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Jedes Kind kann stark sein

So führen Sie Ihr Kind in ein selbstbewusstes und glückliches Leben. Für Eltern von 8- bis 14-jährigen Schulkindern

von Andrea Micus (Autor:in) Günther Hoppe (Autor:in)
208 Seiten

Zusammenfassung

Stress, Versagensängste, fehlende Leistungsbereitschaft oder Konflikte: Der Schulalltag fordert Kinder – wer psychisch nicht gefestigt ist, geht schnell unter. Die Autoren zeigen, wie Eltern Probleme rechtzeitig erkennen und das Selbstvertrauen ihrer Kinder stärken können. Zehn einfache Strategien helfen, um die Schulkinder in ein starkes, selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Circa 8 Prozent der Schülerinnen und Schüler verlassen in diesem Schuljahr die Schule ohne Abschluss. 38 Prozent erreichen trotz entsprechender Voraussetzungen und Begabungen nicht den Schulerfolg, der ihnen möglich ist. Über 40 Prozent der Schülerinnen und Schüler fühlen sich psychisch belastet.

Alarmierende Zahlen aus der Schulwirklichkeit!

Was ist eigentlich los mit unseren Kindern? Sind sie einfach nur faul und bequem? Haben sie keine Lust mehr, sich anzustrengen? Wollen sie sich nur noch ablenken mit Gunshot-Games und anspruchslosen Serienkrimis, dümmlich auf Displays starren und sinnentleert das Mauspad hinund herschieben?

Oder passt das System Schule nicht mehr und ist zum Spielball der Politiker verkommen? Haben etwa unmotivierte Lehrer das Sagen, die schon beim Eintritt ins Berufsleben auf ihre Pension schielen und bis dahin nur noch darauf bedacht sind, eine ruhige Kugel zu schieben?

Ist das wirklich so? Vielleicht ja, aber stellen Sie Ihre Kritik an Schule und Lehrer einmal zurück und rücken Sie das ins Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit, was wirklich für Sie zählt: Ihr Kind.

Sie haben ein Kind, das Ihnen am Herzen liegt, und Sie wünschen ihm ein glückliche Kindheit und ein erfolgreiches Schulleben.

Sie möchten, dass dieser junge Mensch mit Freude lernt und Spaß daran findet, Tag für Tag die Welt und das Leben zu entdecken. Mal spielerisch beim Drachensteigenlassen mit Freunden, mal still und ernsthaft im Englischunterricht auf der Schulbank.

Sie möchten ihm Flügel geben, um über sich selbst hinauszuwachsen, und ihn festhalten, wenn er sich bei heftigen Pirouetten überschlägt.

Sie möchten, dass Ihr Kind voller Zuversicht, Mut und Vertrauen in diese Welt hineinwächst, und wenn es irgendwann geht, möchten Sie ihm nachsehen und sich sagen: Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Ich bin zufrieden mit mir und stolz auf dich, mein Kind.

Doch bis es so weit ist, müssen Steine aus dem Weg geräumt, Tränen getrocknet und Seelen getröstet werden. Es lauern Niederlagen, die geschickt überstanden werden müssen, und es warten Siege, die richtig gefeiert werden sollten. Nicht immer machen Erwachsene dabei alles richtig. Es gibt Momente, in denen sie ratlos sind und fragen: Was ist zu tun?

Sie brauchen Hilfe. In diesem Buch werden Sie Hilfe finden. Aber Vorsicht! Wenn Sie dieses Buch lesen, werden auch Sie gefordert sein. Wenn etwas schiefzugehen droht, muss nicht nur Ihr Kind etwas ändern. Auch Sie müssen an sich arbeiten, innehalten und manches Mal feststellen, dass Sie auf keinem guten Weg sind und dass Korrekturen erforderlich sind. Nur so können Sie Ihrem Kind effektiv helfen, sein Problem in den Griff zu kriegen.

Und Sie müssen bereit sein, Zeit zu investieren. Wer seinem Kind den sicheren Weg in ein erfolgreiches und erfülltes Leben weisen will, muss Geduld mitbringen. Sich in die heranwachsende Seele einfühlen, wissen wollen, wo das Kind äußerlich und innerlich steht, ständig mit ihm in Kontakt sein und sich mit ihm austauschen. Das alles ist ein Muss.

Nur dann können Sie das unsichtbare Band erhalten, das zwischen Kind und Eltern spätestens mit der Geburt gespannt wird, es festzurren und unzerreißbar machen.

Wir zeigen Ihnen, wie Sie Ihrem Kind helfen, stark und erfolgreich durch Schule und Alltag zu kommen.

Wir beschränken uns dabei auf die schwierigen Jahre des Umbruchs, wenn Kinder auf dem Weg zum Jugendlichen zum ersten Mal gefordert sind, sich orientieren müssen, zu wackeln beginnen.

Die Jahre zwischen 8 und 14 Jahren sind das Alter, in denen Niederlagen erstmals richtig schmerzen und Erfolge erstmals richtig weiterbringen. Jahre, die wichtig sind für die Kinder und anstrengend für die Eltern.

Unser Buch wird Ihnen helfen, vieles klarer zu sehen, und Ihnen bei konkreten Fragen wertvolle Tipps und Anregungen geben.

Tauchen Sie ein in die Lebenswirklichkeit von acht Kindern, die alle verschiedene Probleme haben und dank der Entschlossenheit und der Tatkraft ihrer Eltern einen Weg aus ihren Schwierigkeiten finden. Lesen Sie in diesen Fallbeispielen, wie es Fabian und Benita, Malte und Tanja im Schuldschungel ergangen ist und wie es für alle ein Happy End gab.

Der zweite Teil des Buches gibt Ihnen bewährte Strategien an die Hand, die wie ein Stärkungselixier wirken. Viele Aspekte wurden schon in den Erfahrungsberichten angesprochen, doch hier finden Sie die Tipps noch einmal in geballter Form und thematisch sortiert. So fällt es Ihnen leichter, diese Ratschläge zu verinnerlichen und das pädagogische Grundwissen langsam im Erziehungsalltag zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen.

Also, nehmen Sie sich Zeit zum Lesen, Nachdenken, Verinnerlichen! Per Knopfdruck lässt sich ein Kind nicht erziehen. Es gehört Liebe und Geduld dazu, etwas Fingerspitzengefühl und das echte Interesse, ein lebenslanger Begleiter zu sein.

Das Herz des jungen Albert Einstein gehörte der Musik. Er mochte gern das Violoncello. Doch trotz fleißigen Übens kam er aus den Kinderschuhen des Cellospielens nicht heraus. Er war ganz offenbar nur mittelmäßig begabt und egal, wie viel Zeit und Geld man noch investiert hätte, ein höheres Niveau als „Musizieren für den Hausgebrauch“ hätte er nicht erreichen können.

Sein wahres Talent lag in den Naturwissenschaften. Auf diesem Gebiet richtig gefördert, von Professoren, die seine Stärke erkannten, stieg er zum bedeutendsten Physiker der Neuzeit auf.

Was lehrt uns das?

Ganz einfach: Viele Bemühungen verlaufen im Sande. Sie kosten Kraft und Ressourcen, ohne jemals den entsprechenden Erfolg zu bringen. Erst wenn man in seine eigenen Stärken investiert, wird etwas Besonderes daraus.

Stellen Sie sich vor, was mit einem Kind passiert, das in einem Unterrichtszweig schlecht ist, sagen wir in Sprachen, konkret Deutsch und Englisch. Es bekommt schlechte Noten, geht erst in den Förderunterricht, später zur Nachhilfe. Mühsam hangelt es sich schließlich auf eine knappe Vier. Und die Angst, es doch nicht zu schaffen, begleitet es das ganze Schuljahr hindurch.

Dasselbe Kind ist aber ein prima Mathematiker. Im Matheunterricht rechnet es wie ein Wirbelwind, beherrscht Kopfrechnen perfekt und löst kniffeligste Textaufgaben. „Superbegabt“, findet der Lehrer.

Können Sie sich vorstellen, wie dieses Kind leistungsmäßig durchstarten würde, wenn die vielen Stunden, die nahezu vergeblich in die Bewältigung des Englisch- und Deutschstoffes gehen, künftig in die Mathematik gesteckt würden? Es hätte eine Bestnote im Zeugnis und könnte vielleicht sogar einen Preis bei einem Wettbewerb wie „Jugend forscht“ gewinnen. Alles wäre möglich, wenn Eltern und Schule diese Stärke stärken würden. Aber das Gegenteil ist der Fall. Schule und Elternhaus sorgen dafür, dass alle Gedanken nur darum kreisen, was das Kind nicht kann. Doch das blockiert, macht klein und unsicher.

Stellen Sie sich vor, Sie wären eine hervorragende Sekretärin, aber eine schlechte Balletttänzerin. Doch alle Welt würde sich nur darum bemühen, aus Ihnen eine Ballerina zu machen. Stunde um Stunde müssten Sie üben und jeder spräche Sie darauf an, warum Sie den Spitzentanz so schlecht beherrschen. Täglich attestierte man Ihnen Ihre Unbeweglichkeit, mangelnde Begabung und schlechte tänzerische Technik. Über Ihre prima Arbeit als Sekretärin verlöre aber niemand ein Wort. Glauben Sie, es ginge Ihnen gut? Nein, innerhalb kürzester Zeit läge ihr Selbstbewusstsein garantiert am Boden und Sie würden sich unfähig und hilflos fühlen.

Und genau so fühlen sich auch die Kinder, bei denen in der Schule nur die Schwächen Beachtung finden. Es wird gebüffelt, gelernt, geschimpft und getadelt und nur dorthin gesehen, wo es ganz finster aussieht.

Erfolgreiche Lehrer graust es dabei. In ihren Augen haben Erwachsene – Eltern wie Lehrer – das Einmaleins des Motivierens nicht gelernt. Denn es gibt einen todsicheren Weg aus dem Dilemma und der heißt: Stärken stärken! Das ist das pädagogische Zugseil, das Menschen erfolgreich und leistungsstark sein lässt.

Bei uns Erwachsenen entwickelt es sich ganz häufig von selbst. Man ergreift den Beruf, an dem man Freude hat. Man sucht einen Ausbildungsplatz nach seinen Begabungen und Interessen aus. Wer nicht gut mit Menschen umgehen kann, entscheidet sich nicht für einen Ausbildungsplatz in einem Dienstleistungsunternehmen mit reichlich Kundenverkehr, sondern arbeitet lieber in einer ruhigen EDV-Abteilung.

Wir laden uns die Menschen ein, die wir mögen. Wir machen den Sport, der uns liegt. Niemand hat Spaß am Tennis, wenn er ein schlechtes Ballgefühl hat und nie trifft. Er legt den Schläger schnell aus der Hand und konzentriert sich auf eine andere Sportart. Wir kaufen die Kleidung, die uns steht, die unsere Stärken hervorhebt, die wohlgeformten Beine, die geraden Schultern, den flachen Bauch. Die Problemzonen kaschieren wir. Niemand soll sie sehen. Wir wollen uns nicht bloßstellen.

Unsere Kinder stellen wir aber täglich bloß, indem wir ihnen ihre Schwächen vorhalten. Täglich. Und das Schlimmste: Man verbessert so gut wie nichts damit. Viel effizienter ist es, wenn wir uns um die Stärken unserer Kinder kümmern und diese ausbauen.

Hat Ihr Kind Freude an der Mathematik, der Musik, am Englischsprechen, dann hat es auch Freude am Lernen. Es wird Erfolge haben und deshalb noch mehr motiviert werden, weiter zu lernen. Und das ist eine garantierte Aufwärtsspirale in den Schulerfolg.

Bestimmt denken Sie jetzt: Doch was wird aus den anderen Fächern? Es kann doch keinen Schulabschluss mit nur einer Eins in Mathe geben? Sie haben recht!

Natürlich müssen auch Englisch und Deutsch, Geschichte und Geografie gelernt werden. Natürlich gehören auch diese Fächer zum Bildungskanon eines Kindes. Aber erinnern Sie sich an unsere anfängliche Botschaft, an das pädagogische Zugseil, das heißt: Stärken stärken! Denn wenn ein Kind in Mathe eine Rakete ist, wird es gern zur Schule gehen, Freude haben, etwas zu lernen. Es wird Lob bei den Freunden bekommen und Anerkennung bei den Eltern. Es wird ein selbstsicheres Auftreten haben und sich durch einen Misserfolg in einem anderen Fach nicht mehr nach unten ziehen lassen. „Eine Fünf in Deutsch! Blöd gelaufen. Das darf mir nicht noch mal passieren. Aber das wird es auch nicht, denn ich bin gut genug, das zu ändern. Denn ich kann etwas! Denn ich bin stark!“

Verstehen Sie die Botschaft? Sie lautet: Schwächen schwächen mehr, Stärken stärken mehr.

Wer an der starken Seite eines Kindes arbeitet, entzieht den Schwächen die Aufmerksamkeit. Sie verlieren an Bedeutung, werden nebensächlich.

Erinnern Sie sich an Albert Einstein. Wirkliche Förderung ist nur da möglich, wo man sich auf seine Begabungen, seine Stärken verlassen kann. Ansonsten verpuffen sie im Nichts.

Sie müssen keinen Albert Einstein großziehen, aber ein Kind, das Spaß hat am Lernen, das Neugier entwickelt und Unbekanntes erforschen möchte.

„Aber mein Kind steht in keinem Fach wirklich gut da“, möchten Sie jetzt einwerfen. Sie glauben nicht, dass Ihr Sohn oder Ihre Tochter irgendwo zu besonderen Leistungen fähig ist?

Ach ja! Vergessen Sie für einen Moment die Schule. Verlassen Sie das Wertesystem von Noten und stillsitzen können. Setzen Sie sich am besten an einen ruhigen Platz und beobachten Sie Ihr Kind.

Wie schön es mit sich selbst spielen kann! Hoch konzentriert baut es gerade einen Rennwagen aus bunten Kunststoffklötzchen zusammen, und jeder Handgriff sitzt. Ist das nicht großartig?

Was fällt ihm noch leicht? Kann es gut auf Menschen zugehen? Ist es liebevoll im Umgang mit dem Hund? Hat es ein gutes Ballgefühl? Oder bringt es besonders gut seine Ferienerlebnisse aufs Papier?

Sie können viele Themen andenken und sich Ihr Kind darin vorstellen. Und seien Sie sicher: Sie werden Talente entdecken! Konzentrieren Sie sich auf maximal drei und überlegen Sie dann, wie Sie Ihr Kind darin stärken könnten. Aber sprechen Sie auch mit Ihrem Kind und stellen Sie Fragen: Was fällt dir leicht? Was macht dir am allermeisten Spaß? Und selbst wenn die Antwort Ihres Sohnes „Computer spielen“ heißt, reagieren Sie nicht verärgert, sondern konstruktiv. Dann loben Sie seine Fertigkeiten am PC und überlegen Sie, ob Sie ihm nicht die Teilnahme an einem Computerkurs anbieten. Damit er an den Tasten richtig fit wird.

„Dann macht er ja noch weniger Schularbeiten!“, möchten Sie jetzt entrüstet ausrufen. Stimmt nicht! Ihr Sohn wird sich mit den PC-Kenntnissen in der Schule brüsten, Aufmerksamkeit erregen, der „PC-Profi“ werden, bei dem Mitschüler nach Lösungswegen nachfragen. Ihr Sohn muss sich nicht mehr über seine unterdurchschnittlichen Noten definieren.

Warum suchen sich denn so viele Erwachsene neben ihrer Arbeit ehrenamtliche Aufgaben? Weil sie helfen wollen. Stimmt. Aber auch, weil sie im Ehrenamt Anerkennung bekommen und gemocht werden. Die Ehrenamtsbewegung ist auch deshalb so erfolgreich, weil den Menschen Sympathie und Aufmerksamkeit entgegenschlägt.

Wer acht Stunden am Tag eine ungeliebte Arbeit macht, in der er wenig Feedback bekommt, genießt es, als Kassenwart im Kegelclub ein Lob zu bekommen. „Ohne unseren Tommy hätten wir Chaos im Verein“ – so ein Satz streichelt und tut gut. Und er macht stark genug, nicht klein zu werden, wenn man sich am nächsten Morgen in der Firma wieder unterordnen muss.

So kann es auch Ihrem Kind gehen. Sie sollten Ihr Kind nicht auf seine Leistungen in der Schule reduzieren. Der Wert eines jungen Menschen besteht nicht nur aus Schulnoten. Die Schule ist sein Arbeitsplatz und ungeheuer wichtig. Aber er kann sich auch durch sein angenehmes Wesen, vielleicht durch Sportlichkeit, Tierliebe und Charakterstärke auszeichnen.

Wenn ein Mädchen auf die Frage, was es am liebsten macht, „shoppen gehen“ antwortet, rollen Sie nicht abwertend mit den Augen. Warum? Wenn das Mädchen dadurch einen guten Stil in Kleidungs- und Einrichtungsfragen entwickelt, es schafft, sich nett zurechtzumachen, dann bauen Sie auch auf dieser „Stärke“ auf.

„Wir haben eine Firmenfeier und ich möchte mir etwas zum Anziehen kaufen. Bitte komm du mit. Du hast so ein gutes Händchen für Farben und weißt bestimmt, was mir gut steht.“ Erzählen Sie Freunden, wem sie die geschickte Auswahl verdanken, und Ihre Tochter wird sich gut fühlen und ein Stückchen größer in die Schule gehen. Die Noten sind nach wie vor nicht optimal. Aber das Mädchen fühlt sich gut, kann sich sagen: Ich habe Geschmack und ein Gespür für Farben. Na also, ich kann was! Sie wird davon träumen, eine Designerin zu werden. Aber die muss auch rechnen können. Und schon macht Mathematik mehr Spaß. Wetten?

Stärken erkennen und darauf vertrauen

Prima, Sie haben die Lektion gelernt. Sie sind jetzt auf dem richtigen Weg, Ihrem Kind ein guter Begleiter zu sein. Aber Ihr Kind muss diesen Weg auch mitgehen. Doch wenn Eltern den Vorschlag machen, Fähigkeiten gezielt zu verbessern, bekommen sie schnell zu hören: „Ich kann das sowieso nicht!“

Viele Kinder haben kein Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Sie trauen sich zu wenig zu, haben Angst, Fehler zu machen, glauben nicht an ihre Talente, ihr Können. Psychologen wissen: Menschen verhalten sich nie entsprechend ihrer Fähigkeiten, sondern immer nur danach, welche Fähigkeiten sie zu haben glauben. Das heißt: Unsere Erfolge sind immer Ergebnis des eigenen Selbstvertrauens. Wenn ein Schüler glaubt, dumm zu sein, verhält er sich auch so. Wenn er glaubt, die Vokabeln nicht zu können, meldet er sich nicht bei der Überprüfung. Wer sich beim Fußball etwas zutraut, verwandelt den Elfmeter. Ein gleich guter Schütze, der an seinen Fähigkeiten zweifelt, versagt beim Torschuss. Was wir in der Schule – und auch im Leben – erreichen, hängt von dem ab, was wir uns zutrauen und welche Einstellungen wir zu unseren Fähigkeiten haben. Eltern und Lehrer haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich Kinder etwas zutrauen. Und das passiert, wenn sie wissen, wo sie etwas erreichen können. Machen Sie Ihr Kind optimistisch, damit es Zuversicht in die eigene Leistungsfähigkeit hat.

Damit Ihr Kind seine Stärken stärken kann, muss es sich auch seiner Schwächen bewusst sein. Es muss erkennen: Das kann ich gut, das weniger. Ich möchte gern Fußball spielen, aber ich habe kein spielerisches Geschick. Diese realistische Einschätzung ist wichtig, um sich nicht sinnlos zu verausgaben und Ressourcen zu verschwenden. Deshalb bleiben Sie ehrlich und aufrichtig. Natürlich sind kleine Schmeicheleien manchmal hilfreich. Aber nach und nach müssen Sie Ihrem Kind gegenüber mit offenen Karten spielen. „Gehe weiter kicken, wenn du es als Spaß siehst. Aber wenn du erfolgreich sein willst, konzentriere dich auf etwas anderes.“ Damit es nicht weh tut, stellen Sie die Stärke in den Vordergrund. „Du kannst toll Theater spielen, aber als Klassensprecher bist du ungeeignet!“

So lernt ein Kind langsam, sich auf seine Stärken zu konzentrieren und Vertrauen in seine eigene Leistungsfähigkeit zu bekommen. Vertrauen in die eigene Stärke ist eine wichtige Voraussetzung, um in der Schule und später in Ausbildung und Beruf erfolgreich sein zu können.

Vertrauen ist aber auch die wichtigste Voraussetzung, damit Sie Ihr Kind führen und leiten können.

Machen Sie Ihrem Kind deutlich, dass Sie es so annehmen, wie es ist: mit seinen Stärken und Schwächen. Leben Sie Ihrem Kind vor, dass Sie ein verlässlicher Erzieher und Begleiter sind, dem man uneingeschränkt vertrauen kann. Wackeln Sie nie bei Enttäuschungen, die es zwischendurch geben kann. Schenken Sie Ihrem Kind einen unendlichen Vertrauensvorschuss. Glauben Sie an seine Stärken und machen Sie es dafür stark. Denken Sie an Albert Einstein!

Das kennen Sie bestimmt: Bei eigenen Problemen dreht man sich häufig gedanklich im Kreis und findet lange keinen Lösungsansatz. Ganz anders ist das, wenn Ihnen Freunde und Bekannte ihre Sorgen schildern. Da reicht ein Blick und Sie sehen glasklar die Schwachpunkte, bei denen es anzusetzen gilt. Mit Distanz betrachtet erscheinen die Zusammenhänge klarer, die Lösungswege eindeutiger.

Wir möchten uns das zunutze machen und schildern Ihnen im Folgenden die Geschichten von acht Kindern. Jedes davon hat ein Problem, wie es heute Millionen Kinder kennen, zum Beispiel Mobbing oder Unsicherheit, unkontrollierte Aggressionen oder mangelnde Konzentration.

Wir schildern die familiären Hintergründe und arbeiten die Ursachen und Folgen heraus. Sie werden garantiert Parallelen zu Ihrer eigenen Lebenssituation erkennen und den geschilderten Lösungsweg übertragen können. Ein Test und praktische Tipps runden das jeweilige Thema für Sie ab. Machen Sie mit, nehmen Sie bei manchen Tests auch Ihre Kinder mit ins Boot und lesen Sie, wie sich Schwierigkeiten, die Ihnen im Moment noch über den Kopf zu wachsen drohen, mit gezielten Maßnahmen in den Griff bekommen lassen.

Mobbing

„Wer den Feind ganz fest umarmt, macht ihn bewegungsunfähig!“

Carola Gesthusen, Psychologin

Täglich werden an Deutschlands Schulen Mädchen und Jungen verspottet, geschlagen, gedemütigt oder bedroht. Keine Altersgruppe, keine Schulform ist davon ausgenommen.

Untersuchungen belegen, dass mit zunehmendem Alter die körperlichen Schikanen abnehmen, die psychischen Verletzungen aber zunehmen. Über elektronische Medien (sogenanntes Cybermobbing) dringen die Schikanen auch in den häuslichen Bereich der Kinder ein.

Mobbing ist also eine häufige Erscheinung, die dadurch verschlimmert wird, dass sie von vielen Eltern und Lehrern gar nicht wahrgenommen wird.

Doch man kann sich wehren. Ein starkes, selbstbewusstes Kind ist nie ein Opfer. Helfen Sie Ihrem Kind, sich Respekt und Anerkennung bei Gleichaltrigen zu verschaffen und holen Sie es so aus der Opferrolle.

„Noch nachts höre ich, wie die anderen über mich lachen!“

Tanja (11): Sie geht in die 5. Klasse eines Gymnasiums.

„Kommt, wir gründen einen Anti-Tanja-Club!“, ruft der elfjährige Benjamin laut und mit ihm laufen gleich sieben Jungen aus der 5b des hessischen Kleinstadtgymnasiums Richtung Schulhof.

Tanja bleibt auf ihrem Platz sitzen. Sie sieht traurig zu Boden und klappt langsam ihr Schulbuch zu. Sie rührt sich erst vom Fleck, als die junge Englischlehrerin sie direkt auffordert, in die Pause zu gehen. Das Mädchen hat Bauchschmerzen. Am liebsten möchte es gar nicht den Klassenraum verlassen. Tanja weiß ja, was sie draußen auf dem Schulhof erwartet. Auch heute wird wieder niemand mit ihr spielen wollen. Sie wird allein am Schulhofrand stehen, beschämt, vielleicht sogar ein paar Tränen vergießen, und die Minuten zählen, bis die Pausenuhr läutet und endlich wieder der Unterricht beginnt.

Tanja wird gemobbt! Fast alle zwölf Jungen aus der Klasse zeigen offen, dass sie sie ablehnen. Die 13 Mädchen sind zurückhaltender, grenzen sie aber aus. „Hau ab!“ oder „Verschwinde!“ hört sie täglich. Daran hat sie sich gewöhnt. Mittlerweile empfindet sie es als noch verletzender, wenn die anderen Kinder sofort die Spielfläche verlassen, wenn sie sich dazustellt.

„Sie drehen sich um, ohne was zu sagen, und lassen mich stehen. Ich fühle mich, als ob ich eine Krankheit hätte“, vertraut Tanja eines Mittags ihrer Mutter Kerstin (38) an und beginnt bitterlich zu weinen. Es ist Oktober und Tanja geht gerade mal seit zwei Monaten auf das Gymnasium. Wie soll es jetzt weitergehen?

Die ebenso liebevolle wie engagierte Mutter ist richtig verzweifelt. Sie geht am nächsten Tag zum Schuldirektor, um sich bei dem erfahrenen Pädagogen das Herz auszuschütten. Es ist eine lange Geschichte, die sie erzählen wird. Gekennzeichnet von Rat- und Hilflosigkeit. Die Einstiegsworte der Mutter sind deutlich: „Wir wissen nicht mehr weiter. So geht uns das Kind, das wir über alles lieben, bald kaputt!“ Und dann erzählt sie von Tanjas Mobbingschicksal, das schon im Kindergartenalter seinen Anfang nimmt. Damals zieht Tanjas Familie aufs Land. Ein schönes Haus, der Kindergarten gut zu Fuß erreichbar – ideale Bedingungen für einen perfekten Start in die Kindergartenzeit.

Doch Tanja verträgt sich nicht mit den anderen Kindern in ihrer Gruppe. „Wenn ich sie mittags abholte, stand sie schon weinend am Eingang und wartete auf mich. Morgens wollte sie gar nicht mehr ins Auto steigen, so sehr fürchtete sie die Attacken der anderen Kinder.“

Natürlich spricht die Mutter damals mit den Erzieherinnen. Sie wollen alle helfen und sich um eine bessere Integration des zugezogenen Kindes kümmern. Doch es bessert sich nichts. Vielleicht liegt es an der ländlichen Umgebung, denken sich die Eltern damals. Sie kommen aus Hamburg und sind aus beruflichen Gründen aus der Großstadt in die idyllische Kleinstadt gezogen. Beide sind Optiker und konnten auf dem Land ein gut gehendes Geschäft übernehmen.

Tanja zuliebe haben sie sich für ein Haus im grünen Umfeld der Kleinstadt entschieden. Das Mädchen soll in der Natur aufwachsen. Und jetzt das! Die anderen Kinder akzeptieren sie nicht. Tanja sieht schon auf den ersten Blick anders aus. Die Eltern legen Wert auf eine gepflegte, modische Kleidung. Tanja ist immer schick. Aber ist es das?

Vorsichtshalber melden sie das Mädchen im Kindergarten des Nachbardorfes an. Doch es vergehen nur wenige Wochen und Tanja ist auch hier ein Mobbingfall. „Vermutlich liegt es an der Engstirnigkeit der Dorfbewohner“, mutmaßt Tanjas Mutter. Sie haben ihr Haus nur gemietet. Sie wollen sich sowieso etwas kaufen. Warum sollen sie dann nicht in die größere Kreisstadt ziehen. Sie finden ein schönes Reihenhaus in der Kernstadt. Als Tanja eingeschult wird, ist das Thema Mobbing für die Eltern Vergangenheit. Sie ahnen nicht, dass es sie noch viele weitere Jahre begleiten und belasten wird. Denn es gibt nur kurz Ruhe, dann wird Tanja wieder von den anderen ausgeschlossen.

„Tanja hat kaum Freunde“, sagt die Mutter traurig. Denn die Eltern haben in den letzten Jahren viel dafür getan, dass sich das Mädchen integrieren kann. „Wir haben zu Partys eingeladen, zu denen niemand gekommen ist“, so die hilflose Mutter.

Die Folgen sind allmählich dramatisch. In der 2. Klasse liegt Tanja in unregelmäßigen Abständen immer wieder tagelang mit Bauchweh im Bett. Sie muss sich häufig übergeben, bekommt hohes Fieber, für das es keine Erklärung gibt. Erst durch eine eingehende Diagnostik kommt der Hausarzt darauf, dass das Mädchen seelisch extrem unter Stress steht. Die körperlichen Beschwerden stellen sich als Folgen von Mobbing heraus.

Die Mutter spricht immer wieder mit der Lehrerin, die Tanjas Mitschüler häufig ermahnt. An Elternabenden wendet sie sich in einem dramatischen Appell an die Eltern von Tanjas Mitschülern. „Bitte sprechen Sie mit Ihren Kindern und sagen Sie ihnen, wie sehr Tanja leidet.“

Nach jedem dieser Abende ist eine Zeit lang Ruhe. Die Eltern hoffen – bis Tanja mittags wieder tränenüberströmt angelaufen kommt.

Als sie endlich auf das Gymnasium kommt, ist Mobbing für Tanja schon Alltag.

Was ist los mit Tanja?

Tanja ist ein hübsches, immer modisch gekleidetes Mädchen. Sie ist im Sport hervorragend, eine hoffnungsvolle Leichtathletin und in der Schule eine Musterschülerin. „Tanja bringt nur Einser und Zweier nach Hause“, sagt der Vater stolz.

Tanjas Elternhaus ist bürgerlich. Das Geschäft der Eltern ist im Ort bekannt. Sie sind angesehene Geschäftsleute. Der Vater ist in vielen Vereinen. Die Mutter unterrichtet abends an der Volkshochschule Englisch. Sie hat in Amerika studiert und möchte ihre guten Sprachkenntnisse trainieren. Das Mädchen ist ein Einzelkind und wird von den Eltern sehr verwöhnt, aber auch liebevoll gefordert. Tanja bekommt Klavierunterricht und geht zum Ballett.

Tanja hat schon viel von der Welt gesehen. Die Eltern nehmen sie häufig mit auf Messen und Ausstellungen, auch ins europäische Ausland. Einmal im Jahr gönnen sie sich eine Fernreise, oft geht es nach Amerika. Die Familie hat viele Freunde dort.

Tanja ist durch den Geschäftshaushalt der Eltern ein bewegtes Leben gewöhnt. Sie geht nach Schulschluss mittags auch nicht nach Hause, sondern in das Geschäft. Die Eltern nehmen das Mädchen zum Mittagessen mit in eines der zahlreichen Restaurants in der Umgebung. Die Schulaufgaben macht sie im Büro des Vaters. Anschließend fährt sie die Mutter nach Hause oder zum Sport.

Die zahlreichen Reisen und der Kontakt zu vielen Menschen, auch den Kunden im Geschäft der Eltern, haben Tanja eigentlich sehr kommunikativ und offen gemacht. Sie hat ein freundliches, höfliches Wesen, kann sich gut ausdrücken und hat wenig Mühe, sich auf andere Menschen, auch aus dem Ausland, einzustellen.

Dank der guten Schulnoten und der hervorragenden Leistungen im Sport ist Tanja gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen und viel Lob zu bekommen. Auszeichnungen in Leichtathletik oder bei Wettbewerben in der Schule nimmt sie sichtbar stolz entgegen.

Bei den Lehrern ist sie wegen ihrer guten Umgangsformen beliebt. Erwachsene schätzen die Art, wie sie sich ausdrückt. „Tanja ist ein tolles Mädchen“, sagt die Mutter. Aber sie weiß, wie schlecht es ihrer Tochter oft geht. Es gibt Tage, an denen Tanja sich weigert, in die Schule zu gehen. Angeblich hat sie wie früher in der Grundschule wieder Bauchweh, neuerdings klagt sie über Kopfschmerzen. Die Eltern werden bei diesen Symptomen natürlich längst hellhörig. Sie glauben zu wissen, was sich in Wirklichkeit hinter den Beschwerden verbirgt. Sie wollen jetzt echte Hilfe und nicht mehr mit Appellen vertröstet werden.

Der Direktor ist betroffen, aber auch dankbar, dass die Mutter ihn so ausführlich informiert hat. Er macht sich jede Menge Notizen und verspricht Tanjas besorgter Mutter, jetzt durch ganz gezielte Maßnahmen einen Lösungsweg anzustreben. „Das braucht Zeit, aber wir werden erfolgreich sein“, versichert er und rät als Erstes, das Thema Mobbing offen mit Tanja zu besprechen und nicht herumzureden. Sein Tipp: „Tanja muss wissen, was mit ihr passiert. Nur dann kann sie Hilfe annehmen.“

Doch bevor der Direktor entscheidende Maßnahmen in die Wege leiten kann, eskaliert die Situation bereits. Tanja wird beim Tischtennisspielen auf dem Schulhof von Rafael, einem Mitschüler aus der Parallelklasse, brutal verletzt. Der Junge wirft ihr quer über die Platte hinweg den Schläger ins Gesicht. Die Augenbraue platzt auf, dazu die Oberlippen.

Tanja wird direkt von der Schule ins Krankenhaus gebracht. Der Zwischenfall führt in der Schule zu einer Krisensitzung, an der alle Lehrer der Klasse, Tanjas Eltern und der Schuldirektor teilnehmen. Selbstverständlich wird Rafael Konsequenzen wegen seines Verhaltens tragen müssen. Ebenso bedeutsam ist aber das Ziel, Mobbing in der Schule offensiv zu begegnen. Das Thema Anti-Mobbing soll ein regelmäßiges Projekt in der Schule werden, für das sich alle Verantwortlichen engagieren.

„Wir können doch nicht immer weglaufen“, sagt Tanjas Vater, benommen von der Sorge um die einzige Tochter. Es gibt am Ort nur ein Gymnasium. Ein Wechsel wäre für Tanja mit viel Fahrerei und für die Eltern mit sehr hohem Aufwand verbunden. Sie müssten das Geschäft und die Schulzeiten koordinieren, was eine Menge Stress zur Folge hätte. Der Schulpsychologe schaltet sich als Erster ein. Abstellen lassen sich die Mobbingattacken erfahrungsgemäß nicht sofort. Um alle beteiligten Kinder zu erreichen und mäßigend auf sie einzuwirken, werden Wochen, wenn nicht Monate vergehen. Damit Tanja diese Zeit durchstehen kann, muss sie widerstandsfähiger gemacht werden. Sie muss stabil genug sein, auch die offen gezeigte Missgunst und Ablehnung Einzelner zu ertragen.

Warum wird Tanja gemobbt?

Die typischen Mobbingopfer sind Schüler oder Schülerinnen, die sich in einer Außenseiterrolle befinden. Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben: neben äußerlichen Merkmalen, Herkunft, von der Norm abweichenden Verhaltensweisen können auch besonders schlechte oder besonders gute Leistungen eine Rolle spielen. Kennzeichen von Mobbingopfern sind oft auch Ängstlichkeit, Aggressivität, geringes Selbstwertgefühl, körperliche Schwäche und Unfähigkeit, Konflikte zu lösen. Viele Mobbingopfer kommen auch aus einem überbehütenden Elternhaus.

Untersuchungen belegen, dass Probleme mit Mobbing in der Schule oft eskalieren, weil nicht rechtzeitig interveniert wird. Behauptungen wie „An unserer Schule gibt es kein Mobbing“ sind schlichtweg unwahr. Entweder erkennt man das Problem nicht oder es wird ignoriert.

Die Täter, also diejenigen, die aktiv mobben, demonstrieren oft eine körperliche, fast nie eine geistige Überlegenheit. Sie kompensieren mangelndes Selbstwertgefühl durch vorlautes Verhalten, sind oft Anführer von Cliquen und neigen zum Prahlen. Von den Tätern werden zumeist diejenigen gemobbt, die sich in einer Außenseiterrolle befinden. Oft lassen sich von Beobachtern die Merkmale des Außenseiters gar nicht erkennen. Wer nicht „dazugehört“, wird als Einzelner zur Zielscheibe anderer. Übrigens sind Jungen und Mädchen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren am häufigsten von Mobbingattacken betroffen.

Im Kindes- und Jugendalter können Eltern, Lehrer und der oder die Betroffene durch frühzeitiges Handeln dazu beitragen, dass das Mobbing beendet wird. In der gymnasialen Oberstufe ist wegen der subtilen Formen Mobbing am schwersten zu erfassen.

Als besonders gefährdet gelten Kinder und Jugendliche, die

Eigentlich passt Tanja nicht in die übliche Mobbingopferrolle. Das typische Opfer ist schwach, benachteiligt und hilflos und somit prädestiniert zum Prügelknaben.

Nicht so Tanja! Sie sieht gut aus und ist den meisten gleichaltrigen Kindern intellektuell und leistungsmäßig überlegen. Dazu kommt das wohlsituierte Elternhaus. Aber beim genauen Hinschauen wird auch sie gerade dadurch – zusammen mit ihrem Auftreten und den durchgängigen Erfolgen in allen Bereichen – von den Gleichaltrigen als Außenseiter wahrgenommen. Sie kann sich mehr leisten als die meisten anderen und prahlt sogar häufig damit, und das weckt deren Neid.

Da Kinder ihre Gefühle nur schlecht verbal ausdrücken können, reagieren sie mit Ausgrenzung, Aggression und Ablehnung. Und schnell finden sich Mitläufer, die die Mobbingattacken billigen, auch aus Angst, sonst selbst zum Opfer zu werden. Solche Abläufe verselbstständigen sich. Ist ein Opfer festgelegt, hat es Mühe, sich aus der Opferrolle zu befreien. Denn die Mitschüler wissen: Wer für Tanja ist, steht mit am Pranger. Und davor haben gerade schwache Kinder Angst. Also sind sie auch gegen Tanja, schwimmen im Strom der Ablehnung mit, obwohl sie eigentlich gar nichts gegen das Mädchen haben.

So kann man Tanja helfen!

„Wenn man Tanja helfen will, muss man auf die Zeit setzen. Es braucht Monate, um den Klassengeist zu ändern. Aber es ist möglich“, sagt die Lehrerin.

Der Kernpunkt ist: Tanja kann durch ihre vielfältigen Talente anderen Kindern nützlich sein. Die Lehrerin will versuchen, ihre Stärken in das Klassengefüge einzubauen. Bei Tanja bietet es sich zum Beispiel an, dass sie schlechte Schüler leistungsmäßig unterstützt. Die engagierte Deutschlehrerin ist auf einem richtigen Weg, als sie Folgendes vorschlägt: „Wir haben doch die Anmeldung eines Mädchens aus Japan vorliegen, das Ende des Monats in unsere Klasse kommt. Das Mädchen ist sowohl durch ihr Aussehen als auch durch die asiatische Lebensform erst einmal ein Außenseiter – vergleichbar mit Tanja. Ich werde versuchen, die beiden zusammenzubringen.“

Die Lehrerin macht wenig später mit beiden Müttern ein Treffen aus und organisiert, dass Tanja mit der kleinen Kim-Sung ein paar Wochen lang die Hausaufgaben machen wird. Tanja ist von der Idee sofort begeistert. Sie hat ein hilfsbereites Wesen und genießt es, von der künftigen Mitschülerin gebraucht zu werden. Die Lehrerin verkündet Tanjas Einsatz vor der ganzen Klasse und bedankt sich im Namen der Eltern von Kim-Sung für die Mühe, die sich Tanja machen wird. Gleichzeitig bittet sie einen in Mathematik sehr guten Jungen, den gleichaltrigen Bastian, ebenfalls darum, die Asiatin zu unterstützen. Damit holt die Lehrerin auch diesen Jungen, der sich bereits aktiv als Mobber hervorgetan hat, mit ins Boot.

Der Junge fühlt sich geschmeichelt, weil er öffentlich ausgewählt wird, und kann jetzt nicht mehr zurück. Zumal auch noch der Direktor in den Unterricht gekommen ist. Alle drei Schüler treffen sich zweimal in der Woche in Kim-Sungs Elternhaus und Tanja und Bastian helfen ihrer neuen Mitschülerin. Das Ergebnis liegt auf der Hand. Da sie zu dritt in einer Sonderrolle sind, lernen sie sich auch ganz anders kennen. Als Bastian das erste Mal allein mit Tanja nach Hause geht, stellt er fest, dass sie eigentlich ganz nett ist. Am Mobbing in der Klasse beteiligt er sich jetzt nicht mehr. Er hält zwar auch nicht zu ihr, denn dazu fehlt dem stillen Jungen noch der Mut. Aber er macht auch nicht mehr mit. Die Front beginnt zu bröckeln.

An diesem ersten Erfolg knüpft jetzt die Klassenlehrerin an. Sie setzt in ihrem Deutschunterricht verstärkt auf Gruppenarbeiten und teilt die Gruppen dazu persönlich ein. Tanja kommt in die Gruppe der schwachen Kinder. Mit Tanjas Eltern hat sie vereinbart, dass die Gruppenarbeit bei Tanja zu Hause erledigt wird. Die Kinder kommen widerwillig, können sich aber nicht davor drücken. Dank Tanjas guter Leistungen bekommt die Gruppe aber eine gute Zensur. Schnell spricht sich herum, dass die Zusammenarbeit mit Tanja Vorteile bei den Noten bringt. Bei der nächsten Gruppenarbeit kommt von den Tanja zugeteilten Schülern kein Widerstand mehr. Sie gehen gern zu Tanja, weil sie wissen, dass es ihnen notenmäßig guttut.

Innerhalb kürzester Zeit wird Tanja zum Ansprechpartner vieler lernwilliger Schüler. Es ist plötzlich nicht mehr verpönt, mit Tanja zu sprechen, sondern eher ein Zeichen von Cleverness, sich der Vorzeigeschülerin anzuvertrauen und sich von ihr helfen zu lassen.

Tanjas Eltern begleiten die Strategie der Schule geschickt, indem sie die Schüler, mit denen Tanja sich vorsichtig annähert, zu Übernachtungspartys oder Wochenendausflügen einladen.

Die Idee ist klar: Einzelne Kinder mobben nicht! Sie stehen nicht unter dem Druck der Gruppe, sondern gehen erst einmal behutsam mit Tanja um. Im häuslichen Rahmen des Elternhauses verhalten sie sich zurückhaltend und sie haben die Möglichkeit, Tanja allein richtig kennenzulernen. Indem die Eltern viele Kinder aus der Mobbinggruppe einzeln erreichen, werden sie den Gruppendruck langsam abbauen.

Das rät der Experte

Tanja soll selbstbewusst auftreten, dabei aber nicht mit ihrer leistungsmäßigen Überlegenheit protzen. Ein Fehler, den das Mädchen – verletzt und ausgegrenzt – häufig gemacht hat.

Um sich zu wehren und irgendwie aufzutrumpfen, hat sie mit ihren guten Noten oder sogar den teuren Kleidungsstücken geprahlt. Damit machte sie sich nur noch unbeliebter, erntete Beschimpfungen wie „Angeberin“ und „Streberin“ und wurde ausgegrenzt, was dazu führte, dass sie wieder auftrumpfte. – Ein verhängnisvoller Kreislauf, der letztlich in die Spirale des Mobbings führte.

Tanja soll künftig bescheidener auftreten und von ihren Noten nur noch berichten, wenn sie danach gefragt wird. Auch die Themen Markenkleidung und Auslandsreisen soll sie außen vor lassen. Stattdessen ist es sinnvoll, sich für die Interessen der Mitschüler zu erwärmen, auch Kindern zuzuhören, die nicht so viel erlebt haben wie sie.

Das bescheidenere Auftreten und die Zurückhaltung bei bestimmten Themen, die Tanja eingeübt hat, führen dazu, dass sie sich allmählich von den Mitschülern akzeptiert wird.

Sechs Monate nach dem folgenschweren Zwischenfall beim Tischtennis ist Tanja eine beliebte Mitschülerin geworden. Sie geht wieder gern zur Schule und bringt außer den nach wie vor sehr guten Leistungen auch verschiedene gute Freunde mit nach Hause.

„Es war eine anstrengende Zeit“, sagt Tanjas Mutter rückblickend. „Aber die Mühe hat sich gelohnt. Tanja ist ein fröhliches Mädchen. Sie ist an der Mobbingerfahrung sogar gewachsen. Ihr ganzes Auftreten ist überlegter, reifer, rücksichtsvoller geworden. Wenn heute negative Kommentare fallen, geht sie souverän damit um. Sie packt die Mitschüler, indem sie sie direkt fragt: „Warum sagst du so etwas?“ oder „Was habe ich dir getan, dass du so mit mir sprichst!“ Die Erfahrung zeigt, dass diese Mitschüler danach sofort einen Rückzieher machen. Sie schämen sich und sind froh, wenn Tanja ihnen danach symbolisch die Hand reicht und einfach normal weiterspricht.

„Die letzten Monate werden Tanja weiter durchs Leben helfen“, glaubt die Mutter. Der Vater nickt: „Sie war immer ein starkes Mädchen. Aber jetzt ist das noch deutlicher zu erkennen.“

Der Mobbingtest: Ist Ihr Kind ein Mobbingopfer?

Fragen Sie Ihr Kind, ob die folgenden Aussagen auf das Kind zutreffen oder nicht. Für jede zutreffende Aussage notieren Sie einen Punkt.

  1. Niemand will sich mit dir verabreden.
  2. Wenn Gruppenarbeiten vergeben werden, will niemand mit dir arbeiten.
  3. Du wirst täglich gehänselt und niemand steht dir bei.
  4. Wenn du etwas sagst, machen sich alle lustig über dich.
  5. Bei Spielen lässt man dich nicht mitmachen.
  6. Du hast einen Sprachfehler.
  7. Mitschüler tuscheln, wenn du den Raum betrittst.
  8. Andere Kinder erzählen Unwahrheiten über dich.
  9. Man hat dir schon Schulsachen gestohlen.
  10. Deine Kleidung ist schon absichtlich beschmutzt worden.
  11. Es gibt Tage, da magst du nicht zur Schule gehen.
  12. Du hast oft Magenschmerzen oder Kopfweh.
  13. Du hast keine Freunde.
  14. Du bist schon häufig über E-Mails oder das Internet beschimpft worden.
  15. Andere Kinder beleidigen deine Familie.
  16. Die Haupttäter stacheln Mitschüler gegen dich auf.
  17. Niemand will in der Klasse neben dir sitzen.
  18. Du meldest dich nicht, weil du Angst hast, dass alle lachen.
  19. Manche machen dir gegenüber sexuelle Anspielungen oder belästigen dich sexuell.
  20. Du gehst allein zur Schule, obwohl Kinder aus deiner Schule in der Nachbarschaft wohnen.

Ergebnis: __________ Punkte

Testauswertung

0–4 Punkte: Ihr Kind hat keine nennenswerten Probleme.

5–8 Punkte: Das kann Mobbing im Anfangsstadium sein. Die Konflikte können aber auch andere Ursachen haben. Bitte fragen Sie genau nach!

9–13 Punkte: Ihr Kind wird gemobbt! Sie sollten mit ihm besprechen, was Sie ohne Hilfe von außen ändern können.

Mehr als 13 Punkte: Hier liegt eindeutig massives Mobbing vor. Nur Hilfe von außen kann hier etwas ändern. Sie müssen die Schule verständigen.

Was Mobbingopfer selbst tun können

Wenn Ihr Kind gemobbt wird, können ihm die folgenden Tipps helfen, richtig mit der Situation umzugehen.

Was Eltern tun können
Was Eltern unbedingt vermeiden sollten

Mediensucht

„Spielen ist keine Kunst, aber aufhören.“

Wolfram K., Leiter einer Suchtberatungsstelle in Hamburg

Handy, Fernseher, Computer, Internet und Spielekonsolen – in vielen Kinderzimmern nimmt die Anzahl der neuen Medien rasant zu. PC & Co sind heute fester Bestandteil im Leben von Kindern und Jugendlichen, und es grenzt fast schon an eine Katastrophe, wenn sie mal vorübergehend ausfallen.

Der besondere Reiz der neuen Medien ergibt sich aus der dauernden Verfügbarkeit und der tausend Möglichkeiten, virtuell zu spielen. Kinder und Jugendliche tauchen ein in eine unwirkliche Welt, in der sie beliebig Grenzen testen, mit Extremen spielen, anonym kommunizieren und erfolgreich sein können. Sie sind Helden – allerdings nur per Mausklick. Ärzte warnen: Wer täglich mehr als drei Stunden am Computer spielt, hat ein hohes Risiko, mediensüchtig zu werden. Doch es gibt Möglichkeiten, die Kinder zu schützen. Aber nicht, indem man ihnen den PC wegschließt. Viel besser ist diese Vorgehensweise: Schaffen Sie für Ihre Kinder eine reale Welt, die ihnen gefällt. Dann rutscht der PC wieder auf die Position, die er haben sollte: ein wichtiges Hilfsmittel für Schule und Freizeit, nicht mehr und nicht weniger. Und alle Suchtgefahren sind gebannt.

„In Computerspielen bin ich der Held!“

Christopher (13): Er geht in die 7. Klasse einer Realschule.

„Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Der Junge hört mir doch schon lange gar nicht mehr richtig zu. Was hat er denn bloß? Und jetzt soll er noch von der Schule. Das darf nicht passieren!“

Susanne (42), eine kleine, drahtige Frau, sitzt mit hochrotem Kopf vor dem Schreibtisch des Schuldirektors. Nervös kratzt sie sich mit den Fingern immer wieder über die Handrücken, atmet schwer.

„Ich habe so entsetzliche Angst, dass mein Sohn das alles nicht verkraftet. Er war doch immer ein guter Schüler. Und jetzt sagen Sie mir, dass es besser ist, wenn er die Schule verlässt. Ich kann das nicht glauben. Sie können ihm doch noch eine Chance geben, bitte!“

Der Direktor lässt die aufgeregte Mutter erst in Ruhe aussprechen. Dann fragt er nach der Lebenssituation, in der Christopher aufwächst.

Was ist los mit Christopher?

Susanne erzählt offen, dass sie kein übliches Familienleben haben. Sie ist berufstätig. Jeden Nachmittag arbeitet sie als Aufsicht in einem Fitnessstudio. Ihr Mann Frank ist Ingenieur und im Auftrag einer Maschinenbaufirma oft wochenlang im Ausland unterwegs. Christopher ist nur auf dem Papier kein Einzelkind. Er hat zwar noch zwei Schwestern, doch die sind schon erwachsen und wohnen seit Jahren nicht mehr zu Hause.

„Christopher ist unser Nesthäkchen und er hat wirklich alles. Wir haben ein schönes Haus. Er hat das größte Zimmer und es fehlt ihm an nichts. Und wir fördern ihn. Das können Sie mir glauben“, betont Susanne und dann zählt sie auf, dass er früher erfolgreich im Fußballverein gespielt hat, super Leistungen im Tischtennis hatte und sogar noch ein guter Tennisspieler war. Und stolz fügt sie hinzu: „Er hatte ja auch reichlich Privatstunden. Mein Mann verdient gut. Wir können uns das leisten.“

Sie erzählt auch, dass Christopher früher ein guter Schüler war, und schwärmt regelrecht von den schönen Aufsätzen, die er in der Grundschule immer geschrieben hat.

Auch in den Klassen 5 und 6 an der Realschule brachte er noch ordentliche Leistungen mit nach Hause. „Er hatte nur Zweier und Dreier auf dem Zeugnis. Das war doch prima!“, sagt sie. Erst in der 7. Klasse ging es auf einmal rasant bergab. „Er brachte eine Fünf nach der anderen nach Hause“, erinnert sich Susanne. Ein eilig eingeschalteter Nachhilfelehrer konnte auch nicht helfen. Der Junge blieb sitzen.

Jetzt wiederholt er die 7. Klasse und es sieht düster aus. Christopher steht in fast allen Hauptfächern auf einer glatten Fünf. Das Halbjahreszeugnis wird katastrophal ausfallen. So wird er nicht versetzt werden und da er eine Klasse nicht zweimal wiederholen kann, bleibt nur der Wechsel auf die Hauptschule.

Susanne hält den Brief in der Hand, in dem ihr die Schule das mitgeteilt. Als sie ihn im Briefkasten fand, fühlte sie sich davon regelrecht überrumpelt. Deshalb hat sie sofort in der Schule angerufen und um einen Termin gebeten. Jetzt sitzt sie im Büro des Direktors.

Es klopft. Christophers Klassenlehrer ist da. Der Direktor hat ihn dazugebeten.

„Ich sehe überhaupt keinen Lernfortschritt bei Christopher“, kommt er sofort zur Sache. „Und die Schularbeiten macht er nur sehr unregelmäßig. Ich habe mich ehrlich gesagt schon gewundert, dass Sie so spät kommen. Wir haben Ihnen doch schon mehrmals geschrieben und um ein Treffen gebeten.“

Susanne sieht die beiden Lehrer jetzt verwundert an. „Die Hausaufgaben macht er nicht? Wieso? Ich frage ihn jeden Abend, ob er alles erledigt hat, und er hat mir das immer bestätigt. Welche Briefe soll ich denn bekommen haben? Wann haben Sie die denn geschickt?“

Wenig später liegen drei Briefe auf dem Besprechungstisch. In jedem steht, dass Christopher seine Hausaufgaben nicht erledigt. Abgeschickt sind sie im 14-tägigen Turnus. Susanne hat keinen davon bekommen. Doch, und das ist viel schlimmer, es steht ihre Unterschrift darunter! „Ich habe diese Briefe noch nie gesehen!“, sagt sie kopfschüttelnd und springt dann fassungslos auf. „Wissen Sie, ich glaube, ich weiß gar nicht, was hier überhaupt passiert. Wieso macht der Junge so etwas? Kümmere ich mich zu wenig? Kommt er nicht damit klar, dass er seinen Vater so wenig sieht?“ Als sie wieder ins Polster zurücksinkt, ist sie aschfahl. Sie wirkt nachdenklich. „Ob es daran liegt, dass ich arbeite? Zeitlich würde es ja passen. Seitdem ich in das Studio gehe, gehen seine Noten in den Keller. Aber Christopher ist doch kein Kleinkind mehr. Er braucht doch nicht ständig Betreuung. Oder doch?“

Und sie erinnert sich. Vor zwei Jahren kam Christopher auf die Realschule. Kurz darauf bekam sein Vater das Jobangebot, im Ausland zu arbeiten. Der Verdienst lockte. Die zeitweilige Trennung wollte die Familie dafür in Kauf nehmen. Doch Susanne, bis dahin Hausfrau, bekam Angst, zu viel allein zu sein. Sie wollte gern wieder in ihrem Beruf als Kauffrau arbeiten. Doch das sah schlecht aus. Sie war zu lange aus dem Job draußen. Als man ihr schließlich die Tätigkeit als Aufsicht in einem Fitnessstudio anbot, war sie begeistert. Gut, die Arbeitszeiten waren nicht besonders günstig für eine Mutter. Aber Christopher war in Susannes Augen aus dem Gröbsten heraus.

„Ich glaubte, Christopher sei groß genug. Bis heute arbeite ich in dem Studio. Ich mache ihm immer noch das Mittagessen und gehe mit ihm die Schularbeiten durch. Erst um 14 Uhr muss ich dann los. Hausaufgaben machen, sich verabreden, das kann er doch allein. Und wenn ich abends um 19 Uhr wieder zurück bin, habe ich ja noch ein bisschen Zeit für ihn.“

Der Lehrer bohrt nach: „Das heißt, er ist jeden Nachmittag allein und Sie wissen nicht, was er macht? Sind Sie denn immer um 19 Uhr zurück? Oder wird es auch mal später?“ Susanne überlegt: „Ab und zu, wenn eine Kollegin krank ist, muss ich die Abendschicht übernehmen. Dann komme ich erst um zehn Uhr nach Hause. Aber das ist selten.“

Der Klassenlehrer fragt weiter: „Was ist mit Sport? Er war doch ein guter Fußballspieler. Ich erinnere mich, dass er einmal ganz stolz in seinem Vereinstrikot in die Schule kam. Macht er das noch?“

Susanne schüttelt den Kopf. „Leider nein. Der Trainer hat mehrmals angerufen und gefragt, warum Christopher nicht mehr zum Training kommt. Aber Christopher hatte immer keine Lust. Ich weiß nicht, vielleicht ist da etwas vorgefallen? Tischtennis und Tennis spielt er auch nur noch selten. Eigentlich schade! Aber ich kann ihn auch nicht zwingen. Sport ist doch Freizeitbeschäftigung. Die soll Spaß machen. Was glauben Sie denn, was nicht stimmt?“

Ist Christopher mediensüchtig?

Der Lehrer hört sich alles geduldig an. Dann sagt er leise: „Wissen Sie, ich habe da einen Verdacht. Christopher steht in fast allen Fächern sehr schlecht. Bis auf Informatik. Da ist er großartig. Er kennt sich perfekt aus, ist schnell und reaktionssicher. Und: Er wirkt am PC jedes Mal hellwach. So, als sei in ihm ein Schalter umgelegt. Das ist überhaupt nicht vergleichbar mit seinem Verhalten im Unterricht. Da hat man den Eindruck, er nimmt überhaupt nicht teil. Er sitzt auf seinem Platz und wirkt wie abgeschaltet. Sie sollten mal überprüfen, was der Junge eigentlich in seinem Zimmer macht. Spielt er sehr viel an seinem PC? Ist er technisch gut ausgestattet?“

Susanne zählt auf, welche Geräte in Christophers Zimmer stehen. Der Junge hat einen eigenen Fernseher, eine moderne Video-Spielekonsole, einen PC, diverse Spiele und natürlich ein Handy. Und er sitzt viel am PC. „Aber das machen doch alle Kinder. Er spielt diese Kampfspiele. Ich habe aber gelesen, das trainiert die Reaktionsfähigkeit. Das ist doch gut, wenn Kinder das üben.“

Susanne hat recht. Untersuchungen haben belegt, dass PCSpiele das Reaktionsvermögen von Kindern trainieren können. Aber entscheidend ist, wie lange die Kinder am PC auf die Jagd gehen. Wer übertreibt, kann sich mit PC-Spielen schwer schaden, sogar süchtig danach werden.

Susanne kann sich das nicht vorstellen. Sie sieht auch keinen Zusammenhang mit Christophers schlechten Noten. Damit ist sie keine Ausnahme. So wie Susanne geht es Millionen Eltern in Deutschland. Immer mehr Kinder und Jugendliche sind abhängig von Computerspielen oder Internetchats. Die Gefahren, die davon ausgehen, werden von Eltern unterschätzt.

Studien haben ergeben, dass sich etwa 9 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland extrem dem Computerspiel hingeben, das heißt mehr als 4,8 Stunden am Tag vor dem PC verbringen und damit als suchtgefährdet gelten. Zudem weisen etwa 5 Prozent der Teenager Symptome auf, die typisch für eine Sucht sind (mehr zu den Symptomen später in diesem Kapitel).

Zahlen, die aufhorchen lassen sollten. Aber vielen Eltern ist nicht einmal bewusst, dass sie es sind, die ihre Kinder zu potenziell Mediensüchtigen heranziehen.

So haben 7 Prozent der Dreijährigen schon einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer. Mit 6 bis 7 Jahren sind es dann bereits 21 Prozent und mit 12 und 13 Jahren sogar 56 Prozent.

Vernetzt sind 98 Prozent der Jugendlichen zwischen 11 und 14 Jahren. Jedes Kind hat im Schnitt drei PC-Spiele. 3 bis 6 Prozent der Kinder nutzen sie exzessiv, das heißt, mehr als vier Stunden täglich, und gelten damit als extrem suchtgefährdet.

Das Kuriose dabei ist: Die Spiele kommen von den Eltern selbst. Sie werden kritiklos an die Kinder verschenkt. Kaum einem Erwachsenen ist bewusst, dass diese Spiele häufig ein hohes Suchtpotenzial aufweisen. Ebenso wissen wenige Eltern, was sich hinter den virtuellen Welten wie „World of Warcraft“ oder „Second Life“ verbirgt. Die Altersangaben sind längst als unzuverlässig enttarnt. Zugegriffen wird trotzdem. Mit dem Erfolg, dass Millionen von Kindern in Deutschland den Medien schutzlos ausgeliefert sind.

Auch Susanne ist sich all dieser Gefahren nicht bewusst. Erst der drohende Schulwechsel macht sie sensibel für das Thema. Nach dem Schulgespräch ruft sie sofort ihren Mann in Frankreich an. Er kommt am nächsten Wochenende nach Hause.

Als er da ist, sprechen sie gemeinsam mit Christopher, ruhig, besorgt, sehr fürsorglich. Und Christopher gibt zu, dass er die meisten Nachmittage vor dem PC verbracht und gespielt hat. Dabei ist er oft so fasziniert gewesen, dass er die Hausaufgaben schlichtweg vergessen hat.

Die Briefe hat Christopher aus Angst vor Konsequenzen abgefangen und die Unterschrift schließlich darunter gefälscht. Er hatte tatsächlich mehr Sorge, dass man ihm den PC wegnimmt, als Angst vor dem Donnerwetter, wenn die Fälschung auffliegt.

Durch geschickte Fragen der Eltern kommt aber noch mehr heraus: Christopher hat nicht nur jeden Nachmittag vor dem Bildschirm gesessen, er hat auch die Nächte heimlich durchgespielt. Während Susanne ruhig schlief, hat er sich in die virtuelle Kampfwelt begeben. Kein Wunder, dass er sich dann nach manchmal nur zwei, drei Stunden Schlaf in der Schule nicht mehr konzentrieren konnte.

Susanne ist geschockt von diesen Informationen. „Ich war fassungslos. Ich dachte, ich wüsste alles über mein Kind. Aber ich wusste nichts. Er hat sich heimlich in eine Scheinwelt verabschiedet und ich hatte keinen blassen Schimmer davon. Wäre er in der Schule nicht so abgesackt – ich hätte nichts von alldem mitbekommen!“

Dabei zeigen Medienabhängige Symptome, die Eltern bei genauer Beobachtung erkennen können:

So kann man Christopher helfen!

Susanne gesteht sich die bittere Wahrheit ein: „Ich war zu sehr mit mir und meinen eigenen Problemen beschäftigt und hatte kein Auge mehr für mein Kind!“

Aber sie weiß, dass sie jetzt dringend etwas ändern muss. Zum Glück ist sie finanziell durch das gute Einkommen ihres Mannes in der Lage, sofort ihren Arbeitsplatz zu kündigen. Wenn sie möchte, kann sie ja immer noch eine Halbtagsstelle suchen, wo sie nur an den Vormittagen arbeiten muss. Denn nachmittags will sie auf jeden Fall zu Hause sein und wissen, was ihr Sohn dann macht. Als erste Maßnahme reduziert sie Christophers Medienkonsum auf eine Stunde täglich.

Doch sie will mehr wissen und sucht zeitgleich Hilfe in einer Erziehungsberatungsstelle. Von dem Fachmann lernt Susanne viel.

„Ich habe mich erst einmal durch den Dschungel der PCWelt führen lassen“, erzählt sie. „Es gab dazu ein Seminar für Eltern, an dem ich zwei Abende teilgenommen habe. Das hat mir die Augen geöffnet.“

Denn Susanne geht es wie vielen Eltern: Sie hat keine Ahnung, was Kinder eigentlich am PC spielen. Sie kann deshalb auch gar nicht wissen, wie sie Christophers Medienkonsum künftig klug steuern soll. Durch mehr Wissen fühlt sie sich sicherer. Sie kann argumentieren, ihrem Sohn Dinge zum richtigen Umgang mit PC-Spielen oder dem Internet erklären: „Das ist mir wichtig.“

Sie erfährt auch, was die Faszination der PC-Spiele eigentlich ausmacht. Es ist der Reiz der Scheinwelt, in die die Kinder, überwiegend Jungen, gern abtauchen. Süchtig macht der Erfolg, den die Spiele vermitteln. Mit jeder Aufgabe, die die Spieler meistern, und je länger sie spielen, desto stärker wird die Figur, in deren Rolle sie schlüpfen. Sie bekommt bessere Waffen, ein höheres Ansehen, mehr Geld.

„Ich will im PC-Spiel immer mehr erreichen“, bestätigt Christopher seiner Mutter im Gespräch. „Ich will weiterkommen, immer an der Spitze sein. Ich fühle mich richtig high, bin erfolgreich und stolz auf das, was ich geleistet habe. Ich bin schon ehrgeizig, aber eben nur im Spiel.“

Susanne lernt in der Beratungsstelle auch, sich klug zu verhalten. Der erste Schritt ist ein Perspektivwechsel.

Es bringt nichts, ständig zu rufen: „Mach die Kiste aus!“ Darauf reagieren Kinder trotzig. Besser ist es, sich für das Thema zu interessieren – „Zeig mir doch mal, was du spielst“ –, und auch, es selbst einmal auszuprobieren. Reaktionen wie „Das macht ja wirklich Spaß“ oder „Meine Güte, bist du flink in der Handhabung. Ich schlage dich nie!“ fördern die Bereitschaft des Kindes, sich später auch mit den Ermahnungen der Eltern auseinanderzusetzen.

Susanne setzt das Erlernte um. So positioniert, baut sie innerhalb der nächsten Wochen nach und nach wieder ein Vertrauensverhältnis zu ihrem Sohn auf. Christopher taut zunehmend auf und vertraut sich seiner Mutter immer mehr an, indem er ihr von seinen Gefühlen berichtet: „Ich habe mich oft unsicher und allein gefühlt, besonders wenn das Haus leer war. Papa war sowieso weit weg und du bei der Arbeit. Klar war ich traurig. Da hat mich eben der Computer getröstet. Anfangs wollte ich mich nur ablenken, später hat es mir aber auch immer mehr Spaß gemacht. Im Spiel war ich endlich groß, mächtig, wichtig. In diesem anderen Leben bin all das, was ich in der Wirklichkeit nicht bin: erfolgreich, gut, anerkannt. Im Computerspiel bin ich der Held!“ Sätze, die Susanne aufrütteln. Sie erkennt, dass ihr Sohn sich am Bildschirm regelrecht in eine andere Welt, ein anderes Leben geträumt hat.

Das rät der Experte

Wie Christopher schieben die Spieler die Wirklichkeit zur Seite und sinken immer tiefer und tiefer in das Spiel hinein. Zumal sich die Wirklichkeit ja auch parallel dazu negativ verändert. In der Schule hagelt es Misserfolge, Freunde ziehen sich zurück, weil sie nicht immer mit vor dem PC hocken wollen. Im Sport kommt man nicht mit, wenn man zehn Stunden am Tag vor dem Bildschirm sitzt. Die Umwelt wendet sich ab. Die Familie meckert. In der kurzen Zeit, die jemand im Haus ist, gibt es noch Stress. Also macht man die Tür zu, den PC an und genießt es, wieder abzutauchen in die Scheinwelt.

Lehrer und Erzieher raten Eltern, ihren Kindern zu zeigen, dass die reale Welt auch interessant und aufregend sein kann. Sie können Ausflüge machen, den Kontakt zu Freunden fördern, die Kinder in Sportvereinen anmelden. Ein Kind, das Spaß daran hat, in der Realität unterwegs zu sein, wird nicht süchtig. Erfolg im Sport, Erfolg in der Schule, Anerkennung im Freundeskreis – das macht stark. Stark genug, niemals süchtig zu werden. Gefährdet sind die Depressiven, die zu wenig Bindung haben, man kann auch sagen, zu wenig Liebe erfahren haben. Hinter jeder Sucht steckt eine Sehnsucht. Auch hier ist es die Sehnsucht nach Liebe aus der Familie.

Susanne hat aus den Schocknachrichten gelernt und dem Alltag eine Wende gegeben. Ihr Mann ist jetzt mindestens alle zwei Wochen tageweise zu Hause. Eine Zeit, die dann dem Jungen gehört. „Mein Mann spielt neuerdings Tennis. Christopher liebt es, seinen Vater vom Platz zu fegen. Er ist ihm natürlich haushoch überlegen.“

Fußball spielt Christopher wieder regelmäßig. Susanne hat den Trainer angerufen und ihn gebeten, die Spielzeiten des Jungen, soweit es möglich ist, auszuweiten. Christopher soll sich gebraucht fühlen.

Aber auch die Schule hat sie eingebunden. Christopher muss ein Hausaufgabenheft führen, das sowohl von den Lehrern als auch von Susanne kontrolliert wird. Abends darf der Junge eine Stunde an den PC. Wenn er sich schlafen legt, stellt Susanne einen Kontrollschalter an, der blinkt, wenn Christopher seinen PC einschaltet.

„Alles ist aber erst nach einem langen Gespräch mit Christopher passiert. Ich wollte nicht gegen ihn handeln, sondern mit seinem Einverständnis. Er sollte einsehen, dass ihm die Computerzeiten nicht guttun. Das ist passiert. Ich hatte das Gefühl, dass er ganz froh war, dass jetzt wieder jemand auf ihn aufpasst.“

Darüber hinaus hat sich die Schule noch einen besonderen Clou für den Jungen überlegt. Christopher ist als Informatikass neuerdings damit betraut, die Schulwebseite zu pflegen und regelmäßig zu aktualisieren. Einmal die Woche muss er deshalb zu seinem Direktor und sich von ihm die neuesten Datensätze geben lassen. „Darauf ist Christopher total stolz. Er sitzt stundenlang an der Arbeit und hat sich vom Direktor auch schon ein dickes Lob verdient“, berichtet Susanne.

Übrigens steht ein Wechsel auf die Hauptschule nicht mehr an. Christopher hat sich in zwei Fächern auf eine Vier gehangelt und die Versetzung gepackt. Das neue Schuljahr ist ungewöhnlich prima angelaufen. „Er hat sich total gebessert. Wenn das so weitergeht, will er sogar nach der Realschule das Abitur machen. Ein Informatikstudium ist sein Traum“, sagt Susanne. „Das Zeug dazu hat er!“, meint sein Lehrer.

Autoren

  • Andrea Micus (Autor:in)

  • Günther Hoppe (Autor:in)

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Titel: Jedes Kind kann stark sein