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Das geheime Tagebuch der P.D.L.

von Paula Dorothea Ludowich (Autor:in)
216 Seiten

Zusammenfassung

Die wahren Geschichten dieses Buches zeigen die alltägliche Arbeit einer Pflegedienstleitung ohne Schminke und doppelten Boden: beratungsresistente Mitarbeiter, katatastrophale Arbeitsbedingungen, Zeitdruck, Stress, Ärger mit Angehörigen, Probleme mit Ärzten und Patienten –
kurzum: „Das geheime Tagebuch der P.D.L.“ zeigt den deutschen Pflegealltag, wie er häufig genug ist. Nichts wurde erfunden, nichts beschönigt. Die Hauptperson, Paula Dorothea Ludowich, ist eine Pflegedienstleitung wie aus dem Bilderbuch: hervorragend ausgebildet, leistungsbereit, führungsstark und teamfähig.

Das Buch ist keine reine Zustandsbeschreibung, sondern auch ein hilfreicher Begleiter für jede PDL. Zeigt es doch, wie sich dieser Arbeitsalltag bestehen lässt, welche Hilfen es gibt, welche Lösungen, welche Möglichkeiten, aus dem „Schleudersitze PDL“ zumindest einen guten Bürosessel zu machen.
Prädikat: Unbedingt empfehlenswert!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Paula Dorothea Ludowich (Pseud.)

 

Das geheime Tagebuch der P.D.L.

Vorwort

Für Pflegedienstleitungen, kurz PDL, ist schon vieles geschrieben worden: Wie sie besser werden, was sie wissen müssen, was sie lassen sollten etc. Über Pflegedienstleitungen ist auch schon einiges geschrieben worden: Warum sie oft so wenig fortschrittlich sind, weshalb ihre Stelle ein Schleudersitz ist etc.

Von Pflegedienstleitungen wurde natürlich auch schon einiges geschrieben, aber noch nie hat eine PDL es gewagt, wirklich aus ihrem Alltag zu berichten. Ungeschminkte Geschichten von miesen Zuständen, unmöglichen Chefs, widerborstigen Mitarbeitern und herausfordernden Bewohnern. Wahre Geschichten aus der Altenpflege, die alltäglich passieren. Nicht immer schöne Geschichten, aber ehrliche.

Ich finde: Genau diese alltäglichen Geschichten sind der Stoff, aus dem wir PDLer uns Rettungsfallschirme nähen sollten! Deshalb habe ich dieses Tagebuch geschrieben. Ich möchte klar machen, warum die Stelle einer Pflegedienstleitung so schwierig, so herausfordernd und oft auch so ermüdend ist. Es geht mir aber nicht nur um die alltäglichen Krisen, sondern auch um den Umgang damit. Denn jede PDL hat es schwer – das liegt in der Natur ihres Jobs.

Wir PDLer sind das stets gefährdete Bindeglied zwischen Einrichtungsleitung und Mitarbeiterstab, bedrängt von Angehörigen, Bewohnern, der Öffentlichkeit, den Partnern; dem eigenen Anspruch an Perfektion ausgeliefert; unterhöhlt vom schlechten Gewissen wegen unserer beruflichen Kompetenz, der Gesundheit und, ach ja, der eigenen Familie.

Wie hilft man sich also, wenn man PDL ist und es bleiben will? »Paula Dorothea Ludowich« ist PDL und sie will es bleiben. Also kämpft sie sich durch Krisen, Katastrophen und Kalamitäten immer wieder nach oben. Ich habe in dieser erfundenen Paula meine eigenen Erfahrungen beschrieben. Meinen wirklichen Namen möchte ich nicht nennen. Nicht, weil ich Angst um meine Stelle hätte, sondern weil es manchmal einfacher ist, ungeschminkte Wahrheiten zu schreiben, wenn niemand weiß, um welche Einrichtungen es sich handelt.

Lesen Sie also ein Jahr im Leben der Paula Dorothea Ludowich. Sie werden wahrscheinlich verblüfft feststellen, dass es in Ihrem Haus auch nicht so viel anders ist.

Übrigens: Diese Aufzeichnungen stammen aus dem Jahr 2008.

15. Januar

Ich bin seit drei Wochen PDL in der Altenpflege. Ehrlich gesagt, erscheinen mir diese drei Wochen eher wie drei Monate! Nein, diese Anstellung ist wirklich nicht das, was ich mir darunter vorgestellt habe – und bei Weitem nicht das, was sie uns in der Weiterbildung erzählt haben!

Da hieß es, die Pflegedienstleitung sei »eine anspruchsvolle Aufgabe, die in hohem Maße die Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen, die Pflegequalität, die Umsetzung und Verwirklichung betrieblicher und pflegerischer Ziele beeinflusst«. Genau das wollte ich auch machen! Und natürlich fühlte ich mich mehr als berufen, »Verantwortungsbereiche wie Qualitätssicherung, Entwicklung von neuen Pflegekonzepten, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und nicht zuletzt die Mitverantwortung der Gesamtbetriebsführung« umzusetzen. Ja, ja, ja …

Drei Wochen nach meinem mit Feuereifer errungenen Zertifikat könnte ich eher sagen, dass die Pflegedienstleitung »die anspruchsvolle Aufgabe hat, schweigsame Mitarbeiter zu schützen, die Pflegequalität wenigstens auf dem minimalen Niveau zu halten und irgendwie dafür zu sorgen, dass die betrieblichen Ziele nicht den pflegerischen widersprechen«.

Um es kurz zu sagen: PDL ist ein Knochenjob und ehe er mich vollends in die Knie zwingt, greife ich zu einem Mittel, das in unserer Fortbildung keine Erwähnung fand: Dieses Tagebuch soll mir helfen, in meinem Job zu überleben. Denn dafür gibt es keine Checkliste, kein PC-Programm, keine Verfahrensanleitung. Ich mache meinen eigenen Expertenstandard: mein Tagebuch!

Wobei das nicht meine Idee war, sondern Connys, meine Lieblingskollegin aus der PDL-Weiterbildung. »Schreib auf, was Dich bedrückt«, hatte sie mir gleich zu Anfang gesagt. »Dann kannst Du Deine Gedanken sortieren, Dir über manches klar werden – außerdem kannst Du wirklich gut schreiben! Also: Nutze Dein Talent!« Conny hat in vielen Dingen wesentlich mehr Routine als ich. Schließlich ist sie schon 44 Jahre alt, während ich gerade mal die 30 hinter mir habe. Obwohl ich mich heute eher wie 60+ fühle.

Schuld daran ist, wie eigentlich immer in letzter Zeit, Cleopatra. Der Name ist schräg und ich fand es anfangs unpassend, Cleo Richard, unsere Einrichtungsleiterin, nach einer ägyptischen Königin zu nennen. Aber in jedem Gespräch mit den Mitarbeitern wurde sie einfach »Cleopatra« genannt. Inzwischen habe ich diesen Namen wie selbstverständlich im Kopf (glücklicherweise nie auf den Lippen) und will ihn deshalb auch hier im Tagebuch benutzen: »Lies es, Cleopatra und weine!«

Cleopatra residiert weit ab vom Leben und Zentrum des Hauses in ihrem schick ausgestatteten Büro. Da kann sie schalten und walten und bleibt im Zweifelsfall unerreichbar. Bis irgendein unzufriedener Angehöriger zu ihr vorgedrungen ist, ist seine Wut auf dem Weg durch die vielen Flure und Etagen längst verraucht.

Ich lege diesen langen Weg inzwischen häufig zurück, schließlich muss ich mich mit Cleopatra besprechen. Heute zum Beispiel wollte ich mit ihr über die Einführung von Pflegevisiten sprechen. Ich hatte kürzlich auf pflegen-online.de darüber gelesen, fand die Sache effektiv und ideal für jede Einrichtung. Das könnte mein Einstiegsprojekt werden, dachte ich. Also, auf nach »Ägypten«!

Ich klopfte also an Cleopatras Tür und nahm ganz automatisch eine Ehrerbietung signalisierende gebückte Haltung ein. Drei Wochen Cleopatra-Erfahrung wirken sich bei mir offensichtlich bereits aufs Rückgrat aus … Ich weiß noch, dass ich dachte: Pflegevisite einführen? Paula, das ist doch eine klassische PDL-Aufgabe – eigentlich musst Du Cleopatra gar nicht fragen.

Hätte ich vor drei Wochen auch noch nicht.

Da war ich frisch, fromm, fröhlich, frei hier angetanzt. Bereit, Verantwortung zu übernehmen, die Strukturen dieser Einrichtung mit- und auszugestalten. Mit munterem Schritt rannte ich mit voller Wucht geradewegs gegen Beton, gegen Cleopatra. In ihrem Reich sehen die Aufgaben einer PDL ganz anders aus. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man wirklich darüber lachen. »Sie haben hier zwei wesentliche Aufgabengebiete«, hatte sie mir gleich zu Beginn mitgeteilt:

»1. Die Bestellung von Trauergestecken, wenn Bewohner verstorben sind.

2. Die Anmeldung von neuen Bewohnern beim Ordnungsamt.«

Dafür hatte ich also zwei Jahre lang, jeden Monat eine Woche, die Schulbank gedrückt! Dafür hatte ich eine 1 in meiner Weiterbildung »Leitung Pflegedienst« bekommen! Es war demütigend, degradierend, geradezu unverschämt. Ich konnte gar nicht begreifen, dass dieselbe Frau mit mir sprach, die mir beim Einstellungsgespräch gegenüber gesessen hatte. »Ich freue mich«, hatte sie höflich lächelnd gesagt, »endlich kommt mal jemand mit Sachverstand und Knowhow!«

Hätte ich es wissen können? Ja, das hätte ich. Meine Kollegen aus der Weiterbildung hatten mich gewarnt. »Geh nicht in diese Einrichtung. Die verschleißen PDLer am Fließband.« »Mich nicht«, hatte ich getönt. »Ich bin jung, ich bin stark!« Schließlich war ich die erste aus meinem Kurs, der eine Stelle angeboten wurde. Alle anderen ließen sich Zeit mit der Suche. Ich aber fand, dass es geradezu Schicksal war, dass ich in meinem Wohnort eine Stelle fand. Und jetzt? Jetzt löffele ich die bittere Suppe, die ich mir eingebrockt habe, Löffel für Löffel fein aus.

Aber zurück zum Drama mit der Pflegevisite. Ich stand also fünf vor drei vor Cleopatras Tür und klopfte. Genau in diesem Moment hob offensichtlich die Schicksalsgöttin warnend eine Hand. Jedenfalls blieb meine Armbanduhr stehen. Auf einmal stoppte der Sekundenzeiger! Ich trage diese Uhr seit Jahren und das war noch nie vorgekommen. Ob die Uhr meine innere Anspannung spürte? Wollte mir das Schicksal irgendetwas sagen? Ehrlich gesagt, hatte ich schon seit Stunden Angst. Mir war elend, mein Herz klopfte und mein Magen war wie zugeschnürt.

Cleopatra gewährte mir nur einen kurzen Blick, den ich als Aufforderung verstand, mein Anliegen zu präsentieren. Ich legte vehement los, während sie hinter ihrem Designer-Schreibtisch saß und Papiere sortierte. Selbstverständlich stand ich vor ihrem Schreibtisch, denn zum Sitzen hatte sie mich nicht aufgefordert. Es gab nicht mal einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch, auf dessen spiegelnder Oberfläche nicht das kleinste Stäubchen lag. Das ganze Büro wirkte so aus dem Ei gepellt wie Cleopatra selber. Der Erfinder des Twinsets muss ihre Statur vor Augen gehabt haben: hoch gewachsen, nicht zu üppiger Busen, wohlgeformte Hüften. Um ihren erstaunlich faltenlosen Hals lag eine lange, mehrfach gewundene Kette. Ihre blonden Haare waren sorgfältig frisiert, ihr Teint geradezu makellos.

Ihre Augenfarbe müsste ich erraten, denn sie schaute nicht ein einziges Mal hoch, als ich meine Ideen hervorsprudelte. Sorgfältig arrangierte sie ihre Papiere, als ich mit meiner Rede fertig war. Eine Pause trat ein, in der ich die Vögel draußen zwitschern hörte und das leise Gluckern in der Heizung. Schließlich sagte sie lapidar: »Legen Sie es mir ins Fach.« Ein schwacher Wink mit der linken Hand signalisierte, dass das Gespräch für sie beendet war. Ich war so baff, dass ich nicht einmal versuchte, sie direkt zu bitten, mir zuzuhören.

Nach dem Gespräch ging meine Uhr dann wieder. Schräg, oder?

Cleopatra hatte mir durch schlichtes Nichtreagieren den Wind aus den Segeln genommen. Offensichtlich war es ihr egal, dass Pflegevisiten auf den Wohnbereichen ein sinnvolles Instrument sind. Mein Konzept sah vor, dass die einzelnen WBLer mit einbezogen werden, sie somit die Pflegevisiten als Werkzeug nutzen, um die Pflege vor Ort in den Bewohnerzimmern zu verbessern.

Aber in dem Vorschlag steckte ein Hauch von Basisdemokratie und ich hätte mir denken können, dass Cleopatra nie und nimmer zustimmen würde. Immerhin hätte sie Kontrolle abgeben, ihren Mitarbeitern etwas zutrauen, sie eigenverantwortlich arbeiten lassen müssen – all das sprach gegen ihr ehernes Gesetz, das da lautet: »Nichts mit mir, aber vor allem nichts ohne mich! «

Dabei weiß doch verflixt noch mal jeder, dass Pflegevisiten zum kleinen Einmaleins des Qualitätsmanagements gehören! Wahrscheinlich kommt Cleopatra in zwei, drei Monaten selbst mit dem Vorschlag, Pflegevisiten einzuführen. Ich sehe sie schon vor mir, wie sie erhobenen Hauptes an mir vorbeirauscht und meine Idee in einem wohl formulierten Vortrag als ihre verkauft. Die Mitarbeiter haben mich gewarnt, dass Cleopatra gern Ideen klaut.

Mittlerweile habe ich ohnehin den Eindruck, dass sie mich am liebsten wieder los wäre. Unfreundlicher und geringschätziger als sie mich behandelt kann man Mitarbeiter kaum traktieren. Argumente braucht sie nicht, denn sie hat die Fülle ihrer Macht als Alleinherrscherin über ganz Ägypten, pardon: die Einrichtung.

Alle Mitarbeiter haben enorme Angst vor ihr, wenn sie sich unters Volk begibt. Cleopatra ist bestimmt gute einsachtzig und beherrscht jeden Raum, den sie betritt. Gespräche ersterben, Gelächter verstummt, wenn sie ihre Blicke schweifen lässt. Stattdessen heißt es »Ja, Frau Richard, sehr gern …« – »Aber natürlich, mache ich sofort …« Wie eine Schar eifriger Dienstboten hasten alle davon, wenn sie etwas will. Man munkelt, dass sie verheiratet ist, aber wahrscheinlich hat sie den kleinen Cäsar längst in die Flucht geschlagen …

Auf jeden Fall ist eine stets präsente Chefin das Letzte, was wir brauchen. Viele Mitarbeiter schämen sich, wenn sie pünktlich Feierabend machen, und fürchten sich davor, Cleopatra auf dem Parkplatz in die Hände zu laufen. »Die hat so eine Art, auf die Uhr zu schauen, wenn sie einen sieht, dass es einen graust«, verriet mir neulich eine Mitarbeiterin. Ich habe natürlich nichts dazu gesagt. Was sollte ich als PDL auch sagen? Ich kann mich wohl kaum vor meine Mitarbeiter stellen und stöhnen: »Oh Gott, hilf mir! Ich komme mit Cleopatra nicht klar!« Also höre ich mir schweigend die Kommentare an, die ich nebenbei mitbekomme (keiner tratscht offen über Cleopatra, wenn ich dabei bin), aber mir schlägt das von Woche zu Woche mehr auf den Magen.

Jeden Abend falle ich völlig erschöpft ins Bett, finde nachts keinen Schlaf und bin jeden Morgen total gerädert.

Wie komme ich aus diesem Teufelskreis heraus? Wie bremse ich meine negativen Gedanken? Soll ich abends mal meditieren? Wirklich einen Stopp mache, zu Hause ganz bewusst meine Kleidung wechseln, mir einen Tee kochen (oder ein Glas Rotwein nehmen) und erst einmal eine halbe Stunde an gar nichts denken – einfach nur meine Atemzüge zählen und entspannen? Ich suche – da bin ich ganz Frau – die Schuld zuallererst bei mir. Ich gehe nicht in die Konfrontation mit Cleopatra, sondern lasse mir den Schneid abkaufen und gebe klein bei. Eine PDL, die Blumen bestellt – wo gibt’s das denn? Bei mir, möchte ich kleinlaut sagen, bei mir. Ich bin ja auch noch eine Anfängerin und längst nicht das taffe Weib, das ich sein möchte. Schade, sehr schade.

21. Januar

Gestern Abend ist es mir immerhin gelungen, die Arbeit auszublenden. Der sonntägliche Tatort im Ersten erwies sich als mildes Einschlafmittel. Der Nachmittag war allerdings fürchterlich. Martin tat sein Bestes, um mich aufzuheitern. »Lass uns doch ins Kino gehen«, schlug er vor, als ich unruhig durch unsere Wohnung tigerte und ungewohnt schweigsam war. Aber was er auch vorschlug, ich schüttelte den Kopf. Nein, dachte ich immer, ich will nicht abschalten, ich will mich gar nicht an etwas freuen. Umso schlimmer wird es morgen im Dienst. Martin verzog sich schließlich zu seinem besten Kumpel und ich war froh, dass ich allein war und ihn nicht auch noch nervte.

Als er kurz vor acht wiederkam, freute ich mich auf den Tatort, und wir kuschelten uns gemütlich auf das gute alte Sofa, das meine Eltern uns vor fünf Jahren zum Einzug geschenkt hatten. Mein Vater hatte es extra für uns aufpolstern lassen und er war sehr stolz auf das dunkelrote Prachtstück. »Das habt ihr noch, wenn ich mal nicht mehr bin«, hatte er gesagt. Wenn ich heute über den samtenen Stoff streichele, denke ich oft an meinen Vater. Er war ein freundlicher kleiner Mann, stets hilfsbereit, ein liebevoller Vater und ein guter Ehemann. Die Zeit nach seinem plötzlichen Tod erscheint mir immer noch unwirklich und schwarz. Wie muss das für Mutti gewesen sein, als sie morgens aufwachte und er tot neben ihr lag? »Was für ein schöner Tod!«, hatten viele gesagt.

Wenn ich bedenke, dass ich eines Tages auch sterbe, dann kommt es mir immer dämlicher vor, meine kostbare Lebenszeit mit einer Person wie Cleopatra zu vergeuden. Allmählich denke ich, dass sie verdammtes Glück hat: Kein Mitarbeiter traut sich, den Mund aufzumachen. Alle bleiben ruhig (oder scheinen zumindest so), auch wenn ihnen der Kragen platzt vor lauter Demütigung oder Ungerechtigkeit. Und was heißt hier: Mitarbeiter? Ich bin leider selbst nicht besser – ich habe mich noch nicht ein einziges Mal gegen Cleopatra gewehrt. Meinen Frust kriegen andere ab. Nicht nur Kollegen, sondern auch Bewohner. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber letztens habe ich einen Bewohner einfach nur mies behandelt, weil ich selbst zuvor von Cleopatra angeraunzt worden war. Mein Verhalten gegenüber dem Bewohner war ein Verstoß gegen jede Ethik und Moral. Mindert es meine Schuld, dass ich aus purer Verzweiflung so gehandelt habe? Herrn Kubitschek ist es sicherlich einerlei, welchen Grund ich für mein Verhalten hatte.

Die Kubitscheks sind vor gut drei Jahren hier eingezogen und die Kinder wollten damals unbedingt ein gemeinsames Zimmer für ihre Eltern – »Was sollen denn die Leute sagen?« Bereits nach wenigen Tagen war allerdings dem gesamten Personal klar, dass das gemeinsame Zimmer keine gute Idee war. Die Kubitscheks sind wie Feuer und Wasser und begegnen sich seit Jahren mit beißender Kritik. Er ist ihr Haar in der Suppe und sie sein natürlicher Blutdrucksteigerer.

Mittlerweile wohnen beide auf zwei verschiedenen Wohnbereichen und sehen sich glücklicherweise nicht allzu oft. Trotzdem nutzen sie fast jede Gelegenheit, um einander zu traktieren. Wer weiß, wie Martin und ich im Alter miteinander umgehen? Ob wir uns dann auch nichts mehr zu sagen haben? Werde ich auch so eine ungemütliche Alte wie die Kubitschek, die jedes Mal genervt ist, wenn er wieder in seinem alten Pullover auf dem Flur sitzt. »Kauf Dir doch endlich einen neuen«, keift sie dann. »Du hast doch so viel Geld!« – »Du musst es ja wissen«, raunzt er zurück, »hast ja genug davon ausgegeben!« Im Normalfall treten dann Pflegekräfte zwischen die beiden und führen jeden ab in seine Ecke – »Auszeit!«

Herr Kubitschek ist störrischer als ein alter Esel, absolut unbeeinflussbar durch andere. Dabei ist er normalerweise ein schweigsamer alter Mann, der sich klaglos in die tägliche Routine fügt. Tag für Tag sitzt er im Ohrensessel neben dem Aquarium und schaut den bunt gestreiften Fischen dabei zu, wie sie ihre Runden drehen. Manchmal setze ich mich für einen kurzen Moment neben ihn, weil mir seine stoische Ruhe so gut tut. Ich wünschte mir ein bissen mehr davon, gerade im Umgang mit Cleopatra. Herrn Kubitschek ist es scheinbar völlig egal, was andere von ihm halten. Für mich ist es immer eine ganz besondere Herausforderung, ihm ein kleines Lächeln zu entlocken. Manchmal gelingt es mir und ich ziehe Kraft daraus für den ganzen Arbeitstag.

An diesem Tag war das anders. Ich war so aufgekratzt, dass ich mich zwar neben ihn setzte, aber in einer ganz anderen Stimmung als sonst. Ich wollte unbedingt irgendetwas in Gang setzen, so sehr fühlte ich mich von Cleopatra und diesem ganzen Blumenschmuckgedöns in die Ecke gedrängt. Also fragte ich ihn, ob er sich nicht doch mal einen neuen Pullover kaufen wolle. »Der hier stinkt, finde ich.« Meine Äußerung reichte, um Herrn Kubitschek aus seiner Aquariums-Trance zu reißen. Er riss die Augen auf, starrte mich an und – spuckte mir ins Gesicht. »Hau ab, Du alte Ziege!«, blaffte er mich an und das tat ich auch. Erschrocken, geknickt und unglaublich ärgerlich über mich selbst. Was war das für ein dummes Spiel, wie unprofessionell, Herrn Kubitschek als Ventil für meinen Frust zu nehmen! Seine Reaktion hatte ich verdient, und ich fühlte mich noch schlechter als vorher.

Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, oder wie ich mich verhalten kann. Sogar an Kündigung habe ich schon gedacht. Aber das ist doch keine Lösung! Ich kann doch die Mitarbeiter hier nicht hängen lassen. Außerdem sieht das in meinem Lebenslauf ja wohl auch nicht gut aus: die erste Stelle schon nach ein paar Wochen aufgegeben.

Zudem hab ich ja auch schon was erreicht! Jawohl! Die WBLer haben sich mit mir schon wegen der Dokumentationen zusammengesetzt. Im Dienstplan zeichnet sich tatsächlich auch eine kleine Veränderung in Richtung Bezugspflege ab. Und die anderen Einrichtungen, etwa die beiden Krankenhäuser hier am Ort, kennen mich auch schon.

Vermutlich hat Cleopatra noch gar nicht mitbekommen, dass ich mich da vorgestellt habe. Allein wegen des Entlassungsmanagements muss ich doch die Ansprechpartner kennen! Also bin ich – unter dem Vorwand, den Blumenschmuck für die Beerdigung von Frau Büttner zu bestellen – in eines der Krankenhäuser marschiert. Das andere habe ich mit einem Besuch beim Ordnungsamt verbunden. Ja, auch hier wieder Heimlichkeiten. Ich musste glatt die Königin austricksen, um meinen Job zu machen.

Wahrscheinlich wäre es besser, Cleopatra direkt die Wahrheit zu sagen. Wenn sie herausfindet, dass ich mal eben in die Krankenhäuser marschiert bin, wird das sicherlich Folgen haben. Vielleicht ist es sogar besser, ihr direkt ins Gesicht zu sagen, dass ich kompetent bin! Zu kompetent und zu teuer für Blumenschmuck und Ordnungsamt!

Ich muss unbedingt noch mal auf meine Stellenbeschreibung gucken. Da wurden doch jede Menge Aufgaben genannt, die auf mich warten, für die ich eingestellt worden bin. Dummerweise liegt meine Stellenbeschreibung immer noch bei Cleopatra. Damit ich auch ja nicht tue, wofür ich eigentlich eingestellt wurde.

Dabei ist dieses Haus ein Paradies für schaffensfreudige PDLer: Die Pflegequalität ist unter aller Kanone. So schlimm, wie ich mir das nie hätte träumen lassen. Wahrscheinlich hat mir Frau Grütz, die Geschäftsführerin, deshalb diese Stelle so schmackhaft gemacht. Vielleicht wollte sie, dass hier mal scharf durchgegriffen wird. Oder hat sie einfach dringend eine neue PDL gesucht und die erste Dumme genommen, die des Weges kam? Weil es nicht so aufs Haus zurückfällt, wenn die nach ein paar Monaten schon wieder geht? »Ach, ja, die Frau Ludowich …«, heißt es dann bestimmt, »das war ja ihre erste Stelle hier und es war alles ein bisschen viel für sie …«

Okay, ich bin eine Anfängerin in diesem Job. Aber ich weiß doch, was ich gelernt habe! Das ernüchternde Ergebnis meiner bisherigen Stichproben bei Bewohnern und in den Dokus ist schlicht und einfach: Die Umsetzung der Expertenstandards hat nicht stattgefunden. Ich bin ziemlich sicher, dass die Geschäftsführung davon nichts weiß, denn im Vorstellungsgespräch hörte sich das ganz anders an.

Es ist schon erstaunlich, wie Cleopatra bisher verbergen konnte, dass in diesem Haus keine gute Pflege stattfindet. In der Öffentlichkeit ist davon nichts bekannt, denn sonst wäre die Auslastung nicht so gut. Sollte in diesem Haus allerdings jemals undercover ermittelt werden und Günter Wallraff sich als Pflegekraft einschmuggeln, dann gnade uns Gott. Cleopatras Reich würde mit Pauken und Trompeten untergehen. Vielleicht rührt daher ihr enormer Kontrollzwang und dieses Drangsalieren, was mich angeht. Vermutlich ahnt sie, dass ich viel tiefer blicke, als ihr lieb ist.

Und was ist mit meinem Reich? Wenn ich mich hier so umgucke, dann ist es höchste Eisenbahn, mal Ordnung in mein Büro zu bringen. Kaum bin ich drei Wochen hier, ist das totale Chaos ausgebrochen. Ich hasse es aufzuräumen! Das war noch nie meine Stärke. Aber ein Schreibtisch, der unter Akten und Formularen kaum zu sehen ist, Mappen auf den Fensterbänken, leere Sprudelflaschen in einer Zimmerecke und Kartons in der anderen sind kein Aushängeschild für mich. Schlimm, wenn das äußere Chaos dem inneren entspricht …

22. Januar

Der Lichtblick heute? Ich habe mit Peter, unserem Hausmeister, in seinem Kellerstübchen Kaffee getrunken. Da unten ist es so schön ruhig und Peters Gegenwart tut mir gut, weil er einen einfachen und unverstellten Blick auf die Dinge hat. Manchmal würde ich wirklich gern mit ihm tauschen. Ich glaube, er genießt unter allen Mitarbeitern des Hauses den größten Freiraum.

23. Januar

Gestern fand ich in meinem Taschenkalender einen Spruch, den ich erst überblätterte, aber die Seite schlug sich dann doch von ganz allein wieder auf – Zufall? »Humor ist, wenn man trotzdem lacht!« Ich hätte heulen können. Traurig bin ich, angreifbar und verletzlich. Mir fehlt der klare Kopf, um strategisch vorzugehen. Martin ist schon richtig besorgt um mich, denn natürlich bin ich auch zu Hause anders als sonst. Vielleicht ist es gut, über Humor nachzudenken.

Bis morgen, liebes Tagebuch! Ich hab mich schon richtig an Dich gewöhnt. Es tut gut, am Ende eines Tages meine Gedanken aufzuschreiben. (Dass ich das auch in der Einrichtung, an meinem dienstlichen Schreibtisch mache, wissen nur du und ich!)

Heute mache ich pünktlich Schluss und gehe zur Gymnastik: Bauch, Beine, Po mit Mike. Er ist ein echter Trainer: motivierend, freundlich und oft genug auch tröstlich.

24. Januar

Im Internet gibt es eine ganze Menge über Humor. Mehr zu lachen würde mir gut tun. Am besten schon auf dem Weg zur Arbeit! Heute Morgen lächelte ich mich selber im Autospiegel an. Sah vielleicht komisch aus, aber andere Leute machen ja auch merkwürdige Sachen im Auto. Heute an der Ampel hielt neben mir ein roter Golf, der mir bekannt vorkam. Dann sah ich, dass Frau Heinze, unsere Hauswirtschaftsleitung, am Steuer saß. Sie drückte sich einen Pickel aus und war so versunken in diese Tätigkeit, dass sie mich nicht bemerkte. Es war eklig-lustig.

Das Lächeln hilft tatsächlich. Wenn ich mich selber anlächle, werde ich glücklicher – zumindest für einen kleinen Moment. Sogar das Gesicht von Cleopatra wirkt weniger bedrohlich, wenn ich dabei von innen lächle. Dieses Lächeln bringt Energie. Es gibt sogar eine Wissenschaft vom Lachen, die Gelotologie. Da heißt es, dass Lachen gut sei gegen Stress, gegen Schmerzen und fürs Immunsystem. Die inzwischen bekannten Klinikclowns sind also nicht nur ein lustiger Zeitvertreib, sondern haben einen messbaren Einfluss auf die Menschen.

Andere zum Lachen zu bringen – auch so eine neue Idee von mir, die ich heute in der Frühstückspause umgesetzt habe. Die Kollegen guckten allerdings irritiert aus der Wäsche, denn ich hatte mir eine Scherzfrage gemerkt, die ich zum Besten gab:

»Ein Butterbrot fällt immer mit der Butterseite nach unten. Eine fallende Katze landet immer mit den Füßen auf dem Boden.

Frage: Was passiert, wenn man der Katze ein Butterbrot auf den Rücken bindet?«

Es gab zumindest etwas Gelächter, aber noch mehr verwunderte Blicke. Das kennen sie gar nicht von mir, dass ich mal für einen Scherz sorge. Auch das sollte mir zu denken geben.

Heute Nachmittag nahm ich mir ein weiteres Mal das Konzept der Pflegevisiten vor. Es geht hier nicht nur um den guten Eindruck beim MDK. Ich bin von diesem Konzept überzeugt und während meiner PDL-Ausbildung hatte das Thema einen großen Stellenwert. Einige Mitschüler schrieben darüber ihre Abschlussarbeiten. Vielleicht sollte ich mir diese Arbeiten mal besorgen? Ich muss das Rad doch nicht neu erfinden! Dann kann ich auch endlich mal gucken, wo der nette Andreas abgeblieben ist, der einer meiner liebsten Mitschüler war.

Oh, jetzt meldet sich WB 2 wegen des neuen Bewohners. Petra, die WBL, kommt eben vorbei. Muss weg.

Später

Zoogeschichten aus dem Altenheim: Im Zimmer von Herrn Klaasen, dem neuen Bewohner, waren mehr als zehn Tauben! Mitten im Zimmer! Cleopatra stand zwischen den flatternden Viechern – es sah beinahe aus wie auf dem Markusplatz in Venedig – und drohte Herrn Klaasen damit, den Kammerjäger zu rufen. Herr Klaasen hörte nicht mal zu. Er saß friedlich auf seinem Bett, zerkrümelte trockenes Brot und lockte die Tauben, die auf seinem Bett landeten und leise gurrten. Cleopatra kapitulierte schließlich und rauschte an mir und Petra vorbei zur Tür hinaus. »Sie«, sagte sie zu Petra, »sorgen hier für Ordnung!«

Herr Klaasen macht es uns wirklich nicht leicht. Seit gut zwei Wochen wohnt er jetzt hier und lockt ganz gewöhnliche Straßentauben in sein Zimmer. Es ist ein ganz verrückter, fast surrealer Anblick, wenn man zu ihm ins Zimmer kommt. Mindestens drei Tauben flattern hoch, wenn die Tür aufgeht. Sie schwirren ab in Richtung Fenster und zurück bleibt ein wahres Krümellager, was Herrn Klaasen aber nicht stört. Er stibitzt heimlich Brot aus der Teeküche, damit er immer genug Futter für die Tauben hat. Leider hat sein Hobby einen echten Nachteil: Das ganze Zimmer stinkt, denn stubenrein sind die ollen Viecher natürlich nicht. Das nervt die Pflegekräfte, das nervt die Reinigungskräfte und es ist ein Hygieneproblem. Tauben sind nun mal nicht die saubersten Tiere. »Ratten der Lüfte«, äußerte sich Petra kürzlich pikiert.

Humor ist, wenn man trotzdem lacht? Das gelingt mir in diesem Fall nicht. Ich ekle mich vor Herrn Klaasen, vor dem Geruch und dem ganzen Zimmer. Hut ab vor den Mitarbeitern, die hier Bezugspflegekräfte sind. Sie stehen jeden Tag vor demselben Problem: Herr Klaasen möchte nicht gewaschen, geduscht oder gebadet werden. Wenn ich bedenke, dass er früher Tauben gezüchtet hat, sind die Tiere ja eigentlich eine Ressource. Wir finden sein Verhalten aber absolut herausfordernd und wünschen uns alle, dass er einfach sauberer wäre.

Apropos Ressource: Ich muss doch gleich mal in die Pflegeplanung und seine Biografie schauen, ob die vom WB das dort überhaupt aufgeführt haben. Vielleicht ist Herr Klaasen auch genau der Bewohner, bei dem wir exemplarisch mit der Pflegevisite starten können? Ich muss morgen mit Petra darüber sprechen, denn Interesse hat sie ja signalisiert. Bestimmt gibt ihr das auch wieder Auftrieb, denn sie ist total frustriert, weil sich ihr Freund von ihr getrennt hat. Das hat sie mir anvertraut, als ich sie vergangene Woche auf ihre traurige Miene ansprach. Für sie war er die große Liebe und sie hatte sich gemeinsame Kinder gewünscht. Bin ich froh, dass bei Martin und mir diesbezüglich alles in Ordnung ist!

Später, zu Hause

Auf dem Rückweg vom Heim war ich noch schnell einkaufen. Beim Essen merkte ich dann aber, dass ich gar keinen Appetit hatte. Mein Ekel wegen Herrn Klaasen kam wieder hoch und ich musste mich sogar übergeben. Immerhin gab es dann noch einen witzigen Film im Fernsehen – extra für meinen Humortag!

25. Januar

PFLEGEDOKU!! Ich kann es einfach nicht fassen. Die Mitarbeiter haben es immer noch nicht geschnallt. Ich könnte mir die Haare ausreißen, so ärgert mich das. Da steht Nicole am Nachmittag vor mir und mault: »Ich weiß einfach nicht, wie ich mit dem Pflegebericht umgehen soll! Keine Ahnung, was da reingehört!« Ich habe mit ihr bestimmt schon mehr als 20 Mal wegen des verdammten Pflegeberichts zusammen gesessen. Sie raubt mir echt den letzten Nerv. So begriffsstutzig kann man doch gar nicht sein!

Sie schreibt tatsächlich solche Einträge wie:

»Bew. war aggressiv«

»Bew. wehrte sich gegen die Pflege«

»Bew. sagte wieder das … Wort«.

»Bew. o. B.«

Wäre sie nicht die Nichte von Cleopatra, hätte sie – zumindest von mir – schon lange eine Abmahnung bekommen. Aber mit Personalentscheidungen habe ich hier ja nichts zu tun. Das macht alles Cleopatra.

Also habe ich Nicole für eine erneute Fortbildung zum Thema Pflegedoku angemeldet. Es ist ihre dritte! Sie zuckte nur matt mit den Schultern, was sonst? Aber dann fand ich doch noch einen Weg, der sie (und mich) ein wenig erheiterte: Wir formulierten gemeinsam am Beispiel ihrer Bewohner die Einträge für den heutigen Pflegebericht. Hinterher bedankte sie sich sogar. Ein schönes Gefühl – gerade in meinem Ärger über sie.

Humor? Gab es dazu etwas heute? Das Lächeln im Auto hat wieder geklappt, und über einen Witz der Zivis habe ich auch gelacht. Ich selbst habe nichts Lustiges hingekriegt. Vielleicht sollte ich versöhnlicher mit mir umgehen. Schwer gestresste Menschen verdienen auch mal Mitgefühl und ich bin schwer gestresst.

28. Januar

Dieses Haus ist eine Katastrophe! Heute fand ich bei der Kontrolle des Materiallagers eine Sammlung mit alten Mercurochrom-Flaschen. Ich hatte gleich in der ersten Woche gesagt, dass dieses Zeug verbannt werden sollte. Schließlich enthält es noch Quecksilber und außerdem verfärbt es die Haut derart, dass sich der Zustand nicht mehr richtig beurteilen lässt. Ich dachte, eine einmalige Aufforderung würde reichen. Nichts da. Jahrelang war es wohl egal, was sie zur Wundversorgung nahmen. Warum sollten sie jetzt, wo ich da bin, etwas ändern? Aber ich fühlte mich regelrecht hintergangen. Was für ein Frust!

Leider kam mit dem Frust auch der Verlust jeglicher Haltung. Ich habe richtig rumgetobt, mit Worten, von denen ich bisher nicht wusste, dass sie zu meinem Wortschatz gehören. Vollkommen daneben! Wie ein HB-Männchen bin ich über den Wohnbereich gerast. Glücklicherweise erschien Peter dann auf dem Flur und hatte »eine ganz wichtige Frage«. Ich stoppte also ab und folgte ihm. Fakt war: Seine wichtige Frage lautete: »Hätten Sie gern einen Kaffee, Frau Ludowich?«

Nach dem Kaffee ging’s mir besser und Peter, der die Kollegen auf eine ganz andere Art kennt, ermutigte mich, eine zweite Runde über die Wohnbereiche zu drehen und mich zu entschuldigen. Dank Peters Intervention konnte ich mein Ansehen einigermaßen restaurieren. Es war gut, zu meinem Fehlverhalten zu stehen. Ein Punkt für mich!

Auf jeden Fall gehe ich jetzt zum Sport, offensichtlich habe ich zu viel Energie.

4. Februar

Ein Montag wie viele. 9.00 Uhr Sitzung mit der Leitungsebene. Cleopatra muss schon Schwielen an den Händen haben, so fest hält sie das Zepter. Drei Stunden hat die Sitzung gedauert, rausgekommen ist das Übliche: Es kreist der Berg und gebiert eine Maus. Mit anderen Worten, es kam nicht viel dabei raus.

Frau Heinze, die Hauswirtschaftleitung, war allerdings ganz begeistert von der Idee der Pflegevisite. »Wir könnten dann gleich den Ernährungsstatus und die Essbiografie mit erheben!«, sagte sie und lächelte mir zu. Klasse – Rückenwind! Cleopatra machte große Augen. Bestimmt gibt es wieder diesen subtilen Ärger hinterher. Oder Extragespräche mit mir, dass der Blumenschmuck neuerdings zu wünschen übrig ließe etc. – ich kenne es auswendig.

Abwarten, was kommt. Locker bleiben und lächeln! Es soll ja positiv sein, wenn man lächelt, ohne dass einem danach ist. Das Gehirn registriert, dass die Muskeln lächeln und ist deshalb besserer Stimmung … Aber verflixt noch mal, es ist so anstrengend!

Immerhin scheint Frau Heinze eine neue Verbündete im Kampf gegen Cleopatra zu werden, welch ein Trost.

Später

Cleopatra bestellte mich natürlich in ihr Zimmer, um die Sache mit der Pflegevisite endgültig zu klären. Mir brach der Schweiß aus und ich stand mit verkrampften Fingern da wie blöd. Sie war sauer, weil ich das Thema Pflegevisite einfach vorgeschlagen hatte, ohne ihr vorheriges Einverständnis einzuholen. »Das sind nicht Ihre Kompetenzen, hören Sie? Neuerungen sind meine Aufgabe! Hier kann doch nicht ein Neuling wie Sie …« So ging es mindestens zehn Minuten lang weiter.

Doch dieses Mal schaffte ich es, anders als bisher damit umzugehen. Ich schaltete auf Durchzug: linkes Ohr rein, rechtes gleich wieder raus und starrte nach draußen. Dort saßen sechs fette Tauben. Mensch, dachte ich, der Klaasen hat recht. Tauben sind eigentlich ganz hübsch und sie gurren so schön beruhigend!

Cleopatra pendelte sich zwischenzeitlich wieder auf ihren normalen Erregungspegel runter. »War es das dann?«, fragte ich am Schluss patzig, ließ sie einfach sitzen und ging an meine Arbeit. Dieses Mal war meine Uhr nicht stehen geblieben. Wieder ein Punktsieg für mich!

Unten angekommen, begrüßte mich im Postfach gleich eine Mail von ihr: »Ermitteln Sie umgehend, wie hoch die Belegung in den anderen Häusern hier im Stadtteil ist.« Das hört sich verdammt nach Strafarbeit an! Pah, das muss warten, eben hat Martin mir eine SMS geschickt. Er wartet heute Abend beim Italiener auf mich. Was für ein Schatz!

5. Februar

Ein weiterer Sieg! Nicole hatte mir einen Zettel ins Fach gelegt. Sie hat sich tatsächlich getraut, ihre Einträge im Pflegebericht der letzten drei Tage zu kopieren und mir zu zeigen.

»Frau K. wusch nach Aufforderung heute das Gesicht.«

»Herr R. sprach während der Körperpflege von seinem Enkel. Der mache gerade eine lange Reise.«

Ist das nicht super? Da hat sie doch ein dickes Lob verdient! Das bekam sie auch und freute sich. Was für ein guter Einstieg in den Tag!

Mich konnte heute nichts erschüttern. Nach dem gestrigen Abend und der Nacht war ich voller Lebensfreude und Power. Cleopatra kann mich mal!

Ansonsten war es ein ganzer normaler Tag – mit einem extra unerfreulichen Highlight: Die Küche leistete sich einen neuen Negativrekord. Mehr als die Hälfte der Bewohner aß die Mittagsmahlzeit nicht, denn es gab braune Soße mit Kartoffelbrei (natürlich aus der Tüte) und Senfgurken, die so glasig waren, dass man sie gar nicht erkennen konnte. Frau Kubitschek war dementsprechend auf 180: »Wie kann man uns so etwas vorsetzen? Das ist ungeheuerlich! – Ich erwarte, dass der Koch sofort kommt und dieses Essen vor meinen Augen selber isst!« Sie schaffte es sogar, sich von ihrem Rollstuhl zu erheben, mit einer Hand am Tisch festzuhalten und mit der anderen wie ein Revoluzzer herumzufuchteln: »In den Hungerstreik müsste man gehen!«

Die Pflegekräfte hatten im Nachhinein jede Menge Arbeit, um die schlechte Laune der Bewohner aufzufangen. Denn im Zweifel kriegen sie den Frust ab.

Gut, dass ich so selten wie möglich hier im Hause esse. Frau Heinze sollte das eigentlich besser geregelt kriegen. Sie ist doch eine klasse Kollegin und ein gestandenes Weibsbild!

Wenigstens gab es bei den heutigen Dienstübergaben nichts zu bemängeln! Kompliment, meine Lieben.

Morgen muss ich wieder zum Ordnungsamt wegen der zwei neuen Bewohnerinnen. Zum ersten Mal haben wir ein Geschwisterpaar im Haus. Vielleicht nehme ich auf dem Weg gleich meine neue Hose mit zur Schneiderin. Dann kann ich abends gleich nach Hause fahren.

Später

Weg ist die gute Laune! Cleopatra hat mir zum Feierabend eine Mail geschickt. »… sehen Sie bitte davon ab, Mitarbeiter zu Fortbildungen zu schicken, ohne das vorher mit mir besprochen zu haben. Um Nicole werde ich mich selbst kümmern!«

Mir kamen die Tränen und ich raste im Schweinsgalopp zu meinem Auto. Da konnte ich wenigstens ungesehen heulen. Diesen Triumph, mich heulen zu sehen, hätte ich Cleopatra nicht gegönnt.

Schluss für heute!

6. Februar

Heute Nacht hatte ich einen Alptraum. Ich war im Medikamentenraum, um die Bedarfsmedikation für Frau Michel zu holen, eine Bewohnerin mit starken Tumorschmerzen. Im ganzen Raum lagen geöffnete Packungen und Fläschchen herum. Als ich mich bückte, um ein paar Tabletten aufzunehmen, zerbröselten sie mir unter den Händen und rochen nach Orange. Es waren Brausetabletten! Aus den Flaschen rieselte Ahoi-Brause und durch die Decke hörte ich die Schreie von Frau Michel, die von ihren Schmerzen gequält wurde, während ich hilflos da stand. Schweißgebadet wachte ich auf.

Offensichtlich nimmt mich alles viel mehr mit, als ich gedacht habe. Dieser Traum hat einen durchaus realen Hintergrund, denn tatsächlich spielten Brausetabletten mal eine unrühmliche Rolle in meinem Leben als Altenpflegerin. Ich habe als junge Pflegekraft in einem privaten Heim gearbeitet, in dem sich die Heimleitung stets freundlich und modern gab, aber an allem sparte. Das ging so weit, dass alle vermuteten, sie würde an der eingesparten Summe beteiligt. Es war nur ein kleines Heim mit 40 Bewohnern. Wasser gab es, aber keine Säfte oder andere Kaltgetränke mit Geschmack. Bewohner, die es sich leisten konnten, kauften sich ihre Getränke selbst.

Damit das Wasser nicht ganz so fade schmeckte, dachte sich die Heimleitung zum Mittagessen einmal etwas ganz Besonderes aus: Es gab für jeden Bewohner ein Glas Leitungswasser mit einer geviertelten Multivitamin-Brausetablette darin. Die Bewohner starrten stumm auf das Glas. Einige nippten vorsichtig an der dunkelgelben Flüssigkeit, andere fassten das Glas nicht mal an.

Unsere Aufgabe war es zuvor gewesen, die Brausetabletten mit Messern jeweils in ordentliche Viertel zu zerteilen. Damals war ich noch so unerfahren und habe einfach mitgemacht. Nie hätte ich mich getraut, den Mund aufzumachen. Wie heute bei Cleopatra.

Schon wieder ist sie in meinem Kopf! Ich warte nur darauf, dass sie mir im Traum erscheint! Irgendetwas Menschenfreundliches muss sie doch haben! Warum ist sie sonst in dieses Berufsfeld gegangen?

Bestimmt steckt hinter all ihrer Härte eine gute Absicht. Aber welche könnte das sein? Ganz sicher ist sie mit ihrer negativen und herrischen Haltung selbst ganz unglücklich. Vielleicht hat sie keine glückliche Kindheit gehabt. Aber so einfach kann es dann auch wieder nicht sein. Außerdem will ich sie ja gar nicht entschuldigen! Ich möchte besser mit ihr klar kommen! Ich will auch wieder mehr Freude und Energie haben!

Gott, das ist schwer. Ich finde einfach rein gar nichts Sympathisches oder Menschliches an ihr.

7. Februar

Eben brachte Lena eine Krankmeldung vorbei. Sabrina hat sich, ohne Angaben von Gründen, krank gemeldet. »Keine Ahnung, was los ist«, sagte Lena kopfschüttelnd. »Das war ein komisches Gespräch. Mir kam es so vor, als wollte Sabrina noch mehr sagen, hat sich aber irgendwie nicht getraut.«

Sabrina ist eine unserer Auszubildenden. Eine von denen, die gleich dem charmanten Tobias, einem unserer Zivis, auf den Leim gegangen sind. Vermutlich wäre mir in ihrem Alter das Gleiche passiert. Seit Tobias da ist, macht er alle jungen Kolleginnen verrückt. Sie arbeiten nicht unbedingt schlechter, sie sind nur unglaublich albern, wenn er in der Nähe ist. Es hat aber auch Vorteile: Sie sind munterer als vorher. Nur Sabrina sieht, wenn sie Frühdienst hat, wesentlich müder aus als früher. Offensichtlich läuft da was. Wenn sie wieder da ist, rede ich mal mit ihr. Ist ja auch schön, so eine kleine Liebesgeschichte. Die Bewohner mögen das auch, das erinnert sie an ihre Jugend.

Allerdings ist Frau Ehse tatsächlich in Tobias verliebt. Mit über 90 Jahren! Wenn er da ist, trägt sie ihre besten Sachen, schminkt sich und wählt aus ihrer Schatulle den Modeschmuck aus, der am meisten funkelt. Sie bürstet neuerdings täglich ihre Perücke und trägt sie wieder. Das hat sie vorher nicht mehr gemacht. Laut Pflegeplanung hat sie sich sehr vernachlässigt und war tieftraurig. Nun steht sie oft sehnsuchtsvoll wartend am Hauseingang. Sogar Liebesbriefe schreibt sie ihm und manchmal steckt sie ihm sogar Geld in die Tasche. Tobias geht mit all der Aufmerksamkeit freundlich distanziert um, aber natürlich schmeichelt es ihm. Jedes Lächeln von ihm verstärkt wiederum ihre Gefühle für ihn. Zudem ist sie auch eifersüchtig auf Sabrina und will sich von ihr nicht mehr zur Toilette begleiten lassen.

Das Taubenproblem sitzt mir auch noch im Nacken. Herr Klaasen füttert nach wie vor die Tauben in seinem Bett. Seine Tochter hat versprochen, eine Lösung zu finden. Unseren Vorschlag, einen Kammerjäger zu engagieren, hat sie vehement abgelehnt: »Ich kann das nicht bezahlen! Sie müssen eine andere Lösung finden, bitte, Frau Ludowich.«

Mir gefällt es, dass die Angehörigen offen mit mir sprechen. Wahrscheinlich sind sie froh, eine Ansprechpartnerin zu haben, die freundlich ist und deren Büro so zentral liegt wie meines.

Wie hat Cleopatra es nur geschafft, das Haus vollzubekommen, wenn selbst Angehörige oder potenzielle Kunden den Kontakt zu ihr meiden?

Morgen will ich die Dienstpläne kontrollieren und das gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsaufgaben. Vor allem, weil Cleopatra immer noch mal drüberschaut und mindestens an vier meiner Veränderungen wieder Veränderungen vornimmt, nur um das letzte Wort zu haben.

8. Februar

Ich bin müde, unendlich müde. Der Tag war eine Katastrophe. Das Telefon klingelte permanent, es kamen Angehörige und Kollegen, Kollegen und Angehörige – und mitten drin der Dienstplan. Ich mag nicht mehr. Selbst zum Sport habe ich heute keine Lust. Ich geh zum Abendbrot mal wieder zu Mutti, ich könnte ein bisschen Bemutterung gebrauchen. Vielleicht bekommt der Tag so einen guten Abschluss?

Später

Bei Mutti ist es doch einfach am Besten! Der Abendbrottisch war gedeckt, als ich kam, der Tee bereits fertig und die ganze Wohnung atmete Sauberkeit und Ruhe. Ich kam mir vor, als sei ich wieder ihr kleines Mädchen. »Na, Du hast aber lange Arbeitstage!«, sagte Mutti und umarmte mich zur Begrüßung. Sie hängte meine Jacke auf und schob mich in Richtung Küche. »Jetzt setz Dich erstmal und iss etwas.« Ein prüfender Blick. »Du isst nicht genug, Paula. Ich sehe das!« »Ja, Mutti«, sagte ich friedlich, schenkte mir Tee ein, nahm einen großen Schluck – und raste zum Spülbecken. »Was ist das denn?«, rief ich. Mutti sah mich erschrocken an, trank ebenfalls Tee und spuckte ins Waschbecken. »Das ist Kaffee«, riefen wir beide gleichzeitig und lachten. »Oh, da habe ich das Pulver verwechselt«, meinte Mutti und machte sich gleich daran, »richtigen« Tee zu kochen.

»Im Alter werde ich doch noch tüdelig«, meinte sie später. »Erst neulich habe ich die Kaffeemaschine angestellt und dann erst gemerkt, dass ich gar kein Wasser reingegossen habe!« Ich angelte mir ein weiteres Wurstbrot vom Teller – Mutti hatte Schnittchen gemacht – und erzählte von Peter, der Kaffeemaschinen reparieren kann. Aber Mutti hob gleich abwehrend die Hände. »Nein, nein, nur keine Umstände! Ich habe doch noch den guten Porzellanfilter. Frisch gebrühter Kaffee schmeckt ohnehin besser als der aus der Maschine.«

11. Februar

Heute steckte mir Frau Heinze, dass es hier im Haus schon mal Pflegevisiten gegeben hat. Eingeführt vor gut anderthalb Jahren von meiner Vorgängerin und in Windeseile stellte sich ein Pflegefehler nach dem nächsten heraus. Cleopatras Strategie? Sie »verbot« kurzerhand die Pflegevisite. »Wir leisten hier seit Jahren gute Arbeit«, soll sie zur PDL gesagt haben. »Diese Verwaltungsarbeit scheint uns nicht dabei zu helfen, besser zu werden. Ich halte das eher für eine Demotivation meiner Mitarbeiter und das kann ich nicht gutheißen.« Frau Heinze war im Übrigen der Überzeugung, dass Cleopatras Strategie, die Dinge einfach totzuschweigen, auch meine Vorgängerin in die Flucht geschlagen hat.

Sehr interessant, diese Information. Jetzt ist mir klar, warum Cleopatra auf meinen Vorschlag so sperrig reagierte! Ich frage mich, wie eine so inkompetente Person wie sie auf eine solche Stelle kommen konnte! Will sie diesen Posten bis zu ihrer Rente besetzen? PDLer kann sie ja jederzeit anstellen und wieder rausschmeißen. Cleopatra aber sitzt und sitzt und sitzt auf ihrer Stelle als Einrichtungsleitung.

Notiz: Unbedingt Conny anrufen. Die erzählte mir beim letzten Telefonat etwas von einem Peter-Prinzip.

12. Februar

Es gibt viel zu tun, die beiden Schwestern sind nicht richtig aufgenommen worden. Als ich heute die Mappen kontrollierte, musste ich feststellen, dass Stammblatt und Pflegeanamnese bis auf ein paar Fakten wie Geburtstag etc. leer waren.

Dabei haben die zwei Schwestern nach fast 80 Lebensjahren doch sicherlich eine spannende und ungewöhnliche Lebensgeschichte. Beide sind sehr gepflegt und gehen sehr liebevoll miteinander um. Als ich vor ein paar Tagen in ihrem Zimmer vorbeischaute, lagen sie auf ihren Betten und riefen sich gegenseitig voller Zuneigung beim Namen. »Martha, Martha«, rief die eine. »Anna, liebe Anna«, antwortete die andere. Ich habe noch nie zwei Schwestern zusammen im Heim erlebt. Martha und Anna haben eine Nähe und Vertrautheit miteinander, um die sie zu beneiden sind.

Mit Claudia, der WBL vom WB 1, habe ich nachher ein Treffen. Wir gehen »die Aufnahmen«, wie es hier heißt, noch mal durch.

Schon wieder eine Mail von Cleopatra: »Bestellen Sie dringend noch heute den Grabschmuck für Frau Zech!« Als ob ich nichts anderes zu tun hätte! Aber ich mach’s. Dann bin ich mal kurz draußen und bekomme ein bisschen Abstand von allem. Ätsch!

Später

Claudia ist doch echt eine Nummer! Erst serviert sie mir absolut lückenhafte Aufnahmen und beim Gespräch zeigt sie dann, dass sie viel mehr kann. Erstaunlich, was ihr alles noch eingefallen ist und wie viele Fragen sie plötzlich hatte! Ob es gut war, dass sie die Schwestern schon zu Hause aufgesucht hatte? (Ja klar, wo sonst liegen, stehen und hängen all die Andenken an das gelebte Leben?) Ob sie auch das hineinschreiben soll, was ihr der Nachbar erzählt hatte? (Aber klar!) … Claudia kann es offensichtlich doch, wahrscheinlich fällt ihr die Arbeit zurzeit einfach schwerer als sonst. Ihr Sohn ist oft krank und sie hat Stress mit der Betreuung. Ärgerlich ist aber, dass die Qualität ihrer Arbeit darunter leidet. Ich habe ihr deutlich ins Gewissen geredet und rechne natürlich mit erneutem Ärger bei Cleopatra. »Erdreisten Sie sich nicht noch einmal, meine Angestellten zu kritisieren!« Ja, ich kann sie tatsächlich hören – auch wenn sie gar nicht da ist.

13. Februar

Der gestrige Abend mit Martin hat mir gut getan. Statt vor dem Fernseher abzuhängen, haben wir uns Zeit füreinander genommen. Sind einfach früh ins Bett … und entsprechend spät eingeschlafen. Auf jeden Fall fühle ich mich heute frisch und begehrenswert, einfach voller Energie. Diesen Tag verdirbt mir keiner!

Ich werde einen Außentermin einlegen, schließlich muss ich wegen der Neuaufnahme ohnehin ins Krankenhaus. »Neuaufnahme« – wie das klingt! Ich meine natürlich den »Einzug der neuen Bewohnerin«.

Später

Heute Nachmittag war das erste Treffen mit den WBLern wegen der Pflegevisite. Ich war so voller Energie und Lebenslust, dass ich glatt Cleopatra dazu eingeladen habe – und sie kam! Die Moderation der Sitzung hatte ich und so ging ich in die Vollen:

»Wie haben Sie es die ganzen Jahre ohne Pflegevisite hinbekommen?«

Cleopatra zupfte sich ein Stäubchen vom Ärmel und sah mich schweigend an. Ich setzte nach: »Wie haben Sie sich über die geleistete und machbare Pflegequalität bei den Bewohnern informiert?«

»Frau Ludowich, Sie müssen eines wissen«, begann Cleopatra nun in ruhigem Ton, den sie offensichtlich für debile PDLer reserviert hat, »tatsächlich sind Pflegevisiten für uns nichts Neues. Allerdings war die Einführung mangelhaft.« Sie blickte die WBLer an. »Die Mitarbeiter wurden nicht mitgenommen, sondern vielmehr demotiviert.« Die WBLer nickten wie eine Herde kleiner Schafe. »Insofern entschied ich dann zum Wohle meiner Mitarbeiter«, sagte Cleopatra abschließend, »die Pflegevisiten zunächst auszusetzen.«

Wie schön, dachte ich. Dann wollen wir aus dem Aussetzen mal ein Einsetzen machen. Ich bewunderte insgeheim, wie geschickt Cleopatra sich aus dem Pflegevisiten-Drama hinausmanövrierte und den Schutz für ihre Mitarbeiter nachhaltig betonte. Kein Wunder, dass die WBLer alles mittragen, was Cleopatra so anordnet. Sie versteht es, den neuen Versuch mit dem Pflegevisiten als ihre Idee zu präsentieren, mit deren Einführung sie eigentlich nur auf mich gewartet hätte. »Schließlich ist dies das originäre Feld einer PDL«, sagte sie später in meine Richtung und ermunterte dann sogar die WBLer, ihre Wünsche, Erwartungen und Einwände an eine Pflegevisite zu formulieren. Es war auch dieses Mal wieder erstaunlich, wie Cleopatra eine Sitzung dominiert. Ist sie still, sind es alle anderen auch. Erwärmt sie sich aber für ein Thema, hakt jeder ein und bringt eifrig seine »eigene« Meinung zum Ausdruck. Und ich sitze da und reibe mir die Augen vor Verwunderung.

Das Ergebnis der heutigen Sitzung hat mich tatsächlich sprachlos gemacht: Cleopatra hat eine Fortbildung angeordnet! Durch mich! In der übernächsten Woche! Zunächst hatte ich das Gefühl, endlich einen Durchbruch geschafft zu haben, aber Cleopatras Rache war perfide. »Die Fortbildung sollte nicht länger als eine Stunde dauern«, sagte sie und blickte mich an, »und ich stimme Ihrem Vorschlag zu, sie in der Mittagszeit zu machen.« Die Mienen der anderen verdüsterten sich. Fortbildung statt Mittagspause? Eine echt tolle Idee und ich sah den Gesichtern der WBLer an, dass sie richtig wütend auf mich waren (obwohl ich nie vorgeschlagen hatte, die Fortbildung in einer Mittagspause zu halten, aber ich kam gar nicht dazu, das richtig zu stellen). Cleopatra setzte dem Fass noch rasch die Krone auf: »Selbstverständlich werde ich anwesend sein.«

Und ich? Ich hielt den Mund. Ich bin so dämlich, dämlich vor lauter Angst! Dabei weiß doch jeder, dass Fortbildungen in der Mittagspause vergebliche Liebesmüh sind. Die Kollegen sitzen im Dämmerzustand mit halb geschlossenen Augen am Tisch, während man eine Folie nach der anderen auflegt. Der Wissenszuwachs strebt gegen Null.

Aber ich mache es! Anders werde ich die Pflegevisiten bei Cleopatra nicht durchkriegen. Ich nehme jetzt diesen kleinen Hoffnungsschimmer, diesen Miniatur-Sieg lasse ich mir nicht nehmen.

18. Februar

Sabrina kam heute wieder zur Arbeit bzw. gleich in mein Büro, denn ich wollte unbedingt mit ihr reden. Wir setzten uns in meine kleine Sitzecke, weil ich die etwas persönlichere Atmosphäre des Gesprächs betonen wollte.

»Du bist eine gute Pflegekraft, Sabrina«, begann ich. »In Dir steckt viel Potenzial und deshalb möchte ich wissen, ob Deine Krankmeldung etwas mit der Arbeit zu tun hat.« Sie rutschte unbehaglich auf dem Sesselchen hin und her, aber ich blieb hart: »Ich will Dich nicht kritisieren oder zwingen, aber mir scheint, dass Deine plötzliche Erkrankung eher psychischer Natur war. Habe ich recht?«

Sabrina schaute zu Boden und saß da wie ein Häuflein Elend. Ich sah sie an und erinnerte mich an eine Geschichte aus meiner Ausbildungszeit. Da hatte ich mich mal über Pfingsten einfach krank gemeldet, weil wir in unserer Wohngemeinschaft einen Ausflug geplant hatten. Ich wollte unbedingt dabei sein und machte mir nicht im Mindesten Gedanken darüber, was meine »Krankmeldung« für meine Kollegen bedeutete: Sie mussten eine Vertretung organisieren, Urlaub umlegen, Kinderbetreuung managen und und und. Ich hatte einfach nur an mein Vergnügen gedacht. Erst Wochen später bekam ich mit, wie viel Ärger das für meine Kolleginnen bedeutete und schämte mich. Wahrscheinlich hatte ich da genauso ausgesehen wie Sabrina jetzt.

»Ich war nicht wirklich krank«, stieß sie schließlich hervor. »Ich hätte arbeiten können, aber ich war mir unsicher, ob das richtig gewesen wäre.« Ich sah sie erstaunt an und sie wurde dunkelrot im Gesicht. Als sie schließlich sprach, stand mir fast der Mund offen. »Ich bin … war mit Tobias zusammen«, flüsterte sie, »und da habe ich mir Filzläuse geholt.« Großer Gott, dachte ich, ist das peinlich!

Ich atmete tief durch und wusste, dass ich ernst bleiben musste. Sonst wäre es um das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte, geschehen. Dieser Tobias! Was für ein Filou! Möglichst sachlich dankte ich Sabrina für ihr Vertrauen und versicherte ihr, dass ihre Entscheidung durchaus richtig gewesen war. »Aber es wäre schön gewesen, wenn Du mich vorher darüber informiert hättest«, sagte ich.

Sie nickte eifrig und war offensichtlich erleichtert. »Ich will mich auch mehr ins Zeug legen«, versicherte sie mir, stand erleichtert auf und wir gaben uns die Hand. »Ich bin mir sicher, dass Du eine gute Pflegekraft bist und das auch in Zukunft zeigen wirst«, sagte ich. »Manchmal muss man Fehler machen, um daraus zu lernen.«

Was für ein Gespräch! Aber ich finde, ich habe mich in meiner Rolle als Führungskraft tapfer geschlagen. Ich glaube auch, dass die meisten Mitarbeiter mit meiner klaren und doch menschlichen Art, Dinge zu nennen, gut zurechtkommen. Zumindest jene, die nicht so sehr unter Cleopatras Bann stehen.

Außerdem bemühe ich mich, allen Mitarbeitern meine Wertschätzung zu zeigen. Das ist allerdings auch unverzichtbar, denn oft genug geht ja mein Temperament mit mir durch. Eigentlich komisch, dass ich das immer noch nicht im Griff habe. Aber ich schaffe es mittlerweile zumindest, mich hinterher zu entschuldigen. Und meine sogenannten »Anfälle« werden kürzer.

Für die Fortbildung zur Pflegevisite habe ich mir übers Haus zwei Bücher zum Thema gekauft. Frau Schneider in der Verwaltung hat die Bestellung ohne mit der Wimper zu zucken abgenickt. Das geht also glatt an Cleopatra vorbei. Wie erleichternd!

Jetzt muss ich noch dringend klären, ob wir hier im Hause ein Flip-Chart oder gar Moderationswände haben. Die brauche ich für die Fortbildung, denn einen einstündigen Folienvortrag werde ich nicht machen. Es gab in meiner Weiterbildung gute Dozenten und von denen möchte ich die eine oder andere Sache übernehmen. Zumindest das, was davon in einer Stunde möglich ist.

Gerade, als ich Peter eine kurze E-Mail schreiben will, fiel mir ein, dass Cleopatra die ja auch sofort sieht. Denn ich muss alle E-Mails, die ich schreibe, in Kopie an sie senden! Lustig, nicht wahr? Cleopatra hat wahrscheinlich nichts anderes zu tun, als meine Korrespondenz auf revolutionäres Gedankengut zu überprüfen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Stunden sie damit am Tag verbringt. Okay, es ist nicht lustig. Es demütigt mich und ich kann kaum noch eine schnelle E-Mail schreiben, weil ich sie immer mit Cleopatras Augen lese. Deshalb telefoniere ich mittlerweile lieber, da bin ich wenigstens unbelauscht (hoffe ich zumindest). Speziell mit den PDLern in den Krankenhäusern geht das ganz gut. Ach, was soll’s! Ich gehe einfach schnell zu Peter runter und dann nach Hause.

19. Februar

Heute, beim morgendlichen Gang über die WB, war ich wieder in Sachen »Humor und Leichtigkeit« unterwegs. Jeden Mitarbeiter, den ich traf, lächelte ich an und begrüßte ihn – soweit ich es wusste – mit Namen. Das freut die Leute einfach und schafft Verbindung. Diesen »Trick« habe ich aus einer Managementzeitung, die ich im Wartezimmer meines Zahnarztes fand. Ich muss mich zwar überwinden, jeden mit Namen anzusprechen, weil das so förmlich wirkt. Aber andererseits mag ich es ja auch, wenn Leute mich direkt mit meinem Namen ansprechen.

Später

Das alte Mercurochrom ist im Materiallager nicht mehr zu finden. Es lohnt sich also, Dinge mit Nachdruck zu sagen und vor allem dranzubleiben, auch wenn ich mir dabei manchmal vorkomme wie im Kindergarten. Jetzt hoffe ich nur, dass es nicht noch ein Geheimversteck gibt. Manchen Mitarbeitern fällt es so wahnsinnig schwer, sich von alten Pflegeritualen zu verabschieden. »Das war schon immer so«, heißt es dann, oder noch besser: »Das habe ich damals so gelernt und es wirkt doch!« Das sind Aussagen, die beim beharrlichen Festhalten an überkommenen Pflegeritualen dutzendweise fallen.

Aber ich glaube, dass das Mercurochrom wirklich verschwunden ist und freue mich über den Erfolg. Zur Bestätigung klopfe ich mir gleich mal auf die Schulter. Denn wer sollte es sonst tun? Als Führungskraft fühle ich mich oft einsam. Als ich früher mit den anderen Kolleginnen auf der Station zusammengearbeitet habe, haben wir uns gegenseitig auf die Schulter geklopft, uns getröstet oder mal ermuntert. Jetzt muss ich das alles selbst machen. Die Mitarbeiter loben mich nicht – wahrscheinlich denken sie, das stehe ihnen nicht zu. Und meine Vorgesetzten? Loben gehört nicht zum Repertoire einer Cleopatra. Wahrscheinlich liebt sie auch diesen alten Spruch: »Wenn ich nichts sage, ist es Lob genug!« Wie ich diese Armee-Weisheiten hasse!

E-Mail von Cleopatra: »Ich erwarte Sie in meinem Büro wegen der Dienstpläne!«

War ja klar, dass der nächste Nackenschlag folgen muss. Kaum geht es mir ein bisschen besser und ich verspüre leichten Aufwind, einen minimalen Erfolg, funkt sie mir wieder dazwischen. Es ist, als würde sie mir laufend Stöcke zwischen die Beine schmeißen, damit ich bloß nicht vorwärts komme. Als hätte sie ihre Ohren oder Augen überall. Sie schafft es tatsächlich jedes Mal, im richtigen Moment zuzuschlagen. Also: Auf in den Kampf und hoch zur ihr ins Büro.

Später

Cleopatra hat mir nachdrücklich deutlich gemacht, was sie vom Dienstplan im Allgemeinen und von den Pausen im Speziellen hält: »Sie müssen sehr sorgfältig auf die Pausen achten«, sagte sie und sah mir zu, wie ich mich an der Stuhllehne festhielt. »Im Schnitt haben zu viele Mitarbeiter gleichzeitig Pause.« Ihr Kugelschreiber klopfte taktrein einen Anschiss-Blues auf den Dienstplan. »Die sitzen da bloß länger als nötig zusammen und tratschen.« Tack, tacktack, tack. »Es reicht völlig, wenn pro Schicht eine Pflegekraft Pause hat. Also« – tack, tacktack, tack – »ändern Sie den Plan entsprechend.«

Offensichtlich hat Cleopatra vergessen, wie wichtig ein paar Minuten Smalltalk und ein kurzes Verschnaufen für das Wohlbefinden der Mitarbeiter sind. Die meisten Pflegekräfte sind absolute Beziehungsmenschen und es fällt ihnen ohnehin schwer, mit dem Zeitdruck bei der Arbeit klarzukommen. Da sind kurze gemeinsame Pausen einfach heilsam. Cleopatra aber fürchtet offensichtlich, dass Pausen zu Verschwörungen genutzt werden. Die Mitarbeiter könnten ja was zusammen aushecken und das beliebt ihr ganz und gar nicht.

»Es ist übrigens Ihre Aufgabe, die Dienstzimmer tagsüber zu kontrollieren, Frau Ludowich«, setzte Cleopatra noch hinzu. »Ich erwarte, dass Sie jedes Dienstzimmer daraufhin überprüfen, ob es auch abgeschlossen ist.«

Oh, wie schön, dachte ich. Eine neue Schikane! Das wird ja immer unterirdischer und jetzt gefährdet es auch noch mein gutes Verhältnis zu den Mitarbeitern. Alle wissen, dass das Abschließen der Dienstzimmer Pflicht ist, aber im Trubel des Alltags wird das manchmal vergessen. Jetzt spiele ich auch noch Cleopatras Schnüffler. Ich könnte heulen!

Stattdessen fixierte ich den nun still ruhenden Kugelschreiber und dachte: Wenn Du wüsstet, wie ich Dich hasse! Eine Sekunde lang fürchtete ich, ich hätte diesen Satz tatsächlich gesagt, denn Cleopatra schaute mich an und fragte: »Ist irgendetwas, Frau Ludowich?« Ich schüttelte den Kopf und verabschiedete mich rasch. Auf dem Flur hätte ich meinen Kopf am liebsten gegen den nächsten Türrahmen gehämmert. Wie lange soll das eigentlich noch so weitergehen? Mit jedem Tag verliere ich mehr Lebensfreude und Energie. Da hilft mir auch das Anlächeln meines Spiegelbildes nicht mehr, denn darunter gähnt ein Abgrund an Traurigkeit. Immer häufiger mache ich mir bittere Vorwürfe, diese Stelle angenommen zu haben. Könnte ich doch nur die Zeit zurückdrehen!

22. Februar

Gestern Abend war ich wieder bei Mutti. Seit ich ihr Telefon programmiert habe, muss sie nur die »1« drücken, um mich auf dem Handy zu erreichen. Und neuerdings drückt sie gern die »1«. Mal ist die Familie oben zu laut, mal geht der Fernseher nicht (was nicht verwunderlich ist, wenn man statt der Fernbedienung zum Telefon greift …), mal findet sie eine Brosche nicht oder vermisst eine Uhr, die sie seit Jahren nicht mehr benutzt hat. In solchen Fällen bin ich dann ihr »guter Geist, der auf mich aufpasst«, wie sie sagt. Ehrlich gesagt bin ich eher der reitende Bote, der morgens um 7.00 Uhr kommt, mittags um 13.00 und abends wieder um 19.00 Uhr. »Paula, dies …« und »Paula, das …« Natürlich entschuldigt sie sich immer, wenn sie mich braucht, aber sie braucht mich seit Vatis Tod einfach mehr als früher. Und sie verliert und verlegt Dinge – sie ist einfach alt geworden.

Später rief mich Conny an, der es gerade überhaupt nicht gut geht, weil ihr Mann seit einiger Zeit immer später nach Hause kommt, immer öfter sehr viel Büroarbeit hat und auch immer häufiger an den Wochenenden auf Geschäftstermin ist. »Wir reden kaum noch miteinander und leben jeder unser eigenes Leben«, sagte Conny bedrückt. »Ich würde wirklich gern zu einer Eheberatung«, meinte sie, »aber er will natürlich nicht mit – Männer!«.

Es tut mir so leid für Conny und ihre beiden Söhne. Über die haben wir dann auch noch gesprochen, was ihr wieder ein bisschen Auftrieb gab. Der Große hat seine erste Freundin und Conny steht ihm als weibliche Beraterin zur Seite. »Er ist verblüfft, dass Frauen so schwierig sein können«, meinte sie lachend. »Da merkt man, dass er keine Schwester hat, sonst wäre er darauf schon eingestellt.«

Zum Thema »Schwierige Frauen« konnte ich natürlich wieder meine Cleopatra-Geschichten beisteuern. Martin kann mein Gejammer schon nicht mehr hören, Conny aber fand auch die Zeit, mir das Peter-Prinzip zu erklären. Wir schauten im Internet nach. Eine witzige Situation: Wir beide am Telefon, auf unsere Laptops starrend (wir hatten uns beide rechtzeitig daran erinnert, das Glas Rotwein auf jeden Fall weit genug wegzustellen, »Denk bloß an die Tastatur!«), draußen tiefdunkle Nacht. Es war ein schöner gemeinsamer Moment. Ich wünschte, Conny würde nicht so weit weg wohnen.

Bei Wikipedia wurden wir fündig: »In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen«, heißt es da zum Peter-Prinzip. Beispiel: »Ein begabter Lehrer wird zum Schulrat befördert, da er sehr gute Arbeit geleistet hat. Allerdings überfordert ihn nun die Verwaltungsarbeit und seine Begabung für den Umgang mit Kindern kann er kaum noch nutzen.«

Das trifft auf Cleopatra wohl auch zu. Sie ist ihrer Rolle als Einrichtungsleitung nicht gewachsen. Mit ihren Aufgaben, zum Beispiel der Gewährleistung von Pflegequalität, kommt sie kaum zurecht. Damit es möglichst wenig auffällt, kontrolliert sie alle und alles und bürdet vor allem mir immer weiter unsinnige Tätigkeiten auf.

»War Cleopatra auch mal PDL?«, fragte mich Conny.

»Ja, und sogar eine sehr erfolgreiche und beliebte Frau«, musste ich zugeben, denn Peter hatte mir das so erzählt.

»Tja, dann hat sie wohl jetzt die maximale Position erreicht«, meinte Conny trocken. »Jetzt steht Kontrolle anstatt von Kompetenz. Frage ist nur: Wie hat sie das geschafft?«

Conny hatte recht. Was war die spezielle Gabe, dank derer Cleopatra diese Stelle überhaupt bekam? Ich fürchte, Cleopatra wird bis zur Rente diesen Stuhl besetzt halten und noch viele gute Mitarbeiter verschleißen. Und ich bin die Nächste!

25. Februar

Wie mache ich aus zwei dicken Büchern zur Pflegevisite einen einstündigen, schmissigen, motivierenden Vortrag – während einer Mittagspause, in der alle somnolent herumsitzen? Antwort: Mit Mitarbeiterbeteiligung und einer zweiten Stunde!

Also, E-Mail an Cleopatra:
»Sehr geehrte Frau Richard,

nochmals herzlichen Dank, dass Sie mir für die Fortbildung in Sachen »Pflegevisite« in der nächsten Woche eine Stunde Zeit einräumen. Während meiner Vorbereitung entstand in mir der Plan, die Mitarbeiter mehr einzubeziehen. Das aber würde bedeuten, dass eine weitere Mittagspause – in der Woche darauf – nötig wäre, um die Ergebnisse der Mitarbeiter zu präsentieren und zu reflektieren. Wäre das in Ihrem Sinne?

Mit freundlichem Gruß

P.D.L«

Mein Plan sah vor, dass die Pflegevisite durch WBL und Bezugspflegekraft vorgenommen wird. Die WBL soll dann gleich das Risikoassessment mit einbeziehen. Das kennen die hier noch gar nicht als bewussten Prozess. Als ich neulich nach der Bradenskala fragte, sahen sie mich sehr irritiert an. Norton kannten sie immerhin. Aber ein Sturzrisiko wurde noch nie erfasst.

Was ich fast schon vorsintflutlich finde, ist die Geheimniskrämerei mit den Diagnosen und dem Wunder in Weiß, unserem »Heimarzt«, wie er offiziell immer noch heißt. Er führt seine vierzehntägige Visite im Ärztezimmer durch. Allein das ist schon eine schräge Situation. Die Bewohner sitzen wie die Hühner auf dem Flur und warten darauf, dass der »Herr Doktor« Zeit für sie hat. Die Pflegekräfte karren alle Bewohner, die sich noch außerhalb des Bettes bewegen können, wie am Fließband dorthin. Was für ein Aufwand!

Bei bettlägerigen Bewohnern schaut das »Wunder in Weiß« mit fliegendem Kittel vorbei und ist schneller wieder weg, als man gucken kann. Anordnungen in die Pflegedokumentation schreiben? »Verehrte Frau Ludowich, das meinen Sie doch wohl nicht ernst«, hieß es, als ich ihn darauf ansprach. »Mir reichen meine Aufzeichnungen. Außerdem ist das vor Jahren mit Frau Richard so beschlossen worden. Ich sehe keinen Grund, dieses Verfahren zu ändern!« Er linste über seine Lesebrille zu mir runter (was ich hasse!) und »argumentierte« mich kurzerhand in Grund und Boden: »Was haben Sie überhaupt? Es läuft doch alles einwandfrei!«

Klar, einwandfrei! Die ärztlichen Diagnosen finden sich nur spärlich in den Stammblättern, die liegen nämlich beim Herrn Doktor im Aktenkoffer. Die jeweilige WBL muss ihm bei der Visite assistieren, falls seine eigenen Arzthelferinnen nicht mitkommen. Der ganze Besuch hat etwas von einer Staatsvisite. Ich finde es fürchterlich, wie gestandene Pflegekräfte in die Knie gehen, wenn der Herr Doktor kommt. Da werden Pausen nicht genommen, da wird der Feierabend verschoben. »Der Doktor ist doch da!«, ist ein Satz, mit dem sich alle Argumente außer Kraft setzen lassen. Tatsache ist allerdings, dass Cleopatra einen sehr guten Draht zum Herrn Doktor hat. Ob er wohl kräftig die Werbetrommel für dieses Heim rührt?

Paula, locker bleiben, Du änderst die Welt nicht an einem Tag. Es gibt so viele Baustellen! Seit einer Woche spreche ich übrigens mit mir selbst. Die Sache mit dem Anlächeln habe ich aufgegeben. Selbstgespräche wirken einfach besser. Ich sehe dann klarer und kann auch mal ein Lob aussprechen. Macht ja sonst keiner.

E-Mail für mich!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842685321
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Altenmisshandlung Altenpflege PDL Pflegealltag Pflegeausbildung Pflegedienstleitung Selbsthilfe

Autor

  • Paula Dorothea Ludowich (Autor:in)

Paula Dorothea Ludowich ist ein Pseudonym für die Autoren dieses Buches. Sie kennen die Arbeit einer Pflegedienstleitung aus eigener Anschauung. Aus Gründen der Diskretion bleiben sie anonym.
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Titel: Das geheime Tagebuch der P.D.L.