Zusammenfassung
Jeder Tag bringt neue, ungeahnte Geschichten und Ereignisse hervor – mal komisch, mal nachdenklich und auch mal traurig.
Die Altenpflegehelferin Martina Rühl hat in diesem Buch Geschichten aus dem Alltag ihrer stationären Einrichtung aufgeschrieben.
Im Zentrum der Episoden stehen die Demenzbetroffenen und ihre Gefühle, Wahrnehmungen und Einfälle. Da werden alte Damen zu Führungskräften und ältere Herren ungewollt zum Ehepartner. Da wird gelacht, geweint und mitunter heftig gestritten.
Dieses Buch bringt die "Welt der Demenz" näher und zeigt, dass aus einem respektvollen Umgang ein würdevolles Miteinander entsteht: eine lohnenswerte Lektüre für alle, die sich mit dem Thema Demenz beschäftigen!
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort
In diesem Buch werden Geschichten und Episoden aus einer fremden Welt vorgestellt: die Welt der Demenzkranken im fortgeschrittenen oder mittelschweren Stadium.
Es ist eine Welt, in der Erinnerungen und Realbezüge ein unerklärliches Gemisch aus Eindrücken und Wahrnehmungen hervorrufen, die als Zeitverschränkungen bezeichnet werden können. Diese Realitätsverzerrungen und Realitätsverluste können amüsant sein, wenn zum Beispiel ein Mitbewohner als Ehemann oder Bruder erkannt wird. Sie sind jedoch meist psychisch sehr belastend, wenn sie mit einer Verpflichtung verbunden sind. »Ich muss in die Schule, Lehrer und Eltern dulden kein Zuspätkommen!« Doch im Pflegeheim lässt sich das vertraute Klassenzimmer nicht finden. Wenn dann nicht rechtzeitig eine Pflegende oder Betreuende eingreift und die hilflos Suchende zurück in die Realwelt führt, drohen leicht Überforderung und nicht zu bewältigender Stress. Denn die Demenzkranken sind zugleich auch schutzlos dergestalt, dass ihnen die Fähigkeit zur Selbstberuhigung aufgrund hirnpathologischer Abbauprozesse abhanden gekommen ist. Sie geraten so ganz schnell in Panik.
In diesen Geschichten werden auch recht deutlich die Umgangsformen der Pflegenden und Betreuenden bei diesem zunehmenden Zerfall der Person-Umwelt-Passung aufgezeigt: Ablenken und Beruhigen, Mitgehen und Mitmachen. Das sind angeborene Verhaltensweisen, die intuitiv bei Hilflosen und Schutzbedürftigen praktiziert werden, also zum Beispiel auch bei Kleinkindern.
Die Autorin beschreibt aber noch viel mehr. Sie zeigt auf, welche Vertrautheit und Sympathie zwischen den Mitarbeitern und den demenzkranken Heimbewohnern besteht. Gegenseitiger Respekt und Wohlwollen bestimmen das Miteinander, auch wenn meist die Meisterung des Alltags nicht problemlos vonstatten geht.
Die Pflege alter und gebrechlicher Menschen im Heim ist in der Regel mit körperlichen und seelischen Belastungen verbunden, denn der Arbeitsaufwand ist groß und der Personalstand hingegen meist gering. Doch auch unter diesen erschwerten Bedingungen sind trotzdem Lebensfreude und Humor anzutreffen. Dieses herauszuarbeiten, ist der Autorin hervorragend gelungen.
Diesem Buch wünsche ich eine breite Leserschaft, denn es vermag – durch die Darstellung kurzer Episoden – die Lebenswelt der Demenzkranken mit ihrer Eigenweltlichkeit zu vermitteln. Besonders neue Mitarbeitergruppen wie Alltags- oder Demenzbegleiter finden in diesen Ausführungen erste Hinweise und Eindrücke ihres zukünftigen Arbeitsfeldes. Doch auch Pflegende mit Berufserfahrung werden hier Anregungen zum Nachdenken finden.
Haan, im Juni 2012 | Dr. phil. Sven Lind |
Vorwort
Demenz bedeutet die Abnahme des Gedächtnisses und anderer kognitiver Fähigkeiten, die mithilfe des Verstandes gesteuert werden. Dabei kann es zu Störungen der Kontrolle von Gemütsbewegungen, des Antriebs oder des Sozialverhaltens sowie zu Reizbarkeit oder Teilnahmslosigkeit kommen.
So oder ähnlich definieren Spezialisten das Phänomen Demenz. Doch was bedeutet das in der Praxis?
Gäbe es ein Rezept für den Umgang mit Menschen mit Demenz, so würde es sicherlich die Zutaten Akzeptanz, Verständnis und Nächstenliebe, vermischt mit einer kräftigen Prise Humor enthalten. Ein freundliches Lächeln, eine Umarmung und ein kleiner Scherz erleichtern das tägliche Miteinander oft um ein Vielfaches.
Wenn wir den Demenzbetroffenen so akzeptieren, wie er ist und ihn nicht ständig verbessern, verändern oder belehren wollen, dann ist schon viel für einen menschenwürdigen Umgang miteinander getan.
Aus dieser Perspektive erzähle ich die folgenden Geschichten. Es sind Geschichten aus der Praxis – ich habe sie im Verlauf meiner sechsjährigen Arbeit als Pflegeassistentin in einem Wohnbereich für Menschen mit Demenz erlebt.*
Dörentrup, im Juni 2012 | Martina Rühl |
* Alle Namen der genannten Personen wurden geändert. Übereinstimmungen mit tatsächlich lebenden Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.
Was ist mit mir los?
Was ist mit mir los, ich kann nicht mehr denken,
dabei möchte ich noch so viel Liebe verschenken;
doch ich weiß nicht an wen, ich kenne mich selbst kaum,
bin stets auf der Suche nach Vertrautem im Raum.
Wer ist dieser Mann, der sagt, er wäre mein Sohn?
Haltet Ihr mich für blöd, ist es so weit schon?
Ich muss zur Toilette, doch wie stelle ich’s an,
ob mir dabei wohl jemand helfen kann?
Ich weiß nicht, durch welche Tür soll ich gehen,
alles sieht so gleich aus, kann keinen Unterschied sehen.
Wo sind meine Eltern, ich muss für sie sorgen,
wieso sagt diese Frau, darum kümmern wir uns morgen?
Ich muss doch zu ihnen und zwar auf der Stelle,
ich werde gleich sauer und mach hier ne Welle!
Wo bin ich, was mach ich, wo gehör ich bloß hin?
Es macht mich verrückt, dass ich nicht weiß, wer ich bin!
Ich muss jetzt zur Schule, hab gar keine Zeit,
warum hält man mich fest, das geht mir zu weit!
Ich spür keinen Hunger, doch man gibt mir zu essen,
ich hab solche Angst, ich könnte alles vergessen.
In meinem Innern toben Tausende von Gefühlen,
ich kann sie nicht deuten, sitze zwischen den Stühlen!
Ich bin so traurig und kann es nicht sagen,
niemand versteht mich, wen kann ich nur fragen?
Ich spüre Schmerzen, doch wo kommen sie her?
All diese Dinge machen das Leben so schwer!
Ich muss in die Schule!
Viele demenzbetroffene Menschen befinden sich mental immer wieder in ihrer Kinder- oder Jugendzeit und sind überzeugt, in die Schule gehen zu müssen. Während wir Nicht-Dementen uns an die vergangene Schulzeit erinnern und dann wieder in die Realität zurückkehren, steckt der Mensch mit Demenz in dieser Situation fest.
Bei Frau Hübner, fast 90 Jahre alt, konnte das zu jeder Tagesund Nachtzeit passieren. Dann kleidete sie sich komplett an, vergaß auch Schal und Mantel nicht. Sie schaffte es sogar, sich ganz akkurat die Schnürsenkel zu binden, bevor sie sich dann auf den Weg zur Schule machte.
Glücklicherweise begegnete sie meistens jemandem vom Pflegepersonal, bevor sie das Haus verließ. Es kam aber auch vor, dass wir sie nach Feierabend auf dem Parkplatz »erwischten« oder sie von der Polizei zurückgebracht wurde.
Wo immer wir sie auch trafen – stets mussten wir uns einen triftigen Grund einfallen lassen, um sie zum Bleiben zu überreden. Es hätte nämlich wenig Sinn gehabt, sie auf ihr fortgeschrittenes Alter aufmerksam zu machen. Man brauchte nicht darauf zu hoffen, dass ihr einfiele, dass es mit ihrer Schulpflicht schon etwas länger her sei. Vielmehr hätte sie sich unverstanden gefühlt und wäre erst recht gegangen.
Also erzählten wir ihr, es sei Sonntag, ein Feiertag oder gerade Ferienzeit und die Schule wäre geschlossen. Oder wir erläuterten, dass es glatt auf den Straßen sei, sodass die Busse nicht führen, ab und an berichteten wir von einem Ausflug der Lehrer, die sich etwa auf einem Weihnachtsmarkt vergnügen wollten.
Bereitwillig gab sie sich jedes Mal mit den Antworten zufrieden und sagte erleichtert: »Das ist ja gut, dann muss ich mich ja gar nicht so beeilen. Ich hatte schon Angst, dass ich zu spät komme.«
Als wir sämtliche Ausreden mehrfach benutzt hatten und sie wieder einmal zum Bleiben überreden konnten, sagte sie erstaunt: »Mein Gott, ich hab aber auch ein Glück in letzter Zeit! Immer wenn ich verschlafe, ist entweder Wochenende oder es sind Schulferien!«
Eines Abends kam Frau Sölter, ebenfalls eine unserer Bewohnerinnen, ganz aufgeregt auf mich zu und fragte: »Haben Sie wohl ein Auto dabei?«
»Wohin wollen Sie denn heute noch, Frau Sölter?«, erkundigte ich mich.
»Ich muss heute Abend unbedingt nach Hause, vielleicht könnten Sie mich mitnehmen. Ich muss doch morgen ganz früh in die Schule!«
»Aber Frau Sölter, die Sommerferien sind doch gerade angefangen, da ist gar keine Schule. Die Lehrer brauchen schließlich auch mal Urlaub!«
»Sommerferien? Das wusste ich ja gar nicht. Und wie lange gehen die?« Frau Sölter schien erstaunt zu sein.
»Sechs Wochen!«
»Sechs Wochen? Meinen Sie denn, ich könnte so lange hier bleiben?«
»Sicher können Sie das! Sie haben hier Ihr Bett und das nimmt Ihnen niemand weg!«
»Und die Brinkmann (ihre Tischnachbarin)? Kann die auch so lange bleiben?«
»Natürlich, Frau Brinkmann hat hier auch ein Bett und kann so lange bleiben!«
Damit war das Thema erst einmal erledigt und Frau Sölter konnte wieder ganz beruhigt zur Tagesordnung übergehen.
Ich geh mal nach Hause …
Ebenso häufig wie zur Schule wollen viele Bewohner mit Demenz nach Hause gehen. Damit ist in der Regel nicht die zuletzt bewohnte Wohnung gemeint, sondern das Zuhause der Kindheit. Viele wollen dort hin, um für ihre Eltern zu sorgen. Andere möchten Gartenarbeit erledigen oder die Hühner füttern, einige sind überzeugt, dass ihre kleinen Kinder gleich aus der Schule kommen und noch kein Mittagessen vorbereitet wurde.
Es kommt nicht selten vor, dass ein demenzbetroffener Bewohner seine Koffer packt – manchmal mehrmals täglich – oder dass sich jemand in einem unbeobachteten Moment auf den Weg macht und das Haus verlässt. So auch an jenem Nachmittag:
Ich hatte Spätdienst und sah zufällig vom Flurfenster aus, wie Frau Pretorius, eine 87-jährige Bewohnerin aus unserem Wohnbereich, das Altenzentrum verließ. Sie konnte noch recht flott laufen, war aber desorientiert und würde allein nicht wieder zurück finden. Also musste ich schnell handeln, um sie einzuholen. Bis ich jedoch aus der zweiten Etage den Haupteingang im Erdgeschoss erreicht hatte, war Frau Pretorius schon nicht mehr zu sehen.
Ich entschied mich, den Rundweg zu nehmen, der um das ganze Gelände des Altenzentrums führte und hoffte, dass sie nicht die Straße überquert hatte und nun in der anderen Richtung unterwegs war.
Ich begann, schneller zu laufen, was mir angesichts meiner Körperfülle nicht eben leicht fiel. In Gedanken schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel, der liebe Gott möge alle Kollegen und Kolleginnen im Moment beschäftigt sein lassen, sodass mich hier niemand umherhasten sah.
Nach fast einer Runde um das großzügig angelegte Altenzentrum, kurz vor dem Haupteingang, holte ich Frau Pretorius schließlich ein. Als sie mich sah, sagte sie erleichtert: »Ach, das ist ja schön, dass ich dich hier treffe! Ich wollte gerade nach Hause gehen und hatte schon Angst, dass die Tür zu ist und ich in der Kirche übernachten muss!«
Ich schnappte völlig atemlos nach Luft und prustete: »Das … trifft sich gut …, ich wollte nämlich … auch gerade … nach Hause …, da können wir ja … zusammen gehen!«
Damit war sie einverstanden. Einträchtig traten wir den Heimweg an und landeten wohlbehalten wieder im Wohnbereich. Dort ließ sich Frau Pretorius angesichts ihrer körperlichen Ertüchtigung und der zusätzlichen Frischluftzufuhr bereitwillig ins Bett bringen.
Manchmal muss man sich gute Argumente oder Ablenkungsstrategien einfallen lassen, um jemanden davon zu überzeugen, jetzt nicht »nach Hause gehen« zu wollen. Dann und wann geben einem die Menschen mit Demenz die Antwort auch vor, wie folgendes Beispiel zeigt:
Frau Berger überlegte einige Minuten laut, wie sie nach Hause käme und dort ins Haus hinein, da sie den Schlüssel leider verloren habe. Während ich noch darüber nachdachte, wie ich sie ablenken und auf andere Gedanken bringen konnte, fragte sie mich: »Hast du denn eigentlich schon eine Vertretung für mich gefunden?«
»Nein!«, sagte ich. »Leider nicht und das wird auch gar nicht so einfach sein, eine gute Vertretung für dich zu finden!«
»Dann bleibe ich selbstverständlich so lange hier, bis du eine gefunden hast!«, erklärte sie energisch.
Damit war das Thema erst einmal vom Tisch.
Übrigens!
Pflegekräfte sollten sich von ihren demenzbetroffenen Bewohnern nicht mit den Worten verabschieden: »Ich habe Feierabend und fahre jetzt nach Hause.« Erfahrungsgemäß wollen dann mindestens vier von acht Bewohnern auch nach Hause und bitten um eine günstige Mitfahrgelegenheit!
Wie hieß das doch gleich?
Das richtige Wort für eine bestimmte Sache zu finden, fällt Demenzbetroffenen mit Fortschreiten der Krankheit zunehmend schwerer. Oft betiteln sie etwas mit einem anderen Gegenstand oder sie kreieren völlig neue Wortschöpfungen. Immer wieder bin ich fasziniert davon, was für Wörter ihnen einfallen und wie geschickt sie gewisse Dinge umschreiben können. Hier einige Beispiele:
Frau Schäfer saß im Rollstuhl und konnte wegen ihrer massiven Gleichgewichtsstörungen nur mit Begleitung laufen. Da sie selbst nicht mehr in der Lage war, die Gefahr eines Sturzes einzuschätzen, wurde sie zu ihrem eigenen Schutz mit einem Bauchgurt im Rollstuhl fixiert. Das empfand sie verständlicherweise als störend, vor allem, wenn ihr einfiel, dass sie noch etwas einzukaufen hätte oder dringend nach Hause musste.
Eines Nachmittags hatte sie schon eine Weile vergeblich versucht, den Gurt zu öffnen und suchte nun Hilfe bei ihren Mitbewohnern.
Sie rief im Kommandoton: »Wer macht denn hier die Kohlen los? Wer leitet denn hier die Kompanie? Durchschneiden! Sofort! Haben Sie schon die Bremse los?«
Ihre Befehle klangen durchaus logisch, wenn man wusste, was sie beabsichtigte.
Frau Feldmann kam eines Nachmittags mit einer aufgeschlagenen Fernsehzeitung und verzweifeltem Gesichtsausdruck auf mich zu. Sie sagte: »Schwester, können Sie mir helfen?«
Ich schaute in die Zeitung und sagte: »Das ist schon richtig, Sie haben das Datum von heute aufgeschlagen.«
»Ja, aber das Ding hat ja gar keinen Anfang und kein Ende!« beklagte die alte Dame.
Ich nahm mir die Zeit herauszufinden, was sie genau meinte. Dazu schaute ich mir die aufgeschlagene Doppelseite mit dem aktuellen Fernsehprogramm an. Frau Feldmann hatte Recht: Beide Seiten waren in kleiner Schrift bedruckt, ein Programm neben dem anderen, ohne Zwischenräume, ohne Punkt und Komma. Wenn man nicht mehr ganz so gut sehen konnte, hatte die Sache wirklich keinen Anfang und kein Ende.
Auf Nachfragen erklärte sie mir, sie würde gern einen alten Film anschauen. Tatsächlich fanden wir schließlich einen im Programmheft. Ich schaltete ihr den Fernseher ein und Frau Feldmann war zufrieden.
Es lohnt sich immer, genau hinzuhören, wenn ein Bewohner mit Demenz uns etwas mitteilt. Oft erkennt man dadurch die Dinge, die ihn gerade beschäftigen oder findet die Lösung seines Problems, kann es beheben und ihn dadurch beruhigen.
Als Frau Pretorius eines Abends auf der Toilette saß und sich angestrengt ihren Verrichtungen widmete, sagte sie, nachdem etwas ins Klo geplumpst war: »Weißt du was? Ich verlier gerade meine innere Stärke!«
Schöner kann man diese Sache doch nicht umschreiben, oder?
Später, als sie nicht mehr allein laufen konnte, fuhr sie unermüdlich mit dem Rollstuhl über die Flure des Wohnbereichs. Als sie mich aus einem Zimmer kommen sah, winkte sie mich zu sich heran und fragte: »Wissen Sie eigentlich, wie ich mich morgens fühle?«
Ich überlegte, was sie meinen könnte. Abends, wenn wir sie zu Bett brachten, wurde sie oft wütend, beschimpfte uns, schlug um sich und versuchte, uns zu beißen. Meinte sie das? Ich fragte nach: »Wie Sie sich morgens fühlen? Nicht so gut, oder?«
»Nein, nicht gut, ich fühle mich böse!«
»Kann ich Ihnen denn helfen, damit Sie sich nicht böse fühlen?«
»Ja, Sie können zu mir herein kommen und mich gut machen!«
»Abgemacht! Wenn das hilft, dann komme ich morgen zu Ihnen herein!«
Mit einem »Nu« gab sie mir zu verstehen, dass sie mit unserem Gespräch zufrieden war und fuhr weiter über die Flure.
Als eine Mitbewohnerin nach ihrer Mutter suchte und wiederholt fragte, ob sie jemand gesehen habe, sagte Frau Pretorius: »Ach, die sind bestimmt ins Krankenhaus gefahren, da wirst du untersucht von vorne bis zum Hintern!«
Viele demenzbetroffene Bewohner können den Drang, auf die Toilette zu müssen, nicht in die richtigen Worte fassen. Einige werden dann sehr unruhig, sprechen etwa davon, ganz dringend zum Bahnhof oder nach Hause zu müssen, einige beginnen laut zu rufen, andere laufen aufgeregt suchend hin und her.
Als ich an einem Nachmittag in der Wohnbereichsküche das Abendbrot zubereitete, rief Frau Mehrwald, die mich einige Monate lang »Anni« nannte, aus dem angrenzenden Speiseraum: »Anni, komm doch mal her! Ich bitte dich, komm zu mir und wenn es nur für eine Minute ist! Ach, wenn doch nur jemand mal eine Minute Zeit für mich hätte!«
Ich wusste, dass sie zur Toilette musste, wenn sie es so dringlich machte, es aber nicht genau sagen konnte. Da ich gerade in der Küche hantierte, bat ich eine Kollegin mit Frau Mehrwald den Toilettengang durchzuführen. Als Frau Mehrwald sichtlich erleichtert wieder an den Tisch zurückkehrte, lächelte sie mich dankbar an und sagte: »Anni, weißt du was? Ich soll dich grüßen!«
Erstaunt erkundigte ich mich, von wem sie mich grüßen sollte, und sie antwortete in fast schon theatralischem Tonfall: »Nun, Goethe sagte einst zu Lebzeiten: Wenn du eine Rose siehst, so sag ihr einen lieben Gruß von mir!«
Eine schönere Art, seine Dankbarkeit auszudrücken, habe ich kaum erlebt.
Frau Mehrwald gab anderen Bewohnern gerne nützliche Tipps aus ihrem erfahrungsreichen Leben. Sobald jemand in ihrer Nähe hustete, empfahl sie ihm zu inhalieren, dann ginge der Husten auf jeden Fall weg. Eines Nachmittags saß ihr die hustende Frau Schäfer gegenüber. Frau Mehrwald reagierte sofort, jedoch fiel ihr dieses Mal das Wort »inhalieren« nicht ein.
Sie überlegte laut: »Wie hieß das doch noch, wovon der Husten weg ging? War das inserieren? Hieß das inserieren oder insulieren? Ich komme einfach nicht drauf.«
Da in diesem Moment eine Kollegin den Raum mit einer Insulinspritze betreten hatte, beschlossen wir gemeinsam, dass »insulieren« ein sehr guter Begriff für das war, was sie gleich tun würde. Frau Mehrwald halfen wir mit »inhalieren« auf die Sprünge.
Man sieht, den Wortschöpfungen sind keine Grenzen gesetzt.
Während ich an einem anderen Nachmittag in der Küche hantierte, fragte Frau Mehrwald mich: »Sag mal, Anni, weißt du, an welchen Namen ich denke, wenn mir Rollochlorid einfällt?«
Erstaunt verneinte ich und fragte nach, was denn Rollochlorid sei.
Ihre Antwort: »Also, ich denke an einen Namen, dann fällt mir erst Rollochlorid ein und dann der Name. Aber welcher war das denn bloß?«
Wir fragten alle Kolleginnen, keine von ihnen kannte Rollochlorid.
Dann plötzlich ein Aufschrei von Frau Mehrwald: »Jetzt hab ich’s! Ulrike war der Name, der so ähnlich klingt wie Rollochlorid! Stimmt’s, Anni?«
Nun ja, jeder baut sich seine eigenen Eselsbrücken.
Frau Berger fragte mich einmal: »Wie läuft denn nun eigentlich die Verfügung zugunsten meiner Tätigkeit?«
Ich hatte wahrscheinlich drei große Fragezeichen auf der Stirn und musste zugeben, dass ich darüber überhaupt keine Informationen hatte.
Frau Wieland lag im Bett, ich wollte ihr eine gute Nacht wünschen.
Ich faltete die Hände, um mit ihr zu beten. Sie machte es ebenso und begann: »Vater unser im Himmel, gereinigt werde dein Haus. Amen!«
Stolz lächelnd fragte sie mich, ob es so richtig gewesen sei. Ich konnte nicht anders, als sie in den Arm zu nehmen und ihr zu beteuern, dass dieses Gebet goldrichtig und einfach wunderbar war.
Im fortgeschrittenen Stadium der Demenz kommt es häufig vor, dass die Betroffenen unermüdlich vor sich hin reden. Manche wiederholen sich ständig, bei anderen kann man nur einzelne Worte verstehen. Der Tonfall kann von gleichmäßig ruhig über bestimmt und energisch bis hin zu wütend und laut variieren. Manchmal hört es sich an, als würde jemand telefonieren, einen Vortrag halten oder ein Gedicht aufsagen. Auch tauchen oft einzelne Begriffe aus dem Berufsleben auf. Als Frau Wieland sich in diesem Stadium befand, redete sie stundenlang: »Meine Mama …, die hat ja meine Mama …, wer hat denn …, meine Mama …, ja …, die muss doch …, meine Mama …«
Später wurde daraus ein »Watschi, datschi, watschi.«
Eines Vormittags redete Frau Wieland so vor sich hin. Frau Bröker-Kuhlemann war davon irgendwann so genervt, dass sie eines der blauen Tischsets aufrollte, aufstand, zu Frau Wieland ging und ihr damit auf den Kopf schlug. Die stets aufmerksame Frau Mehrwald erkannte sofort den Ernst der Lage und schrie lauthals los: »Familiendrama, die Polizei muss kommen, Familiendrama!«
Um die Situation zu entschärfen, musste Frau Bröker-Kuhlemann erst einmal des Tischsets entledigt und anschließend – ebenso wie die Damen Wieland und Mehrwald – beruhigt und abgelenkt werden.
Ein Meister in kreativen Wortschöpfungen war Herr Niemeier. Es machte mir immer wieder Spaß, ihm zuzuhören: »Die ham ja die Hinderbindering, die können doch, wenn die Mörcheln gelärgert haben, nein, das ist ja, da ist ja die kleine Ölemöle, der hat doch geschneiselt, ich habe gefritzt, sonst übersehen die mir!«
Herr Lindemeier, ebenfalls ein Bewohner mit Alzheimer-Demenz im fortgeschrittenen Stadium und ein »Wortakrobat« erzählte Folgendes: »Zwei und das zwei, das sind die drei! Das ist doch bunt und unkelunk. Falle auf Bauch. Wo ist denn dieser Dammelwald? Er meint, dass die von dem baffen die Raster und dann brauch die nicht mehr so hin. Ich geh gleich lauf hier, lass das anstoßen, dann kommt hier die Frau. Ich bin ein Samsumert.«
Mal ehrlich, wer von uns könnte sich so fantastische Wörter ausdenken?
Dann rief er plötzlich aus: »Jetzt muss ich was sagen: Was haltet ihr davon, wenn der Leistenbruch gefestigt wird?«
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783842685314
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2014 (April)
- Schlagworte
- Aktivierung Alltagsbegleiter Altenpflege Altenpflegeheime Altenpflegehelfer Ambulante Pflege Angehörige Beschäftigung Betreuung Demente Menschen Stationäre Pflege Tagespflege Tagesstrukturierende Massnahmen