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Das Schmerz-Buch

Neue Wege wagen. So können Schmerzen überwunden werden. Zertifiziert von der Stiftung Gesundheit.

von Prof. Dr. med. Matthias Karst (Autor:in)
152 Seiten

Zusammenfassung

Schmerzen verstehen und überwinden
Die Schmerzforschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Ärzte wissen das, vielen Betroffenen ist aber nicht klar, was eine gute Schmerztherapie für sie tun kann. Der Arzt und Wissenschaftler Professor Matthias Karst beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit allen Formen von Schmerzen. In diesem Ratgeber macht er modernste Forschungsansätze für den Laien zugänglich. Heute werden chronische Schmerzen als eigenständige Erkrankung gesehen. Sie geht mit tiefgreifenden Veränderungen im Nervensystem einher und haben Auswirkungen auf
• körperliche,
• seelische und
• zwischenmenschliche Bereiche.
Entsprechend wichtig ist es, alle drei Ebenen zu beleuchten, um die Ursachen der Schmerzen und Wege aus dem Schmerz zu finden. Diese fachübergreifende Behandlung durch spezialisierte Ärzte und Therapeuten – Multimodale Schmerztherapie genannt – hilft Patienten mit chronischen Schmerzen, ihr Leiden zu lindern und ihre Lebensqualität zu steigern.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

Schmerzen können nur von der jeweils betroffenen Person verspürt werden. Es gib keinen Apparat, in den man jemanden hineinstecken kann und der dann misst, wie stark der Schmerz ist, und womöglich noch die Schmerzursachen benennt. Schmerztherapeuten können den Schmerz nicht „sehen”, aber sie können die mit den Schmerzen verbundene Unruhe miterleben und aushalten und gemeinsam mit dem Betroffenen eine Lösung suchen.

Dabei ist der Schmerz die tiefste Grunderfahrung unseres Lebens überhaupt. Schmerzen sichern nicht nur unsere biologische Existenz, indem sie auf potenziell lebensbedrohliche Gefahren aufmerksam machen, sondern ermöglichen uns, dass wir uns in der Abgrenzung zu anderen Menschen als eigenständige Personen wahrnehmen. Als solche verfolgen wir unsere Ziele und Wünsche, müssen es aber (schmerzlich) aushalten, dass das „Du” nicht das macht, was das „Ich” will. Ein Leben außerhalb der menschlichen Gemeinschaft ist aber auch nicht möglich: „Es gibt kein Ich ohne das Du”, wie der Psychoanalytiker Johannes Picht schreibt. Diese schmerzliche Differenz erzeugt und „schärft” erst unsere subjektive Identität.

„Ich weiß, dass individuelle Lösungen gefunden werden können.”

Heute verstehen wir chronische Schmerzen als eigenständige Erkrankung, die mit tief greifenden Veränderungen im Nervensystem einhergeht und mit Auswirkungen auf körperliche, seelische und zwischenmenschliche Bereiche verbunden ist. Entsprechend wichtig ist es, alle drei Ebenen gemeinsam zu beleuchten, um die Ursachen der Schmerzen und Wege aus dem Schmerz zu finden. Das kann nur in einer freundlichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Betroffenem und Schmerztherapeuten gelingen. Das dann gemeinsam getragene Konzept führt zum Erfolg, wenn man am Ball bleibt. Das „Schmerzgedächtnis” kann nicht auf Knopfdruck gelöscht, aber überschrieben werden. Hierzu ist körperliche und geistige Aktivität notwendig. Das Nervensystem merkt sich alles, auch wenn wir uns an vieles nicht aktiv erinnern können. Seien Sie ein guter und sympathischer Chef, der seine Mitarbeiter – die Zellen – wertschätzt und ihnen nur so viel abverlangt, wie ihnen zuträglich ist, aber sie auch fördert und fordert, sodass sie sich weiterentwickeln können.

„Heute verstehen wir Schmerzen als eigenständige Erkrankung.”

Als Arzt und Wissenschaftler, der sich seit Jahrzehnten mit allen Formen von Schmerzen beschäftigt, weiß ich, dass individuelle Lösungen gefunden werden können. Möge „Das Schmerz-Buch – Neue Wege wagen” Ihnen dabei eine Hilfe sein.

 

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Hinweis: Im Anhang finden Sie ein kleines Lexikon, in dem wichtige medizinische Fachausdrücke, die in diesem Buch öfter vorkommen, kurz erklärt werden.

Ihr
Prof. Dr. med. Matthias Karst

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WAS IST SCHMERZ?

Schmerz ist lästig, quälend, entnervend – unnötig wie ein Kropf ist er deshalb noch lange nicht. Er warnt uns vielmehr davor, unserem Körper Schaden zuzufügen. Dieser Warnschmerz ist ausgesprochen sinnvoll. Doch was ist mit chronischen Schmerzen, die uns mürbe machen und unser ganzes Leben beeinträchtigen? Hier lesen Sie, was genau bei Schmerzen geschieht und warum das Schmerzempfinden individuell verschieden ist.

Schmerzempfindung

„Schmerz ist nicht der Feind, sondern der loyale Gefährte, der den Feind ankündigt.“

Paul Brand, Philip Yancy

Es gibt kaum etwas Schlimmeres als starke Schmerzen. Am liebsten würden wir sie ganz aus unserem Leben verbannen, wenn wir nur könnten. Aber das wäre zu kurz gedacht. Denken Sie nur einmal daran, was passieren würde, wenn wir keinen Schmerz empfinden könnten: Wir würden uns ständig stoßen, verletzen, stechen, verbrennen ... Schmerzen halten uns also davon ab, Dinge zu tun, die unserem Körper schaden, oder sie zeigen uns, dass im Körper etwas nicht in Ordnung ist und wir uns darum kümmern müssen. Sie warnen und beschützen uns vor Schlimmerem. Oder, wie Aristoteles sagt: „Wir können ohne Schmerz nicht lernen.“

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Akuter Schmerz als Warnsignal ist wichtig fürs Überleben.

Wer dieses natürliche Schmerzempfinden nicht hat, lebt ausgesprochen gefährlich, wie das folgende Beispiel deutlich macht.

Schmerzunempfindlichkeit – Segen oder Fluch?

Als der pakistanische Junge während seiner Geburtstagsfeier vom Dach des Elternhauses gesprungen war, um seine Freunde zu beeindrucken, stand er äußerlich unversehrt auf und bekam viel Beifall. In der Stadt verdiente er Geld, indem er sich Messer in die Arme stach und über glühende Kohlen lief. In dem Krankenhaus, in dem regelmäßig die Stichwunden genäht und die Brandblasen verbunden wurden, war er berühmt. Was seine Ärzte jedes Mal erstaunte: Niemals klagte ihr junger Patient über Schmerzen. Die Wunden ließen sich immer ohne örtliche Betäubung oder Narkose versorgen. Doch jetzt war er zu weit gegangen. Einen Tag nach seinem 14. Geburtstag verstarb er an inneren Blutungen.

Forscher fanden sechs weitere Kinder, die mit dem Jungen verwandt waren und die ebenfalls keine Schmerzen wahrnehmen konnten. Allen fehlte die Zungenspitze oder Teile der Lippen, die sie sich in den ersten Lebensjahren versehentlich abgebissen hatten. Alle hatten oft Prellungen, Schnittwunden oder Knochenbrüche erlitten. Sie hatten kein Schmerzempfinden. Die älteren Kinder hatten allerdings gelernt, sich beim Fußballspielen, wenn sie zu Fall gebracht worden waren, so zu verhalten, als ob sie Schmerzen hätten, um damit den Strafstoß zu erhalten.

Wie konnte diese gefährliche Schmerzunempfindlichkeit entstehen? Die Kinder wurden umfassend untersucht. Alle Befunde waren normal. Sie konnten zwischen „spitz“ und „stumpf“, zwischen „kalt“ und „warm“ unterscheiden. Ihre Reflexe waren normal, unter dem Mikroskop zeigten sich die Hautnerven völlig unauffällig. Die Kernspintomografie bildete das Gehirn so ab, wie es sein sollte.

Erst die genetische Untersuchung klärte das Phänomen auf: Eine Genveränderung (SCN9A) verhindert, dass ein bestimmter Natrium-Ionenkanal der Schmerzfasern funktioniert. Ein Schmerzreiz führt nun nicht mehr dazu, dass sich elektrische Impulse bilden, die dem Gehirn das Geschehen melden. Schnittwunden und Verbrennungen werden nur als ein unbedeutendes Gefühl wahrgenommen, aber nicht als unangenehm oder schmerzhaft.

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Menschen mit angeborener Schmerzunempfindlichkeit leben äußerst gefährlich.

Die Lösung des Rätsels war in doppelter Hinsicht außerordentlich erstaunlich. Wie kann es sein, dass ein so komplexes Phänomen wie Schmerz durch eine einzige Genmutation so stark beeinflusst wird? Und wieso sind die Betroffenen in den übrigen Körperfunktionen nicht beeinträchtigt? Mäuse, denen man diese Genveränderung „eingebaut“ hat, leben nur wenige Tage, weil sie nicht richtig gedeihen.

In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde beschrieben, wie ein Mann – in Shows angekündigt als „das menschliche Nadelkissen“ – sich öffentlich kreuzigen ließ. Dabei fühlte er keinen Schmerz. Da das Berührungsempfinden normal war, dachte man, es fehle an der dazugehörigen Emotion, und nannte das Phänomen „Schmerzasymbolie“, also die Unfähigkeit, Schmerzen zu empfinden, zu erleiden und sprachlich auszudrücken.

Tatsächlich sind Schmerzsignale die notwendige Voraussetzung, auch das dazugehörige Empfinden wahrzunehmen. Ashlyn Blocker, ein Mädchen aus Georgia, das ebenfalls mit dem Gendefekt des Ionenkanals geboren wurde, antwortete auf die Frage „Was bedeutet Schmerz für dich?“ „Ich weiß es nicht“. Als Kleinkind wurden ihr die Hände verbunden, damit sie sich mit den Fingern keine Schäden im Gesicht und an den Augen zufügen konnte, die Wohnung wurde mit weichen Teppichen ausgelegt, spitzkantige Möbel wurden entfernt. Wenn Ashlyn aus der Pause zum Schulunterricht zurückkehrt, prüfen die Lehrkräfte, ob sie irgendwo am Körper Verletzungen aufweist. Sie lebt in einer überfürsorglichen Umgebung. Ihr Arzt sagt: „Schmerz ist ein Geschenk, und sie hat es nicht“. Während sie sich versucht in andere hineinzuversetzen, die Schmerzen verspüren können, ist das bei Ronald Niedermann, dem Bösewicht des Krimiautors Stieg Larsson anders: Seine angeborene Schmerzunempfindlichkeit lässt ihn zum gefühllosen Killer werden.

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Ohne Schmerzsignale gibt es kein Schmerzempfinden.

Es gibt ein Kontinuum der Schmerzempfindlichkeit auch bei Menschen, die keine so gravierende Genveränderung haben. Diese Beobachtung erklärt sich durch den Einfluss verschiedener genetischer Faktoren, aber auch durch Umwelteinflüsse. Hunderte Gene steuern den Schmerz: Es kommt auf das Gemisch an und auf die Aktivität der Gene. Auch das SCN9A-Gen scheint in unterschiedlichen Ausprägungen vorzukommen und mit darüber zu entscheiden, ob wir dazu neigen, Schmerzen stärker oder schwächer zu empfinden.

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Auf künstlichen Ionenkanalblockern ruhen große Hoffnungen.
Vom Reiz zum Schmerz

Unser Körper verfügt über ein kompliziertes System von Nervenzellen und -leitungen, physikalischen Impulsen und biochemischen Botenstoffen, das durch einen Schmerzreiz aktiviert wird. Mithilfe dieses Systems gelangt die Schmerzbotschaft ins Gehirn, wo sie entschlüsselt und eine Reaktion in Gang gesetzt wird.

Nur zwei Typen von Nervenzellen, die sich in der Ausprägung ihrer Nervenfasern unterscheiden, sind auf Schmerzsignale spezialisiert: die schnell leitenden A-Delta-Fasern (Aδ-Fasern) und die langsam leitenden C-Fasern. Aδ-Fasern sind für die Schmerzerkennung mechanischer Reize (z. B. Nadelstiche) und Kälte zuständig, während die C-Fasern Kälte- und Wärmereize sowie chemische Reize erkennen. Diese auf potenziell schmerzhafte Reize spezialisierten Nerven nennt man Nozizeptoren. Auf dem langen Weg vom Gewebe zum Gehirn benutzt der menschliche Organismus nur zwei Nervenzellen mit ihren Fasern: Der Reiz (z. B. ein Nadelstich), der auf die im Gewebe (z. B. in der Haut) verteilten Nervenendigungen der ersten Nervenzelle (Nozizeptor) einwirkt, führt zu Änderungen innerhalb der Zelle, woraus sich elektrische Signale entwickeln. Diesen Vorgang nennt man Transduktion. Ionenkanäle und andere an der Oberfläche der Nervenendigung liegende Verbindungen zum Zellinneren (Rezeptoren) sind dafür verantwortlich. Das elektrische Signal wandert in der Nervenfaser zum Rückenmark. Die Geschwindigkeit beträgt zwischen einem halben Meter (C-Fasern) und 30 Meter (Aδ-Fasern) pro Sekunde. Im Rückenmark wird das elektrische Signal an einer Ausknospung der Nervenfaser, die als Synapse bezeichnet wird, in ein chemisches Signal umgewandelt. Botenstoffe treiben wie Fähren im synaptischen Spalt zur zweiten Nervenzelle. Dort wird das chemische Signal wieder in ein elektrisches Signal umgewandelt. Man kann von einer wichtigen Umschaltstation sprechen. Und weiter geht die Reise bis zum Gehirn, wo die elektrische Information entschlüsselt wird. Handelt sich um ein starkes Signal, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Gehirn diesen Reiz so verarbeitet, dass wir ihn als unangenehm und schmerzhaft einstufen.

Nun handelt es sich beim schmerzverarbeitenden System keineswegs um eine Einbahnstraße. Vielmehr existiert an den Umschaltstationen eine sehr mächtige Schmerzbremse, eine Nervenbahn, die ausgehend vom Gehirn an den Umschaltstationen endet. Durch Gehirnaktivität wird also entschieden, welche Signale durchgestellt und welche nicht weitergeleitet werden. Die Botenstoffe dieser Schmerzhemmbahn sind übrigens die gleichen, die auch unsere Stimmung mit beeinflussen: Serotonin und Noradrenalin. Die Schmerzhemmbahn wird z. B. dann aktiviert, wenn ein neuer Schmerzreiz auf den Organismus einwirkt. Das erklärt, warum bei akuten Verletzungen oft kaum oder gar keine Schmerzen empfunden werden. Man spricht davon, dass der Betroffene „unter Schock“ steht.

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Bei einer akuten Verletzung werden körpereigene schmerzhemmende Stoffe ausgeschüttet.

Diesen Mechanismus nutzt übrigens die Akupunktur aus: Der Nadelstich führt dazu, dass das Schmerzabwehrsystem aktiviert wird. Der neue Reiz (Nadelstich) muss vorrangig wahrgenommen werden. Der Organismus muss herausfinden, was da los ist. Dazu reguliert er über das Schmerzhemmsystem die Aktivität an den Umschaltstationen herunter. Nun ist es für die ständig eintreffenden Signale schwerer, weitergeleitet zu werden. Die Signale, die zuvor zu den Schmerzen führten, werden nicht mehr so intensiv weitergeleitet. Es kommt zu einer Schmerzlinderung – übrigens überall, was auch erklärt, warum Nadeln, die weit entfernt vom Geschehen gestochen werden, zur Schmerzlinderung beitragen.

 

Vom Reiz zum Schmerz: Über ein kompliziertes System gelangt die Schmerzbotschaft in unser Gehirn.

Schmerz ist nicht gleich Schmerz

Im Wesentlichen unterscheidet man zwei Arten von Schmerz:

akuter Schmerz

chronischer Schmerz

Akuter Schmerz tritt plötzlich auf und ist zeitlich begrenzt. Er hat häufig eine Warnfunktion. Sobald die auslösende Ursache geheilt oder beseitigt ist, klingt er von selbst ab.

Chronischer Schmerz besteht länger als 3 bis 6 Monate, tritt als kontinuierliches oder regelmäßig wiederkehrendes Syndrom auf und kann selbst zur Krankheit werden. Er hat seine Signalfunktion verloren.

Ausgelöst durch verschiedene Ereignisse wie Verletzungen, Tumore, Durchblutungsstörungen oder Stress kommt es zu

Gewebeschmerzen

Entzündungsschmerzen

Nervenschmerzen.

Dabei können die verschiedenen Schmerzarten isoliert oder kombiniert auftreten.

Nach dem Ort der Schmerzen unterscheidet man unter anderem

Kopfschmerzen

Gesichtsschmerzen

Nackenschmerzen

Rückenschmerzen

Bauchschmerzen

Extremitätenschmerzen

Gelenkschmerzen

Muskelschmerzen

Knochenschmerzen

Behandlung von akuten Schmerzen

Akute Schmerzen, etwa Schmerzen nach einer Operation, sollten so intensiv wie möglich reduziert werden, natürlich ohne den Betroffenen dadurch zu gefährden. Sprüche, die an die Tapferkeit appellieren – „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Stellen Sie sich nicht so an“ – sind medizinischer Unsinn. Denn anhaltende Schmerzsignale sind ein Risikofaktor dafür, dass das Schmerzsystem empfindlicher wird und dass in der Folge aus dem akuten ein chronischer Schmerz wird. Je früher die Erregungsleitung unterbrochen wird, umso effektiver kann Schmerz behandelt werden.

Lokale Betäubung Aus diesem Grund ist das „Betäuben“ der Schmerzfasern am Ort der Schmerzentstehung oder in ihrem Verlauf oder an der Umschaltstelle im Rückenmark die effektivste Art, um das Auftreten von Schmerzen zu verhindern. Die Spritze beim Zahnarzt, die örtliche Betäubung vor der Entfernung eines Muttermals sind also sehr sinnvolle Maßnahmen. Die Wirkzeit von örtlichen Betäubungsmitteln, sogenannten Lokalanästhetika, beträgt nur wenige Stunden. Über hauchdünne Kunststoffschläuche, die in die unmittelbare Nähe von Nervenfasern eingebracht werden, kann das örtliche Betäubungsmittel kontinuierlich oder in bestimmten Abständen gespritzt werden. Dadurch kann eine Wirkung auch über viele Stunden oder sogar Tage erreicht werden.

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Wird ein akuter Schmerz nicht betäubt, kann er chronisch werden.

Schmerzmittel Andere Methoden, akuten Schmerz zu lindern, bestehen im Einsatz von Medikamenten – Opioide (morphinähnliche Wirkstoffe) und Nicht-Opioide (z. B. Paracetamol, Ibuprofen u. a.), die in Tablettenform oder als Infusion verabreicht werden. Da Schmerzen nach Operationen oft sehr stark sind – immerhin werden meist viele Gewebeschichten durchtrennt, der Heilungsprozess geht mit einer Entzündungsreaktion des Körpers einher –, ist die Verwendung von Opioiden in vielen Fällen notwendig. Viele Krankenhäuser nutzen dabei Spritzenpumpen, die die Patienten selbst benutzen können. Jedes Mal, wenn der Patient eine Zunahme seiner Schmerzen verspürt, kann er auf einen Knopf drücken, wodurch das Gerät veranlasst wird, eine bestimmte voreingestellte Menge eines Opioids in das Blutgefäßsystem des Patienten abzugeben. Einprogrammierte Sperren verhindern, dass zu viel von dem Wirkstoff abgerufen werden kann. Diese Methode nennt man patientenkontrollierte Schmerzlinderung. In der Regel kann diese Therapie nach zwei Tagen beendet werden, da postoperative Schmerzen sich meist innerhalb dieser Zeit deutlich abschwächen. Zu Hause bei kleineren Verletzungen, etwa Prellungen oder Verstauchungen, ist es ratsam, sich an die sogenannte PECH-Regel zu halten: Pause, Eis, Kompression, Hochlagern. Durch diese Maßnahmen wird nicht nur der Schmerz reduziert, sondern auch der Heilungsprozess gefördert.

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Bei kleineren Verletzungen hat sich die PECH-Regel bewährt: Pause, Eis, Kompression, Hochlagern.

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WAS IST CHRONISCHER SCHMERZ?

Wenn sich Ihr Schmerz von der ursprünglichen Erkrankung losgelöst hat und selbst zur Krankheit geworden ist, ist er chronisch geworden. Je länger chronische Schmerzen anhalten, je länger eine effektive Behandlung ausbleibt, desto mehr beeinträchtigen sie Ihren Alltag. Vielleicht bekommen Sie Schlafstörungen, Depressionen und sind nicht mehr so leistungsfähig wie früher. Meistens manifestieren sich chronische Schmerzen als Kopfschmerzen, Schulter- und Nackenschmerzen, Rücken- und Gelenkschmerzen.

„Es geht nicht ohne Schmerz –
ohne Schmerz gibt es kein Bewusstsein“

Joseph Beuys

Wie kam Joseph Beuys darauf, so etwas zu sagen? Wusste er überhaupt, worüber er sprach? Kannte er chronischen Schmerz aus eigenem Erleben? Die Kunstwerke, die Joseph Beuys geschaffen hat, reflektieren Leiden. Sein eigenes Leiden? Tatsächlich hat Joseph Beuys Schmerz in allen Formen aushalten müssen, bis hin zu den Schmerzen seiner letzten Lebenszeit.

Die eigenen schmerzhaften Erfahrungen haben Joseph Beuys zu der Erkenntnis geführt, dass Natur und Geist untrennbar miteinander verbunden sind, ja dass Heilung (vom Schmerz) erst dadurch erreicht werden kann, dass dieser scheinbare Gegensatz überwunden wird. In seiner Kunst findet sich immer wieder die Verdoppelung von Gegenständen, die auf die materielle und die geistige Realität hinweisen, die, im künstlerischen Raum zusammengebracht, eine neue einheitliche Gestalt symbolisieren. In diesem Sinne betrachtete Beuys jeden Menschen auch als „Künstler“, dessen Aufgabe darin besteht, sich als Ganzes zu erleben.

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Um heil zu werden, müssen wir den scheinbaren Gegensatz von Natur und Geist überwinden.

Beuys sah im Schmerz, in der Krankheit eine produktive Kraft, die individuell wirksam ist, die aber auch zur „Heilung der Welt“ beiträgt, indem Mitmenschlichkeit und der anerkennende Respekt füreinander wiedergewonnen werden können, also Eigenschaften, in denen das Menschliche zutage tritt. Dabei war er von der wirksamen Wechselbeziehung aus Denken, Sprechen und Gestalten überzeugt. Darin sah er auch die Verbindung zur Medizin: „Ich würde sagen: Was ich praktiziere, ist ohne Weiteres auf die Welt der Medizin zu übertragen.“

Wie Patienten chronische Schmerzen beschreiben

Das Überwinden der durch Schmerz hervorgerufenen „Sprachlosigkeit“ ist ein entscheidendes Element der Diagnostik und Therapie von chronischen Schmerzen. Als Schmerzpatient können Sie Ihre Schmerzen auf drei Ebenen beschreiben.

1. Schmerzcharakter Was fühle ich? Sind die Schmerzen brennend, stechend oder eher dumpf, ziehend usw.? In einer Untersuchung, in der Patienten mit Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder Fibromyalgiesyndrom gebeten wurden, ihre Schmerzen genau zu beschreiben, konnte eine Liste von Eigenschaftswörtern erstellt werden, die in absteigender Häufigkeit genannt wurden: scharf, schmerzhaft, pochend, krampfartig, brennend, dumpf, drückend, elektrisierend, ausstrahlend, einschießend, kribbelnd, taub, überempfindlich, kalt, empfindlich. Die genaue Beschreibung von Schmerzen hilft auch bei der Diagnostik. So sind etwa Spannungskopfschmerzen durch einen dumpfen, drückenden Charakter (wie wenn der Kopf in einer Schraubzwinge steckt) gekennzeichnet, während eine Migräneattacke eher als pochender, hämmernder Kopfschmerz (wie wenn mit dem Hammer auf den Kopf eingeschlagen wird) empfunden wird. Nervenschmerzen werden oft als brennend und einschießend beschrieben, häufig verbunden mit Berührungsempfindlichkeit, Taubheits- und Kribbelgefühlen wie Ameisenlaufen und Missempfindungen gegenüber Kälte- oder Wärmereizen. Muskelschmerzen werden oft dumpf, ziehend, manchmal auch krampfartig beschrieben, Schmerzen im Bauchraum oft krampfartig und diffus.

2. Schmerzemotion Schmerzen sind aber auch mit einer Emotion verbunden. Sie sind störend, quälend, lästig, entsetzlich, schlimm, fürchterlich. In der erwähnten Untersuchung nannten etwa ein Drittel der befragten Patienten eine oder mehrere Affekte, die mit ihrer Schmerzerkrankung verbunden waren. Schmerzen, die hauptsächlich durch psychosoziale Belastungen hervorgerufen werden (z. B. Schwierigkeiten am Arbeitsplatz), können eher mit Eigenschaftswörtern beschrieben werden, die eine Emotion ausdrücken, als mit Eigenschaftswörtern, die die Art der Schmerzen beschreiben.

3. Schmerzbedeutung Schmerzen haben auch eine Bedeutung. Was bedeuten die Schmerzen für Sie als Betroffenen? Schmerzen können als Ausdruck von Schwäche, Nicht-Funktionieren, Fehlern interpretiert werden. Schmerzen können aber auch als (notwendiges) Mittel der Reifung, Entwicklung, Sinnstiftung aufgefasst werden, wie am Beispiel von Joseph Beuys gezeigt. Es hängt auch sehr stark von dem jeweiligen Lebensentwurf ab, ob Sie Schmerzen als störend oder weniger störend empfinden. Im Englischen gibt es das Sprichwort: Pain is a basic fact of life, but misery is an option (Schmerz ist eine grundlegende Tatsache des Lebens, aber Leiden ist eine Option). Ein Klavierspieler, der sich ganz über seine Musik, das Spielen des Instruments definiert, wird verzweifelt sein, wenn er Schmerzen im kleinen Finger der rechten Hand verspürt. Derselbe Schmerz wird einen Marathonläufer weit weniger berühren. Hat der Marathonläufer Schmerzen an den Füßen, wird es für ihn eher ein Problem. Ist er ehrgeizig, hat er das Ziel zu gewinnen, so wird er trotzdem weiterlaufen: No pain – no gain (Ohne Schmerz kein Gewinn). Dies gilt sogar für den Hobbybereich. In einer Umfrage aus dem Jahr 2010 bei Teilnehmern des Bonner Marathons zeigte sich, dass etwa die Hälfte der Teilnehmer Schmerzmittel einnahmen, um dadurch besser durch das Rennen zu kommen. Eine gefährliche und riskante Strategie, da in Verbindung mit den beim Rennen auftretenden Flüssigkeitsverlusten solche Schmerzmittel Schäden verursachen können!

Jeder Mensch hat seinen eigenen Schmerz

Schmerzen werden hochindividuell empfunden, da die ganze Lebensgeschichte und natürlich auch der genetische Hintergrund am Schmerzempfinden und Schmerzausdruck beteiligt sind. Deshalb erlaubt die genaue Beschreibung von Schmerzen nur bedingt Rückschlüsse auf ihre diagnostische Zuordnung. Ähnlich einem Fingerabdruck sind das Schmerzempfinden und der Schmerzausdruck bei jedem Menschen einzigartig. Die Kunst besteht darin, den betroffenen Menschen und seinen Lebensvollzug als Ganzes in den Blick zu nehmen und in das Gespräch mit einzubeziehen. Auf diese Weise kann schon ein einmaliges Gespräch für den betroffenen Menschen eine Wende in seinem (Schmerz-)Erleben darstellen, was diese Zuschrift einer Patientin zeigt:

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Das Schmerzempfinden ist so individuell und einzigartig wie der Fingerabdruck.

„Ich möchte mich für Ihre Behandlung [...] bedanken. Schon zu diesem Zeitpunkt war ich Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie mir eine Stunde lang Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. Jedoch habe ich erst im Nachhinein verstanden, wie wichtig der Termin bei Ihnen war. Die Migräne hat sich zwar verschlimmert, dennoch habe ich gelernt, dass ich mich dafür nicht schämen muss und ich mir vor allem die Kopfschmerzen nicht einbilde. Die Kopfschmerztabletten, die ich sonst partout nicht genommen habe, machen mir mein Duales Studium überhaupt erst möglich.“

Noch etwas anderes wird hier sehr deutlich: Schmerzlinderung und -vermeidung sind zwar wichtige Ziele einer Schmerzbehandlung, aber ein mindestens genauso wichtiges Ziel ist es, einen Umgang mit den Schmerzen zu finden und die Schmerzen so in das eigene Leben zu integrieren, dass sie nicht stören.

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Lernen Sie Ihre Schmerzen in Ihr Leben zu integrieren.

Indem man die Schmerzen in Worte fasst, kann es nicht nur zur Klärung und zur Entlastung kommen, sondern auch zu einer Zunahme von Schmerzen. Dieses Phänomen wird damit erklärt, dass Begriffe, die Schmerzen beschreiben, gleichzeitig die Erinnerung an Schmerzen oder an schmerzhafte Ereignisse wecken und die Aufmerksamkeit auf die verspürten Schmerzen lenken.

Welche Faktoren begünstigen chronische Schmerzen?

Biologische Faktoren

Zu den biologischen Risikofaktoren zählen

die Gene

das Geschlecht

das Alter

Es liegt alles in den Genen – wirklich?

Schon lange streiten Experten darüber, welche Rolle die Gene in unserem Leben spielen. Woraus sich unsere Körpergröße, unsere manuelle Geschicklichkeit, unsere Musikalität, unsere Intelligenz ergeben, wie viel Anteil der Veranlagung, den Genen und wie viel Anteil dem Erworbenen, den Umwelteinflüssen zuzuschreiben ist. In der Intelligenzforschung hat man herausgefunden, dass der genetische Einfluss von 25 Prozent in der frühen Kindheit bis ca. 70 Prozent im hohen Erwachsenenalter steigt – ein überraschendes Ergebnis. Es wird damit erklärt, dass unsere Gene sich aktiv die Umweltbedingungen suchen, die zu ihnen passen, wodurch sich diese genetischen Anlagen weiter festigen.

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Auch unsere Gene beinflussen das Ausmaß der Schmerzempfindlichkeit.

Bislang wurden 358 Gene identifiziert, die Einfluss auf das Schmerzempfinden und die Schmerzlinderung haben. Genetische Anlagen sind etwa zu 50 Prozent an der Ausprägung von Migräne, zu 35 Prozent an Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule oder der Halswirbelsäule und zu 25 Prozent am Reizdarmsyndrom beteiligt. In einer Zwillingsstudie ist beobachtet worden, dass der Einfluss des genetischen Hintergrunds auf Nackenschmerzen von 44 Prozent zu Lebensbeginn im Laufe des Alters nahezu vollständig von Umweltfaktoren abgelöst wird. Wer also – z. B. als Maler – ständig Überkopfarbeiten verrichtet, hat unabhängig von seinem genetischen Grundgerüst ein erhöhtes Risiko für Nackenschmerzen.

Auch bei solchen funktionellen Schmerzsyndromen sind genetische Veränderungen gefunden worden, die ihre Entstehung begünstigen. Eine wichtige Rolle scheint ein Enzym (Catechol-O-Methyltransferase, COMT) zu spielen, das Stresshormone (Adrenalin, Noradrenalin) abbauen hilft. Dieser Vorgang trägt dazu bei, dass die Endorphine (sogenannte Glückshormone), die der Körper selbst produziert, besser den Schmerz bremsen können. Verschiedene Genvarianten des COMT-Gens entscheiden darüber, wie gut das COMT-Enzym arbeitet. Menschen mit einem langsam arbeitenden Enzym haben eine größere Stressanfälligkeit, eine höhere Schmerzempfindlichkeit und ein größeres Risiko, dass sich ein funktionelles Schmerzsyndrom entwickelt. Solche Personen haben auch ein erhöhtes Risiko, durch belastende Lebensereignisse eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, die sich vor allem durch große Ängstlichkeit und Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen und Reizbarkeit äußert. Da andauernde Schmerzen selbst auch Stress darstellen, sind solche Menschen schnell zwischen Schmerz und Stress „gefangen“. Und der Ausweg ist dann nicht leicht.

Rothaarige Menschen, die eine Veränderung desjenigen Rezeptors (Melanocortin-1) aufweisen, der wichtig für den Aufbau des Farbstoffs Melanin ist, sind empfindlicher gegenüber Temperaturreizen. Andererseits sprechen sie besser auf morphinähnliche Wirkstoffe (Opioide) an.

Die genetisch festgelegte Ausprägung von Enzymen, die in der Leber Medikamente abbauen, ist ein sehr wichtiger Faktor, der erklärt, warum manche Menschen bereits mit sehr niedrigen Dosierungen gute Effekte verspüren. In diesem Fall werden die Wirkstoffe nur sehr langsam abgebaut, können also lange und intensiv wirken. Menschen mit sehr schnell arbeitenden Abbauenzymen benötigen dagegen viel höhere Dosierungen, damit sich eine Wirkung einstellt.

Die Mischung macht es: Verschiedene Gene können sich gegenseitig verstärkend zu erhöhter Schmerzempfindlichkeit und geringerer Schmerzlinderung beitragen. Sie können sich aber auch gegenseitig neutralisieren oder gemeinsam zu geringerem Schmerzempfinden und besserer Schmerzlinderung führen.

Der genetische Hintergrund ist nicht so starr, wie das über lange Zeit geglaubt wurde. Gene werden in Abhängigkeit von Umweltfaktoren aktiviert oder bleiben stumm. Im menschlichen Körper findet man die bescheidene Anzahl von etwa 30.000 Genen, die sich auf 150 Millionen Kilometer (das ist 1000 Mal von der Erde zur Sonne!) verteilen. Eine gigantische Dimension. Der DNA-Faden im Zellkern einer menschlichen Zelle, der einen Durchmesser von nur wenigen Millionstel Metern aufweist, ist unvorstellbare zwei Meter lang. Wie kann das gelingen? Der Faden ist sehr stark geknäuelt. Abgelesen werden kann ein Gen aber nur an solchen Stellen, an denen das Knäuel gerade gestreckt ist. Dieser Vorgang ist vor allem von Umgebungsbedingungen abhängig.

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Ob Gene aktiviert werden oder stumm bleiben, hängt von den Umweltfaktoren ab.

Schmerzreize selbst können dazu führen, dass in den Nervenzellen üblicherweise „stumme“ Genabschnitte gestreckt und ausgelesen werden, woraus dann verschiedene Eiweißkörper entstehen, die zur Aufrechterhaltung des Schmerzgedächtnisses beitragen (siehe Seite 40 „Das Schmerzgedächtnis“). Auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber Stress kann von Umweltbedingungen abhängig sein: Kommt es während der Kindheit zu Gewalterfahrungen oder sexuellen Übergriffen, wird der Genabschnitt, der für die Bildung sogenannter Glukokortikoidrezeptoren im Gehirn zuständig ist, nicht entfaltet. Die Folge: Es fehlen Glukokortikoidrezeptoren, die für die Stressverarbeitung sehr wichtig sind. Diese Menschen haben es dann in ihrem Leben schwerer, mit schwierigen Lebenssituation umzugehen.

Die gute Botschaft ist: Der aktuelle Lebensvollzug hat ebenfalls Einfluss auf unsere Genaktivität. Bereits tägliches 20-minütiges Entspannen (z. B. Yoga) kann mehrere Tausend sogenannter Antistressgene„einschalten“.

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Die gute Nachricht: Sie können Ihre Gene durch Ihren Lebensstil beeinflussen.
Warum mehr Frauen betroffen sind

Auch das Geschlecht beeinflusst das Risiko, chronische Schmerzen zu entwickeln. Frauen haben ein etwa doppelt so großes Risiko im Vergleich zu Männern. Der Mythos, dass Frauen mehr Schmerzen aushalten und Schmerzen „sich einbilden“, ist also falsch. Die weiblichen Geschlechtshormone (vor allem Östrogene) sind sicher ein wichtiger Grund für diese Beobachtung. Daraus erklärt sich auch, warum die Schmerzempfindlichkeit bei Frauen vom Zyklus abhängt: Während der Zeit der Regelblutung, wenn die Östrogenspiegel am niedrigsten sind, ist die Schmerzempfindlichkeit hoch. Steigt die Konzentration der Östrogene im Körper an, nimmt die Widerstandskraft gegenüber Schmerzen zu. Östrogene können das Endorphinsystem im Gehirn aktivieren und so Schmerzen hemmen. Während der Schwangerschaft steigt die Konzentration der Östrogene im Köper kontinuierlich an: eine perfekte Vorbereitung auf die schmerzhafte Geburt. Viele Frauen mit Migräne berichten, dass im Verlauf der Schwangerschaft Migräneattacken seltener oder gar nicht auftreten.

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In höheren Gewebekonzentrationen aktivieren Östrogene körpereigene Endorphine und hemmen so Schmerzen.
Eine Frage des Alters

Im Alter lässt die Schmerzempfindlichkeit nach. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass ältere Menschen Herzinfarkte oder Schmerzen nach Operationen weniger stark empfinden als jüngere Menschen. Andererseits nehmen chronische Schmerzzustände im Alter zu – durch Bewegungsmangel und „Verschleiß“ im Bewegungsapparat, aber auch durch die Schwierigkeit, mit Schmerzen umzugehen. Nachlassende Ablenkungsmöglichkeiten und der Rückgang der geistigen Fähigkeiten können dafür verantwortlich sein. Männer, die im Zweiten Weltkrieg eine Gliedmaße verloren hatten und unter Phantomschmerzen litten, haben während ihres aktiven Berufslebens die Phantomschmerzen oft kaum beachtet und sind deswegen auch nicht behandelt worden (das Land musste wieder aufgebaut werden). Erst mit dem Ruhestand und mit zunehmendem Alter nahmen die Phantomschmerzen so stark zu, dass die Betroffenen Hilfe ersuchten, obwohl die Signale, die zu den Schmerzen führen können, schon seit Jahrzehnten vorhanden waren.

Psychosoziale Faktoren

Zu diesen Risikofaktoren zählt man

Depression

Angst

schlechte Erfahrungen in Kindheit und Jugend

belastendes oder fehlendes soziales Netzwerk im privaten und beruflichen Umfeld

emotionale Zurückweisung

schmerzhafte Trennungserfahrungen

belastende Lebensereignisse im Erwachsenenalter

Schmerzen machen depressiv

Fügt man Mäusen eine Nervenverletzung zu, dann bekommen sie Schmerzen. Das ist daran zu erkennen, dass sie bei einem definierten Druckreiz an der Pfote das Bein schneller wegziehen als zuvor ohne die Nervenverletzung. Bekommen sie auch schlechte Laune? Nun können Mäuse dazu nicht befragt werden, aber sie können beobachtet werden, wie sie sich in schwieriger Situation verhalten, ob sie voller Hoffnung sich anstrengen, der Situation zu entrinnen, oder ob sie schnell aufgeben. Dazu werden sie in ein Wasserbecken gesetzt, aus dem sie nicht selbstständig herauskommen, und eine Weile darin beobachtet. Nur Schwimmen kann zur Rettung führen, während Stillhalten den Untergang bedeutet. Der Anteil des Stillhaltens („floating-time“) während der Beobachtungszeit kann als Maß des „Sichaufgebens“, der „Depression“ verstanden werden. Nun nimmt nach der Verletzung, wenn das frühe Wegziehen der Pfote auf empfundene Schmerzen hindeutet, auch der Anteil der „floating-time“ zu: Schmerzen machen die Mäuse also depressiv. Dieser Zusammenhang ist auch beim Menschen bekannt. Das Risiko, dass chronische Schmerzen auch von einer Depression begleitet sind, ist etwa doppelt so hoch im Vergleich zu Menschen, die keine chronischen Schmerzen haben.

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Als Schmerzpatient haben Sie ein erhöhtes Depressionsrisiko. Umso wichtiger, dass Sie aktive Lösungsstrategien finden.
Ein schmerzliches Erbe: belastende Vorerfahrungen

Wie aber verhält es sich, wenn die Betroffenen in ihrer Vergangenheit misshandelt, sexuell missbraucht oder vernachlässigt worden sind, also noch bevor es zu dem Ereignis gekommen ist, das zu den chronischen Schmerzen geführt hat? Um diese Frage zu beantworten, wurde das Mäuseexperiment erweitert: Nun wurden die Mäuse vor der Nervenverletzung (das schmerzauslösende Ereignis) über einen Zeitraum von zwei Wochen täglich in ein sehr enges Gefäß gesperrt, aus dem sie sich nicht befreien können. Übertragen auf einen Menschen würde das bedeuten, dass er sich mehrere Stunden pro Tag über einen Zeitraum von etwa einem Jahr in solch einer misslichen Lage befinden würde. So schlecht behandelt, führt dieselbe Nervenverletzung zu einem größeren Schmerz (Druck auf die Pfote löst ein noch schnelleres Wegziehen aus) und zu mehr Depression (mehr „floating-time“).

Und wie ist das beim Menschen? Kindheitsbelastungsfaktoren erhöhen das Risiko, dass sich aus körperlichen und/oder seelischen Belastungen heraus chronische Schmerzen entwickeln können. Ja, chronische Schmerzen können sich dann auch ohne spezifische körperliche Faktoren entwickeln. Solche Schmerzen werden dann unter der Diagnose „Anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ eingeordnet. Stellen körperliche Faktoren den Anfang der chronischen Schmerzerkrankung dar, die dann aber nicht zurückgeht, obwohl die körperlichen Probleme ausreichend behandelt wurden, spricht man von der „Chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren“. Wie beschrieben, liegen diesen Vorgängen auch epigenetische Mechanismen zugrunde, die beispielsweise die Fähigkeit beeinflussen, mit solchen belastenden Situationen umgehen zu können.

Man kann also sagen: Schlechte Vorerfahrungen in der Kindheit und Jugend sind ein sehr bedeutsamer Risikofaktor dafür, dass es zu einer empfindlicheren und nachteiligeren Reaktion des Organismus auf belastende Ereignisse kommen kann. Aber auch belastende Lebensereignisse im Erwachsenenalter können zu chronischen Schmerzen führen oder dazu beitragen, wenn das auslösende Ereignis intensiv genug ist (z. B. Verlust naher Angehöriger, Teilnahme an kriegerischen Auseinandersetzungen).

Unsere Lebenssituation wirkt sich aus

Bei der Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen spielt die aktuelle Lebenssituation eine wichtige Rolle, insbesondere das soziale Netzwerk: Wie ist die Zufriedenheit in Bezug auf die berufliche Situation, die Partnerschaft und den Freundeskreis? Entgegen der intuitiven Vorstellung, dass Unterstützung und mannigfaltige Hilfestellungen für den chronisch Schmerzkranken immer von Vorteil sind, kann auch das Gegenteil der Fall sein: Indem das Umfeld zu intensiv auf Schmerzäußerungen der Betroffenen eingeht, ihnen zu viel „aus der Hand“ nimmt, können wichtige Schritte in Richtung mehr Aktivität verpasst werden. Aktives und eigenverantwortliches Handeln aber ist eine entscheidende Voraussetzung zur Überwindung der chronischen Schmerzkrankheit.

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Um Ihre Krankheit zu überwinden, müssen Sie selbst aktiv werden und Verantwortung übernehmen.
Emotionale Zurückweisung

Wie ähnlich unser Gehirn auf physikalische Schmerzreize und emotionale Zurückweisung reagiert, zeigen die Experimente der kalifornischen Psychologin Naomi Eisenberger: Sie hat Versuchspersonen in einen Kernspintomografen gelegt, der die Gehirnaktivität anhand der Gehirndurchblutung aufzeichnet (funktionelles MRT). Wird die Versuchsperson nun ausgegrenzt, etwa indem sie bei einem virtuellen Spiel nicht mehr beteiligt wird oder indem man ihr das Bild ihres Expartners zeigt, vor dem sie sich vor Kurzem – im Streit – getrennt hat, so findet man das gleiche Aktivierungsmuster bestimmter Gehirnareale, das auch durch einen mechanischen oder thermischen Schmerzreiz ausgelöst wird. Das heißt: Unser Gehirn unterscheidet nicht, ob es sich um eine physikalische oder emotionale Bedrohung handelt. Es reagiert in beiden Fällen gleich. Für das Nervensystem hat eine Mobbingsituation am Arbeitsplatz die gleiche fatale Auswirkung wie die Prellung der Hand nach einem Sturz.

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Unser Gehirn reagiert auf eine physikalische und emotionale Bedrohung gleich.

Doppelt schlecht dran war der Arbeiter, der aus Unachtsamkeit im Betrieb auf den Rücken gestürzt war, wobei auch ein Arbeitsgerät auf den Boden gefallen war. In den angefertigten Röntgenbildern zeigten sich keinerlei Verletzungen. Er hatte auch keinen Bluterguss oder Schäden an der Muskulatur. Wieso hatte er dann Monate später immer noch Rückenschmerzen? Sein unmittelbarer Vorgesetzter hatte ihn gemäß seiner cholerischen Art nicht nur beschimpft, sondern auch noch geprügelt, sodass der Mann körperliche und emotionale Ablehnung verspürte. Zusätzlich hatte er eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, also Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, ängstliche Aufmerksamkeit, die auf Körpersignale gerichtet ist. Unter solchen Bedingungen ist es sehr schwer, jemals erfolgreich an den Arbeitsplatz zurückzukehren.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842686304
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Alternativ-Medizin Gesundheits-Ratgeber Natürliche Heilmittel Patienten-Ratgeber Selbsthilfe

Autor

  • Prof. Dr. med. Matthias Karst (Autor:in)

Prof. Dr. med. Matthias Karst studierte Medizin an der Universität Tübingen und an der Lousiana State University (USA). Von 1992 bis 2002 war der Facharzt für Anästhesiologie Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Medizinischen Hochschule Hannover im Zentrum Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, von 2002 bis 2008 Hochschuldozent für Spezielle Schmerztherapie. Seit 2007 ist er Leiter der Schmerzambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover. Matthias Karst führt die Zusatzbezeichnungen „Spezielle Schmerztherapie“, „Psychotherapie“ und „Akupunktur“.
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Titel: Das Schmerz-Buch