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Kommunikation und Gesprächsführung für Pflegeberufe

Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Grundlagen & Umsetzung. Modelle & Strategien. Für Lehre & Praxis.

von Jürgen Wingchen (Autor:in)
280 Seiten

Zusammenfassung

Kommunikation – eine der Hauptaufgaben von Pflegekräften und zugleich eine der größten Herausforderungen. Hier ist der kompetente und praxisnahe Leitfaden rund um die Kommunikation in der Pflege.
Als Basis dienen die bewährten Modelle und Theorien der Gesprächsführung. In einem zweiten Schritt werden diese Modelle ganz praxisnah auf Gesprächssituationen in der Pflege angewandt: Kommunikation mit älteren Menschen, mit Sterbenden und Trauernden, mit Aphasikern, mit Mitarbeitern und Angehörigen.
Das Buch ist eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für alle, die ihre Kommunikation mit Klienten, Kollegen und Angehörigen nicht länger dem Zufall überlassen wollen. Eine gute Kommunikation lässt sich lernen und ist eine gute Stressprävention.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 EINLEITUNG

Pflegerisches Handeln in den Institutionen der ambulanten, teilstationären und stationären Kranken- und Altenpflege ist immer ein Beziehungs- und Ausgestaltungsprozess zwischen Pflegenden und zu Pflegenden.

Die Mitarbeiter der Pflegedienste sind die ersten Ansprechpartner von Pflegebedürftigen, Patienten und ihren Angehörigen. Die Organisation und Durchführung beratender und helfender Gespräche stellt eine der wichtigsten Aufgaben von Mitarbeitern in der Kranken- und Altenpflege dar. Diese müssen nicht nur in der Lage sein Kontakte aufzubauen und aufrecht zu erhalten; sie müssen mit den zu betreuenden und zu versorgenden Menschen, die informiert, instruiert und angeleitet werden wollen, in einen konstruktiven Kommunikationsprozess treten können.

Die Mitglieder der Projektgruppe »Hilfe für das Alter« im Diakonischen Werk/Deutschland1 beschreiben kommunikative und Beratungskompetenz als Voraussetzung zur Bewältigung sozialer Aufgaben in der Altenpflege. Im Einzelnen nennen sie:

Helfende Gespräche beim Einzug in eine stationäre Einrichtung

Gespräche zur Förderung zwischenmenschlicher Beziehungen

Beratende Anleitung zu sinnvollen Beschäftigungen

Persönliche Gespräche

Hilfen in Krisensituationen

Seelsorgerische Aufgaben, sofern sie nicht den Pfarrern überlassen bleiben müssen oder sollen

Dieses Buch ist keine Gebrauchsanweisung für Kommunikation in der Pflege. Es geht auch nicht um richtige Formulierungen für den Umgang mit Sterbenden, demenziell veränderten Menschen, sich beschwerenden Angehörigen oder unliebsamen Kollegen. Jede Gesprächssituation stellt sich den Beteiligten anders dar. Vorrangiges Ziel einer Auseinandersetzung mit Fragen zur Kommunikation und Gesprächsführung ist die Stärkung kommunikativer Kompetenzen: Kommunizierende müssen in Gesprächssituationen so (re-)agieren können, dass sie ihr eigenes Kommunikationsverhalten als angemessen und effektiv empfinden.

Hinweise und Tipps, was zu tun ist, um aus einem Gespräch als »Sieger« hervorzugehen (ein Wunsch, den eine Teilnehmerin eines meiner Fortbildungsseminare äußerte), gibt es hier nicht. Wer im Pflegealltag Bewohnern, Patienten und deren Angehörigen den Krieg erklärt hat, ist nicht auf der Suche nach einem gesprächsbereiten Kommunikationspartner, sondern nach einem Opfer.

Stattdessen stelle ich Ihnen in zwei Teilen die Grundlagen der Kommunikation und Gesprächsführung vor: Im ersten Teil (Kapitel 2 bis 8) präsentiere ich Ihnen grundlegende Theorien und Modelle der Gesprächsführung.

Im zweiten Teil (Kapitel 9 bis 14) zeige ich Ihnen spezielle Kommunikationsfelder und Anwendungsfelder der beschriebenen Modelle. Auf diese Weise erhalten Sie ein Lehr- und Arbeitsbuch für die Gesprächsführung in der Pflege: strikt praxisorientiert und konkret auf Ihre Berufswirklichkeit abgestimmt.

Die Modelle

Wodurch unterscheiden sich Kommunikations- und Interaktionsprozesse? Inwieweit beeinflussen neurologische und hormonelle Veränderungen den Kommunikationsverlauf? Was sind Codes im Kommunikationsverlauf? Was ist unter Inhalts- und Beziehungsaspekten von Kommunikation zu verstehen? Inwieweit beeinflussen Wünsche und Bedürfnisse den Kommunikationsverlauf und was geschieht, wenn sie unerfüllt bleiben? Ich zeige Ihnen Modelle menschlicher Kommunikation, in denen sich die grundlegenden Richtungen der Psychologie widerspiegeln.

Die nondirektive, personenzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers (Kapitel 3) steht für die humanistische Psychologie und ist in Pflegeund therapeutischen Berufen am bekanntesten. Begriffe wie personenzentrierte Pflege und personenzentriertes Führen sind feste Bestandteile in der Alten- und Krankenpflege.

Dem nondirektiven Ansatz Carl Rogers wird das direktive Denken des amerikanischen Therapeuten Albert Ellis gegenübergestellt (Kapitel 4). Auch Ellis fühlt sich dem humanistischen Denken verpflichtet, setzt sich aber direkt mit den Haltungen und Einstellungen seiner Kommunikationspartner auseinander und versucht diese direkt zu ändern.

Das transaktionsanalytische Modell Eric Bernes (Kapitel 5) steht dem tiefenpsychologischen Ansatz Sigmund Freuds nahe; im Ansatz des Neurolinguistischen Programmierens (Kapitel 6) finden sich u. a. Elemente der Lernpsychologie wieder.

Weitere Kapitel sind der körpersprachlichen nonverbalen Kommunikation (Kapitel 7) und dem Stellenwert des Lachens in der Gesprächsführung (Kapitel 8) gewidmet: Informationen werden nicht nur durch Worte mitgeteilt; Witz, Humor und Komik können Gespräche auflockern, die Kommunikation fördern, aber auch die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern ruinieren und das Gespräch beenden.

Die Kommunikationsfelder

Die Kommunikationsfelder stehen für exemplarische Gesprächssituationen.

Lehrzielkatalog

Am Ende jedes Kapitels findet sich ein Lehrzielkatalog, der Ihnen zeigt, was Sie jetzt schon alles können.

Theorie und Praxis

»Wie soll ich überhaupt noch mit einem Menschen spontan reden, wenn ich das alles auch noch beachten soll?« Das fragen sich Teilnehmer in Kommunikationstrainings immer wieder. Carl Gustav Jung* riet einem seiner Studenten, alles über die Theorie zu lernen, aber das Textbuch zu vergessen, wenn er einem Patienten gegenübersitzt.

Kommunikative Kompetenz ist letztlich wie Autofahren. Scheinen die verschiedenen Anforderungen, die an den Fahrer bereits beim Losfahren gestellt werden, zunächst kaum gleichzeitig zu bewältigen (Gas geben, ersten Gang finden, »Kupplung kommen lassen«, drei Pedale gleichzeitig bedienen und auch noch auf den Verkehr achten), so werden die einzelnen Schritte später kaum noch bewusst wahrgenommen. Die Aufmerksamkeit des Fahrers wird erst wieder geweckt, wenn irgendetwas nicht wie üblich funktioniert.

* Birkenbihl, V. F. (1999). Signale des Körpers – Körpersprache verstehen. Landsberg am Lech, S. 189

__________

1 Vgl. Diakonisches Werk (1987). Altenpflegerin/Altenpfleger: Die staatlich anerkannte Fachkraft in der Altenhilfe. Stuttgart, S. 22

2 GRUNDLAGEN MENSCHLICHER KOMMUNIKATION

In unserer Umgangssprache bedeutet Kommunizieren so viel wie »miteinander sprechen«, »in Kontakt zu einem Gegenüber treten« und sich mit diesem auszutauschen. Hierbei denken wir zunächst an die menschliche Sprache, an gesprochene Worte, mit deren Hilfe Informationen von einer Person an eine andere weitergegeben werden.

In diesem Sinne kann Kommunikation als eine der Informationsvermittlung verpflichtete Form menschlichen Verhaltens oder als wechselseitige Verständigung zwischen Menschen mittels Sprache beschrieben werden. Hierbei können die zwei miteinander verschränkten Aspekte des Sich-Ausdrückens und des Verstehens unterschieden werden:

Sprache ermöglicht den Ausdruck eigener Gefühle, Gedanken, Wünsche und Pläne

Sprache ermöglicht das Verstehen von Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Plänen anderer Menschen

2.1 Kommunikation und Interaktion

Zunächst müssen wir zwei Begriffe voneinander abgrenzen, die häufig miteinander verwechselt oder gleichgesetzt werden: die menschliche Kommunikation und die menschliche Interaktion. Das Wort Inter-Aktion bedeutet so viel wie Zwischen-Handeln (im Sinne von wechselweisem Handeln) von Personen und steht für zwischenmenschliche Beziehungen schlechthin.

Groddeck & Wulf2 bezeichnen die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse und Interessen anderen gegenüber angemessen darstellen zu können, als kommunikative Kompetenz und beschreiben sie als Voraussetzung zur Teilnahme an Prozessen sozialen Handelns.

Die Interaktionsforschung setzt sich mit dem auseinander, was zwischen den Menschen geschieht. Sie behält eine untereinander oder gegeneinander stattfindende Ausführung im Blick3. Kommunikation beschreibt in diesem Prozess stets den Austausch von Informationen, Mitteilungen bzw. Botschaften.4

Die gemeinsame Arbeit zweier Pflegekräfte am Bett eines Patienten/Bewohners ist ein Beispiel für eine Form von Interaktionsgeschehen. Die Botschaften, die zwischen den drei Beteiligten ausgetauscht werden, machen die Kommunikation aus und umfassen von Seiten der Mitarbeiter:

die Absprachen, die sie treffen, um den Arbeitsablauf patienten-/bewohnergerecht zu gestalten;

die gezielten Informationen an den Patienten/Bewohner, was hier (mit ihm) geschieht;

die Instruktionen, wie er sich im Sinne einer aktivierenden Pflege verhalten sollte;

beabsichtigte oder unbeabsichtigte Signale von Sympathie oder Antipathie, Anerkennung oder Ablehnung.

Von Seiten des Patienten werden gleichfalls Botschaften an die Mitarbeiter vermittelt, die wiederum den Interaktionsprozess beeinflussen.

Reflexion

Inwieweit können sich Patienten/Bewohner in diesen Kommunikationsprozess einbringen?

2.2 Das Sender-Empfänger-Modell

Eine Nachricht wird von einem Sender an einen Empfänger gesandt und hierbei zunächst ver- und dann wieder entschlüsselt. So wird Kommunikation im Sender-Empfänger-Modell beschrieben:

 

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Dieser Vermittlungsprozess wird zum Teil von unserem Bewusstsein gesteuert; etwa, wenn wir einen Brief schreiben und uns Gedanken darüber machen, was beim Empfänger ankommen soll.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten zu kommunizieren. So ist es uns möglich, Informationen in Form gesprochener bzw. geschriebener Wort weiterzugeben. Aber auch mit geschlossenem Mund und ohne ein Schreibgerät zu benutzen können wir kommunizieren: Jeder, der sich schon einmal in einer fremden Sprache verständlich machen musste, weiß, was es heißt, mit Händen und Füßen zu reden. In der verbalen (sprachlichen) Kommunikation ist es problematisch, wenn Sender und Empfänger in diesem komplexen Prozess von Kodierung und Dekodierung einem Wort unterschiedliche Bedeutungen zuweisen. Der semantische Hof (der Bedeutungshof für ein Wort) kann sich von Mensch zu Mensch verändern.

Worte können im Lauf der Zeit ihre Bedeutung verändern, was Gespräche zwischen den Generationen erschwert. Ältere Menschen verbinden mit dem Wort »geil« die Bedeutung »sexuell erregt«. Jugendliche bekunden mit ihm Interesse und Zustimmung. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ist ihnen häufig gar nicht bewusst. Auch wer die unterschiedliche Verwendung des Begriffes den verschiedenen Gruppen zuordnen kann, ist irritiert, wenn ältere Menschen diesen Bedeutungswechsel aufgreifen und das Wort als Zustimmung verwenden.

Andere Anteile der Kommunikation unterliegen nicht ohne weiteres der Kontrolle des Bewusstseins: Körperhaltung, Körperbewegung und Mimik geben vieles preis, was (noch) nicht in Worte gefasst wurde oder verschwiegen werden soll. So verraten z. B. Stimmlage und Körperhaltung Unsicherheiten, auch wenn der Betroffene versucht, ganz locker zu sein.

2.3 Metakommunikation

Als Metakommunikation wird eine Kommunikation über Kommunikation bezeichnet. Der Kommunikationsprozess selbst wird zum Gegenstand der Kommunikation. Beispiel: Im Rahmen eines Gesprächs ist nicht nur bedeutsam, was sich die Beteiligten sagen, sondern auch auf welche Art und Weise sie das tun.

Sagt ein Kommunikationspartner: »In diesem Ton lasse ich nicht mit mir reden!«, so begibt er sich auf eine Metaebene der Kommunikation. Ein solcher Schritt kann dazu beitragen, wieder zu Umgangsformen zurückzufinden, die von Respekt getragen sind; er kann aber auch vom Thema ablenken und eine sachliche/inhaltliche Klärung verhindern.

Weitere Ebenen von Kommunikation lassen sich mit den Begriffen der Assoziation und der ersten bzw. zweiten Dissoziation beschreiben.

Assoziation meint so viel wie Vereinigung; Dissoziation so viel wie Trennung. Assoziation beschreibt eine Form von Kommunikation, in der eine Person eins mit ihren Gefühlen ist und diese auch zum Ausdruck bringt: Der Traurige weint, der Wütende schimpft. Im Zustand der ersten Dissoziation gelingt die Überwindung der eigenen Betroffenheit und die Wahrnehmung, das Erkennen und Nachfühlen der Betroffenheit des anderen: sein Fühlen, seine Trauer, seine Wut. Auf der Ebene der zweiten Dissoziation wird es möglich, die eigene Betroffenheit und die Befindlichkeit des Gegenübers gegeneinander zu stellen, Überlegungen zu ihren Ursachen bzw. über Lösungsmöglichkeiten anzustellen. Im Idealfall ist ein Kommunizierender:

sich seines eigenen Fühlens bewusst (Assoziation);

in der Lage, die Betroffenheit seines Gegenübers zu erspüren (erste Dissoziation);

in der Lage, sich über die konkrete Situation zu erheben, diese zu analysieren und zu reflektieren (zweite Dissoziation).

 

 

2.4 Gedächtnissysteme und Kommunikation

Kommunikation setzt voraus, dass Informationen vom Empfänger aufgenommen und dekodiert werden können. Bevor eine Information bewusst wahrgenommen werden kann, muss sie verschiedene Instanzen überwinden (vgl. Abbildung 2).

 

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Abb. 2: Der Weg zur bewussten Wahrnehmung von Information.

1. Über unsere fünf Sinne nehmen wir Informationen aus unserer Umgebung auf, um diese dem ersten Speichersystem unseres Gedächtnisses zuleiten zu können.5 Beeinträchtigungen der Sinneskanäle sind die ersten möglichen Kommunikationsblockaden.

2. Im ersten Speichersystem, in den sensorischen Speichern, verbleiben optische Informationen etwas weniger als eine Sekunde; akustische Informationen etwa eine Sekunde. Dieser kurze Zeitraum recht aus, um Reize identifizieren zu können. Würde dieses Speichersystem länger blockiert, so könnte es zu Überlagerungen mit neuen, nachströmenden Reizen kommen, was für die Informationsverarbeitung problematisch wäre.

3. Bewusst gewordene Informationen finden den Weg in das zweite Gedächtnissystem, den Kurzzeitspeicher, wo sie bis zu 30 Sekunden gespeichert werden. Die Kapazität dieses Systems ist äußerst begrenzt: Lediglich fünf bis sieben Einheiten finden hier Platz. Ist die Kapazität ausgeschöpft und kommt eine neue Information, so wird die älteste hinausgedrängt. Aus diesem Grund wird dieser Speicher als Schieberegister bezeichnet.
Durch Wiederholungen ist es möglich, Daten länger im Gedächtnis zu behalten. Wird die Aufmerksamkeit aber vorübergehend abgelenkt, strömen neue Daten in den Kurzzeitspeicher und verdrängen die alten Informationen. Wenn Kinder eine Einkaufsliste vor sich hinmurmeln und dann – vielleicht durch die neuen Fahrräder ihrer Freunde – vorübergehend abgelenkt werden, vergessen sie die Einkäufe zumindest zum Teil.

4. Nach 30 Sekunden gehen nicht repetierte (wiederholte) Informationen, die noch nicht in das dritte Gedächtnissystem, den Langzeitspeicher, gelangt sind, unwiederbringlich verloren: Sie werden vergessen. Ob eine Information den Weg in den dritten Gedächtnisspeicher findet, hängt sowohl von der Bedeutsamkeit des Materials als auch von der Zahl der Wiederholungen ab: Je bedeutsamer eine Information für den Betroffenen ist, umso weniger Wiederholungen sind notwendig, um das Material in das Langzeitgedächtnis einzubringen.

Im dritten Speicher können Informationen nicht mehr verlorengehen und sind auch nach langen Zeiträumen noch abzurufen. Problematisch ist es nur, diese Informationen wiederzufinden.6

Dieses System der Informationsaufnahme und -verarbeitung leistet bei der Kommunikation hervorragende Dienste: Eine gesehene oder gehörte Information (z. B.: »Der Arzt kommt heute Nachmittag zwischen 15.00 und 16.00 Uhr zu Ihnen!«) wird wahrgenommen, als wichtig erkannt und im Langzeitspeicher abgelegt. Mögliche Antwort: »Ich werde heute Nachmittag hier sein!«

Störungen in den einzelnen Systemen wirken sich jedoch äußerst negativ auf Kommunikationsprozesse aus.

Die Leistung des Wahrnehmungsapparates kann beeinträchtigt sein: Mit zunehmendem Alter kommt es zu Veränderungen in den sensorischen Speichersystemen.

Akustische Informationen verschwinden schneller aus dem sensorischen Speicher, sodass weniger Zeit zur Verfügung steht, um Reize zu identifizieren und in den Kurzzeitspeicher zu überführen. Möglicherweise müssen Informationen mehrfach angeboten werden.

Optische Informationen blockieren den sensorischen Speicher länger, sodass es zu möglichen Überlagerungen mit nachströmenden Reizen kommt.

Ältere Menschen benötigen nicht nur mehr Zeit, um Informationen im Kurzzeitgedächtnis aufzunehmen, sondern auch, um diese wieder abzurufen. Gedächtnis- und Kommunikationsprozesse verlaufen im Alter zwar deutlich langsamer als bei jungen Menschen, aber keinesfalls ineffektiver.

Auch die Gedächtnisspanne, der Umfang an Informationen, die gleichzeitig in diesem Speichersystem Platz finden, ist reduziert. Zu viele gleichzeitig angebotene Reize verwirren.

Stress hat direkten Einfluss auf das Konzentrationsvermögen und die intellektuelle Leistungsfähigkeit. Stresshormone beeinträchtigen die Arbeit der Nervenzellen, die Garanten jeder intellektuellen Tätigkeit. Kommunikation in Stresssituationen ist zwangsläufig ineffektiv. Kommunikationspartner, die Stress und Unruhe ausstrahlen, sorgen selbst dafür, beim Gegenüber unverstanden zu bleiben. Die Kommunikationstrainerin Vera F. Birkenbihl sprach vom »psychologischen Nebel der Gesprächssituation«.

2.5 Paul Watzlawick: Inhalts- und Beziehungsaspekte von Kommunikation

Paul Watzlawick (1921–2007) und seine Mitarbeiter prägten den Satz, dass es nicht möglich ist, nicht zu kommunizieren. Er unterscheidet zwischen einer Inhalts- und einer Beziehungsebene.

Unterhalten sich zwei Menschen, so ist nicht nur die Vermittlung von Inhalten (Informationen, Gedanken, Ideen, Fakten) wichtig. Der Verlauf einer Unterhaltung hängt nicht nur davon ab, welche Informationen sie austauschen. Mindestens ebenso bedeutsam ist, wie die beiden miteinander umgehen: Ob sie sich sympathisch sind oder nicht. Die Art des Miteinander-Umgehens bezeichnet Watzlawick – in Abgrenzung zur Inhaltsebene – als Beziehungsebene.

 

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Abb. 3: Aspekte der Kommunikation.

 

In der Inhaltsebene liefert uns der Sprecher Informationen.7 Auf der Beziehungsebene hingegen erhalten wir Informationen über die Informationen. Hier wird deutlich, wie die Information gemeint war! Hier erfahren wir, ob unser Gegenüber uns gut oder schlecht gesonnen ist. Hier bekommen wir einen Eindruck von seinem (momentanen) Gemüts- bzw. Gefühlszustand.

Der Inhalt wird gewöhnlich verbal (gesprochen, geschrieben), die Beziehung nonverbal (nicht-gesprochen) vermittelt.

Im Idealfall ergänzen sich die beiden Kommunikationsebenen. Zu der Formulierung: »Sicher habe ich dich lieb!«, passt auf der Beziehungsebene eine warmherzige, freundliche, zugewandte Haltung und Stimmlage. Wird dieser Satz hektisch, unwirsch, ohne das Gegenüber anzusehen, formuliert, passen Inhalt und Form nicht zusammen; sie widersprechen sich. Der Gesprächspartner sieht sich zwei Aussagen gegenüber, die sich gegenseitig ausschließen. Solche Beziehungsfallen werden Doppelbindungen, oder auch Doublebinds genannt.

Auch eine so einfache Frage wie: »Gehen Sie heute wieder ins Kino?«, ist nur scheinbar eindeutig zu verstehen. Auf der Inhaltsebene dürfte es zu keinen Missverständnissen kommen. Jeder versteht, worum es hier geht. Aber erst die Art, wie diese Frage gestellt wird, vermittelt ihren ganzen Bedeutungsgehalt. Ist es reines Interesse, will jemand wissen, ob die andere Person ins Kino gehen will? Schwingt möglicherweise im Tonfall ein leichter Vorwurf mit? »Gehen Sie heute Abend (etwa schon wieder) ins Kino?« Oder verrät die Körperhaltung die Neugierde des Fragenden? »Was machen Sie heute – Gehen Sie vielleicht ins Kino?«

Konfusion bedeutet lt. Duden so viel wie Verwirrung oder Durcheinander. Im Kommunikationsmodell Watzlawicks steht es für ein Durcheinander von Inhalts- und Beziehungsebene. So können Probleme von der Inhalts- auf die Beziehungsebene verlagert werden, um sie dort in Angriff zu nehmen und zu lösen: Besteht auf der Inhaltsebene keine Einigkeit (z. B.: »Du willst ins Café, ich will aber ins Kino!«), so wird eine Problemlösung auf der Beziehungsebene versucht (»Dann mach es doch mir zuliebe!«). Umgekehrt können auch Beziehungsprobleme auf der Inhaltsebene in Angriff genommen werden. Ist die Beziehungsebene gestört, kann das akribische und scheinbar so sachliche Suchen, Finden und Bemängeln von Fehlern beim anderen zu einer Strategie der Beziehungsaufarbeitung werden. Auch vermag die Suche nach gemeinsam zu bewältigenden Aufgaben bei gestörter Beziehungsebene zwei Menschen – vorübergehend – zu verbinden.

2.6 Die Erweiterung: Friedemann Schulz von Thun: Mit vier Ohren hören

Der Psychologe Friedemann Schulz von Thun8 unterscheidet nicht nur zwischen einer Inhalts- und einer Beziehungsebene, er hat vier verschiedene Ebenen einer Nachricht herausgearbeitet (vgl. Abbildung 4).

 

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Abb. 4: Ebenen einer Nachricht.

 

Schulz von Thun unterscheidet

Sachinhalt

Appell

Selbstoffenbarung

Beziehungsaspekt

Beispiel: eine scheinbar einfache Botschaft: A sagt: »Es ist ganz schön heiß hier drin!«

1. Der Sachinhalt dieser Information ist offensichtlich: A hält sich an einem Ort auf, an dem es heiß ist. Über diese Tatsache informiert sie eine andere oder mehrere andere Personen. Die Information ist eindeutig.

2. Auf der Ebene der Selbstoffenbarung geht es darum, was A von sich preisgibt. Es scheint ihr warm zu sein; vielleicht sogar zu warm. Es geht A nicht um die messbare Raumtemperatur. Sie sagt vielmehr etwas darüber aus, wie sie die Temperatur empfindet.

3. Auf der Appell-Seite einer Botschaft lässt sich erkennen, wozu A den Empfänger veranlassen möchte. Im obigen Beispiel: »Mach bitte das Fenster auf!« – »Mach die Klimaanlage an!« – »Fass dich kurz, mir ist zu heiß!«

4. Auf der Beziehungsebene werden zwei unterschiedliche Botschaften vermittelt: Zum einen gibt A zu erkennen, wie sie den Empfänger einschätzt, was sie von ihm hält. Die Wortwahl, die Betonung, ein liebevoller oder barscher Tonfall lassen erkennen, ob hier Wertschätzung oder Missachtung mitschwingen. Zum anderen wird aber auch deutlich, wie A die Beziehung zwischen sich und dem Empfänger sieht: Traut er sich, etwas Bestimmtes zu sagen – oder auch nicht? Im Beispiel könnte die Beziehungsebene signalisieren: »Ich bestimme hier, ob gelüftet wird – und du hast damit zu leben!«

2.7 HoRmo Sapiens

Wie wir miteinander umgehen, hat natürlich Einfluss auf unser Wohlbefinden. In der Regel werden Menschen es vorziehen, zuvorkommend und freundlich behandelt zu werden, während ein selbstherrliches und demütigendes Verhalten des Gegenübers zumindest ärgerlich werden lässt.

Wie Individuen mit den wahrgenommenen Informationen auf der Inhalts- und der Beziehungsebene umgehen, hängt von der momentanen Befindlichkeit ab. Vera F. Birkenbihl stellte ein einfaches Denk-Modell vor, das für die Analyse von Kommunikationsprozessen bedeutsam ist.

Das Gehirn ist keinesfalls ein homogenes Organ. Vielmehr finden sich dort unterschiedliche Gehirnteile, die sich im Laufe der Evolution herausbildeten und die als Alt- und Neuhirn bezeichnet werden. Birkenbihl bezeichnete die alten Teile als Reptilienhirn. Es unterscheidet sich in der Funktion nicht von dem Gehirn eines Reptils und bildete sich vor ca. 450 Millionen Jahren. Das Neuhirn, der Sitz des logischen Denkens, entwickelte sich im Verlauf der Evolution erst vor 1,5 Millionen Jahren. So verwundert es auch nicht, dass das Reptiliengehirn, wenn es ums nackte Überleben geht, den größeren Einfluss auf menschliches Verhalten ausübt. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Befriedigung von Bedürfnissen in Frage gestellt wird. In solchen Situationen wird das Reptilienhirn (das Tier in uns) aktiv und mischt sich ein. Werden in Gefahrensituationen elementare Bedürfnisse in Frage gestellt, wird das Handeln nicht mehr vom logischen Denken, sondern vom Kampf- und Fluchtverhalten bestimmt.

Die Gefährdung oder Unterdrückung von Bedürfnisbefriedigungen löst Unlustreaktionen aus, die zur Ausschüttung von Stresshormonen führen. Dies zieht eine Störung oder Unterbindung der Impulsweiterleitung im Nervensystem nach sich. Stammesgeschichtlich ältere Gehirnteile (das Reptilienhirn) reagieren dann mit Flucht, Angriff oder Totstellen.

In Stresssituationen wird der Homo Sapiens, so Birkenbihl9 zuweilen als ein weniger von seinem Intellekt als vielmehr von seinen Hormonen geleitetes Wesen entlarvt, das sie folgerichtig als HoRmo Sapiens bezeichnet.

Solange die Gesprächssituation nicht durch Angst, Nervosität, Ärger, Eifersucht, Wut, Neid etc. beeinflusst wird, kann sich das Denkhirn mit den vermittelten Inhalten auseinandersetzen. Je belastender die Situation jedoch empfunden wird, umso mehr treten die Inhalte in den Hintergrund: Das bedrohte Reptilienhirn übernimmt das Regiment und stört die analytische Arbeit des Denkhirns. Damit verlagert sich die Kommunikation von der Sach- auf die Beziehungsebene.

2.8 Die Bedürfnispyramide nach Maslow

Der Amerikaner Abraham Maslow (1908–1970) ordnete die menschlichen Bedürfnisse in einer Hierarchie, die häufig als Maslowsche Bedürfnispyramide dargestellt wird. Sind die Bedürfnisse einer unteren Stufe befriedigt, wendet sich das Individuum denen der nächsthöheren Stufe zu.

Sind z. B. die grundlegenden physiologischen Bedürfnisse (wie Hunger und Durst) [Stufe 1] befriedigt, so tritt auf der nächsthöheren Stufe das Bedürfnis nach Sicherheit [Stufe 2] in den Vordergrund. Es folgen die sozialen Bedürfnisse (Liebe und soziale Zugehörigkeit) [Stufe 3] und schließlich die Bedürfnisse nach Wertschätzung [Stufe 4] und nach Selbstverwirklichung [Stufe 5].

Vorübergehend können Bedürfnisse einer unteren Stufe auf einer höheren kompensiert werden. So ist es möglich, Hunger und Durst vorübergehend in Kauf zu nehmen, um höhere Ziele zu erreichen. Die physiologischen Bedürfnisse sichern das nackte Überleben. Es geht um die Grundversorgung mit Essen, Trinken, Sauerstoff und Wärmezufuhr. Aber auch Bedürfnisse, die wir im Allgemeinen nicht bewusst registrieren, gehören hierher, wie das Bedürfnis nach Hautkontakt, nach Berührung, nach »Streicheleinheiten«.

Auch ein Mensch mit erstklassiger Versorgung an Essen und Trinken, in einer optimalen Atmosphäre und Raumtemperatur, wird krank, wenn das elementare Bedürfnis nach Hautkontakt unbefriedigt bleibt.

Die anderen Sinne sind ebenso stimulierungsbedürftig wie die Haut. So verwundert es auch nicht, wenn in Studien festgestellt wurde, dass der Entzug sensorischer Reize (Reizdeprivation) sich negativer auf das Befinden (zumindest) der (erwachsenen) Versuchspersonen auswirkt, als eine Einschränkung der Sozialkontakte, die einer höheren Stufe zugeordnet sind.

Solange das physiologische Fundament der Pyramide noch nicht gelegt ist, interessieren die höheren Stufen noch nicht. So ist ein erschöpfter, müder, von Schmerzen geplagter Mensch auch kaum zur Kommunikation oder Gruppenaktivität zu zwingen.

 

 

Sind die physiologischen Bedürfnisse befriedigt, treten die Bedürfnisse nach Sicherheit in den Vordergrund, die allgegenwärtig sind:

Menschen möchten ihr Eigentum vor unbefugtem Zugriff sichern und schließen ihre Wohnung ab.

Menschen möchten finanziell abgesichert sein und schließen Renten- und Lebensversicherungen ab oder legen ihr Geld an.

Menschen möchten ihre Zukunft planen können und halbwegs wissen, was sie morgen erwartet.

Menschen möchten wissen, wo sie sich wann befinden. Die Sicherheit der Orientierung in Raum und Zeit ist sehr bedeutsam.

Denken Sie an das ungute Gefühl, wenn Sie nachts aufwachen und die Uhr stehengeblieben ist; denken Sie an die Angst bei Fahrten im Nebel, wenn jede Orientierung aufhört; stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen, wenn Sie sich in einem unbekannten Waldstück verlaufen haben und die Dunkelheit bricht herein. Die Orientierungsprobleme eines nichtorientierten/desorientierten Menschen sind vergleichbar, aber gravierender, da sie zeitlich unbegrenzt sind. Umzüge in Pflegeheime bzw. Einweisungen in Krankenhäuser sind immer Brüche mit einer gewohnten, Sicherheit gebenden Alltagswelt. In Kliniken wird dem Kranken ein für ihn vorbestimmter Ort zugewiesen, der von fremden Menschen nach Belieben betreten wird.10

Auf der nächsthöheren Stufe sind die Bedürfnisse nach Liebe und (sozialer) Zugehörigkeit angesiedelt. Liebe und Zugehörigkeit erfahren Menschen in Gruppen, in die sie hineingeboren werden (Familie) oder später hineinwachsen. Hier erfolgt Kommunikation; hier findet der Einzelne Geborgenheit: Er weiß, wo er hingehört.

Auch wenn die physiologischen Bedürfnisse sowie solche nach Sicherheit und Gruppenzugehörigkeit (Stufen 1–3) zunächst befriedigt sind, bleibt ein weiteres – das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und Wertschätzung – zunächst noch unbefriedigt. Anerkennung (Stufe 4) ohne Integration in einen Sozialverband (Stufe 3) wird langfristig häufig als unbefriedigend erlebt. Nicht selten wird die Einbindung in Gruppen, in denen Anerkennung versagt bleibt, zwar als belastend erlebt, ohne deshalb aufgegeben zu werden.

Beim Ringen um die Anerkennung durch die Mitmenschen spielen Statussymbole eine große Rolle. Überall, wo es um Status, Geld oder Geltung geht, sollen die Mitmenschen dem Betreffenden ihre Anerkennung bekunden.

Ein Mensch, dessen Selbstwertgefühl hinreichend stabil ist, wird auf dieser Stufe nicht Defizite einer anderen Stufe kompensieren müssen. Je sicherer er sich fühlt, umso weniger wird er die Bedürfnisse der 4. Stufe übertrieben befriedigen müssen, um möglicherweise Defizite der Stufen 2 und 3 zu kompensieren.

Menschen mit einem schwachen Selbstwertgefühl, die sich unsicher, unbeachtet, ungeliebt und keiner Gruppe zugehörig fühlen, werden umso mehr um ihre Anerkennung kämpfen. Ihr Handeln wird weniger vom logischen, schlussfolgernden Denken, als vielmehr vom Kampf- oder Fluchtverhalten bestimmt:

In diesen Situationen werden diese Menschen laut. Sie schreien (Schreien gehört zu den Kampfsignalen; es soll einschüchtern).

Sie ziehen sich zurück. Kontakte werden vermieden, indem sie sich räumlich absondern und allein bleiben oder in sich selbst zurückziehen.

Unter Umständen versuchen sie aufzufallen – positiv oder negativ: Lieber eine negative Anerkennung als gar keine!

Sie beziehen vieles auf sich, was sie gar nicht betrifft und fühlen sich grundlos angegriffen.

Die Ausübung von Macht wird zu einem Mittel, Anerkennung und Zuwendung zu erhalten. Diese Macht kann auch sehr subtil eingesetzt werden, indem das eigene Leiden als Mittel eingesetzt wird, um andere zu einem bestimmten Verhalten zu nötigen

Die Stufen 1 bis 4 werden auch als Defizitmotive beschrieben: Das Verhalten des Einzelnen dient dazu, einen bestimmten Mangelzustand auszugleichen.

Auf der 5. Stufe tritt das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund. Hier geht es nicht darum, ein Defizit zu vermeiden, vielmehr sollen eigene Fähigkeiten zur Geltung gebracht und kreativ (weiter-)entwickelt werden.

Leistungen werden erbracht, weil dies befriedigend erlebt wird. Man wendet sich Interessen zu, weil sie Freude machen. Einem Beobachter ist es meist jedoch nicht möglich zu unterscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten der Selbstverwirklichung des Betreffenden dient oder nur gezeigt wird, um Anerkennung und Wertschätzung zu erhalten.

Ein erfolgreicher Arzt mag in seiner praktischen Arbeit in der Klinik die einmalige Chance sehen,

seine wissenschaftlichen Kompetenzen und Interessen zum Wohl seiner Patienten umsetzen zu können (Stufe 5: Selbstverwirklichung);

die Rolle des »Herrschers über Leben und Tod«, des »Halbgottes in Weiß« umsetzen (Stufe 4: Soziale Anerkennung);

die Integration in sein Team zu genießen (Stufe 3: Soziale Zugehörigkeit);

die Voraussetzung sehen, über ein geregeltes Einkommen seine Sicherheits- und physiologischen Bedürfnisse befriedigen zu können (Stufe 2 und 1).

Beobachtbar ist das menschliche Verhalten, das konkrete Tun. Welches Bedürfnis, bzw. welche Bedürfnisse der Einzelne durch sein Handeln tatsächlich befriedigt, ist nicht ersichtlich.

2.9 Die Frustrations-Aggressions-Hypothese

Der Psychologe John Dollard und seine Mitarbeiter stellten 1939 eine Theorie vor, die als Frustrations-Aggressions-Hypothese bekannt wurde. Die Kernaussage ihrer Theorie war, dass dem Auftreten eines aggressiven Verhaltens eine Frustration vorausgeht; dass umgekehrt eine Frustration zu irgendeiner Form von Aggression führt.11 Die Stärke der Aggression hängt vom Ausmaß der Frustration ab.

Als Aggression wird in der Regel ein auf die Verletzung einer Person und oder die Beschädigung einer Sache gerichtetes Verhalten bezeichnet.

Der Psychoanalytiker Erich Fromm12 wies darauf hin, dass das Wort Frustration zur Beschreibung von zwei unterschiedlichen Phänomenen verwandt wird:

Zum einen umschreibt Frustration die Unterbrechung einer bereits begonnenen zielgerichteten Handlung,

zum anderen meint Frustration bereits die Negation eines Begehrens oder Wunsches.

Dollard und seine Mitarbeiter sprachen dann von Frustration, wenn ein Mensch die mit dem Erreichen eines Zieles zu erwartende Befriedigung antizipiert (lat.: vorwegnimmt) und am Erreichen dieses Zieles gehindert wird.

2.9.1 Die Neuformulierung der Frustrations-Aggressions-Theorie durch Leonard Berkowitz

Schon bald wurde den Mitarbeitern der Gruppe um John Dollard jedoch klar, dass nicht jedem aggressiven Akt eine Frustration vorausgeht, dass nicht jede Frustration in aggressives Verhalten einmündet. Bereits zwei Jahre später (1941) rückte Neal E. Miller, ein Mitarbeiter von John Dollard, von der 1939er These ab und beschrieb Frustration als einen Anreiz für aggressives Verhalten. Dieser kann jedoch zu schwach sein, um aggressives Verhalten tatsächlich auszulösen.13

Die Aussage, dass einer Frustration Aggression folgt, darf demnach nicht so verstanden werden, dass der Konfrontation mit einer unüberwindbaren Barriere, die das Erreichen eines Zieles unmöglich macht, nicht auch andere Konsequenzen folgen können. Dies ist in der Tat sogar häufig der Fall. Zwar sind Formen von Aggressionsanreizen grundsätzlich vorhanden, andere Konsequenzen sind aber möglicherweise stärker ausgeprägt als der Anreiz zum Aggressiv-werden.

In den 1960er Jahren ließ der Psychologe Leonard Berkowitz diese Überlegungen in eine modifizierte Frustrations-Aggressions-Theorie einfließen: Bevor einer Frustration aggressive Handlungen folgen, werden zunächst Emotionen (Gefühle) der Wut oder des Ärgers freigesetzt. Erst bei Überschreiten eines Schwellenwertes kommt es zu aggressivem Verhalten.

Erich Fromm14 meinte, dass es in erster Linie eine Frage des Charakters sei, wie ein Mensch auf Frustrationen reagiert.

 

 

2.9.2 Der erste Schwellenwert: Die Frustrationstoleranz

Eine besondere charakterliche Disposition, die darüber entscheidet wie ein Mensch mit Frustrationen umgeht, ist die Frustrationstoleranz. Hierunter wird die Fähigkeit verstanden, Frustrationen auszuhalten und sich konstruktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. In der Umgangssprache spricht man von einem dicken Fell, von Selbstdisziplin oder von einem starken Willen.15 Die unterschiedlich ausgeprägte Frustrationstoleranz ist teilweise angeboren, aber auch erlernt. Werden Kindern möglichst alle Frustrationen erspart, so werden sie auch als Erwachsene kaum angemessen mit solchen Erfahrungen umgehen können. Darüber hinaus ist die Frustrationstoleranz keine feststehende Größe. So mag ein Mensch in einer Situation mehr Spannungen aushalten als in einer anderen. Dies dürfte zum Teil davon abhängen, welche Erfahrungen er in vergleichbaren Situationen sammeln konnte.16

2.9.3 Der Ärgeraffekt

Bei Überschreiten der Frustrationstoleranz stellt sich ein Gefühl des Ärgers ein. Affekte, Gefühle bedeuten jedoch (noch) nicht, dass ein Mensch ein bestimmtes Verhalten zeigt. Ob aus dem Ärgeraffekt Aggressionen erwachsen, hängt von anderen Faktoren ab.

Das Ausmaß (die Größe) des Ärgeraffekts hängt

von der körperlichen Erregung der betroffenen Person,

von der aufgebrachten Aufmerksamkeit und

von der bisherigen Lebenserfahrung ab.

2.9.4 Der zweite Schwellenwert: internale und externale Reize

Erst bei Überschreiten eines zweiten Schwellenwertes, der sich aus internalen und externalen Reizen zusammensetzt, folgt möglicherweise aggressives Verhalten.

1. Internale Reize: Die Disposition zum Aggressivwerden ist in der Person selbst angelegt: Sogenannte internale Reize (charakterliche Disposition, Erregung, Aufmerksamkeit, Erfahrungen) bestimmen über Aggressivwerden oder Nicht-Aggressivwerden.

2. Externale Reize: Darüber hinaus hat auch die soziale Umwelt Einfluss darauf, ob Ärger zu aggressivem Verhalten führt oder nicht. Der Einfluss der Umwelt auf die Aggressionsentstehung wird als externaler Auslöser bezeichnet.

Der externale Reiz konnte im Versuch nachgewiesen werden: Versuchspersonen nahmen vor einem Tisch Platz; dort wurden sie vehement beleidigt und provoziert. Ein Teil der Versuchspersonen saß vor einem Tisch, auf dem Waffen lagen. Eine andere Gruppe hatte vor einem Tisch Platz genommen, auf dem neutrale Gegenstände (wie Geschirr, Blumen etc.) angeordnet waren.

Versuchspersonen, die mit dem Anblick von Waffen konfrontiert wurden, reagierten viel heftiger auf die Beleidigungen, als solche, die auf neutrale Gegenstände blickten. Bereits das Vorhandensein von Waffen – als externer aggressiver Hinweisstimuli – erhöhte die Wahrscheinlichkeit für aggressives Verhalten. Auch Personen, die schon einmal Opfer aggressiven Verhaltens waren, können zu solchen externalen Aggressionsauslösern werden. Weil sie in ihrer Vergangenheit Aggressionen erfahren haben, wird mit ihnen Gewaltbereitschaft assoziiert. So wurde Versuchspersonen ein Film vorgeführt, in dem ein Mann namens Kelly von einem anderen Mann fürchterlich geschlagen wurde. In einem anschließenden Experiment hatten die Zuschauer die Möglichkeit, andere Menschen (Mitarbeiter des Versuchsleiters) mit Elektroschocks zu bestrafen. Die potenziellen Elektroschock-Opfer wurden den Versuchspersonen abwechselnd als Bob Kelly, als Bob Dunne oder als Bob Riley vorgestellt. Bob Kelly wurde – wie sein Namensvetter in dem vorausgegangenen Film – am häufigsten Opfer aggressiven Verhaltens. Menschen, die als Opfer von Gewalt bekannt sind oder solchen ähneln, werden wie in einem Teufelskreis immer wieder zum Ziel von Aggressionen, lösen diese sogar erst aus.

Internale und externale Reize ergänzen sich. Erst beide zusammen machen den Schwellenwert aus, bei dessen Überschreiten Ärger in aggressives Verhalten mündet:

Bei auftretenden Frustrationen wird eine tendenziell aggressive Person (mit ausgeprägter Aggressionsbereitschaft) auch bei geringen externalen Reizen aggressiv reagieren.

Eine tendenziell aggressionsgehemmte Person (mit geringer Aggressionsbereitschaft) wird sich erst bei deutlichen externalen Reizen aggressiv verhalten.

2.9.5 Destruktive und konstruktive Folgen einer Frustration

Als destruktive Folgen einer Frustration können bei Überschreiten der Frustrationstoleranz nicht nur Aggressionen beschrieben werden, sondern auch weitere destruktive Folgen17:

Ausweich- und Fluchtreaktion

Regressionserscheinungen

Abwehrmechanismen

Resignation, Verzicht

Stereotype Verhaltensweisen

In der frustrierenden Lebenswelt Altenheim finden sich nicht nur aggressive, sondern auch

verhaltensauffällige,

resignierende,

sich immer weiter isolierende,

die Realität verdrängende,

regredierende (auf eine frühere Entwicklungsstufe zurückfallende)

alte Menschen, deren Frustrationstoleranz überschritten wurde.

Reflexion

Können Sie einige der oben genannten negativen Frustrationsfolgen von Pflegenden, Patienten und Bewohnern auf vorangegangene Frustrationserfahrungen zurückführen?

Sehen Sie Möglichkeiten, solche Frustrationserfahrungen zu vermeiden?

Als konstruktive Folgen einer Frustration beschreibt Vogel

sich erst recht anstrengen,

neue Mittel, Wege und Zugänge entdecken,

andere Ziele finden (Ersatzbefriedigung).

2.9.6 Aggressionsverschiebung

Bei Frustrationen richten sich die Aggressionen zunächst gegen den Ursprung der Frustrationen. Möglicherweise wird eine solche Aggression jedoch aufgrund drohender Bestrafung oder anderer unangenehmer Konsequenzen gehemmt. In solchen Situationen kann die Aggression auf ein anderes Objekt verschoben werden:

Wurde eine Person frustriert und erscheint die frustrierende Instanz äußerst machtvoll, so kann die Wut an einer dritten unbeteiligten Person, einem anderen Lebewesen (z. B. Hunde, Katzen, aber auch Pflanzen) oder an Gegenständen (unsanft geschlossene Türen, zerschlagenes Geschirr) abreagiert werden.

Die frustrierte Person kann die Aggressionen auch gegen sich selbst richten. Die Spannbreite reicht hier von schweren Selbstvorwürfen bis hin zu körperlichen Selbstverstümmelungen. Ein devotes, selbst erniedrigendes Verhalten wird gleichfalls als unterwürfige Selbstaggression beschrieben.18

Verschobene Aggressionen werden oft an Sündenböcken abreagiert. Minderheiten und soziale Außenseiter sind bevorzugte Zielobjekte verschobener Aggressionen: Sie befinden sich in einer schwachen Position, können keine Vergeltung üben und unterscheiden sich von der eigenen Gruppe, der man nicht aggressiv begegnen darf.

Reflexion

Konnten/mussten Sie einmal erfahren, wie Aggressionen an Sündenböcken abreagiert wurden?

Denken Sie an Situationen aus dem Pflegealltag: Wie reagierten Vorgesetzte, Kollegen, Pflegebedürftige auf erfahrene Frustrationen?

Die verschobenen Aggressionen und die hierbei erfahrene Befriedigung sind umso geringer, je weniger der Sündenbock/das Opfer mit dem Verursacher der Frustration übereinstimmt.

Lehrzielkatalog

Sie wissen jetzt, wie Sie

Seite

zwei miteinander verschränkte Aspekte von Kommunikation unterscheiden und nennen können;

zwischen Kommunikation und Interaktion unterscheiden und beide Verhaltensformen beschreiben können;

das Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation beschreiben können;

erläutern können, was unter dem Begriff Semantischer Hof zu verstehen ist;

erläutern können, was unter dem Begriff Metakommunikation zu verstehen ist;

erläutern können, was unter den Begriffen Assoziation, 1. Dissoziation und 2. Dissoziation zu verstehen ist;

das 3-Speicher-Modell des Gedächtnisses beschreiben können;

beschreiben können, wie viele Informationen für welchen Zeitraum in den einzelnen Gedächtnissystemen gespeichert werden können;

das Schieberegister-Modell eines Gedächtnisspeichers beschreiben können;

den Einfluss von Wahrnehmungsstörungen auf den Kommunikationsprozess beschreiben können;

beschreiben können, welche altersbedingten Veränderungen in den sensorischen Gedächtnisspeichern auftreten;

beschreiben können, welche altersbedingten Veränderungen im Kurzzeitspeicher auftreten;

zwischen Inhalts- und Beziehungsebenen der Kommunikation unterscheiden können;

das 4-Ohren-Modell von Friedemann Schulz von Thun beschreiben können;

beschreiben können, was Birkenbihl unter dem Reptilienhirn versteht;

den Zusammenhang von Stress und Kommunikationsfähigkeit beschreiben können;

erläutern können, was Birkenbihl unter dem Begriff HoRmo Sapiens versteht;

fünf Stufen der Bedürfnispyramide nach Maslow unterscheiden und aufzählen können;

die Grundaussage der Frustrations-Aggressions-Hypothese nach Dollard formulieren können;

erläutern können, was unter Frustration bzw. Aggression zu verstehen ist;

die erste Modifikation der Frustrations-Aggressions-Hypothese durch Miller beschreiben können;

die Neuformulierung der Frustrations-Aggressions-Theorie durch Berkowitz beschreiben können;

erläutern können, was unter dem Begriff Frustrationstoleranz zu verstehen ist;

erläutern können, was unter dem Begriff Ärgeraffekt zu verstehen ist;

drei Faktoren nennen können, die das Ausmaß des Ärgeraffekts bestimmen;

das Zusammenspiel von internalen und externalen Reizen in der Neuformulierung der Frustrations-Aggressions-Theorie beschreiben können;

internale und externale Reize in ihrer Summe als Schwellenwert in der Frustrations-Aggressions-Hypothese beschreiben können;

konstruktive und negative Folgen von Frustrationen unterscheiden und aufzählen können;

erläutern können, was unter Aggressionsverschiebung zu verstehen ist;

drei Kategorien von Objekten, auf die Aggressionen verschoben werden können, unterscheiden und nennen können;

Selbstaggressionen als besondere Form der Aggressionsverschiebung beschreiben können;

»Sündenböcke« als Objekte der Aggressionsverschiebung nennen und beschreiben können.

 

__________

2 Groddeck, N. & Wulf, C. (1977). Die Schule als Feld sozialen Lernens und als Konfliktfeld, in: Hornstein, Walter u. a.: Beratung in der Erziehung; Band 1. Frankfurt am Main, S. 211

3 Benesch, H. (1981). Wörterbuch zur Klinischen Psychologie in zwei Bänden. München, S. 396

4 Burger, H. (1998), Kommunikation und Gesprächsführung in der Seniorenarbeit. Hagen, S. 11

5 Wingchen (2011). Geragogik. Berlin, S. 146

6 Vgl. Wingchen 2011, S. 146 ff, S. 231 ff

7 Birkenbihl, V. F. (1987). Kommunikationstraining. Landsberg am Lech, S. 259

8 Schulz von Thun, F. (2008). Miteinander reden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

9 Birkenbihl 1987, S. 247

10 Siegrist, J. (1977). Lehrbuch der Medizinischen Soziologie. München, Wien, Baltimore, S. 197

11 Fromm, E. (1981). Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek bei Hamburg, S. 88

12 Fromm, E. (1982). Märchen, Mythen, Träume – Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache. Reinbek bei Hamburg, S. 89

13 Zimbardo, P. G. (1983). Psychologie. Berlin, S. 637

14 Fromm 1981, S. 90

15 Susen, G. R. (1985). Lehrbuch der Altenpflege: Psychologie. Hannover, S. 35

16 Vogel, A.-L. (2000). Psychologie der Persönlichkeit und der Krankheit. ATL-Folienvorlagen. Band 10, Hagen, S. 118

17 Vogel 2000, S. 117

18 Benesch 1981, S. 55.

3 DIE PERSONENZENTRIERTE GESPRÄCHS-FÜHRUNG NACH CARL ROGERS

Das von Carl Rogers (1902–1987) in den USA entwickelte und in Deutschland von Annemarie und Reinhard Tausch bekannt gemachte Konzept der nondirektiven Beratung steht als ein der humanistischen Psychologie zuzuordnender Ansatz der Psychotherapie, der auch als Gesprächspsychotherapie bekannt wurde, als dritte Kraft zwischen den tiefenpsychologischen, psychoanalytischen und lernpsychologisch behavioristisch ausgerichteten Therapiekonzepten. Vor allem Carl Rogers’ Mitarbeiter Thomas Gordon (1918–2002) hat diesen therapeutischen Ansatz auf außertherapeutische Gesprächssituationen in Familien- und pädagogischen Beziehungen sowie im Berufsleben übertragen.

Die humanistische Bewegung in der Psychologie geht u. a. auf die Psychologen Abraham Maslow (vgl. Kapitel 2.8), Charlotte Bühler und Carl Rogers zurück, die 1962 mit anderen eine Gesellschaft für humanistische Psychologie ins Leben riefen. Im Mittelpunkt der unter diesem Oberbegriff zu fassenden Therapieschulen steht die humane Beziehung zum Menschen.19

3.1 Carl Rogers: Das Persönlichkeitsmodell

Für das Persönlichkeitsmodell Carl Rogers sind drei Schlüsselbegriffe von elementarer Bedeutung:

1. die Aktualisierungstendenz,

2. der organistische Bewertungsprozess

3. das Selbstkonzept20

Rogers geht davon aus, dass jeder Mensch, ebenso wie jeder andere Organismus, sei es Pflanze oder Tier, der Erhaltung oder dem Wachstum des Organismus verpflichtet ist. Für die angeborene und lebenslang wirkende Fähigkeit, seine Anlagen so zu entwickeln, dass der Organismus sich als Ganzes erhält und auf größere Reife hin entwickelt, wählte Rogers die Bezeichnung Aktualisierungstendenz oder Verwirklichungstendenz. Sie ist nicht nur in der Entwicklung des Kleinkindes bestimmend. Der gesunde Organismus strebt immerfort eine Entwicklung von der Fremdbestimmung hin zu größerer Unabhängigkeit an.

Der organistische Bewertungsprozess gehört zur Grundausstattung eines jeden Individuums: Gemachte Erfahrungen werden nach den Kriterien der Aktualisierungstendenz darauf hin überprüft, ob sie der Förderung des Organismus und der Selbsterhaltung dienlich sind. So entsteht aus der Interaktion mit der sozialen Umwelt eine aus Erfahrungen bestehende Selbstbeschreibung, die als Selbstkonzept bezeichnet wird. Selbstkonzepte, auch als interne Selbstmodelle bezeichnet, umfassen:

kognitive Faktoren und affektive Faktoren,

das Wissen,

die Wahrnehmung von sich,

die Fähigkeitseinschätzung,

Selbstwertgefühl und

Selbstvertrauen.21

Sie werden geleitet von den Fragen:

Was bin ich?

Was möchte ich?

Was kann ich?

Was bin ich wert?

Neue Erfahrungen, die mit bestehenden Selbsterfahrungen übereinstimmen, werden in das Selbstkonzept integriert. Dieses ist das Resultat zweier Prozesse:

1. Erfahrungen, die ein Bewusstsein der eigenen Existenz und des eigenen Funktionierens begründen, werden von anderen Erfahrungen unterschieden. Bis zu diesem Punkt folgt das Kind seinem eigenen organistischen Bewertungsprozess.

2. Die soziale Umwelt nimmt im Rahmen der Erziehung direkten Einfluss auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes und wirkt wie eine Fremdprogrammierung des Selbstkonzeptes von außen. Hier schiebt sich das Bedürfnis nach positiver Zuwendung in den Vordergrund: Die Angst vor Verlust von Zuwendung/Liebe veranlasst Kinder der eigenen organistische Bewertung zu misstrauen und die Fremdprogrammierung zu übernehmen.

 

 

Gerhard Bender22 beschreibt beispielhaft die folgende Situation: Zwei Geschwister spielen. Das ältere Kind schubst das kleinere, das ihm möglicherweise ein Spielzeug weggenommen hat, zu Boden. Diese Aktion des Älteren könnte im Rahmen der organistischen Bewertung durchaus als positiv erfahren werden.

Eine mögliche Reaktion der Mutter, die dieses »Spiel« beobachtet, könnte im Liebesentzug für den kleinen Aggressor bestehen: »Ich mag dich nicht, wenn du so böse bist!« – »Du musst deinen kleinen Bruder doch liebhaben!« Möglicherweise folgen noch Konsequenzen und Strafen. Das mütterliche Verhalten kann als ernsthafte Bedrohung der Selbsterfahrung des Kindes als eines liebenswerten Menschen aufgefasst werden.

Wenn das Kind die Befriedigung, die es mit seinem Tun verbindet, zugibt, so steht dies in Widerspruch zu seinem Selbstkonzept als liebenswerte und geliebt werdende Person: für das Kind eine durchaus ernsthafte Bedrohung. Eine Möglichkeit, aus diesem Widerspruch herauszukommen, besteht darin, die Befriedigung, die beim Umstoßen des Geschwisterchens erlebt wurde, vor dem Bewusstsein zu leugnen. Die Erfahrung kann aber auch so verzerrt werden, dass das Kind die Wertung der Mutter übernimmt und sein eigenes Verhalten als unbefriedigend wahrnimmt und in der Folge nur noch positive Erfahrungen gegenüber dem Bruder zulässt.

Im Rahmen solcher Prozesse werden die Einstellungen der Bezugspersonen übernommen und in das eigene Selbstkonzept integriert.

Ist einmal der Grundstein für das Misstrauen gegenüber der eigenen organistischen Bewertung und dem eigenen Fühlen gelegt, so begleitet dieser das ganze Leben. Die Angst vor dem Verlust von Liebe und Anerkennung bestimmt die spätere Beziehung zu Lehrern, Partnern, Vorgesetzten, aber auch zu Ärzten und Pflegepersonal.

Aus dem Bedürfnis nach Zuwendung durch andere entwickelt sich das Bedürfnis nach Selbstwertschätzung. Ein Kind wird sich so verhalten, wie es sich selbst wertschätzen kann und es wird sich selbst so wertschätzen, wie es einst wertgeschätzt wurde.

Zwar soll die Mutter den mehr oder weniger aggressionsgeladenen Konfliktlösungsversuchen der Kinder nicht tatenlos zuschauen. Ihre Reaktionen dürfen aber nicht das Selbstkonzept bedrohen. Sie müsste vermitteln, dass sie durchaus Verständnis für die Gefühle des Kindes aufbringen kann. Gleichzeitig hat sie darauf zu bestehen, dass der kleinere Bruder nicht gefährdet oder verletzt wird. Das Kind nimmt sein eigenes Verhalten nicht mehr als unbefriedigend wahr, vielmehr erkennt es die Mutter als jemand, der sein Verhalten als unbefriedigend erfährt.

Gefühle zu akzeptieren heißt nicht, ein Verhalten zu billigen. Das Kind vermag zu differenzieren zwischen seinen eigenen (zugelassenen) Gefühlen und den Reaktionen der Mutter auf sein Verhalten. Es ist in der Lage, selbstbestimmt und selbstgesteuert zu differenzieren, was befriedigender ist: die Aggression gegen den Bruder oder die Zustimmung der Mutter.

Ein anderes Beispiel soll verdeutlichen, wie die Fähigkeit, Gefühle zu äußern, in der Erziehung systematisch abhandenkommt: Ist ein Kind gefallen und weint, so äußern viele Erwachsene: »Das tut doch nicht weh!« Dem Kind bleiben nun die Alternativen, Vater oder Mutter als Lügner einzuordnen oder dem eigenen Empfinden zu misstrauen. Die Äußerung: »Ich weiß, dass es weh tut; aber du bist ein tapferes Mädchen/ein tapferer Junge!«, lässt Raum für das kindliche Fühlen.23

Therapeutisches Handeln ist für Rogers der Versuch, wieder Bedingungen herzustellen, in denen organistische Erfahrungen und Selbstkonzept in Einklang gebracht werden können. Therapeuten, so Rogers24, kommt eine Hebammenfunktion zu: Sie sind nicht Ursprung einer Veränderung, sie stellen Rahmenbedingungen bereit, in denen selbstbestimmtes Handeln vor dem Hintergrund organistischer Bewertung möglich wird.

Der sich selbst verantwortende Klient steht im Zentrum der Betrachtung. Nicht ein Problem, das zu lösen ist. So wird dieser Gesprächsansatz als personenzentrierte Gesprächsführung oder, weil er auf eine, die Betroffenen nur wieder fremdsteuernde Lenkung verzichtet, als nondirektive Gesprächsführung bezeichnet

3.2 Effektive Rahmenbedingungen für seelisches Wachstum

Psychotherapeutisches Verhalten unterscheidet sich nicht grundsätzlich von anderen Formen positiver sozialer Beziehung.25 So wird die Bedeutung des obigen Menschenbildes und des daraus abzuleitenden Therapeutenverhaltens auf andere (professionelle und semiprofessionelle) Kommunikationssituationen übertragen. Zu denken ist hier an pflegerische und erzieherische, aber auch seelsorgerische Berufe.26 Molcho, S. (1996a). Körpersprache im Beruf. München, S. 57

3.2.1 Hilfen für die Schaffung effektiver Kommunikation

Ein Gesprächspartner wird sich in der Regel erst dann öffnen, wenn er von seinem Gegenüber eine Einladung erhält. Der Zuhörer muss die Tür öffnen, damit der andere ihm vertrauen kann.

3.2.1.1 Kommunikative Türöffner

Häufig scheuen Menschen davor zurück, ihre Probleme an andere Menschen heranzutragen. Sie wollen andere nicht als »seelischen Mülleimer« benutzen. Sie wollen anderen nicht zur Last fallen, wollen ihnen die Zeit nicht stehlen oder fürchten, zurückgewiesen zu werden.

Deshalb ist es notwendig, dass der Zuhörer auf irgendeine Weise seine Bereitschaft zuzuhören zum Ausdruck bringt: Gute Zuhörer demonstrieren intensive Aufmerksamkeit mit Formulierungen wie:

»Möchten Sie darüber reden?«

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Würde es Ihnen helfen, darüber zu sprechen?«

»Manchmal hilft es, wenn man sich etwas einfach von der Seele redet!«

Diese kommunikativen Türöffner helfen, das Eis zu tauen und ein Gespräch in Gang zu setzen.

Reflexion

Fallen Ihnen noch weitere »Türöffner« ein?

Formulieren Sie mit Ihren eigenen Worten zehn Türöffner!

Eignen sich einige Türöffner für bestimmte Gesprächspartner besonders gut, für andere weniger? Warum?

3.2.1.2Effektives (passives) Zuhören

Menschen, die über ein persönliches Problem reden möchten, werden am ehesten dazu ermutigt, wenn sie einen Zuhörer finden, der wirklich zuhört, nicht dazwischenredet, sich Zeit zum Zuhören nimmt. Das gelangweilte Hinausschauen aus dem Fenster, der Blick auf die Uhr, das Spiel mit dem Kugelschreiber, eine Körperhaltung, die Eile und Stress signalisiert, können jedes sich anbahnende Gespräch im Keim ersticken.

Die Bereitschaft zuzuhören ermutigt den anderen, mit seinen Ausführungen fortzufahren. Es geht um Rückmeldungen, die signalisieren, dass der Zuhörer wirklich bei der Sache ist, dass er in der Tat zuhört, sind für eine effektive Kommunikation wichtig.

Aufmerksamkeit signalisiert ein selbstverständlicher Augenkontakt, die Bereitschaft, den anderen anzusehen, ohne ihn provozierend mit den Blicken zu durchlöchern. Die Feststellung: »Er hat mich fixiert« war in früheren Zeiten sogar Anlass für ein Duell!

Aufmerksamkeit kann auch körpersprachlich durch ein Kopfnicken, eine Hinwendung zum anderen oder eine Geste ausgedrückt werden (nonverbale Aufmerksamkeitsbekundungen).

Verbale Aufmerksamkeitsbekundungen sind Äußerungen wie

»Oh«

»Hm«

»Ja!?«

»Tatsächlich?«

»Wirklich?«

»Interessant«

3.2.1.3 Aktives Zuhören

Türöffner und Aufmerksamkeitsreaktionen ermutigen Menschen, mit dem Reden zu beginnen und fortzufahren. Sie können jedoch nicht vermitteln, dass der Zuhörende den Inhalt versteht oder sich zumindest um Verständnis bemüht.

Im Rahmen des aktiven Zuhörens erhält der Sprecher vom Zuhörenden ein Feedback, eine Rückmeldung über das, was bei ihm angekommen ist.

Die ganze Kunst des aktiven Zuhörens27 besteht darin, dem Kommunikationspartner häufig und fortlaufend zurückzumelden, was verstanden wurde. Dies signalisiert dem anderen nicht nur, dass man wirklich bei der Sache ist, es gibt ihm auch die Möglichkeit, die Rückmeldung zu bestätigen oder ggf. zu korrigieren, so dass mögliche Missverständnisse gar nicht erst aufkommen können.

Solche Rückmeldungen können in Form einer kurzen Zusammenfassung gegeben werden (»Sie meinen also, …«). Sie können aber auch fragend formuliert werden (»Habe ich Sie richtig verstanden, dass …?«). Wenn der Zuhörende nicht verstanden hat, was sein Gegenüber meint, so ist es sinnvoll, gezielt nachzufragen. Sich in die Situation eines anderen hineinzudenken, sich an seine Stelle zu versetzen, seine persönliche Bedeutungswelt nachzuvollziehen und ihm dieses zurückzumelden, wird als Empathie bezeichnet.

Rogers28 beschreibt sehr eindrucksvoll, wie grundlegend sich die innere Welt eines Menschen von dem unterscheidet, was ein Beobachter »wahr«-zunehmen glaubt: Ein als schwierig beschriebener Junge wurde einem Psychologen vorgestellt. Das stille, sensible, einsame Kind hatte Angst vor anderen Kindern und sonderte sich immer mehr ab. Eines Tages konnte der Psychologe beobachten, wie der Junge allein im elterlichen Garten dem Lärm der spielenden Nachbarskinder lauschte. Er warf sich auf den Bauch, hämmerte mit seinen weißen Schuhen auf den Boden und erblickte einen Regenwurm. Er legte ihn auf eine Steinplatte, suchte einen scharfen Kieselstein und begann, das Tier in der Mitte durchzutrennen. Der Psychologe, dieses Verhalten registrierend, notierte: »übermäßig aggressiv oder sadistisch« – »man sollte ihm kein Messer in die Hand geben« – »man sollte ihm keine Haustiere anvertrauen«. Mehr zufällig bemerkte er, dass der Junge mit sich selber sprach. Das, was der Psychologe hörte, stellte seine Aufzeichnungen auf den Kopf! Das Kind sagte zu dem durchtrennten Wurm: »Da, jetzt hast du einen Freund!«

Reflexion

Können Sie sich an Situationen aus Ihrem Berufsalltag erinnern, in denen voreilige Schlüsse über konkrete Verhaltensweisen gezogen wurden?

Kommen Ihnen Formulierungen wie: »Das macht der nur, weil …!« oder: »Die ist eben …!« bekannt vor?

3.2.2 Drei Forderungen an eine personenzentrierte Gesprächsführung

Die Bereitschaft zur Selbstexploration, zur Auseinandersetzung mit Diskrepanzen organistischer Bewertungsprozesse und dem eigenen Selbstkonzept ist an Rahmenbedingungen in der Kommunikation gebunden, die Carl Rogers in der personenzentrierten Gesprächsführung als Akzeptanz, Kongruenz und Empathie beschreibt.

 

 

3.2.2.1 Akzeptanz

Gleichbedeutend werden häufig folgende Begriffe gebraucht: »Akzeptierung«, »Wärme«, »emotionale Wärme«, »uneingeschränkte Wertschätzung«, »positive Wertschätzung«. Der Therapeut steht dem Klienten positiv und wohlwollend gegenüber. Er akzeptiert seine Äußerungen und Erlebniswelt auch dann, wenn sie seinen eigenen Erwartungen und Einstellungen widersprechen.

Das heißt keinesfalls, dass er den inhaltlichen Äußerungen eines Menschen zustimmen muss bzw. jedes Verhalten billigen muss. Vielmehr geht es darum, die Person als solche, unabhängig von dem, was sie tut oder tat, empfindet oder äußert, zu akzeptieren und nicht zu werten. Der Gesprächspartner hat das Recht, sein Fühlen und Empfinden zuzulassen und auszudrücken. Es ist ihm aber nicht gestattet, durch das Umsetzen seiner Impulse in Handlungen, anderen, dem Therapeuten oder Dritten, zu schaden. Persönliche Bewertungen würden beim Klienten nur aufs Neue Diskrepanzen zwischen organistischer Bewertung und Selbstkonzept heraufbeschwören.

Den Gesprächspartner wertzuschätzen bedeutet zunächst, Interesse an seiner Person zu bekunden, aber auch die elementaren Formen der Höflichkeit zu beachten. Dies beginnt bereits bei der Anrede. Der Name eines Menschen gibt ihm seine Identität. Ihn mit seinem Namen anzusprechen, erkennt seine Einmaligkeit an. Sich einen Namen zu merken – und zwar richtig zu merken, und nicht etwas ähnlich Klingendes von sich zu geben – signalisiert Respekt. Jeder kennt die Wirkung der – von Vorgesetzten mit gerunzelter Stirn vorgebrachten – Frage: »Wie war doch gleich Ihr Name?«

Nicht nur in Verkäuferschulungen wird das Ansprechen der Kunden mit dem Namen als Voraussetzung effektiver Verkaufsgespräche herausgestellt; in Management-Seminaren wird das Trainieren des eigenen Namensgedächtnisses als ein Baustein beruflichen Erfolgs gewürdigt.

Den Familiennamen eines Menschen bewusst zu verunstalten und zu veralbern und auf der eigenen Wortschöpfung zu bestehen, wenn der Angesprochene versucht richtigzustellen (»Ich heiße nicht …!«), zeugt nicht nur von Taktlosigkeit, sondern vermag den anderen in seiner Identität zu treffen.

Als wünschenswertes Therapeutenverhalten wird beschrieben:

Respekt vor den Rechten eines freien Individuums

Zuwendung, die nicht an Bedingungen geknüpft ist

Verständnis für eine erfahrene Kritik bzw. Ablehnung

Teilnahme nicht nur an Wünschen und Freuden, sondern auch an Versagen und Niedergeschlagenheit

Wenig Akzeptanz zeigen Therapeuten, die

aktiv raten (»Also ich an Ihrer Stelle würde ja …!«);

wissen, was das Beste ist (»Da sollten Sie aber unbedingt …!«);

missbilligen oder zustimmen (»Da muss ich Ihnen aber energisch widersprechen!«);

nach eigenen Wertmaßstäben urteilen (»Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein!«);

sich für den Klienten verantwortlich fühlen (»Soll ich mal mit Ihrer Tochter reden?«);

ihr Gegenüber geringschätzen und missachten;

unfreundlich, demütigend, zynisch (re-)agieren;

entmutigen;

misstrauen;

kalt, distanziert und professionell (»Ich bin der Fachmann!«) erscheinen.29

Das Akzeptieren der eigenen Person durch einen Therapeuten/Gesprächspartner wird positiv erfahren:

Selbstwertschätzung und Akzeptierung der eigenen Person steigen.

Gefühle der Bedrohung und Verteidigungshaltungen nehmen ab.

Die Bereitschaft zur Selbstauseinandersetzung/Selbsterfahrung steigt.

Akzeptanz ermutigt, Probleme eigenständig anzugehen.

Akzeptierte Menschen bringen auch ihrem Gesprächspartner Achtung entgegen (Auslösung reziproker Affekte).

Die Art und Weise, wie wir miteinander sprechen, inwiefern wir Achtung und Wertschätzung im Gespräch vermitteln, vermag in unserem Partner »heilende« oder »krankmachende« Vorgänge auszulösen.30

Reflexion

Konnten/mussten Sie selbst bereits einmal die Erfahrung machen, welche Empfindungen sich bei Ihnen einstellten, wenn ihr Gesprächspartner Ihnen wenig respektvoll und fürsorglich gegenübertrat?

3.2.2.2 Kongruenz

Gleichbedeutend werden häufig folgende Begriffe gebraucht: »Echtheit«, »Selbstkongruenz«, »Aufrichtigkeit«, »ohne Fassade«. Der Therapeut soll in der Lage sein, sein aktuelles Erleben unverzerrt wahrzunehmen und dem Klienten mitzuteilen. Dies heißt nicht, dass der Therapeut seinem Gegenüber alles mitteilen soll, was in ihm vorgeht. Aber das, was er äußert und seine Gefühle sollten übereinstimmen.

1. Ehrlich zu sich selbst zu sein, sich selbst nichts vorzumachen, heißt zu seinem eigenen Fühlen und Empfinden zu stehen. Ist diese Situation für mich angenehm oder unangenehm? Belastet sie mich, oder kann ich angemessen mit ihr umgehen? Passt das, was gesagt wird zu dem, wie es gesagt wird?

2. Auch sollte er ohne Maske auftreten und sich nicht hinter der Fassade des unbeteiligten Experten verstecken, den nichts berührt. Als Person wahrnehmbar zu sein, heißt, sich mit einem Namen vorzustellen, sich nicht hinter einem Titel (Herr Doktor) oder einer Berufsbezeichnung (Schwester) zu verstecken.

Wünschenswertes Therapeutenverhalten:

Erfreuliche und verletzende Erfahrungen werden zugelassen.

Bei verletzenden Erfahrungen gibt es keine Verteidigungshaltung oder Rückzug.

Das, was geäußert wird, passt dazu, wie es geäußert wird.

Wenig Kongruenz zeigen Therapeuten, die

defensiv reagieren und wenig von sich preisgeben;

eine deutliche Diskrepanz zwischen momentanem Erleben und den eigenen Äußerungen zeigen;

eine freundliche Fassade ohne jede Herzlichkeit vor sich hertragen;

gekünstelt wirken;

ihr eigenes Fühlen und Empfinden nicht wahrnehmen und sich selbst etwas vormachen.

teilnahmslos, ohne jede Mimik, undurchschaubar wirken. Individuelle Vorlieben und modische Accessoires können den mimischen Ausdruck einer Person häufig verschleiern. So sind Gemütsbewegungen bei Brillenund Bartträgern nicht immer einfach zu erkennen.31

Die Kongruenz des Therapeuten/Gesprächspartner wird positiv erfahren:

Der Klient weiß, woran er ist und kann Vertrauen fassen

Erst auf der Grundlage von Kongruenz kann Akzeptanz vermittelt werden

Die Bereitschaft zur Selbstauseinandersetzung/Selbsterfahrung steigt

Kongruenz ist keinesfalls der Freibrief, den anderen zu verletzen. Kongruenz meint einen Einklang von Eindruck und Ausdruck, von Empfinden und Verbalisierung. Äußerungen werden als Ich-Botschaften und nicht als Verurteilungen und Bewertungen formuliert (»Ich bin sauer!«, nicht: »Sie machen mich sauer!«). Sie beschreiben das eigene Fühlen und Denken. Echtheit hat somit nichts mit dem ungehemmten Ausdruck negativer Gefühle oder persönlichen (Be-)wertungen zu tun. Kongruente Äußerungen lassen nie den Respekt vor der Würde des anderen vermissen: In der personenzentrierten Gesprächsführung sind Kongruenz und Akzeptanz untrennbar miteinander verbunden.32

3.2.2.3 Empathie

Gleichbedeutend werden häufig folgende Begriffe gebraucht: »Einfühlendes Verstehen«, »Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte«. Der Therapeut bemüht sich, die Erfahrungen aus der Sicht des Gegenübers wahrzunehmen und diese zurückzumelden. Es geht nicht darum, den Inhalt einer Formulierung zurückzumelden. Vielmehr geht es um das Nachempfinden und Verbalisieren der wahrgenommenen Gefühls- und Bedeutungsaspekte. Gleichzeitig sind Interpretationen unbewusster Gefühle zu vermeiden. Das Verbalisieren, das Aussprechen der hinter einer inhaltlichen Aussage stehenden gefühlsmäßigen Bedeutung, wird als Spiegeln bezeichnet.

Wünschenswertes Therapeutenverhalten:

Nicht nur die formulierten Inhalte, sondern auch die gefühlten Bedeutungen werden wahrgenommen und formuliert (gespiegelt).

Es wird wahrgenommen, welche Bedeutung die Äußerungen für das Selbst des anderen haben.

Die eigenen Handlungen sind dem persönlichen Erleben des anderen angemessen.

Wenig Empathie zeigen Therapeuten, die

auf die Äußerungen des anderen nicht eingehen;

nicht auf die hinter einem Verhalten oder einer Äußerung stehenden Gefühle eingehen;

den anderen anders verstehen, als dieser sich selbst;

mit ihrem Tun und ihren Äußerungen das Fühlen und die Empfindungen des anderen unberücksichtigt lassen.33

Die Konfrontation mit den eigenen, gespiegelten Erlebnisinhalten ermöglicht dem Klienten:

eine verstärkte Auseinandersetzung mit den eigenen Erfahrungen und Gefühlen, die jetzt manifest und nicht nur gespürt wurden;

einen Zuwachs an Selbstakzeptierung (das wohlwollende Spiegeln eines kongruenten Partners lässt das eigene Tun nicht mehr als abnorm, als anders als bei anderen Menschen erscheinen);

sich seiner Wut, seines Ärgers, seiner Angst bewusst zu werden;

eine erhöhte Selbstexploration.

Bereits die Tatsache, dass jemand da ist, der zuhört und sich um Verständnis bemüht, ist eine positive, versöhnende Erfahrung. Aufgabe der Therapie34 ist es, einen Zerfallszustand der menschlichen Kommunikation zu beenden. Bei emotional fehlangepassten Menschen ist die intrapersonale Kommunikation, die Kommunikation mit sich selbst, zusammengebrochen. Unbewusste oder verdrängte Teile des Selbst disharmonieren mit den bewussten, handelnden Teilen des Selbst und können sich diesen nicht mitteilen. Solange dieser Zustand andauert, sind die organistische Bewertung und die Kommunikation mit anderen Menschen gestört.

Das empathische Nachempfinden, das Verbalisieren und Spiegeln der vom Klienten geäußerten Erlebnisinhalte dient der Verbesserung dieser inneren Kommunikation.

 

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Abb. 9: Wenn emotionale Erlebnisinhalte verbalisiert werden.

 

Intuition und Gefühle haben bei Rechtshändern ihren Platz in der rechten Gehirnhälfte; logisch-analytisches (verbales) Denken ist in der linken Gehirnhälfte beheimatet. Begegnet der Klient in den empathisch nachempfundenen und verbalisierten, gespiegelten Äußerungen des Therapeuten seiner eigenen Gefühls- und Erlebniswelt, so wird diese wieder dem bewussten Denken zugänglich. So verstanden, kann nondirektive Gesprächsführung als eine Wiederherstellung interner (innerpsychischer) Kommunikationsvorgänge über den Umweg eines äußeren Therapeuten/Beraters verstanden werden.

3.2.3 Kommunikationssperren und »Killerphrasen«

So wie bestimmte Formulierungen hilfreich sind, einen Kommunikationsprozess in Gang zu bringen, so sind andere Äußerungen bestens dazu geeignet, diesen im Sande verlaufen zu lassen. Werden erstere Türöffner genannt, so werden letztere als Killerphrasen oder Kommunikationssperren bezeichnet. Thomas Gordon35 beschreibt zwölf typische Kommunikationssperren und die möglichen Reaktionen darauf:

1. Befehlen, Anordnen (»Sie müssen das tun!« – »Ich erwarte von Ihnen, dass …«)

kann Furcht oder Widerstand wecken;

provoziert möglicherweise, es darauf ankommen zu lassen;

weckt u. U. Rebellion und Vergeltung.

2. Warnen, Drohen (»Wenn Sie …, dann …« – »Das sollten Sie nicht tun!«)

kann zu Unterwerfung und Angst führen;

provoziert möglicherweise, es darauf ankommen zu lassen;

weckt u. U. Groll und Auflehnung.

3. Moralisieren, Predigen (»Sie sind verpflichtet …« – »Ich bitte Sie …«)

verpflichtet den anderen zu etwas;

signalisiert: Allein schaffst du es nicht;

provoziert möglicherweise die Reaktion: »Wer sagt das?«

4. Vorschläge machen, Lösungen vorgeben (»Ich würde …« – »Versuchen Sie doch …«)

signalisiert: Allein schaffst du es nicht;

signalisiert: Es gibt keine Chance, eigene Lösungen zu finden;

macht abhängig.

5. Durch Logik überzeugen (»Die Erfahrung lehrt …« – »Fakt ist, dass …«)

provoziert Verteidigungshaltung;

provoziert zum Nicht-Zuhören, (»Hat ja doch keinen Zweck!«);

signalisiert: »Du bist auf dem falschen Dampfer«.

6. Urteilen, Kritisieren (»Sie haben unrecht …« – »Wie dumm von Ihnen!«)

Bewertet;

kann aus Angst vor weiterer Kritik zum Rückzug führen;

kann dazu führen, dass das Urteil zur Selbsteinschätzung führt.

7. Loben, Zustimmen (»Sie haben große Fähigkeiten!« – »Sie haben Recht: Dieser Dozent ist unfähig!«)

signalisiert hohe Erwartungshaltung;

kann als Manipulation aufgefasst werden;

ist beklemmend, wenn die Selbsteinschätzung anders ist.

8. Beschimpfen, Lächerlich machen, Beschämen (»Unsere Frau Immerklug!« – »Sie stellen sich ganz einfach dumm an!«)

kann dazu führen, dass sich das Gegenüber wertlos fühlt;

provoziert verbale Vergeltung.

9. Interpretieren, analysieren (»Sie wollen nur Eindruck schinden!« – »Das sagen Sie nur, weil …«)

kann als Bloßstellung und Enttäuschung empfunden werden;

provoziert Angst vor Entlarvung oder Verdrehung.

10. Beruhigen, Trösten (»Morgen sieht alles anders aus!« – »Das ist doch nicht schlimm!«)

kann dazu führen, dass sich das Gegenüber nicht ernst genommen fühlt;

provoziert Feindseligkeit (»Der hat gut reden!«);

provoziert Selbstschädigung: »Ich darf diese Gefühle nicht haben!«

11. Forschen, Verhören (»Warum haben Sie das getan?« – »Wer war das?«)

strukturieren ein Problem so, wie der Frager es sieht;

provoziert Trotz aus Angst vor Kritik oder Lösungsvorschlägen (s. auch 4 und 6);

schüchtert ein (»Warum fragt er nur?«).

12. Ablenken, Aufziehen (Spötteln) (»Reden wir über etwas, Angenehmes!« – »Sie haben Probleme!«)

signalisiert: Schwierigkeiten geht man besser aus dem Weg;

signalisiert: »Ich sehe es falsch: Es ist gar kein Problem«!

führt zum Rückzug: »In Zukunft sage ich lieber nichts.«36

Diesen Kommunikationssperren ist gemeinsam, dass sie allesamt eine Nichtbeachtung der drei von Rogers eingeforderten Kommunikationsvariablen darstellen.

Es ist wichtig herauszustellen, dass die Typischen Zwölf, wie Thomas Gordon diese Klassifikation von Kommunikationssperren nennt, nicht unbedingt alle zu Sperren werden. Dies tritt bei einigen erst dann ein, wenn der Betroffene eine Situation als problematisch einstuft, wenn er ein Problem hat. Ein beruhigendes: »Das ist doch nicht schlimm!« (Sperre 10) wird dann zur Sperre, wenn es vom Kommunikationspartner als schlimm angesehen wird, weil er sich dann in seiner Betroffenheit nicht angenommen fühlt (fehlende Empathie, Akzeptanz), oder wenn der Sprecher es als schlimm betrachtet und seine Äußerung nicht kongruent vorbringen kann.

Ähnlich verhält es sich mit dem Loben (Sperre 7). Hier soll nicht ein Lobesverbot ausgesprochen werden. Das Lob wird zur Kommunikationssperre, wenn der Lobende sein Lob nicht kongruent vermitteln kann bzw. wenn der Gelobte beispielsweise seine Leistungsgrenze erreicht hat und sich durch Loben zur weiteren Überforderung genötigt fühlt oder sein Ergebnis als nicht lobenswert einschätzt (mangelnde Empathie, Akzeptanz).Wer auf seine Leistungen stolz ist, darf auch von anderen ein Lob und eine Anerkennung erwarten, die dann sogar zu einer produktiven Kommunikationshilfe werden können.

Andere Sperren, wie Beschimpfen (Sperre 8) oder Drohungen (Sperre 2) werden jedoch im Kommunikationsprozess nie als hilfreich empfunden werden.

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die Begriffe Aktualisierungstendenz, organistischer Bewertungsprozess und Selbstkonzept unterscheiden und beschreiben können;

das Selbstkonzept als Ergebnis zweier Prozesse beschreiben können;

mögliche Inkongruenzen zwischen Aktualisierungstendenz und Wunsch nach Wertschätzung beschreiben können;

die Entstehung von Verleugnungen und Verzerrungen in der kindlichen Entwicklung erläutern können;

beschreiben können, welche Bedingungen der Entwicklung Carl Rogers in der non-direktiven Beratung wieder herstellen möchte;

erklären können, was in der nondirektiven Gesprächsführung unter einem Türöffner verstanden wird;

den Unterschied zwischen aktivem und passivem Zuhören beschreiben können;

drei Möglichkeiten beschreiben können, wie der Zuhörer unter Beweis stellen kann, dass er bei der Sache ist und in der Tat zuhört;

erläutern können, wobei es beim aktiven Zuhören wirklich ankommt;

drei Einstellungen bzw. Verhaltensweisen aufzählen können, die Rogers als Voraussetzung effektiver Kommunikation beschreibt;

erläutern können, welches Therapeuten-/Gesprächsverhalten mit dem Begriff Akzeptanz beschrieben wird;

mindestens zwei andere Begriffe nennen können, die gleichbedeutend mit dem Begriff Akzeptanz gebraucht werden;

fünf Möglichkeiten beschreiben können, wie der Therapeut/Gesprächspartner wenig Wertschätzung zeigt;

beschreiben können, warum das Akzeptieren der eigenen Person vom Gesprächspartner positiv erfahren wird;

erläutern können, welches Therapeuten-/Gesprächsverhalten mit dem Begriff Kongruenz beschrieben wird;

mindestens zwei andere Begriffe benennen, die gleichbedeutend mit dem Begriff Kongruenz gebraucht werden;

fünf Möglichkeiten beschreiben können, mit denen der Therapeut/ Gesprächspartner wenig Kongruenz zeigt;

beschreiben können, warum die Kongruenz des Gesprächspartners positiv erfahren wird;

erläutern können, welches Therapeuten-/Gesprächsverhalten mit dem wird;

mindestens zwei andere Begriffe benennen, die gleichbedeutend mit dem Begriff Empathie gebraucht werden;

vier Möglichkeiten beschreiben können, mit denen der Therapeut/ Gesprächspartner wenig Empathie zeigt;

vier Erfahrungen nennen und beschreiben können, die dem Gesprächspartner einfühlendes Verstehen ermöglicht;

die Beteiligung linker und rechter Hirnhälfte beim einfühlenden Verstehen beschreiben können;

zwölf Kommunikationssperren aufzählen können;

für jede Kommunikationssperre mindestens eine typische Redewendung (Killerphrase) formulieren können;

begründen können, warum eine Redewendung als Kommunikationssperre bezeichnet wird;

den Zusammenhang von Problembesetzung und Kommunikationssperren beschreiben können.

 

__________

19 Benesch 1981, S. 276; Bühler, C. (1987). Humanistische Psychologie (Stichwort), in: Arnold, W.; Eysenck, H. & Meili, R. (1987). Lexikon der Psychologie in drei Bänden. Freiburg, Basel, Wien, S. 916

20 Bender, G. (1979). Die Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie von C. R. Rogers, in: Sieland, B.& Siebert, M. [Hrsg.] (1979). Klinische Psychologie für Pädagogen. Braunschweig, S. 89 ff.; Rogers,C. (1983). Therapeut und Klient. Frankfurt am Main, S. 41ff

21 Vogel 2000, S. 34

22 Bender 1979, S. 96

23 Molcho, S. (1996a). Körpersprache im Beruf. München, S. 57

24 Rogers, C. (1985). Die Kraft des Guten (On Personal Power – Inner Strength and its revolutionary Impact). Frankfurt am Main, S. 26

25 Teegen, F. (1983). Gesprächspsychotherapeutische Elemente in quasi-therapeutischen Interaktionssituationen, in: Gesellschaft für wissenschaftl. Gesprächspsychotherapie [Hrsg.] (1983). Die klien- tenzentrierte Gesprächspsychotherapie. Frankfurt, S. 212

26 Vgl. Benesch 1981, S. 240

27 Gordon, T. (1989). Manager-Konferenz: Effektives Führungstraining. Reinbek bei Hamburg, S. 65

28 Rogers 1983, S. 161f

29 vgl. Bender 1979, S. 104 ff.; Tausch, R. & Tausch A.-M. (1981). Gesprächspsychotherapie. Göttingen,S.68f

30 Tausch 1981, S. 77

31 vgl. Bender 1979, S. 106 ff.; Tausch 1981, S. 88 f.

32 Vgl. Tausch 1981, S. 95

33 Vgl. Bender 1979, S. 107 ff.; Tausch 1981, S. 35 f.

34 Rogers, C. (1988). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart, S. 321

35 Gordon 1989, S. 68 ff.de.wikipedia.org/wiki/Kommunikationssperre_(Psychologie) [Zugriff am 09.03.2014]

36 Gordon, T. (1987). Familien-Konferenz: Die Lösung von Konflikten zwischen Eltern und Kind: Rein- bek bei Hamburg, S. 48 f.

4 DAS DIDAKTISCH-DIREKTIVE KOMMUNIKATIONSMODELL NACH ALBERT ELLIS (REVT)

Die zu Beginn der 1970er Jahre von dem Bonner Psychologen Hans Thomae (1915–2001) entwickelte kognitive Theorie des Alterns wird heute als eine der klassischen Alterstheorien angesehen. Bei dieser Theorie ging es Thomae weniger darum, die objektiven Gegebenheiten des Alternsprozesses zu beschreiben; er wandte sich vielmehr der Frage zu, wie der Einzelne diesen Prozess des Altwerdens und Altseins interpretiert und erlebt.37 Thomaes Theorie baut auf drei Grundannahmen auf:

1. Das Verhalten eines (alten) Menschen kovariiert stärker mit der erlebten Veränderung einer Situation als mit der objektiven Veränderung einer Situation. D. h., wie der Einzelne sich in einer Situation verhält, hängt weniger von den objektiven Gegebenheiten ab, als vielmehr davon, wie er diese Situation erlebt. Die subjektive Einschätzung, das subjektive Erleben bestimmen das Verhalten, nicht die Situation selbst.

2. Wie Situationen und Veränderungen von Situationen erlebt werden, hängt von (z. T. unbewussten) Bedürfnissen und Erwartungen des Betroffenen (und der Gruppe, zu der er gehört) ab.

3. Voraussetzung für ein erfolgreiches, zufriedenes Altern ist ein Gleichgewicht zwischen dem subjektiven Erleben und den Bedürfnissen.

Im Falle eines nicht erfolgreichen, nicht zufrieden verlaufenden Alterns liegt das Ziel eines therapeutischen Gespräches darin, das Gegenüber zu einer anderen Sichtweise der gegenwärtigen Situation und ggf. zu einer Korrektur seiner Erwartungshaltungen zu bewegen.38

Ein Kommunikationsmodell, in dem eine solche direktive Absicht in den Vordergrund der Gesprächsführung tritt, wurde im Rahmen der kognitiven Therapie oder der kognitiven Verhaltenstherapie entwickelt.

In den 1950er Jahren entwickelte der amerikanische Psychotherapeut Albert Ellis (1913–2007) seinen Ansatz, der als RET (Rational-Emotive Therapie) bekannt wurde. Seit 1993 spricht Ellis von der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie, von REVT [englisch/amerikanisch: REBK = Rational-Emotive-Behavior Therapy].39

Der holländische Psychologe René Diekstra40, Professor an der Universität Leiden, nennt Ellis den wichtigsten Exponenten im Feld der kognitiven Verhaltenstherapeuten.

Der deutschsprachige RET-Pionier Horst Zimmermann41 nennt für die möglichen Klienten dieses Therapieansatzes eine Altersspanne von fünf bis 70 Jahren und verweist explizit auf die Zielgruppe alter Menschen. Albert Ellis42 weist ausdrücklich darauf hin, dass REVT weniger intelligente Menschen besser anzusprechen vermag, als andere verbale Zugangsformen. Weniger das Alter selbst, als eine deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit und extreme Rigidität schränken diesen Therapieund Kommunikationsansatz ein.43

4.1 REVT: Das Persönlichkeitsmodell

In allen Therapieverfahren, die auf den Gesetzen der Lernpsychologie aufbauen, wird Verhalten – sofern es nicht genetisch/organisch bedingt ist – auf vorausgegangene Lernprozesse zurückgeführt. Ein Menschenbild, in dem der Einzelne als das Ergebnis von Lernerfahrungen in einer sich verändernden Umwelt erscheint, ist »Jenseits von Freiheit und Würde«, so der Titel eines Standardwerkes des Lernpsychologen Burrhus F. Skinner (1973; amerikanischer Originaltitel: Beyond freedom and dignity), angesiedelt.

Skinner selbst forderte den Entwurf einer Verhaltenstechnologie und interpretierte Therapeuten damit als Verhaltensingenieure.44

4.1.1 Reize, Reaktionen, Kognitionen

Im Mittelpunkt der klassischen Lerntheorien des klassischen und operanten Konditionierens stand das Erlernen von Reiz-Reaktionsverbindungen: Reize lösen Reaktionen aus!

 

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Im Rahmen des klassischen Konditionierens wird erlernt, angeborene/ unbedingte Reaktionen nicht nur auf unbedingte Reize, sondern auch auf Reize (bedingte Reize), die zuvor keine Reaktion hervorriefen, zu zeigen.

Im Rahmen des operanten Konditionierens werden die eine Situation bestimmenden diskriminativen Reize erlernt, die dem Einzelnen signalisieren, dass bei ihrer Anwesenheit konditioniertes Verhalten zu zeigen ist.45

Über diese reaktiven Modelle gehen die Ansätze der kognitiven Therapien hinaus. Zwar berichten Menschen immer wieder, dass bestimmte Ereignisse (Stimuli, Reize) bestimmte Reaktionen nach sich ziehen. So führt die Kenntnis vom Tod eines geliebten Menschen (Reiz) zur Traurigkeit (Reaktion); die Nachricht (Reiz) vom Tod eines nahe stehenden Menschen bei einem Verkehrsunfall löst Angst (Reaktion) vor einem ähnlichen Schicksal aus.

In diesen Beispielen lässt sich jedoch ein Zwischenglied zwischen dem externen Reiz und der (affektiven) Reaktion nachweisen.

Anders als ein Tier, das in konkreten (durch Reize bestimmten) Situationen bestimmte Empfindungen/Reaktionen zeigt, können Menschen Situationen fürchten (Reaktion), die nur in ihren Vorstellungen gefährlich erscheinen. Der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel (121–180) konstatierte bereits vor über 1.800 Jahren, dass es nicht die Dinge selbst sind, die den Menschen beunruhigen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.

Die fehlenden Elemente zwischen Reizen und Reaktionen werden als kognitive Prozesse oder Kognitionen bezeichnet. Kognitionen sind jene innerpsychischen Vorgänge, die die Wahrnehmungen und die gedankliche Verarbeitung von Inhalten umfassen. Sie sind an allem, was ein Mensch kann und tut, beteiligt und stehen wie ein Filter zwischen der auf uns einwirkenden Umwelt und unseren gefühls- und verhaltensmäßigen Reaktionen: Dieses Modell erklärt, warum verschiedene Menschen auf gleiche Stimuli (Reize) so unterschiedlich reagieren. Kognitive Prozesse sind integrativer Bestandteil einer sich aus drei Komponenten zusammensetzenden Einstellung:

1. Gedanken, Vorstellungen (wie die Dinge zu sein haben),

2. Emotionen (Gefühle, die mit diesen Überzeugungen verknüpft sind) und

3. eine Handlungskomponente (zumindest eine Handlungsbereitschaft).46

Die Einstellung, dass alte Menschen hilfsbedürftig und gebrechlich sind, zeigt die drei oben beschriebenen Bestandteile:

1. Gedanke/Kognitive Komponente: Das Wissen, dass der alte Organismus defizitär, nicht mehr so leistungsfähig wie ein junger ist.

2. Emotionale Komponente: Mitgefühl, Mitleid für den Armen, Gebrechlichen.

3. Handlungskomponente: Sich dem alten Menschen aktiv zuwenden, sich um ihn kümmern, Dinge für ihn tun.47

 

 

Situationen lösen kognitive Prozesse aus, die ihrerseits zur Reaktion führen. Gleichzeitig wirken sie dergestalt auf die Wahrnehmung zurück, dass die zur Kognition passenden Inhalte realisiert werden. Ist man verliebt, nimmt man nur die zur Liebe passenden Inhalte beim Gegenüber wahr.

Kognitionen sind nicht unbedingt ein wohlüberlegtes Nachdenken über konkrete Situationen, sie werden oft wie automatisch erlebt und sind reflexhaft da. Albert Ellis bezeichnet Kognitionen als Selbstverbalisierungen oder als inneres Selbstgespräch (self-talks) und beschrieb sie seinen Patienten als etwas, was man sich selbst einredet.48

In den frühen Entwicklungsphasen versuchen Erwachsene über die Sprache das Verhalten eines Kindes zu kontrollieren und es in eine bestimmte Richtung zu lenken (»So etwas darfst du nicht.« – »Das ist schlecht!« – »Das ist Sünde!«).

Später werden die sprachlichen Regularien vom Heranwachsenden selbst übernommenen und gegen sich selbst gerichtet: Es sagt zu sich selbst: »So etwas darfst du nicht!« – »Das ist schlecht!« – »Das ist sündhaft!«

Die russischen Entwicklungspsychologen Wygotsky und Luria erforschten, wie in unsere Gesellschaft hineinwachsende Kinder von Erwachsenen zunächst verbal angeleitet werden. Später geben sich die Kinder selbst (laut gesprochen!) entsprechende Verhaltensanweisungen, bevor diese als innere Selbstgespräche verdeckt ablaufen, denn laut zu sich selbst zu sprechen wird in unserer Gesellschaft sozial bestraft. Die inneren Selbstgespräche Erwachsener sind oft nichts anderes, als die Wiederholungen der alten erzieherischen Einflüsterungen.49

Wenn die inneren Einflüsterungen bewusst werden, haben Betroffene durchaus die Möglichkeit, sie in Frage zu stellen und durch andere Kognitionen zu ersetzen. Damit haben Menschen die Macht, ihre Reaktionen zu ändern, sie selbst zu wählen, wie Ellis50 meint, und ihren beruflichen und privaten Erfolg selbst in die Hand zu nehmen.

Techniken, die auf eine Änderung dieser (kognitiven) Denkmuster hinzielen, können als kognitive Therapieverfahren bezeichnet werden. Anders als in der nondirektiven Gesprächsführung nach Carl Rogers (vgl. Kapitel 3) ist der Gesprächspartner hier eindeutig aktiv und direktiv.

4.1.2 Zentrale menschliche Werte

Im Zentrum des Menschenbildes von Albert Ellis stehen zentrale menschliche Werte, die René Diekstra so beschreibt:

wanting to survive (Willen zu überleben)

to be relatively happy (relativ glücklich zu sein)

to get along with members of one’s social group (mit den Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppierung auskommen)

to relate intimately to a few selected members of this group (ausgewählten Mitgliedern dieser Gruppe enger verbunden sein)

Ein Denken und Handeln, das der Umsetzung dieser Werte verpflichtet ist, steht für seelisches Gleichgewicht, für seelische Gesundheit und wird von Ellis als rational beschrieben; irrationales Denken beinhaltet genau das Gegenteil.

In intensiven Gesprächen, im zwischenmenschlichen Austausch, kann kritisch hinterfragt werden, inwieweit das eigene Denken der Umsetzung der zentralen menschlichen Werte verpflichtet ist und den Kriterien der Rationalität genügt. Ob es …

1. mit den Vorstellungen übereinstimmt, die wir von der Welt haben;

2. uns hilft, an den zentralen menschlichen Werten orientiert, unsere selbstgesetzten Lebensziele zu erreichen.

Damit wird rationales Denken zu einer subjektiven Verpflichtung und zu einer individuellen Anstrengung. So wenig die menschlichen Zielvorstellungen gleich sind, so wenig kann rationales Denken rezeptartig verordnet werden.

Aus der Frage: »Füge ich durch mein Verhalten anderen Menschen Schaden zu?«, leitet sich das ethische Prinzip der REVT ab. Nicht die Verletzung einer gottgegebenen Regel, sondern die (mögliche) Beeinträchtigung/ Verletzung anderer wird zur Richtschnur eigenen Urteilens und Handelns. Damit wird ethisches Handeln pro-sozial und pro-selbst und ist auf die Richtschnur zurückzuführen: »Handle so, wie Du selbst behandelt werden möchtest!«51

4.2 Albert Ellis: Von der Psychoanalyse zur Rational-Emotiven (Verhaltens-)Therapie

In den frühen 1950er Jahren integrierte der Psychoanalytiker Albert Ellis verhaltenstherapeutische Verfahren in seine psychoanalytische Praxis. In der psychoanalytischen Gesellschaft stieß er mit dieser Vorgehensweise aber auf Ablehnung. Seit 1954 bezeichnete er sich dann auch nicht mehr als Psychoanalytiker, sondern als Psychotherapeut.

Zunächst nannte er seinen Ansatz in Anlehnung an die Psychoanalyse Rationale Analyse. Später sprach er von Rationaler Therapie. Bekannt wurde sein Modell als RET, als Rational-Emotive-Therapie, ein Begriff, in dem die enge Wechselbeziehung von Denken und Fühlen zum Ausdruck kommt. Seit 1993 sprach Ellis von Rational-Emotiver-Verhaltens-Therapie.

Für Ellis war eine Parallele zwischen psychoanalytischem und lernpsychologischem Denken besonders bedeutsam: In ihrer Kindheit erfahren Menschen eine grundlegende Konditionierung. Sie lernen, was falsch und was richtig ist. Sowohl Tiefenpsychologen als auch Verhaltenstherapeuten vernachlässigten jedoch einen Aspekt, der in den Mittelpunkt Ellis’ Therapieansatzes rückte: die menschliche Sprach- und Kommunikationsfähigkeit. Menschen sind nicht nur in der Lage, auf Gefahren zu reagieren und Gefahrensituationen zu fürchten; sie sind in der einzigartigen Lage, sich Gefahren (im wahrsten Sinne des Wortes) einzureden.

Diese Einflüsterungen sind jedoch nicht nur als überdauernde frühkindliche Indoktrinationen und Fehlprogrammierungen aufzufassen. Die Betroffenen reindoktrinieren sich kontinuierlich selbst, bis die sich immer wieder selbst eingehämmerten Inhalte zur Lebensphilosophie, zum Drehbuch für die eigene Biografie geworden sind.

4.3 REVT: Das ABC-Modell

Albert Ellis’ Therapie-Konzept ist auch als »Anatomy of Emotions«, als »ABC der Emotionen« oder einfach als »ABC-Modell« bekannt. A, B und C stehen hier als Abkürzungen für die Prozesse von Reizaufnahme, Kognitionen und Reaktionen:
A = Aktivierendes Ereignis
B = Einstellungen (engl.: beliefs)
C = Gefühls-/Verhaltens-Reaktionen (engl.: consequences)

Nicht das aktivierende Ereignis (A) verursacht die Gefühls-/Verhaltensreaktion (C); diese ist vielmehr als Folge innerpsychischer Prozesse, Einstellungen, Kognitionen (B) anzusehen.

 

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4.3.1 Emotionen

Für Psychologen ist die Auseinandersetzung mit Gefühlen bzw. Emotionen ein höchst komplexes Thema. Es handelt sich hierbei um das aufeinander bezogene und miteinander verflochtene Zusammenspiel von Veränderungen auf der physiologischen, kognitiven und Verhaltensebene.52 Der affektive Zustand einer Person hängt zum einen von innerpsychischen Interpretationsvorgängen ab, resultiert aus der Wahrnehmung von Veränderungen innerer physiologischer Prozesse und Veränderungen auf der Verhaltensebene (die sich aus den beiden anderen Faktoren ergeben und auf diese wieder zurückwirken), wie in Abbildung 11 dargestellt.

 

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Abb. 11: Aspekte einer Emotion.

 

Die Art des Gefühls hängt von den kognitiven Prozessen, die Intensität von der Stärke der physiologischen Veränderungen ab. Die Intensität des Herzklopfens oder des Zitterns steht für die Intensität unseres Gefühls, aber die Art der Kognition bestimmt darüber, ob die Veränderung der Herzfrequenz und das Zittern der Gliedmaßen als Ausdruck freudiger Erregung oder als Angst und Furcht interpretiert wird.

Grundsätzlich ist es möglich, auf drei Wegen Einfluss auf das Gefühl zu nehmen:

1. Durch direkte Beeinflussung der physiologischen Prozesse (z. B. durch Medikamente)

2. Durch Veränderung des Handelns (motorisches Agieren)

3. Durch Veränderung der innerpsychischen Interpretationsprozesse (Kognitionen)

So beschäftigt sich Albert Ellis nicht nur mit den Kognitionen seiner Patienten/Klienten, um die wichtigsten Elemente ihres irrationalen Denkens aufzudecken; gleichberechtigt neben das (Nach-)denken tritt das Handeln. Handlungsweisen müssen verändert werden. Gegen unglücklich und krank machende Einstellungen und Handlungsweisen soll aktiv arbeitend angegangen werden.53 Einsicht allein reicht nicht aus, Arbeit an sich selbst ist wichtig: Irrationale Ideen ändern sich zwangsläufig, wenn entgegengesetzt gehandelt wird.54 Verbales Umdenken führt zu einer Änderung des Verhaltens. Verändertes Agieren führt zu neuen Denkweisen. Eine Kombination von kognitiven und verhaltensorientierten Strategien führt nicht nur zur schnellsten, sondern auch zur gründlichsten Verhaltensmodifikation.55

Vor dem konkreten Aktiv-Werden (Psychologen sprechen von In-vivo-Übungen (lat: in vivo = im Lebendigen, am lebendigen Objekt) ist unter Umständen das imaginäre Tätigwerden in der Vorstellungskraft des Betroffenen eine Vorstufe, um über reines Verbalisieren hinauszukommen, sich dabei aber noch nicht der Realität stellen zu müssen. (In Abgrenzung von in-vivo-Übungen wird von rationalen Vorstellungsübungen gesprochen.)

4.3.2 Irrationale Ideen – Versuch einer Klassifikation

Emotionale Probleme (C) treten in bestimmten Situationen (A) dann auf, wenn die Einstellungen auf irrationalen Gedanken, irrationalen Bs (beliefs) beruhen. Damit rückt die Frage, was »irrationale Gedanken« sind, in den Mittelpunkt des Interesses.

Irrationalen Gedanken, die dem Erreichen zentraler menschlicher Werte hinderlich sind, stehen rationale Bs gegenüber, die helfen, diese zu erreichen.

 

Tabelle 1: Beliefs als Bewertungen der Wirklichkeit

Rationale Bs…

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842685376
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Altenpflege Ausbildung Gesprächsführung Kommunikation Krankenpflege Pflegebedürftige Pflegeberufe

Autor

  • Jürgen Wingchen (Autor:in)

Jürgen Wingchen ist Diplom-Pädagoge in Köln.
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Titel: Kommunikation und Gesprächsführung für Pflegeberufe