gehen bald. Spiel noch ein bisschen.“ Max setzt sich jetzt auf den Boden zur Mutter und beschäftigt sich mit seinen Gummistiefeln. Alle paar Minuten fragt er: „Mama, kommst du jetzt? Ich möchte spielen gehen.“ Die Mutter vertröstet ihren Max weiter und sagt immer wieder „Ja, Max, gleich. Ich komme ja gleich.“ Plötzlich schmeißt Max den Eimer in die Ecke, danach die Gummistiefel und die Schaufel. Er stampft mit den Füßen und schreit: „Ich will jetzt gehen. Ich will gehen.“ Die Mutter schaut erschrocken auf und fängt an zu schimpfen. Schließlich hat sie ihm doch versprochen, dass es bald losgeht. Sie muss aber eben noch schnell ihre Bügelarbeit erledigen.

Was geht in Max vor?

Max hat sich erst sehr gefreut und war auch bereit, ein wenig zu warten. Das Wörtchen „gleich“ („Gleich bin ich fertig“) kann er aber noch nicht richtig einordnen. Er erlebt, dass die Mutter sagt: „Ich komme gleich“, während sie weiter bügelt. Jetzt reagiert Max enttäuscht, und bei der dritten Vertröstung wird er richtig wütend. Er hat den Eindruck, dass sein Wunsch nicht ernst genommen wird und dass er heute nicht mehr zum Spielen kommt. Für Max ist dieser Zeitraum „gleich“ einfach zu unübersichtlich und zu lang. Er hat doch ganz deutlich seinen Eimer und seine Stiefel hingestellt – als Zeichen, dass es jetzt losgeht …

Zu langes Warten kann für Kleinkinder ein Auslöser sein für Enttäuschungen, für Ärger und Erregung. Sie müssen sich dann in Wutausbrüchen erst mal Luft machen. Auch bei diesem Beispiel will das Kind die Mutter nicht ärgern, sondern seine Spannung muss nach der erlebten Enttäuschung einfach erst einmal raus.

Was geht in Max’ Mutter vor?

Für die Mutter ist das Verhalten von Max schwer einzuordnen, denn sie hat ihm doch gesagt, dass sie gleich fertig ist und nur noch die paar Sachen zu Ende bügeln muss. Sie ist enttäuscht, dass Max so wütend reagiert, und verspürt wenig Lust, noch mit ihm auf den Spielplatz zu gehen. Als sie ihm sagt: „Wenn du so weiter tobst, dann bleiben wir ganz zu Hause“, folgt ein neuer, viel heftigerer Wutausbruch. Max fühlt sich nun total missverstanden und ist frustriert.

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Vorschlag:

Da Kinder im Alter von Max weder ein Zeitgefühl haben noch die Uhr lesen können, wäre es günstiger gewesen, die Mutter hätte Max in ihre Arbeit mit einbezogen: „Hier, schau, ich bügle gerade deine Hose fertig. Dann kannst du sie morgen wieder anziehen“ oder „Das Hemd für Papa bügle ich schnell zu Ende, dann stelle ich das Bügeleisen weg und wir gehen zusammen zum Spielplatz.“ Max hätte dann geduldig zuschauen können und verstanden, warum er noch warten muss, bis es rausgeht.

Kleinkindern sollte man also nicht zu früh irgendwelche zeitlichen Ankündigungen machen, denn sonst kann die Wartezeit für sie unerträglich lang werden. Das Kind wird ungeduldig und reagiert enttäuscht mit einem Trotzanfall, der dann wiederum den Eltern die Lust nimmt, mit dem Kind noch etwas zu unternehmen. Bei einem Trotzanfall wäre es dann sicherlich richtiger, das Kind einfach in den Arm zu nehmen und zu sagen: „Gell, du warst ganz enttäuscht, weil ich halt doch noch länger gebraucht habe, aber jetzt gehen wir wirklich.“ Das Kind hätte sich verstanden gefühlt und sich schneller beruhigt. Die gute Laune wäre auf beiden Seiten ganz schnell wiederhergestellt.

In das Spiel vertieft

Ein weiterer Anlass für den Trotzanfall eines Kindes ist möglicherweise gegeben, wenn es unvorbereitet oder zu schnell aus seiner Spielwelt gerissen wird.

Beispiel:

Eine alltägliche Situation, wie sie sich zu Hause oder am Spielplatz ereignen kann: Das Kind sitzt ganz in sein Tun vertieft im Sandkasten oder in seinem Zimmer, eifrig mit seinem Spiel beschäftigt. Da rufen Sie es zum Essen. Sie rufen einmal, Sie rufen zweimal, aber das Kind scheint Sie nicht zu hören. Auch beim dritten Mal spielt es unbeeindruckt weiter. Schließlich werden Sie ungeduldig und sagen energisch: „Nun ist aber Schluss mit dem Spielen; das Essen ist fertig. Komm endlich zu Tisch!“ Es kann sein, dass Ihr Kind ohne weiteren Widerstand sein Spielzeug weglegt und mit Ihnen nach Hause (oder zum Esstisch) geht. Es ist aber genauso möglich, dass es weiterspielen möchte und Sie letztlich das Kind regelrecht von seinem Spiel wegziehen müssen. Daraufhin fängt das Kind an zu brüllen. Es schmeißt Schaufel und Eimer durch die Gegend oder wirft mit den Bauklötzen um sich und tobt. An ein friedliches Essen ist nicht mehr zu denken.

Auch in diesem Beispiel stoßen unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander. Das Kind wollte einfach nur weiterspielen. Ihr Rufen hat es tatsächlich nicht richtig wahrgenommen, weil es doch so vertieft war. Das Essen ist ihm nicht so wichtig. Wer möchte sich auch schon gerne mitten aus einer spannenden Sache herausreißen lassen? Sie Ihrerseits möchten nicht, dass das Essen kalt wird. Sie erleben den Widerstand Ihres Kindes als Böswilligkeit. Auch in diesem typischen Beispiel ist das Kind nicht „böse“, sondern es kann nur noch nicht so schnell abschalten und sich umstellen, wie wir Erwachsene das können.

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Vorschlag:

Wenn Ihr Kind in ein Spiel oder in seine Fantasiewelt sehr vertieft ist, dann bieten Sie ihm die Möglichkeit einer Überleitung an. Bleibt mehrmaliges Rufen erfolglos, dann ist es besser, wenn Sie zu Ihrem Kind gehen, ihm vielleicht die Hand auf die Schulter legen und sagen: „Ich sehe, du spielst so schön. Du kannst den Turm mit drei Klötzen noch fertig bauen. Ich helf dir dabei, und dann gehen wir zusammen zum Essen.“ Dieser Zeitaufwand von ein bis zwei Minuten lohnt sich, denn Eltern und Kind werden entspannt zu Tisch gehen – und vor allem: ohne vorhergehenden Trotzanfall. Auch in dieser Situation hilft es, vorauszudenken und vorauszuhandeln.

Veränderte Gewohnheiten oder Rituale

Beispiel:

Julia, drei Jahre alt, hat bisher nie Probleme beim Zubettgehen gemacht. Es gibt bei Familie M. bestimmte Rituale: So wird abends immer noch gut eine halbe Stunde zusammen gespielt oder vorgelesen, dann helfen Mama oder Papa Julia beim Zähneputzen. Es wird noch ein wenig Spaß beim Ausziehen gemacht, und wenn Julia dann im Bett liegt, bekommt sie ihr Gute-Nacht-Lied und einen Kuss. Das Licht wird gedimmt, und die Eltern bleiben noch ein paar Minuten am Bett, bis sich Julia mit ihrem Kuscheltier zur Seite legt und zum letzten Mal „Gute Nacht“ murmelt.

Heute aber sind die Eltern zu einer größeren Festivität eingeladen, Frau M. freut sich sehr auf diesen festlichen Anlass und überlegt schon den ganzen Tag, wie sie es am besten hinbekommt, dass sie Julia heute etwas eher zu Bett bringt. Dann braucht der Babysitter das nicht zu tun. Die Eltern versuchen, das abendliche Ritual etwas früher einzuleiten, doch irgendwie klappt es heute nicht. Julia hat plötzlich keine Lust mehr zum Spielen, die ausgesuchte Geschichte ist ihr zu langweilig, sie möchte eine andere hören. Die Mutter aber antwortet: „Julia, ich habe heute keine Zeit für eine längere Geschichte. Komm, lass uns jetzt schnell ins Bad gehen.“ Doch auch hier macht Julia nicht so mit wie sonst. Sie fängt an zu trödeln, spielt mit der Zahnpasta herum, die Zahnbürste fällt mehrmals auf den Boden – die Mutter wird langsam ungeduldig. Als Frau M. Julia ein wenig anspornen will, schmeißt diese die Zahnbürste weg und fängt an zu schreien und zu stampfen: „Ich putze heute meine Zähne nicht. Ich mag nicht.“ Die Mutter wird nun nervös, nimmt die Zahnbürste selbst in die Hand und putzt Julia energisch die Zähne. „Mach nicht so ein Theater!“, schimpft sie. Als Julia endlich im Bett liegt, fängt sie auch noch an zu weinen, strampelt ihre Bettdecke immer wieder weg: „Mami, du hast mich gar nicht lieb. Du hast mir die Geschichte nicht erzählt. Du bist eine böse Mami.“ Die Mutter ist ganz entsetzt, denn so etwas hat Julia noch nie gesagt. Außerdem möchte sie nicht, dass Julia weinend einschläft. Es soll ein schöner Abend für sie und ihren Mann werden, und Julia soll nicht darunter leiden.

Was geht in Julia vor?

Julia hat an diesem Abend deutlich das veränderte Verhalten der Mutter gespürt. Kinder haben einen sehr feinen Sinn für veränderte Stimmungen bei den Eltern und für Zeitdruck. Die gewohnten Rituale zur gewohnten Zeit haben Julia Sicherheit gegeben. Daher war sie sehr verunsichert, als sie die Ungeduld der Mutter spürte. Kinder merken sofort, wenn Erwachsene in ihren Gefühlen oder in ihrem Reden nicht ganz stimmig sind, wenn sie gedanklich abgelenkt oder nicht so motiviert sind wie sonst. Als Julia ihre Mutter nervös und schimpfend erlebte, was sonst abends selten geschah, reagierte sie zunächst mit Enttäuschung und später mit Widerstand.

Was geht in der Mutter vor?

Frau M. hatte sich den ganzen Tag überlegt, wie sie das abendliche Ritual am geschicktesten vorverlegen könnte, und war enttäuscht, dass Julia nicht so mitmachte wie sonst. Aus der Ungeduld und dem Zeitdruck heraus reagierte sie unwillig. Wenn Kinder ihren Widerstand zeigen, sind Eltern schnell enttäuscht oder verärgert. Nur sprechen sie ihre Gefühle nicht immer aus, wie dies enttäuschte Kinder tun.

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Die gewohnten Abläufe und Handlungen, die Kleinkinder brauchen, um sich sicher und geborgen zu fühlen, sollten möglichst auch unter Zeitdruck nicht verändert werden. Gerade abendliche Zubettgeh-Rituale geben dem Kind Geborgenheit. Wenn die vertraute Person nicht da ist oder der vertraute Ablauf fehlt, kann das Kind sehr schnell verunsichert sein. Es kann sogar Angst bekommen, verlassen zu werden.

Vorschlag:

Auch ein Kleinkind kann schon verstehen, wenn die Eltern ihm sagen, dass sie am heutigen Tag etwas vorhaben und deshalb ein Babysitter kommt. Dieser sollte übrigens möglichst ein bis zwei Stunden eher da sein (besonders bei den ersten Malen), damit das Kind sich mit Spielen an ihn gewöhnen kann. Die vertrauten Rituale sollte der Babysitter später ohne Zeitdruck durchführen. Julia hätte sich von ihren Eltern in Ruhe verabschieden können. Vielleicht wäre sie traurig gewesen und hätte ein bisschen geweint, aber die Eltern hätten ihr immer wieder deutlich sagen können: „Wir kommen nach Hause, wenn du schläfst, und der Babysitter passt gut auf dich auf.“ Auf diese Weise wäre Julia nicht unter den Druck geraten, zu einer ungewohnten Zeit zu Bett gehen zu müssen, was ihren Widerstand auslöste. Kinder spüren sehr genau, wenn wir Erwachsenen nervös werden – und das verunsichert ein Kleinkind.

Vorsicht vor zu vielen Neins

Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr wird Ihr Kind motorisch immer geschickter. Es will viel ausprobieren und wird viel entdecken. Damit werden Eltern auch mehr Gebote und Verbote aussprechen. Nur ein „Nein, lass das!“ ist für ein Kind zu unspezifisch, es wird sein Verhalten wiederholen – was wiederum bei Ihnen Ärger auslösen wird.

Beispiel:

Oft entstehen Konflikte durch elterliche Neins gerade in ganz alltäglichen Situationen wie beim Einkaufen im Supermarkt: Die gefüllten Regale reichen bis zum Boden, und das Kleinkind kommt an Dinge heran, die es haben möchte. Es wird deshalb immer wieder reizvolle Artikel in den Einkaufswagen legen, die Sie nicht benötigen. Wenn Sie nun jedes Mal sagen: „Nein, lass das bitte im Regal, wir brauchen das nicht“, wird das Kind – früher oder später – sehr frustriert werden. Alles, was es „ausgesucht“ hatte, legen Sie wieder zurück. Zum einen war das „Einkaufen“ ein so schönes Spiel, zum anderen will Ihr Kind bestimmte Dinge einfach haben. Je nach Temperament wird es sich darüber aufregen. Viele Kinder werfen sich wütend auf den Boden und schreien herzzerreißend. Solche Trotzanfälle in der Öffentlichkeit sind vielen Eltern verständlicherweise sehr peinlich, nach dem Motto: „Was denken jetzt die anderen?“ Zusätzlich können als Ratschläge getarnte Kommentare ganz schön nerven, wie beispielsweise: „Ach, lassen Sie doch das arme Kind!“ oder noch schlimmer: „Dieses ungezogene Kind braucht mal eins auf den Po!“

Was geht in den Eltern vor?

Genervt wollen Sie das Geschäft am liebsten fluchtartig verlassen und kaufen Dinge, die Sie nie haben wollten, nur damit das Kind endlich Ruhe gibt. Oder aber Sie beharren auf Ihrem Nein und ziehen ein schreiendes, sich wehrendes Kind hinter sich her. Sie haben garantiert ein schlechtes Gewissen, und zugleich ärgern Sie sich, dass sich ausgerechnet Ihr Kind in der Öffentlichkeit so aufführen muss. Vielleicht schwören Sie sich sogar, Ihr Kind nie mehr zum Einkaufen mitzunehmen. Aber das lässt sich oft nicht realisieren.

Trotzanfälle in der Öffentlichkeit

Trotzanfälle außerhalb der eigenen vier Wände haben zweifellos eine große Wirkung. Geben Eltern in solch einer Situation um des lieben Friedens willen immer wieder nach, wird das Kind natürlich bald lernen, dass es nur ordentlich zu schreien braucht, um sich durchzusetzen.

Geben Sie nicht nach, kann es ebenfalls zu einem Machtkampf kommen. Im ersten Fall hat das Kind erkannt, dass es in der Öffentlichkeit mehr Erfolg hat, seinen Willen durchzusetzen. Sie wiederum werden es immer öfter vermeiden, Ihr Kind zum Einkaufen mitzunehmen. Die Tatsache, dass diese Trotzanfälle Ihres Kindes ja nur eine vorübergehende Entwicklungsphase sind, kann in solch einem Moment auch nicht trösten. Es gilt also, solch brenzlige Situationen mit einfühlsamer Voraussicht von vornherein zu entschärfen, also die Motive des Kindes zu erkennen.

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Vorschlag:

Überlegen Sie sich in Ruhe, wie Sie den nächsten Einkaufsgang mit Ihrem Kind zusammen planen können. Machen Sie beispielsweise gemeinsam aus, dass es bestimmte Artikel, die auf Ihrer Einkaufsliste stehen, aus dem Regal nehmen darf. Es darf sich immer auch eine Kleinigkeit für sich selbst kaufen (ein Stück Obst, eine Brezel, einen Malblock …). Wenn Sie Ihr Kind auf diese Weise bereits in die Einkaufsplanung miteinbeziehen, wird es sicher freudig mitmachen und dann auch eher einsehen, wenn Sie bei der dritten Kekstüte sagen: „Schau, wir haben schon zwei Packungen im Einkaufswagen. Jetzt kannst du noch deinen Joghurt holen und die Milch. Zu Hause haben wir doch ausgemacht: zwei Sachen für dich.“ So wird sich Ihr Kind wahrscheinlich eher überzeugen lassen und nachgeben und bereitwillig mitmachen, Lebensmittel auch wieder ins Regal zurückzuräumen.

Zu viele Verbote fordern letztlich nur noch mehr Widerstand heraus. Das Kind wird immer weniger bereit sein, Ihre Neins zu akzeptieren. Es wird sich ausgegrenzt fühlen und Widerstand leisten, letztlich fühlt es sich als Person abgelehnt. Wenn Sie Ihr Kind dagegen so oft wie möglich in Ihre Entscheidungen und Alltagshandlungen integrieren und wählen lassen, dann lernt es, besser zu verstehen, was Sie meinen. Es wird seltener „ausrasten“, weil es sich verstanden fühlt. Es weiß, dass es einen Wunsch frei hat, andere aber bis zum nächsten Einkauf warten müssen. Auf diese Weise erkennt es auch, dass nicht immer alle Wünsche und alle Bedürfnisse gleichzeitig erfüllt werden können.

In dem Kapitel „Zu viele Neins vermeiden“ wird ausführlicher auf die Notwendigkeit, Grenzen zu setzen, sowie auf die unerwünschten Nebenwirkungen von zu vielen Neins eingegangen (Seite 156).

Alles hat seine Ordnung

Ein typischer Auslöser von Wutausbrüchen oder Trotzanfällen kann auch der Bruch ganz bestimmter Ordnungsmuster sein, die das Kind entwickelt hat. Einige Kinder möchten zum Beispiel, dass ihre Tasse oder das Glas immer an einer bestimmten Stelle steht oder dass Mama oder Papa genau neben ihm sitzen. Vielleicht muss das Lieblingskuscheltier stets an derselben Stelle sitzen oder es muss unbedingt die rote Schlafanzughose sein. Diese festen Gewohnheiten, die uns Erwachsenen oft absurd erscheinen, sind im Kleinkindalter zwischen zwei und drei Jahren völlig normal. Ja, sie sind sogar sehr wichtig für die kindliche Entwicklung. Wenn man einem Kind diese Ordnungsmuster und Rituale nicht gewährt, dann fühlt es sich verunsichert, enttäuscht oder missverstanden und kann sich so erregen, dass es zu einem Trotzanfall kommt. Sie sollten hier also eher nachgeben und Ihrem Kind diesen „Spleen“ möglichst lassen, auch wenn er für Sie nicht immer verständlich ist.

Manchmal stehen Eltern dem Trotzanfall ihres Kindes fassungslos gegenüber, wenn sie ein bestimmtes Ordnungsmuster des Kindes situationsbedingt auflösen müssen. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass es sich darüber dermaßen aufregen könnte.

Beispiel:

Familie H. wandert gern mit ihren Kindern, dem sechsjährigen Emil und der dreijährigen Ella. Auf einer dieser Wanderungen möchte Ella, dass die Mama genau rechts von ihr geht. Die Mutter erfüllt ihr diesen Wunsch. Ella trödelt, doch die Mutter will die beiden „Männer“ einholen, die inzwischen schon weit vor ihnen sind. Ella möchte partout nicht, dass die Mutter einen Schritt vor ihr geht; sie muss genau rechts neben ihr bleiben. Die Mutter wagt es aber dennoch. Plötzlich fängt Ella an zu schreien, bleibt stehen, stampft mit den Füßen auf den Boden und ist nicht mehr bereit, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Alles gute Zureden der Mutter nützt nichts. Vom Geschrei alarmiert, laufen Vater und Sohn zurück. Ella hat sich mittlerweile auf den Boden geworfen und brüllt entsetzlich. Als der Vater versucht, die Kleine aufzuheben, steht sogar weißer Schaum vor ihrem Mund. Sie vergisst vor Wut fast das Atmen. Die Eltern sind fassungslos. Keine Ablenkung hilft, bis Ella endlich erschöpft von selbst aufhört und sich in den Armen des Vaters entspannt. Dann geht das Mädchen weiter, als ob nichts passiert wäre.

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Beispiel: Was geht in Ella vor?

In diesem Beispiel haben die Eltern sicher richtig reagiert. Sie haben gemerkt, dass die Erregung ihrer Tochter erst einmal rausmusste, und haben abgewartet. In so einem Fall hat es überhaupt keinen Sinn, zu schimpfen oder gar zu schreien. Hier heißt es einfach: Augen zu, Ohren zu, tief durchatmen und bis zehn zählen! Der „Rappel“ geht wieder vorüber. Wenn wir auch ausrasten, steigert sich das Kind nur noch mehr hinein. So kann es tatsächlich passieren, dass sich ein Kind so erregt, dass es vergisst zu atmen und sogar blau anläuft.

Tritt solch eine extreme Situation ein, sollte man nicht warten, bis sich das Kind wieder von selbst beruhigt, sondern versuchen, es abzulenken, in den Arm zu nehmen und ihm auf den Rücken zu klopfen – aber ohne Kommentar.

Müdigkeit oder Überforderung als Trotzauslöser

An Tagen, an denen das Kind quengelig, gereizt oder gelangweilt ist, können sich die Anfälle häufen. Es gibt Kinder, die nur einmal pro Woche oder nur einmal pro Monat ihren Rappel bekommen, andere wiederum mehrmals täglich. Eltern neigen dazu, Kinder zu vergleichen. Doch die Häufigkeit der Trotzanfälle hängt sehr ab vom Temperament des Kindes, ebenso aber auch vom Temperament der Eltern und ihrer Reaktion.

Wenn Ihr Kind besonders oft zu Wut- und Trotzanfällen neigt, lohnt es sich, genau zu beobachten, zu welchen Tageszeiten und bei welchen Ereignissen die Trotzanfälle meist erfolgen. Sie werden wahrscheinlich feststellen, dass sich die Trotzanfälle zu Zeiten ereignen, wenn das Kind müde oder überfordert ist. Es kann sich um einen längeren Einkaufsbummel oder eine Wanderung handeln oder um einen Spielnachmittag, der das Kind übermüdet hat. Oder das Kind hat sich selbst zu viel vorgenommen, weil es zum Beispiel einen hohen Turm bauen wollte, der dann aber immer wieder zusammengefallen ist. Diese Trotzanfälle entstehen aus einer Hilflosigkeit des Kindes heraus oder auch aus widerstreitenden Bedürfnissen wie „Ich möchte noch weitermachen, aber kann nicht mehr“, „Ich bin zu müde“ usw. Die Aggressionen richten sich nicht gegen Personen oder Sachen, sondern das Kind bleibt hilflos zwischen zwei unterschiedlichen Bedürfnissen stecken. Häufig sind dann Schreien oder Weinen ein Ausweg, um mit diesen inneren Spannungen und Konflikten fertigzuwerden.

Gefühle und Reaktionen der Eltern in der Trotzphase

Die bisher beschriebenen Beispiele lassen sich sicher beliebig ergänzen, da stellen uns Kinder immer wieder vor neue Überraschungen. Wichtig ist es, die trotzigen Verhaltensweisen von der Person des Kindes zu trennen und möglichst nicht als persönlichen Angriff aufzufassen.

„Gibt es denn wirklich so viele Gelegenheiten für Trotz?“, werden Sie sich fragen. Tatsächlich ja. Denn Einschränkungen und Eingriffe in den Alltag des Kindes, in seine kindliche Spiel- und Fantasiewelt, in seine Ordnungsvorstellungen lassen sich nicht vermeiden. Das Kind hat dabei ganz andere Motive und Ziele als seine Eltern, die zum Beispiel zu Recht Sorge um ihre Stereoanlage haben, die das Kind gerade zum Autospiel umfunktioniert, die nicht einsehen wollen, dass das Kind sein Töpfchen ausgerechnet nur im Flur benutzen will, dass das Saftglas immer bis zum oberen Rand gefüllt sein muss usw. Es lassen sich unzählige Beispiele ergänzen, in denen das Kind eine ganz bestimmte Vorstellung hat, die sich von den Zielen der Erwachsenen deutlich unterscheidet. Das Kind wird also fast zwangsläufig mit Frustrationen konfrontiert werden und durch seine Reaktionen die teilweise leidgeprüften Eltern ebenfalls. Selbst die geduldigste, fantasiebegabteste und humorvollste Mutter wird einen Koller ihres Kindes nicht immer vermeiden können. Trotzanfälle und Wutausbrüche gehören in diesem Alter einfach dazu. Wichtig dabei ist, dass Eltern den Überblick bewahren und nicht zu entnervt reagieren. Die oben genannten Beispiele und ihre Analyse liefern Ihnen Hintergrundwissen, damit Sie Ruhe bewahren können.

Die wichtigsten Tipps und Strategien im Überblick

In Phasen, in denen sich die Trotzanfälle häufen oder intensivieren, werden Sie sich sicher fragen:

„Wie kann sich ein kleines Kind nur so aufführen?“

„Muss ich mir das alles gefallen lassen?“

„Das Kind sollte jetzt langsam gehorchen lernen – ziehen wir einen kleinen Dickkopf oder gar Tyrannen heran?“

„Haben wir etwas falsch gemacht? Beim Nachbarn führt sich unser Kind doch nicht so auf.“

Vielleicht sind Sie auch etwas gekränkt oder gar beleidigt, dass Ihr Kind so ein Theater macht wegen Kleinigkeiten, aus oft nicht erkennbarem Anlass, oder dass es sich so heftig gegen wohlgemeinte, meist notwendige Einschränkungen wehrt. Ist denn die elterliche Autorität jetzt schon gefährdet? Viele Eltern werden sicherlich auch mal so wütend, dass sie ihr Kind anschreien oder ihm einen Klaps geben. Oder sie reagieren mit rigiden Verboten. Dies sind natürlich keine bewährten Mittel, um den Trotz des Kindes zu lindern!

Wie kann man diese Trotzanfälle vermeiden und zugleich dem Kind Grenzen setzen, ohne in einer erzieherischen Sackgasse zu landen? Die folgenden wichtigsten Strategien werden Ihnen weiterhelfen.

Trotzanfälle nicht bestrafen

Anschreien, Schlagen oder Wegschicken verursachen bei einem Kleinkind nur noch mehr Gefühle der Enttäuschung oder gar Angst, sodass sich seine Erregung noch steigern wird und diese auch für das Kind beängstigende Spannung sich in noch mehr Geschrei oder destruktivem Toben auflösen wird. Dieses wütende Verhalten, das nicht absichtlich und gezielt geschieht – wie später ab dem dritten, vierten Lebensjahr bei kindlichen Aggressionen (vgl. dazu Seite 52) – muss also ablaufen, damit die Spannung nachlässt und das Kind sich wieder beruhigt. Wenn Sie diese Verhaltensweisen bestrafen, würden sich die Trotzanfälle nur verschlimmern und möglicherweise übergehen in eine massive Form der Aggression.

Trotz nicht persönlich nehmen

Sie wissen jetzt: Die Trotzreaktion Ihres Kindes ist ein Erregungszustand, der sich wieder auflösen wird. Anschließend beruhigt sich das Kind. Es ist dermaßen in dieser Erregung gefangen, dass es momentan nicht anders als aggressiv reagieren kann. Deshalb werden Sie seinen „Koller“ auch nicht mehr als persönlichen Angriff sehen und gelassener damit umgehen können. Außerdem hat nicht jeder Koller mit elterlichen Einschränkungen zu tun, wie in den vorangegangenen Beispielen bereits analysiert. Dies gilt vor allem, wenn das Kind sich selbst überfordert hat.

Eigene Gefühle ansprechen

Gehören Sie selbst eher zu den schnell erregbaren und temperamentvollen Menschen, dann lassen Sie ruhig Ihre Gefühle mal raus, am besten direkt und als Ich-Botschaft. Sie können zu Ihrem Kind beispielsweise ruhig sagen: „Ich bin jetzt richtig sauer“ oder „Ich bin jetzt ärgerlich“, „Mein Kopf tut weh von deinem Geschrei.“ So sprechen Sie von sich selbst und beschimpfen nicht das Kind. Sie können Ihre Wut und Ihren Ärger zum Ausdruck bringen, ohne dass Sie das Kind schädigen. Wenn Sie und Ihr Kind wieder ruhig sind, dann können Sie sich auch beide in den Arm nehmen und tief durchschnaufen.

Wut kann durchaus ansteckend sein; eine Mutter sagte mir einmal: „Ich möchte eigentlich genauso trotzen wie mein Kind. Ich stampfe dann mit dem Fuß auf und schreie. Danach geht’s mir meist besser.“ Es ist sicher ehrlicher, so zu reagieren, als sein Kind zu bestrafen oder anzuschreien.

Schläge sind tabu!

Wenn Sie auch noch so erregt sind, schlagen Sie niemals Ihr Kind wegen eines Trotzanfalls! Sie würden damit nur alles viel schlimmer machen und sich dabei nicht gut fühlen. Wenn Sie merken, dass Sie so erregt sind, dass Ihnen gleich die Hand ausrutscht, dann halten Sie am besten kurz inne, zählen bis zehn und atmen tief durch. Gehen Sie eventuell kurz aus der Reichweite des zornigen Kindes, aber bleiben Sie immer in Sichtweite. Und – wie gesagt – manchmal wirkt ein eigener Schrei oder ein Aufstampfen befreiend, ohne dass sich diese Emotionen direkt gegen das Kind richten.

Von den negativen Nebenwirkungen von Schlägen und Strafe erfahren Sie mehr in dem Kapitel „Strafen haben Nebenwirkungen“, Seite 158).

Trotz nicht in den Mittelpunkt stellen

Vermeiden Sie es, Ihr Kind wegen eines Trotzanfalls anzuschreien, zu schütteln oder zu bestrafen. Diese Reaktionen würden den Trotz viel zu sehr in den Mittelpunkt rücken. Das Kind bekäme auf diese Weise viel negative Zuwendung und es bestünde die Gefahr, dass es von einem Trotzanfall in den anderen hineingerät. Und aus einer starken Erregung kommt es alleine oft nicht mehr heraus. Sie würden das Kind als Person kritisieren, was ungerecht wäre, da Kleinkinder die Zusammenhänge zwischen dem Anlass und ihrem Trotzanfall nicht erkennen können. Fazit: Ihr Kind wäre extrem verunsichert und ängstlich. Je nach Temperament könnten sich die Trotzanfälle dann noch steigern und weit über das dritte Lebensjahr hinaus andauern. Oder aber der Wille des Kindes wird so gebrochen, dass es sich zu sehr dem Willen der Eltern anpasst und sich schließlich gar nichts mehr zutraut. Das wäre dann das Gegenteil von einem selbstbewussten und selbstsicheren Kind.

Trotzanfälle nicht unterbrechen

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869107103
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Eltern-Kind-Beziehung Eltern-Ratgeber Erziehungs-Ratgeber Familien-Leben Kinder-Erziehung Kindliche Entwicklung Konflikt-Lösung

Autor

  • Doris Heueck-Mauß (Autor:in)

Doris Heueck-Mauß ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin. Die Mutter zweier Kinder arbeitet seit 1985 in ihrer eigenen psychotherapeutischen Praxis in München.
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Titel: Das Trotzkopfalter