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Wenn der Arzt nichts findet

Kranksein ohne Befund

von Wilhelm Girstenbrey (Autor:in)
152 Seiten

Zusammenfassung

Es gibt immer mehr Patienten mit ungeklärten Krankheitssymptomen, sogenannten somatoformen Störungen. Und oft tun Arzt und Familie die Beschwerden sehr schnell als eingebildete Krankheiten ab. Dieser Ratgeber erklärt Symptome und Störungen aus medizinischer Sicht und macht Mut auf dem Weg zwischen Arztpraxis und Psychotherapie.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Wilhelm Girstenbrey




Wenn der Arzt nichts findet

Kranksein ohne Befund




Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86910-901-5

ISBN der gedruckten Originalausgabe: 978-3-89994-159-3

Der Autor: Wilhelm Girstenbrey ist freier Medizinpublizist und war viele Jahre für namhafte Tages- und Wochenzeitungen, Hörfunk und Fachpresse tätig. Er ist auf die Themen Gesundheitspolitik, Gynäkologie, Endokrinologie, Psychosomatik und Rheumatologie spezialisiert.

© 2009 humboldt.
Ein Imprint der Schlüterschen Verlagsgesellschaft mbh & Co. KG,
Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover
www.schluetersche.de
www.humboldt.de

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Lektorat: Dagmar Fernholz, Köln
Covergestaltung: DSP Zeitgeist GmbH, Ettlingen
Coverfoto: Getty

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

die moderne Medizin hat in den letzten hundert Jahren dank naturwissenschaftlicher Forschung und Technik unglaubliche Fortschritte gemacht. Sie hat viele neue Wege eröffnet, um Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln, die über Jahrtausende hinweg ärztlicher Kunst unzugänglich waren.

Sie hat aber auch noch viele weiße Flecken auf der medizinischen Landkarte hinterlassen, die mit den Mitteln exakter Wissenschaft bisher nur unzureichend mit Farbe zu versehen sind.

Wenn es um die komplexe Interaktion von Leib und Seele geht, bleiben viele Fragen offen. Psychosomatisch orientierte Ärzte haben sich um Antworten bemüht, aber über viele Jahre hinweg nicht ausreichend Unterstützung bei den rein naturwissenschaftlich orientierten Kollegen gefunden.

Um hier zu neuen Erkenntnissen zu kommen, bedarf es neuer Forschungsansätze auf interdisziplinärer Basis. Das Beharren auf alten Glaubensbekenntnissen führt ebenso wenig weiter wie eingleisig betriebene Forschung.

Daher bedarf es der Zusammenarbeit der besten Forscher in den Bereichen der Physiologie und Molekularbiologie, der Humangenetik und Inneren Medizin, der Psychiatrie und Neurologie, der Psychologie und Psychotherapie, um die Rätsel zu lösen, die bis heute mit psychosomatischen Krankheitsbildern verbunden sind. Die sogenannten somatoformen Störungen gehören dazu.

Als kritischer Beobachter und Berichterstatter für öffentliche Medien und medizinische Fachzeitschriften auf nationalen und internationalen Kongressen habe ich viele engagierte Ärzte getroffen, die sich mit ihren Möglichkeiten um die Beantwortung offener Fragen bemüht haben. Meist haben sie viele Widerstände und nur wenig Unterstützung erfahren.

In den letzten Jahren ist jedoch Bewegung in die Szene gekommen, die Hoffnung für die Zukunft verheißt.

Leib und Seele sind eigentlich eine Einheit. In der Medizin fällt es jedoch immer noch schwer, Brücken zu bauen zwischen Leib und Seele.

Es fehlt jedoch immerhin nicht an Versuchen zum Brückenschlag.

Mit Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie kann heute vielen Patienten geholfen werden, bei denen der „Arzt nichts findet“, jedenfalls „nichts Organisches“. Gefordert ist aber nicht nur das Engagement von Ärzten und Psychotherapeuten, sondern auch die Mithilfe der Betroffenen.

Ihnen widme ich dieses Buch mit den Wünschen um mehr Einsicht, mehr Geduld und mehr Erfolg auf beiden Seiten.

Wilhelm Girstenbrey Im Frühjahr 2008

1 Krankheit im Wandel der Geschichte

1.1 Kranksein – wo, wann, wie und warum?

Gesundheit ist des Menschen höchstes Gut, heißt es. Welche Art von Gut ist dann Krankheit? Noch im 19. Jahrhundert predigten romantisch-religiös fixierte Vertreter einer vorwissenschaftlichen Medizin, dass Krankheit Ausfluss der Sünde sei. Es gab die unterschiedlichsten Schulen, die dem kranken Menschen Heilung versprachen, dieses Versprechen jedoch nur selten einhalten konnten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts dämmerte dann die Morgenröte einer neuen naturwissenschaftlich fundierten Medizin herauf. Erstmals wurden infektiöse Erreger in Form von Bakterien als Auslöser von Infektionskrankheiten dingfest gemacht. Die Entdeckung von Robert Koch, dass der „Tuberkelbazillus“ verantwortlich ist für die gefürchtete, Leben vernichtende Schwindsucht, kam 1882 einer Revolution gleich.

Kranksein = Sünde, dieser Meinung war man noch im 19. Jahrhundert.

Damit war ein neuer Grundstock für das naturwissenschaftlich-medizinische Krankheitsmodell gelegt, das angesichts der erfolgreichen Bekämpfung der Infektionskrankheiten bis heute dominiert hat. Dieses so erfolgreiche Modell basiert auf der Annahme, dass für jede Erkrankung eine bestimmte und auch erkennbare Ursache existiert. Die Ursache liegt in einer Schädigung von Körperzellen oder Geweben oder beruht auf einer Entgleisung mechanischer oder biochemischer Regulationssysteme. Aufgrund der beobachteten Symptome gelangt der naturwissenschaftlich ausgebildete Arzt zu einer begründeten Diagnose und kann dafür auch eine begründete Therapie vorschlagen und durchführen.

Dieses medizinische Erklärungsmodell für Krankheit setzt also ein eindeutiges Ursache-Wirkungs-Prinzip auf körperlicher Ebene voraus. So erfolgreich es sich im Hinblick auf die Infektionskrankheiten erwiesen hat, so begrenzt waren die Erfolge bei Erkrankungen, bei denen die Psyche des Menschen im Spiel ist. Die gilt vor allem für Krankheiten „multifaktorieller Genese“, bei denen also vielfältige Einflüsse psychosozialer Natur an einem Krankheitsprozess beteiligt sind.

1.2 Einheit von Leib und Seele

In der Geschichte der abendländischen Philosophie lässt sich das sogenannte Leib-Seele-Problem bis in die Antike zurückverfolgen. In der Medizin wandte sich die Aufmerksamkeit zunächst nur weniger Ärzte erst im 20. Jahrhundert den Phänomenen der Psychosomatik zu (abgeleitet von griechisch psyche = Atem, Hauch, Seele und soma = Körper, Leib). Darunter wird heute die medizinische Disziplin verstanden, die sich mit den Wechselbeziehungen zwischen seelischen, körperlichen und sozialen Determinanten befasst.

Als Vater der modernen Psychosomatik wird in Deutschland der Arzt Georg Groddeck angesehen, der in seinem in Baden-Baden gegründeten Sanatorium nicht nur körperliche Massagen, sondern auch „Seelenmassagen“ durchführte in Form von „Lockerungen von Seelenverkrampfungen“ mit Hilfe der Psychoanalyse. Groddeck erweiterte damit Ansätze von Sigmund Freud über die Triebabfuhr: Psychische Erregung, die nicht adäquat verarbeitet oder angeführt werden kann, „springt“ in einen beliebigen Körperteil und wird dort umgewandelt in ein körperliches Symptom. Das körperliche Leiden ist demnach Ausfluss eines unbewussten Konfliktes oder Traumas.

Verschiedene medizinische Schulen haben die psychosomatischen Theorien bis heute erweitert und teilweise auch bereichert. Dazu gehören die tiefenpsychologischen Schulen, philosophisch-anthropologische Ansätze, psycho-physiologische, biopsychosoziale und salutogenetische Entwürfe. Aus der Fülle unterschiedlicher Ansätze wird bereits deutlich, dass das Problem wohl erkannt, eine allseits befriedigende Lösung aber noch nicht vorliegt.

1.3 Sonderform der Psychosomatik: Somatoforme Störungen

Heute werden körperliche Beschwerden, die sich nicht oder nicht ausreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen, als sogenannte somatoforme Störungen (von griechisch soma = Körper, Leib und lateinisch forma = Form, Gestalt) zurückgeführt. Vielfach wird auch noch der Begriff „funktionelle Störungen“ gebraucht in dem Sinne, dass eine körperliche Funktion beeinträchtigt ist, ohne dass sich dafür eine organische Ursache finden lässt. Die verschiedenen ärztlichen Disziplinen haben sich damit immer schwer getan, konnten wenig helfen, waren aber immer sehr phantasievoll in der Erfindung neuer Bezeichnungen wie vegetative Dystonie, psychovegetatives Syndrom, psychovegetative Labilität, vegetativ-endokrines Syndrom, vegetative Areflexie, vegetative Stigmatisation, Organneurose, psychogenes Syndrom, Somatisation, Neurasthenie usw.

Oft werden die Betroffenen mit somatoformen Störungen als Hypochonder bezeichnet.

Betroffene, die „somatisieren“, sind in Arztpraxen meist wenig beliebt. Sie verlangen Erklärungen, Diagnosen und erfolgversprechende Therapien für subjektiv als unangenehm empfundene körperliche Symptome, für die der Arzt kein organisches Korrelat beibringen kann. Schätzungsweise jeder fünfte Arztbesuch steht in Zusammenhang mit einer somatoformen Störung.

Der Patient leidet, aber der Arzt findet keine organische Ursache für die geschilderten Beschwerden. Der Patient ist von seinem Arzt enttäuscht und der Arzt ärgert sich über seinen schwierigen Patienten, dem er nicht selten eine eingebildete Krankheit unterstellt, Simulation oder auch psychogene Ursachen, von denen wiederum der Patient nichts wissen will. Denn Patienten, die unter somatoformen Störungen leiden, beharren meist hartnäckig auf organischen Ursachen ihrer unangenehmen Symptome, fühlen sich vom Arzt nicht ernst genommen oder halten ihn für inkompetent.

Sie suchen einen anderen und noch einen anderen Arzt auf und setzen damit ein „Doctor-Hopping“ oder „Doctor-Shopping“ in Gang, das erhebliche Konsequenzen für das Gesundheitssystem hat: Gegenüber einem durchschnittlichen Patienten fallen sechs- bis 14-fach erhöhte Behandlungskosten an, verbunden mit einer durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit von sieben Tagen pro Monat.

Somatoforme Störungen finden sich in vielen medizinischen Disziplinen, in der Allgemeinmedizin ebenso wie in der Inneren Medizin (z.B. Reizdarm-Syndrom, Fibromyalgie, Herzneurose), in der Frauenheilkunde (z.B. unklare Unterbauchbeschwerden), in der Urologie (z.B. Reizblase, Potenzprobleme) und in der Dermatologie (anhaltender Juckreiz, Hautausschlag). Frauen sind erheblich häufiger betroffen als Männer.

2 Somatoforme Störungen

2.1 Umfangreiche Palette von Symptomen und Beschwerden

Die Palette an körperlichen Symptomen, die bei somatoformen Störungen im Spiel sind, ist sehr umfangreich. Das fängt an mit relativ harmlosen Beschwerden wie Blähungen, Unverträglichkeit bestimmter Speisen, Menstruationsbeschwerden, Schwindelgefühlen, Herzklopfen, Beklemmungsgefühlen, Atemnot, Globusgefühl („Kloß im Hals“), reicht dann über Magen-Darm-Beschwerden mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall bis hin zu starken Schmerzen in unterschiedlichen Körperregionen (vor allem Kopf, Schulter, Rücken, Brust). Es können auch bedrohlich erscheinende Symptome wie Sehstörungen, Bewusstlosigkeit oder nicht epileptisch bedingte Krampfanfälle vorliegen.

Allen somatoformen Störungen ist gemein, dass die geschilderten körperlichen Beschwerden weder durch eine organische Erkrankung noch durch eine Verletzung, durch die Einnahme von Medikamenten beziehungsweise anderen Substanzen wie Nahrungsergänzungsmitteln oder durch Schädigung, ausgelöst durch chemische Substanzen und Allergene, erklärbar sind. Die Beschwerden sind jedoch nicht vorgetäuscht oder eingebildet – sie sind tatsächlich vorhanden, oft über Jahre hinweg und werden von den Betroffenen als äußerst unangenehm empfunden. Das Berufsleben leidet darunter, in der Familie gibt es zunehmend Probleme, die Freizeitgestaltung ist beeinträchtigt.

Somatoforme Störungen gehören zu den häufigsten gesundheitlichen Problemen in der allgemeinen Bevölkerung, bei denen psychosoziale Zusammenhänge im Spiel sind. Die Betroffenen deuten die aufgetretenen Symptome fast immer als bedrohliche Anzeichen einer organischen Erkrankung und suchen zunächst ihren Hausarzt auf, um die Symptome medizinisch abklären zu lassen. Wenn der Arzt nach körperlicher Untersuchung und den Ergebnissen von Harn- und Bluttests zum Ergebnis „o. B.“ (ohne Befund) kommt und mögliche psychische Ursachen anspricht, bekommt er vom Patienten nicht selten zu hören: „Aber Herr Doktor, ich bilde mir das doch nicht ein, ich bin doch nicht verrückt, mich schmerzt es hier und dort, und ich leide echt darunter …“

Manche Patienten haben über 100 ärztliche Kontakte hinter sich, ehe sie erstmals an einen Psychotherapeuten überwiesen werden. Dies empfinden viele Betroffene oft als zusätzliche Kränkung. Sie suchen lieber andere, organzentrierte Spezialisten auf und erhoffen von ihnen Aufklärung und Abhilfe für ihre körperlichen Beschwerden. Die Erfolge bleiben fast immer aus. So werden mit der Zeit viele überflüssige, teilweise auch schädliche Untersuchungen und Behandlungen vorgenommen, ohne dass dem Patienten tatsächlich geholfen wird. Viele Betroffene haben einen langen Leidensweg hinter sich, bevor sie zu einem Psychotherapeuten kommen, der das erforderliche diagnostische und therapeutische Rüstzeug für eine erfolgversprechende Behandlung besitzt und gemeinsam mit dem Hausarzt ein sinnvolles weiteres Vorgehen absprechen kann.

Ein vorschnelles „Psychologisieren“ ist ebenso fehl am Platz wie ein routinemäßiges „Somatisieren“. Geäußerte Symptome eines Patienten müssen zunächst immer auf der medizinischen Schiene abgeklärt werden. Erst wenn sich aus entsprechenden Untersuchungen kein plausibler Grund für vorhandene Beschwerden ergibt, sollte die Psyche ins Spiel gebracht werden. Vorsicht ist dabei angesagt, um Patienten nicht zu vergraulen, die beharrliche Vorurteile gegen psychologisch-psychiatrische Erwägungen haben.

Die interdisziplinäre Forschung hat mittlerweile eine Reihe von Erkenntnissen hervorgebracht, die plausible, auch naturwissenschaftlich zu begründende Erklärungen bieten für Zusammenhänge zwischen Psyche und Soma.

Das autonome oder vegetative Nervensystem ist in hohem Maße bei allen somatoformen Störungen beteiligt. Der Brückenschlag lässt sich auch auf neurobiologischer und biochemischer Ebene nachweisen. Die Forschung in diesem Bereich hat allerdings noch einen hohen Nachholbedarf zu befriedigen. Erste Schritte mit kontrollierten Studien für die Anwendung psychotherapeutischer Konzepte in Klinik und Praxis liegen immerhin vor. Betroffene dürfen hoffen. Einsicht in vorliegende Zusammenhänge wird jedoch auch von ihnen verlangt. Behandlungserfolge hängen in hohem Maße von der aufgebrachten Motivation ab.

2.2 Ursachen somatoformer Störungen

Aufgrund des traditionellen medizinischen Krankheitsverständnisses sind die Betroffenen meist eigentümlich „blind“ für Probleme im zwischenmenschlichen Bereich oder für seelische Konflikte, die eine Rolle spielen können für aufgetretene unangenehme Symptome. Ursachen für das Auftreten somatoformer Störungen sind vor allem in vier Bereichen zu suchen, wie der Schweizer Internist und Psychotherapeut Peter Grob schildert:

Persönlichkeit

Häufig haben die Betroffenen Mühe, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu benennen. Sie haben ein mechanistisches Selbstkonzept und machen organische Veränderun gen oder die Umgebung für ihr Problem verantwortlich. Sie orientieren sich an den Ansprüchen anderer und erwarten von ihrer Umgebung die Lösung ihres Problems.

Genetik

Es gibt Hinweise darauf, dass eine gewisse angeborene Bereitschaft die Entstehung von somatoformen Störungen begünstigt.

Traumatische Lebenserfahrungen

Die Betroffenen haben im Verlauf ihres Lebens erfahren, dass sie nicht zu steuernden Kräften ausgeliefert waren und dass sich ihr Leben von einem Moment zum anderen fundamental verändern konnte.

Aktueller Stress

Akute Belastungen am Arbeitsplatz, in den zwischenmenschlichen Beziehungen und innerseelische Konflikte spielen eine ausschlaggebende Rolle. Die „Blindheit“ der Betroffenen für solche Stressoren macht es für sie oft schwierig, Einsicht über solche Zusammenhänge zu erlangen.

Das Verhältnis der von somatoformen Störungen Betroffenen zu ihren Ärzten und umgekehrt ist auf beiden Seiten von Ängsten überlagert. Der Patient hat Angst, dass seine Symptome auf eine schwere Krankheit (Krebs, Herzinfarkt) hindeuten. Er sucht Erklärung und Hilfe bei seinem Arzt. Der Arzt findet keine Anhaltspunkte für eine körperliche Erkrankung. Beide haben Angst, sie könnten etwas verpassen, und es könnte doch eine schwere Krankheit hinter den Symptomen stecken. Daraus entwickelt sich oft ein Teufelskreis von Ängsten, aber keine Lösung des Gesundheitsproblems.

2.3 Viele Diagnosenschwierige Lösungen

Der Arzt hat heute aus wissenschaftlicher Sicht diverse Möglichkeiten, die von seinem Patienten geäußerten Beschwerden formal einzuordnen. In dem internationalen Klassifikationssystem von Krankheiten firmieren somatoforme Störungen unter ICD-10 F45.0. Die Version der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2006 erfasst zusätzlich eine Reihe von Unterkriterien (F45.1– 45.9). Weitere Abgrenzungen sind in dem amerikanischen System DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders = Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen) enthalten, reichen jedoch immer noch nicht aus, um dem breiten Spektrum geäußerter Beschwerden (darunter einfache, mittelschwere und vielfache Somatisierungs-Symptome) voll gerecht zu werden. In Deutschland wurden bereits im Jahr 2001 ergänzend dazu Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) vorgestellt, die in der Praxis weiterhelfen sollen.

Als Quelle somatoformer Störungen werden die Persönlichkeit, Genetik, traumatische Lebenserfahrungen und der aktuelle Stress gesehen.

Nach den Kriterien des amerikanischen Systems werden innerhalb des DSM-IV unter dem Oberbegriff „Somatoforme Störungen“ jene Symptome geführt, die

 
Zur näheren Charakterisierung werden 33 verschiedene Symptome aus den Bereichen Schmerzsymptome, Magen-Darm-Symptome, sexuelle Symptome und pseudoneurologische Symptome angeführt. Abhängig von der Addition von Symptomen in der Vorgeschichte von Patienten wird dann auf das „Vollbild einer Somatisierungsstörung“ oder auf eine „undifferenzierte somatoforme Störung“ geschlossen.

Inwieweit solche detaillierten Klassifizierungen in der Praxis hilfreich sind, sei dahingestellt. Daher sind eine Reihe weiterer Vorschläge gemacht worden, die teilweise Niederschlag in den deutschen AWMF-Leitlinien für Ärzte gefunden haben. Für die Diagnostik sollten vor allem folgende Vorschläge Beachtung finden:

Sowohl der Arzt als auch der Patient benötigen viel Zeit und Geduld, um eine somatoforme Störung zu erkennen.

Das Fahnden in diesen Bereichen nach möglicherweise zugrunde liegenden psychosozialen Ursachen somatoformer Störungen erfordert viel Zeit und Geduld. Unter den heute üblichen Bedingungen der „Fünf-Minuten-Medizin“ ist da kaum etwas zu erreichen. Aber auch wenn sich ein Arzt die Zeit für tiefer gehende Gespräche mit dem Patienten nimmt, besteht meist eine erhebliche Barriere zwischen Vorstellungen des Betroffenen und gewonnenen Einsichten des Arztes. Von beiden Seiten ist ein hohes Maß an Frustrationstoleranz erforderlich.

2.4 Vage Ahnungen aus dem Volksmund

Dass bestimmte körperliche Symptome und Beschwerden etwas mit „Psyche“ zu tun haben können und mit Ärger am Arbeitsplatz, mit Problemen in der Partnerschaft, mit „Stress“ verbunden sind, spiegelt sich schon wider in alten überlieferten Redensarten:

„Das ist mir auf den Magen geschlagen,“ klagt einer, der am Morgen herbe Kritik von seinem Chef einstecken musste, diesen aber aus verständlichen Gründen nicht auf ähnliche Weise anfahren konnte. Er kann nicht „aus der Haut fahren“, er muss die aus seiner Sicht unberechtigte Kritik „einstecken“ und „verdauen“. Er steckt sie also in den Magen, wo sie sich als unverdaubar erweist und zu Magenschmerzen führt. Die Auseinandersetzung hat bei ihm eine Stressreaktion ausgelöst mit der Ausschüttung von Stresshormonen (Adrenalin, Noradrenalin).

Dieses in der Entwicklungsgeschichte des Menschen zustande gekommene Regulationssystem soll den Körper kurzfristig zu erhöhter Leistung anspornen, zu erhöhtem Herzschlag, zu erhöhter Muskelkraft, um zu fliehen oder zu kämpfen. Der Ansporn durch die Stresshormone gelangt allerdings bei der Auseinandersetzung mit dem Chef nicht zur Wirkung, weil der untergeordnete Angestellte seinem Chef nicht ohne weiteres einen Faustkampf liefern kann, obwohl er dies innerlich gerne möchte. Eine adäquate Triebabfuhr ist also nicht möglich.

Die beteiligten Stresshormone laufen dann zwar nicht „ins Leere“, sondern sie suchen sich Betätigung in anderen hormonalen und biochemischen Regelkreisen. Damit erhöhen sie beispielsweise die Sekretion von Magensäure, was dem Betroffenen „sauer aufstößt“. Denn er ist noch länger „sauer“ auf seinen Chef. Der akute Stress entgleist zum chronischen Dysstress und damit zur Komponente einer somatoformen Störung.

Ähnliches spielt sich ab, wenn der Mensch anhaltend eine „Wut im Bauch“ verspürt, wenn ihm etwas „die Kehle zuschnürt“ oder „die Sprache verschlägt“. Wenn sich Erlebnisse ständig wiederholen, die mit solchen Empfindungen verbunden sind, ohne dass eine adäquate Auseinandersetzung damit erfolgt, entwickelt sich mit der Zeit eine Neurose. Eine dabei regelmäßig auftretende körperliche Missempfindung in bestimmten Organbereichen wurde früher als „Organ neurose“ bezeichnet und firmiert heute unter dem Oberbegriff „Somatoforme Störung“: Der Ärger mit dem Chef hat körperliche (somatische) Gestalt (forma) angenommen im Magen des Angestellten.

2.5 Wenn das Herz nicht zum Herzen findet

Einen Sonderfall somatoformer Störungen stellt die „symbolhafte Somatisierung“ dar, bei der es zu einer „Konversion“ von Symptomen kommt: Körperliche Symptome bringen hier symbolhaft ein unbewusstes innerseelisches Thema zum Ausdruck. Enttäuschte Liebeswünsche kommen beispielsweise in Herzschmerzen zum Ausdruck. Wer andererseits einer innerlich abgehakten Beziehung entfliehen, diesem Impuls jedoch nicht nachkommen kann, verspürt eine Muskelschwäche in seinen Beinen.

Wenn der Angestellte seinem Chef „richtig“ die Meinung sagen könnte, gäbe es womöglich keine somatoformen Beschwerden.

Die Betroffenen nehmen den Kern der Botschaften aufgetretener Symptome meist nicht wahr und leiden dauerhaft darunter. Solche „Konversionsneurosen“ äußerten sich früher oft sogar in dramatischen Lähmungen, plötzlicher Ertaubung oder Erblindung. Heute werden in dem Zusammenhang eher diskrete Symptome beobachtet wie umschriebene Gehstörungen, begrenzte Gesichtsausfälle oder ständige unangenehme Ohrgeräusche (Tinnitus).

2.6 Brücke zwischen Psyche und Soma

Im Gespräch zwischen Arzt und Patient sollten vor diesen Hintergründen nicht vorschnell psychogene Aspekte ins Spiel gebracht werden. Der Patient, der glaubhaft unter bestimmten körperlichen Beschwerden leidet, muss natürlich zunächst einer angemessenen, unter Umständen auch ausgedehnten körperlichen Untersuchung unterzogen werden. Wenn dabei nichts gefunden wird, sollten solche Untersuchungen durch den gleichen Arzt oder andere Spezialisten aber nicht mehrfach wiederholt werden, da die Gefahr einer weiteren Verfestigung und Chronifizierung der körperlichen Symptomatik besteht.

Auch der Herzschmerz aus Liebeskummer ist eine somatoforme Störung.

In der heutigen Zeit sollte im Gespräch zwischen Arzt und Patient von dem modernen Brückenschlag zwischen psychobiologischer und naturwissenschaftlicher Forschung Gebrauch gemacht werden. Dafür bietet sich in erster Linie das beschriebene Stress-Modell an. Ein zunächst abwehrender Patient („Aber Herr Doktor, ich bin doch nicht verrückt!“) begreift nach stufenweiser Aufklärung über mögliche psychosoziale, psychophysiologische beziehungsweise neurobiologische Zusammenhänge, was seiner organisch manifesten Symptomatik tatsächlich zugrunde liegen kann. Diese Akzeptanz ist Voraussetzung für eine ausreichende Motivation zur Psychotherapie. Erfolgsnachweise liegen für verschiedene Therapieformen vor, derzeit am überzeugendsten für eine sogenannte kognitive Verhaltenstherapie. Nähere Angaben dazu finden sich in einem späteren Kapitel.

Die Psychotherapeuten Winfried Rief und Wolfgang Hiller haben ein Modell für den bei somatoformen Störungen ablaufenden Aufschaukelungsprozess (Teufelskreis) vorgestellt.

Ausgehend von einmaligen Auslösern (wie einer unangenehmen Information oder einer durchgemachten Erkrankung) oder von wiederholten Auslösern, den sogenannten Triggern (beispielsweise infolge physiologischer Erregung), werden vermehrt körperliche Reaktionen oder Veränderungen wahrgenommen (zum Beispiel vorübergehender Anstieg der Herzfrequenz, Jucken am Arm). Dieses aufgetretene Symptom wird dann von dem Betroffenen als bedrohlich unerträglich oder nicht beeinflussbar fehlinterpretiert: „Meine Kopfschmerzen sind Ausdruck einer schlimmen Erkrankung, ich glaube, ich leide an einem Hirntumor“ oder „Mein Herzrasen oder Herzstolpern ist Anzeichen eines Herzinfarktes“.

Darauf reagiert der Betroffene auf zweifache Weise:

Der Betroffene „lernt“ körperliche Missempfindungen falsch zu interpretieren: der Kopfschmerz wird so zum Hirntumor.

Beide Reaktionsformen münden in einen Aufschaukelungsprozess von Fehlinterpretationen körperlicher Missempfindungen, von Fokussierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Körperregionen und verstärkter Wahrnehmung von Symptomen – der Teufelskreis schließt sich. Zugrunde liegen ständige Lernprozesse des autonomen oder vegetativen Nervensystems. Aus dieser Tatsache erwächst jedoch auch Hoffung: Funktionen des autonomen Nervensystems können nämlich nicht nur gelernt, sondern auch verlernt werden. Dies ist die Basis einer kognitiven Verhaltenstherapie.

Manche Betroffene entwickeln ein abnormes Krankheitsverhalten, das das Aufschaukeln zusätzlich verstärkt, sie steigern sich weiter in eine Krankheit hinein durch

 
Aus Untersuchungen weiß man, dass das abnorme Krankheitsverhalten kaum in einer Wechselbeziehung zur medizinischen Schwere der Störung steht. Stattdessen ist es offenbar hochgradig von persönlichen Einstellungen und anderen kognitiven Aspekten abhängig.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869109015
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2010 (Dezember)
Schlagworte
Krankheit Krankheitsbild Kranksein ohne Befund

Autor

  • Wilhelm Girstenbrey (Autor:in)

Wilhelm Girstenbrey ist erfahrener Medizinpublizist und war viele Jahre erfolgreich für namhafte Tages- und Wochenzeitungen, Hörfunk und Fachpresse tätig. Er ist auf die Themen Gesundheitspolitik, Gynäkologie, Endokrinologie, Psychosomatik und Rheumatologie spezialisiert.
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Titel: Wenn der Arzt nichts findet