Zusammenfassung
Welche Impulse und Maßstäbe braucht eine gezielte Mobilitätsförderung von Menschen mit Demenz? Dieses Buch klärt die Voraussetzungen, bietet Konzepte und stellt eine breite Palette an Maßnahmen vor. Einrichtungen, die im Rahmen ihres Qualitätsmanagements zur Umsetzung des Standards verpflichtet sein werden, erhalten eine fundierte Basis für ihre praktische Arbeit.
Auf den Punkt gebracht:
Fundierte Basis für die Umsetzung des neuen Expertenstandards „Erhaltung und Förderung der Mobilität“
Konzepte und Maßnahmen für eine gezielte Mobilitätsförderung von Menschen mit Demenz
Umfangreicher Praxisteil mit Bewegungs- und Mobilitätsübungen
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
DANKSAGUNGEN
Ein herzlicher Dank gebührt Annette Berghoff, die dieses Buchprojekt von Anfang an wohlwollend und kritisch begleitete. Herrn Prof. Dr. J. Kraft danke ich für das Vorwort, das dem Leser eine gute Vorinformation liefert. Dank gebührt auch allen Bewohnern die aktiv mitarbeiteten und mir viele Inspirationen lieferten.
Meinem Mann, Prof. Dr. Dr. Horst Claassen, danke ich für das Kapitel über die anatomischen Grundlagen zu den Altersveränderungen des Bewegungsapparates.
VORWORT
Der Welt-Alzheimer-Report 2015 zeigt alarmierende Zahlen zur aktuellen und künftigen Häufigkeit demenzieller Erkrankungen: Gegenwärtig sind weltweit 46,8 Millionen Menschen von Demenzerkrankungen betroffen. Die Zahl der Betroffenen wird bis 2030 voraussichtlich auf 74,7 Millionen und bis 2050 auf mehr als 131,5 Millionen ansteigen. Allein im Jahr 2015 wird es weltweit 9,9 Millionen Neuerkrankungen geben. Alle drei Sekunden erkrankt ein Mensch neu an einer Demenz. In Deutschland gehen wir aktuell von 1,5 Millionen betroffenen Menschen aus. Jedes Jahr kommen hier mehr als 250.000 Erkrankte hinzu. Die geschätzten weltweiten Kosten der medizinischen, pflegerischen und sozialen Versorgung Demenzkranker liegen bei 818 Milliarden Dollar und werden bis 2030 auf 2 Billionen Dollar steigen.
Demenzerkrankungen führen zu erheblichen persönlichen Belastungen und sind für die Betroffenen eine menschliche Tragödie. Der drohende Verlust an Lebensqualität sowie die immensen Auswirkungen auf unsere Sozialsysteme werden weithin unterschätzt.
Um den Herausforderungen zu begegnen, muss es uns daher ein zentrales Anliegen sein, alle Möglichkeiten der Prävention, der Frühdiagnostik, der kompetenten Begleitung Betroffener sowie gezielter therapeutischer Maßnahmen weiterzuentwickeln. Praxisbezogene, im Alltag niederschwellig anwendbare Konzepte können dabei entscheidend zur Verbesserung des Verlaufs der Erkrankung beitragen.
Die Bedeutung der Bewegung zeigt sich oftmals durch die rasche Verschlechterung der Selbsthilfefähigkeiten bei Immobilisierung, wie sie beispielsweise im Rahmen akutstationärer Aufnahmen oder bei intermittierenden Akuterkrankungen häufig vorkommt. Auch leichtgradige demenzielle Syndrome verschlechtern sich hierbei erheblich, ein periinterventionelles oder postoperatives Delir ist eine häufige und mit großen Risiken behaftete Folge. Wenn nicht rasch und kompetent erkannt und behandelt wird, kommt es zu einer eigentlich vermeidbaren Beschleunigung des Krankheitsverlaufs mit Auftreten höhergradiger Pflegebedürftigkeit.
Lebensqualität, die nach einer geriatrischen Definition wesentlich durch Erhalt und Schaffung möglicher Autonomie, von Wohlbefinden und Achtung der Würde geprägt wird, ist gerade bei Demenzkranken durch Immobilität ganz besonders gefährdet. »Bewegen ist Leben« – dieses Motto gilt somit ganz besonders auch für die wachsende Zahl von Menschen mit demenziellen Syndromen.
»Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano« (Juvenal, Satiren 10, 356): In seinem später oft verkürzt zitierten, eigentlich ursprünglich eher ironisch gemeinten Spruch bringt der römische Dichter Juvenal (60–140 nach Christus) seine Hoffnung zum Ausdruck, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnen möge.
Zweifellos besteht ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zu körperlicher Mobilität und kognitiver Leistungsfähigkeit.
Als wesentliche Faktoren, die zur Prävention von Demenzen beitragen, gelten neben der Verbesserung vaskulärer Risikofaktoren und einer an sekundären Pflanzenstoffen reichen Ernährung vor allem geistige und körperliche Aktivitäten.
Die positiven Auswirkungen von Bewegung sind zahlreich: Nachgewiesen sind Verbesserungen vieler Stoffwechselparameter, des Herz-Kreislauf-Systems, der Sauerstoffversorgung des Gehirns, der Stimmung und nicht zuletzt die Vermeidung fataler Stürze und damit der längere Erhalt von Selbstständigkeit.
Bewegungsprogramme, ggf. auch in Kombination mit sozialen und kognitiven Aktivitäten, können entscheidend dazu beitragen, dass Demenzerkrankungen langsamer und in ihren Auswirkungen milder verlaufen.
Das vorliegende Buch von Monika Hammerla schlägt einen weiten Bogen über die Grundlagen positiver Auswirkungen von Mobilität auf eine Vielzahl physischer und psychischer Parameter zur Verbesserung der Lebensqualität. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei in der Beurteilung sinnvoller und in der Praxis anwendbarer Konzepte.
Der differenzierten Darstellung der Expertenstandards widmet sich der zweite Teil des Buches.
Die jahrelange praktische Erfahrung der Autorin in der Betreuung demenzkranker Menschen und deren Angehöriger ist auch Grundlage des dritten Teils.
Hier erwartet den Leser eine große und immer praxisbezogene Auswahl an innovativen und kreativen als auch bewährten Möglichkeiten und Ideen, die positiven Wirkungen der Bewegung in allen Stadien der Demenzerkrankung den Betroffenen nutzbar zu machen.
»Bewegen ist Leben« – dies gilt besonders für die wachsende Zahl von Menschen mit demenziellen Syndromen. Bewegung verbessert die Stimmungslage, vermindert Stürze, unterstützt Lebensqualität und trägt nachweislich zur Stabilisierung der Gedächtnisfunktionen und der Möglichkeiten der Teilhabe bei.
Das vorliegende Werk von Monika Hammerla beleuchtet diese wesentlichen Tatsachen und macht sie im besten Sinne im Alltag anwendbar.
TEIL 1 | GRUNDLAGEN |
EINLEITUNG
Glaubt man den Umfragen in diversen populären Zeitschriften, so assoziiert »die Allgemeinheit« bei Befragungen zu sportlichen Menschen lauter positive Eigenschaften wie Attraktivität, Leistungswillen, Erfolg.
Tatsächlich ist belegt, dass Sport, Bewegung, körperliche Aktivität der Gesundheit und Lebensverlängerung dienen: So geht aus einer finnischen Studie hervor, dass »einmal in der Woche zügiges Spazierengehen lebensverlängernd wirkt.« (Andrus 2005: 29) Laut der Studie waren 56 Prozent der Männer und 87 Prozent der Frauen noch zehn Jahre später am Leben. Von den physisch weniger Aktiven waren nur mehr 30 Prozent der Männer und 63 Prozent der Frauen am Leben.
»Menschen, die Fitness betreiben, profitieren noch von anderen positiven Effekten – ihre Knochendichte ist höher, die Muskelmasse ist größer, die Lungenfunktion ist wesentlich besser als bei Untrainierten. Viele der Probanden gaben zudem an, keine Probleme mit dem Gewicht zu haben, und Diabetiker teilten mit, dass ihre Werte im Normbereich lägen. Nicht zu vergessen ist die positive Wirkung auf die Psyche, das bedeutet etwa weniger Medikamenteneinnahmen und gesunden Schlaf.« (Andrus 2005: 21)
1 ZUR BEDEUTUNG VON BEWEGUNG
UND MOBILITÄT
1.1 Das Problem von Bewegungs- und Mobilitätsmangel bei alten Menschen
Aus vielen Gesprächen mit geriatrischen Patienten oder Bewohnern in Pflegeheimen ist bekannt, dass der hochbetagte Mensch Beschwerden sehr häufig bagatellisiert, sich nicht spontan äußert oder sich überhaupt nicht mitteilt. Ein Grund hierfür könnte sein, dass jede offizielle Bemerkung über Einschränkungen als ein »Angriff« auf die Autonomie, die Selbstständigkeit der hochbetagten Menschen gesehen wird. Viele alte Menschen verschweigen Beschwerden, weil sie – oft zu Recht – vermuten, dass durch zu viele oder weitreichende Hilfsangebote ihre Selbstständigkeit beschnitten und ihre Lebensqualität damit reduziert werden könnte. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass sie niemandem zur Last fallen wollen: Oft wohnen die eigenen Kinder weit entfernt, sind die Nachbarn genauso alt und Informationen über Leistungen, die ihnen zustehen würden, nicht bekannt.
Alle Professionen der Altenhilfe sollten daher diese Beweggründe mit in ihr Handeln einbeziehen. Eine genaue und sehr sensible Erhebung der Anamnese ist daher von großer Bedeutung für den hochbetagten Menschen.
Ein andauernder Bewegungsmangel oder gar eine Ruhigstellung kann für einen hochbetagten Menschen sehr gefährlich werden– aus dem Englischen kennen wir etwa das Sprichwort »bed is bad«. Alle Bereiche der Medizin, der Pflege und der geriatrischen Rehabilitation wissen daher um die einschneidenden Folgen für die Betroffenen. So berichten schon junge Patienten nach einer Liegezeit von zwei Wochen über Leistungsschwächen ihres Kreislaufs, der Reduktion ihrer Muskelmasse und der Schwächung ihrer allgemeinen Befindlichkeit.
Sehr problematisch ist die Tatsache, dass während eines Aufenthalts im Akutkrankenhaus in der Regel keinerlei Mobilisation mit den Hochbetagten durchgeführt wird. Wenn überhaupt, beschränkt sie sich auf das Sitzen am Bettrand oder den Versuch, für ein paar Minuten aufzustehen.
Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Problem ist die Wartezeit auf einen Rehaplatz. Häufig müssen Menschen, die nicht in der Lage sind, alleine zu stehen oder zu gehen, auf einen Platz in die Kurzzeitpflege eines Altenheimes ausweichen und auf die Reha warten. Diese Wartezeit erstreckt sich nicht selten über zwei bis vier, oft auch fünf Wochen. Viele Pflegekräfte sind nicht ausreichend geschult für Rehamaßnahmen, und so vergeht wertvolle Zeit, die Immobilität der Betroffenen schreitet fort. Manches Zeitfenster, in dem noch etwas zu verbessern wäre, schließt sich.
Bei hochbetagten Menschen kann man daher von einer Negativspirale ausgehen: Alles wird schneller abgebaut, neben der verschwindenden Muskelmasse nimmt auch die kognitive Leistungsfähigkeit ab. Schon bei jungen Menschen verschwimmt nach einer Woche Bettruhe die zeitliche Orientierung. Quälende Fragen bezüglich ihrer Zukunft lassen alte Menschen oft depressiv werden. Fehlende Reize bei einer vermeintlichen Bettlägerigkeit wirken sich negativ auf Körper, Seele und Geist aus. Ist dieser Teufelskreis erst einmal im Gang, ist ein Aufwärtstrend kaum noch zu erreichen.
So berichten Pflegekräfte aus ihrer langjährigen Tätigkeit von den raschen negativen Folgen der Mangelbewegung. Schnell entwickeln sich Kontrakturen, die nicht rückgängig zu machen sind: fatal für jeden Bewohner, da Kontrakturen immer Schmerzen und Einbußen der Lebensqualität bedeuten. Durch Mangelbewegung sind auch Gefühle betroffen, die sich bis hin zum Hospitalismus äußern können. Ängste und Depressionen können entstehen, gegen die häufig nur noch Medikamente verabreicht werden. Ein reizloses, unbegreiflich trauriges Warten bildet dann das Ende des Lebens.
Sport und Bewegung haben grundsätzlich Vorteile für die Gesundheit im Alter, denn geistig und körperlich bewegt, sind alle Alltagsaufgaben besser zu bewältigen. Sport bei Rüstigen und gezielte Bewegungsübungen bei mobilitätseingeschränkten Bewohnern im Pflegeheim erhöhen ihre physische Resilienz. Bewegungen wirken sich nachweislich positiv auf den Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System, das Immunsystem, die Muskeln und das Skelettsystem aus. Das wiederum stärkt die Psyche und steigert die Lebensfreude.
Zeitungsbericht des Coburger Tageblatts vom 13. Juni 2014
»Demenz und Sport? Fachlich belegt und untermauert ist aus vielen Bereichen der Medizin und Geriatrischen Zentren, dass Sportarten, die früher geübt und motorisch gespeichert sind, noch gut und gerne ausgeübt werden. Die Betroffenen erleben sich wieder als jemand, der noch Fähigkeiten hat. Die Patienten waren weniger anfällig für Depressionen. Der Muskelaufbau sowie alle geistigen Funktionen und Fähigkeiten und die Koordination erfahren eine Verbesserung. Durch die Bewegung werden Muskeln und Gehirn besser durchblutet, dadurch steht mehr Sauerstoff zur Verfügung. Larsen Lechler: ›Es ist belegt, dass somit die Entwicklung der Demenz verlangsamt wird und die Verschlechterung hinausgezögerte.‹ Die bevorzugten Sport- und Bewegungsarten sollten aus der Biografie entnommen werden. Am Anfang werden die Hauptmuskelgruppen geübt, um im Alltag fitter zu bleiben, das Aufstehen fällt mit Kraft leichter. Spielerische Übungen, die auf die Feinmotorik abzielen, sind für Verrichtungen wie das Öffnen einer Flasche oder das Haarekämmen nötig. Regelmäßige Spaziergänge sind von großem Nutzen. Neue Sportarten, bei denen komplexe Abläufe zu erlernen sind, werden nicht empfohlen, es gilt, Altbewährtes zu bewahren.«
1.1.1 Ausblick
Die oben genannten Fakten sind seit mindestens zwei Jahrzehnten bekannt; es wird und wurde viel darüber geschrieben. Wir wissen mittlerweile, was den hochbetagten Menschen guttut und sie stärkt.
All dieses Wissen heißt es gerade auch in Pflegesituationen in der Altenhilfe aufzugreifen und zu integrieren:
• für ein besseres Lebensgefühl der Bewohner und mehr Lebensqualität,
• für mehr Gesundheit und weniger Medikation,
• für größere kognitive Leistungsfähigkeit.
Letztlich bedeutet das alles auch mehr Wirtschaftlichkeit in der Finanzierung der Altenhilfe, denn fitte alte Menschen benötigen weniger Unterstützung, Pflege und Medikationen. Mobilität und Aktivität weisen in der Pflege und Betreuung alter Menschen somit sowohl gesundheitliche, soziale, ethische als auch wirtschaftliche Komponenten auf, die keinesfalls vernachlässigt werden dürfen.
Der neue Expertenstandard »Erhaltung und Förderung der Mobilität« ist ein Instrument, das entscheidend zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege beitragen wird. Derzeit ist er in der modellhaften Implementierungsphase, und es ist davon auszugehen, dass er Mitte 2016 verbindlich eingeführt wird. Doch gilt es auch schon jetzt, das Bewusstsein bei den Pflegenden und Angehörigen zu schärfen und zu entwickeln, damit sie die Bewohner aktiv fördern und in mobilitätsstiftende Aktionen besser einbeziehen.
Diesen Anspruch will diese Publikation unterstützen. Sie vermittelt neben Basiswissen in erster Linie Anregungen sowie Tipps, um alte Menschen so lange wie nur möglich selbstbestimmt und aktiv zu halten. Dabei werden vielen Umsetzungsebenen berücksichtigt – etwa alltägliche wie auch gezielte Förderungen.
Sind bereits Bewegungseinschränkungen bei den alten Menschen vorhanden, gilt es, alle Alternativen zu nutzen und im Rahmen der individuellen Möglichkeiten zu trainieren, um die Lebensqualität so weit als möglich wieder zu erlangen und zu halten.
Es ist an der Zeit, das Wissen zur Erhaltung und Förderung der Mobilität zu systematisieren und umzusetzen!
1.2 Physische und psychische Auswirkungen von Aktivität und Mobilität
Die Realität der meisten alten Menschen in Pflege und Betreuung sieht folgendermaßen aus: Körperliche Einschränkungen des Bewegungsapparates, Stoffwechselerkrankungen, kognitive Defizite verbunden mit den Nebenwirkungen einiger Medikamente lassen Hochbetagte in stationären Einrichtungen oft resignieren. Die Motivation, sich gezielt zu bewegen, bringen nur wenige von sich aus auf. Viele Bewohner verbringen die Tage auf »ihren Plätzen« – seien sie im Aufenthaltsraum, im Speiseraum oder im Zimmer. Werden sie »mobilisiert«, erschöpfen sich diese Maßnahmen häufig darin, dass die Betroffenen von A nach B geschoben oder geführt werden, wo sie mit etwas Glück das Angebot einer tagesstrukturierenden Maßnahme bekommen. Die erleben sie dann auch meist passiv, weil viele Gruppen einfach zu groß und inhomogen sind. Vielfach sind keine Fachkräfte vor Ort, die eine Maßnahmenplanung erstellt haben und qualifiziert betreuen.
So stellen der Einzug in ein Heim oder eine Klinikentlassung oft die Weichen für eine Immobilität. Durch zu wenig fachliche Kompetenz und Zeitdruck werden die letzten Ressourcen der Betroffenen häufig »weggepflegt«. Der hochbetagte Mensch ist mit einer neuen Situation konfrontiert, die ihn überfordert. Genau hier müssen Maßnahmen ergriffen werden, um geschwächte und überforderte Menschen nicht ans Bett zu binden. Denn schon nach wenigen Tagen im Bett schwinden Muskeln, setzt eine Resignation ein, die sich bis zur Selbstaufgabe steigern kann. Wird das Stehen und Gehen nicht mehr geübt, sind die hochbetagten Menschen auf Rollstühle angewiesen, die sie oft selbst nicht mehr in Bewegung setzen können, weil ihnen die Kraft in den Armen fehlt. Der alte, bescheidene Mensch fügt sich in sein Schicksal, möchte keinem zur Last fallen, weil alle Pflegekräfte überlastet sind.
Die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Angelika Zegelin sagt dazu: »Eine Ortsfixierung entsteht durch zunehmende Schwäche, der Bewegungsmangel führt zum Muskelabbau. Schon nach wenigen Tagen des Liegens treten Veränderungen in allen Körpersystemen ein (Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel), in vielen Studien wurde die Liegepathologie bestätigt.« (Zegelin in: Demenz DAS MAGAZIN 22/2014: 14)
Eine frühe und sanfte Mobilisierung kann die Negativspirale der Immobilität verhindern. Menschen, die sich regelmäßig an den Aktivierungsgruppen beteiligen, steigern sich kognitiv und körperlich. Aus den Evaluierungen der Pflegeplanungen geht hervor, dass sich in jedem Alter und auch mit körperlichen Einschränkungen Erfolge erzielen lassen:
• kleine Erfolge wie das Mitwippen der Füße und das Bewegen der Hände zum Takt der Musik,
• große Erfolge wie das selbstständige Essen in der Gemeinschaft oder die regelmäßige Teilnahme an den Gruppenstunden mit einer gestärkten Rumpfstabilität. Sie ermöglicht es, eine Stunde mitzuarbeiten und konzentriert bei der Sache zu sein.
Das ist Lebensqualität durch gezielte Mobilisierung.
Wirkung auf den Stoffwechsel
Häufige Diagnosen in Pflegeheimen sind Hyperlipidämie und Diabetes mellitus. Hier können durch gezielte Bewegungsmaßnahmen positive Resultate aufgeführt werden. Regelmäßige Bewegungseinheiten helfen, das Naschen zu reduzieren und die Zufuhr von Nahrungsmitteln auf die Essenszeiten zu beschränken. Bei Diabetikern führt ein regelmäßiges Training zu einer verbesserten Insulinsensitivität, Kraft- und Ausdauertraining verbessert die Stoffwechsellage. (Aigner 2005: 284)
Wirkung auf das Immunsystem
Anders als beim jungen Menschen sind die Granulozyten und Monozyten bei alten Menschen nicht mehr so gut mobilisierbar; daher werden auch bei starken Infekten oft nur wenig Leukozyten nachgewiesen. Die Phagozytose zeigt durch neutrophile Granulozyten und T-Lymphozyten Einbußen in der Funktionstätigkeit. Bewegung und körperliches Training bewirken eine Verbesserung der immunologischen Situation bei alten Menschen. »Die Verbesserung der immunologischen Situation durch körperliche Aktivitäten dürfte auch verantwortlich sein, dass in einer Studie an über 60-jährigen Männern, die täglich über 3,2 km gegangen sind, nicht nur wie erwartet das Todesrisiko für Koronargefäßerkrankungen und apoplektischen Insult signifikant gegenüber sportlich nichtaktiven Personen vermindert war, sondern auch das Todesrisiko für Karzinome. Dies kommt nicht gänzlich überraschend, sind doch positive Einflüsse körperlichen Trainings auf immunologische Mechanismen der Tumorabwehr bekannt.« (Aigner 2005: 284)
Wirkung auf die Muskulatur
Durch gezieltes Training der Muskeln kann nachweislich bei schon verminderter Kraft eine Verbesserung beobachtet werden. Dies führt in Alltagssituationen zu mehr Bewegungssicherheit, wodurch sich wiederum das Sturzrisiko der Betroffenen mindert. So benötigt eine 80-jährige Frau für das Aufstehen aus einem tiefen Sessel ihre gesamte Muskelkraft: Durch ein Training ihrer Muskeln hat die Frau mehr Reserven zur Verfügung, was ihr im Alltagsleben hilft, unabhängiger zu bleiben.
Wirkung auf die Gelenke
Die Beweglichkeit der Gelenke wird durch tägliches aktives und passives Üben erzielt. Die Gelenke werden durch Zug und Druck »ernährt« – Bewegung ist somit für sie »lebenswichtig«. Jegliche Schonhaltung lässt ein Gelenk nach kurzer Zeit (ca. sechs Wochen) versteifen.
Wirkung auf das Skelettsystem
Eine häufige Erkrankung des Skelettsystems stellt Osteoporose dar. Neben einer medikamentösen Therapie sind Übungen mit Kraft und Druck, z. B. Tanz und Sitztanz sowie Freiluftübungen im Sommer gut geeignet, um Linderung zu schaffen. Wichtig ist dabei eine fachgerechte Anleitung. (Aigner 2005: 282–286)
Wirkung auf das Gedächtnis
Durch regelmäßiges Training (körperlich und kognitiv) wird die Durchblutung im gesamten Gehirn angekurbelt; die Zellen werden besser mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Die verstärkte Bildung neuer Gehirnzellen kann nachgewiesen werden. Durch regelmäßiges Üben wird das Vernetzen und Verschalten von Neuronen gefördert. Die Aufmerksamkeit wird gesteigert. Ein positiver Antrieb und eine freudige Motivation können beobachtet werden. Der alte Mensch kann besser denken, die erhöhte Aufmerksamkeit erleichtert es ihm, komplexere Handlungen durchzuführen und Entscheidungen zu treffen. All das fördert die Fähigkeit, den Alltag aktiver und aus eigenem Impuls zu gestalten. (Jasper 2012: 20)
Exkurs: Bedeutung des Expertenstandards »Erhaltung u. Förderung der Mobilität« für »die Pflege«
Glücklicherweise haben sich durch kontinuierliche Fortentwicklungen in der Medizin und der Geriatrischen Rehabilitation in Senioreneinrichtungen schon viele Änderungen ergeben. Im neuen »Expertenstandard Mobilität erhalten und fördern« wird der Bewohner in den Mittelpunkt gestellt. Neben seinen Funktionseinschränkungen und Diagnosen werden die Psyche, das Umfeld, die Biografie, die Angehörigen und die Gesamtheit der Förderungsmöglichkeiten erfasst. Außerdem: Eine Vernetzung verschiedener Professionen, die verzahnt die Mobilität fördern, wird angestrebt.
Durch eine gezielte Planung im PDCA-Zyklus (Plan, Do, Check, Act) und dem Kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) werden schon gewonnene Einsichten immer weiter umgesetzt. Der »Mobilisations-Expertenstandard«, der den Anforderungen gemäß Paragraf 113a SGB XI (Elftes Sozialgesetzbuch) entsprechen wird, entwickelt die Pflegequalität schrittweise weiter. Damit wird die Qualität prüfbarer und die Fachlichkeit in der Pflege gestärkt. Die Pflegequalität und die Betreuungsqualität werden sich kontinuierlich verbessern, Qualität wird messbarer, und eine Grundlage für sämtliche Qualitätsprüfungen ist vorhanden.
Mit diesem Expertenstandard entsteht ein Leitfaden, der schwerwiegende Risiken bei Bewegungsmangel grundlegend beeinflusst. Fachlich gut geschultes Pflegepersonal in guter Vernetzung zu anderen Professionen wird zu einem Anstieg des Leistungsniveaus führen – zum Wohle der Betroffenen. Das Erkennen und Beschreiben von Risiken bei hochbetagten multimorbiden Menschen wird sich in der Behandlung und Betreuung auswirken. Die Umsetzung wird verbindlich geregelt, sobald eine rechtliche Handhabe gemäß des Expertenstandards besteht.
2 MOBILITÄT UND FITNESS = LEBENSQUALITÄT
2.1 Motivation für Bewegung
Bei einer Befragung von alten Menschen im Pflegeheim der Flenderschen Spitalstiftung wurde die Frage »Was bedeutet Mobilität oder Bewegung für Sie?« von den Betroffenen folgendermaßen beantwortet:1
• Frieda M., 82 Jahre: »Dass ich mich betun kann, keine Hilfe brauche.«
• Anna W., 85 Jahre: »Zum Waschen und Toilettengang keine Hilfe zu brauchen«
• Berta S., 87 Jahre: »Dass ich ›herumprüschern‹ kann.« (Herumprüschern = sich in Haus und Garten zu betätigen)
• Anna G., 90 Jahre: »Dass ich nicht nur im Rollstuhl sitzen und nur warten muss, bis jemand zu mir schaut.«
• Sigrid S., 80 Jahre: »Dass ich Freunde außerhalb des Hauses treffen kann und schöne Stunden mit ihnen verbringen darf.«
• Auguste F., 79 Jahre: »Dass ich bei den Gruppen dabei sein kann.«
• Katharina S., 85 Jahre: »Dass ich meinen Hund noch ausführen und pflegen kann.«
• Albert B., 96 Jahre: »Dass ich neben den Alltagstätigkeiten noch an mein Klavier kann und meine Hände mir folgen.«
Aus allen diesen Aussagen hört man den Wunsch nach Kommunikation, Teilhabe und Gemeinschaft heraus – keiner der Befragten in der Pflegeeinrichtung geht bewusst auf Bewegung als körperliche Ertüchtigung ein. Vielmehr bedeutet Beweglichkeit im Alter Selbstständigkeit und Unabhängigkeit.
Der Wunsch, so lange wie möglich im häuslichen Bereich zu leben, wird bei Befragten, die noch nicht in ein stationäres Pflegesetting eingebunden sind, immer wieder als erster Wunsch geäußert. Viele Senioren haben daher schon früh die Wirkung der Bewegung erkannt und sind in Fitnessstudios, Gymnastikgruppen, bei Kraft- und Balancetrainings, in Schwimmbädern oder Lauf- bzw. Walkingtreffs zu finden. Die Wirkung regelmäßiger Bewegung ist von großem Vorteil. Der Körper bleibt beweglich, das hat für die gesamte Lebenssituation eine positive Auswirkung – nicht zu unterschätzen ist zudem die Wirkung auf »die Seele«. Denn Bewegung geht in den meisten Fällen mit körperlicher Entspannung und mentaler Befriedigung einher. Motivation für Bewegung kann somit auch das Wohlgefühl sein, das sich nach Bewegung jeglicher Art einstellt: Körper und Geist befinden sich im Wechselspiel.
Glücklicherweise haben Mediziner, Pflegende und Therapeuten erkannt, dass ein bewegter Mensch auch meist ein gesünderer ist. Die Arten und die Vielfalt von Präventionsangeboten haben zugenommen. Bei hochbetagten Menschen hat sich gezeigt, dass selbst mit Schmerzen, die medikamentös gut eingestellt sind, Bewegungstraining und eine Verbesserung der Lebenszufriedenheit möglich sind. Regelmäßige Bewegung hilft zudem, Alkohol, Nikotin und andere Suchtmittel weniger interessant zu machen.
Praxisbeispiel
Friedel Zander*: »Seit dem ich regelmäßig in die Gruppe komme, bin ich beweglicher, habe mehr Lebensfreude und meine Stimme ist durch den Gesang wieder klarer, beim Gehen fühle ich mich sicherer. Das bestätigen auch meine Kinder.«
* Name von der Redaktion geändert.
Gesunde hochbetagte Menschen regeln ihre Aktivitäten selbst. Sie verfügen über ihre Zeit und sind in der Lage, ihre Freizeit zu planen und durchzuführen.
Veränderungen durch Krankheiten, die im Alter schleichend oder plötzlich einsetzen, bringen für die Betroffenen alles durcheinander: Der Umzug in ein Pflegeheim ist für viele hochbetagte Menschen dann ein Schreckgespenst. Die Eigenständigkeit zu verlieren, sich fremdbestimmen lassen zu müssen, ist die größte Angst der meisten alten Menschen.
Der neue Expertenstandard »Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege« möchte diesen Wünschen und Bedürfnissen auch und gerade in Pflegesituationen Rechnung tragen – speziell in Bezug auf Selbstbestimmung im Alltag. Dabei geht es vielfach »nur« darum, vom Speisesaal ins Wohnzimmer zu kommen und den Garten ohne Hilfe aufsuchen zu können – um die körperliche Alltagsfitness. Wenn bei dem einen oder der anderen »mehr« daraus wird, umso besser. Aus diesem Grund ist der neue Expertenstandard von existenzieller Bedeutung.
2.2 Mobilität und Mobilitätseinschränkungen
Mobilität bedeutet die Fähigkeit, einen Ortswechsel vorzunehmen – von weit oder nah, von drinnen oder draußen. Mit Mobilität nimmt der Mensch Kontakt zur Umwelt auf (Familie, Freunde, soziales Umfeld etc.) und kann seinen Interessen nachkommen und aktiv sein. Er kann seine Selbstständigkeit ohne Hilfe oder mit Hilfsmitteln »leben«. Lebensaktivitäten stellen für alle Menschen ein fundamentales Grundbedürfnis dar – es gilt, die eigene Lebensführung zu gestalten. Bereits kleinste Einbußen in der Mobilität (etwa das Angewiesensein auf den Rollator) bedeuten Einschränkungen der Selbstbestimmung. Plötzlich bedeuten drei flache Stufen, die hinab in den Garten führen, ein fast unüberwindbares Hindernis.
Mobilitätsverluste entstehen schleichend, häufig ausgelöst durch Unsicherheit, Schwindelgefühl, Schmerzen, Stürze, Krankheiten. Betroffene, Angehörige oder Pflegende sollten bei kleinsten Veränderungen in der Mobilität aufmerksam werden und handeln. Der Hausarzt ist der erste Ansprechpartner, im Heim werden Veränderungen vom Pflege- und Betreuungsteam wahrgenommen und an den Hausarzt weitergeleitet.
Wie fatal Mobilitätseinschränkungen in verschiedenen Lebensbereichen sein können, zeigt die folgende Tabelle:
Im sozialen Bereich | Im seelischen/psychischen Bereich | Im körperlichen Bereich |
• Rückzug aus sozialem Umfeld • Einsamkeit • Verlust der sozialen Rolle • Störungen in der Kommunikation • Isolation • Verlust der Identität |
• Lebensfreude schwindet • Wahrnehmungsstörungen • Verunsicherung • Reizarmut • Schwinden der Lebensqualität • Verlieren der Alltagskompetenz • Depression • Todeswünsche • Rückgang des Selbstwertgefühls • Ängste |
• Ausdauer und Kraft • schwinden • Gefahr der Kontraktur • Haltungsschäden • Dekubitusrisiko • Sturzgefährdung • Immobilität • Atembeschwerden • Pneumoniegefahr • Gefahr der Thrombose |
Damit derartige einschneidende Einschränkungen nicht geschehen, sollten Menschen ihr Leben lang in Bewegung und mobil sein. Bewegungen sind gesunden Babys vom ersten Tag ihres Lebens angeboren. Die motorischen Entwicklungsphasen beim Säugling sind rasant, die Fähigkeiten werden von Beginn an spielerisch trainiert. Im Laufe des Lebens vervollkommnen wir bestimmte Fähigkeiten durch unsere Interessen, Arbeit oder ausgeübte Hobbys. Denken Sie an Pianisten, Sportler, Hausfrauen/-männer, Handwerker oder Bauern. Andere, in der Kindheit gut trainierte motorische Fähigkeiten verkümmern auch – etwa die Gelenkigkeit, wenn sie nicht regelmäßig trainiert wird. Fakt ist aber: Motorisch gespeicherte Fähigkeiten bleiben lange erhalten. Diese Tatsache stellt bei betagten Menschen eine große Ressource dar. Bewegungen sind durch richtige Impulse bei Menschen mit Demenz abrufbar und noch lange umsetzbar (siehe Kap. 9, Reisberg Phase 6).
Natürlich gibt es auch immer mal Einwände, wenn ich alte Menschen motivieren und unterstützen möchte, sich mehr zu bewegen. »Was Hänschen nicht kann, lernt Hans nimmermehr« ist dabei ein gern zitiertes Sprichwort. Doch ganz so aussichtslos ist es nicht! Natürlich hat derjenige, der lange sportlich aktiv war, auch im hohen Alter und ggf. mit demenziellen Einschränkungen häufig eine bessere Ausgangslage als jemand, der eher zu den »Stubenhockern« zählte und zählt. Vielfach sind diese Menschen besser zu motivieren. Eine gezielte Anamnese erfasst jedoch die Gegebenheiten des Einzelnen, und so kann individuell geschaut werden, welche Maßnahmenplanung für den Einzelnen passend erscheint. Die Erfahrung hat gezeigt, dass versierte Fachkräfte/ Therapeuten (Gerontopsychiatrische Fachkraft, Ergotherapeutin, Physiotherapeutin) durch gezielte biografisch verankerte Bewegungen sehr wohl zu mehr Mobilität motivieren können. Durch Kontinuität können dabei Erfolge (überprüfbar durch spezielle Beobachtung durch die Angehörigen, in der Pflegeplanung, der Pflegevisite oder einer Fallbesprechung) und zunehmende Freude bei den Senioren festgestellt werden. Dabei spielt die Einstellung der Fachkraft eine nicht zu unterschätzende Rolle: Gerade demenziell veränderte Menschen »entlarven« schnell, wer authentisch ist und wer nur »so tut«. Eine selbst unmotivierte Betreuungs-, Pflege- oder therapeutische Kraft kann »den Funken« nicht überspringen lassen.
Bewegung ist schon bei kognitiv gesunden Menschen eine Sache der Motivation und Zeiteinteilung. Selbst aktiven, orientierten Menschen fällt es schwer, Bewegungen umzusetzen, wenn das Bewegungsprogramm nicht absolut ritualisiert ist. Deshalb ist für Menschen mit Demenz die regelmäßige positive Motivation durch geeignete Fachkräfte von außen (im Rahmen einer Therapie oder Betreuung) unabdingbar. Im dritten Teil dieser Publikation werden daher Angebote zu Bewegungsförderung für Menschen mit Demenz beschrieben.
Vorab gilt es aber, einen Einblick in die notwendigen Voraussetzungen anatomischer Natur zu bekommen. Dieser Einblick im folgenden Kapitel unterstützt Pflegende, Betreuende und Therapeuten bei der Auswahl individueller und vor allem passenden- der Angebote für die Betroffenen. Insbesondere die altersbedingten Veränderungen sollten dabei Berücksichtigung finden.
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1 Eigene Umfrage, Seßlach, Herbst 2014. Die Namen wurden von der Redaktion geändert.
3 ALTERSVERÄNDERUNGEN DES
BEWEGUNGSAPPARATES – ANATOMISCHE
UND PHYSIOLOGISCHE GRUNDLAGEN
Horst Claassen
Für die Auswahl geeigneter Bewegungsangebote zur Förderung der Mobilität gilt es, die Altersveränderungen der Binde- und Stützgewebe des Bewegungsapparates sowie der an seiner Funktionstüchtigkeit beteiligten Organe unter Berücksichtigung der genetischen Komponente hohen Alters und der individuellen Biografie hochbetagter Menschen zu betrachten.
Während das Skelett (ca. 200 Einzelknochen) und die Skelettverbindungen den passiven Teil des Bewegungsapparates charakterisieren, bilden die Muskeln (ca. 220 Einzelmuskeln) zusammen mit den Sehnen, Bändern und Faszien den aktiven Teil. Die Binde- und Stützgewebe des Bewegungsapparates altern. Dies kann am Beispiel einer im Gipsverband ruhig gestellten Hand erläutert werden. Nach Abnahme des Gipses müssen Bänder und Sehnen, die bei der ersten Bewegung wie geschrumpft erscheinen, aktiv gedehnt werden. Ähnlich ist es mit Sehnen, Bändern und Faszien im Altersverlauf, sie schrumpfen unmerklich.
3.1 Das Bindegewebe
3.1.1 Vorkommen und histologischer Aufbau
Bindegewebe haben im Körper eine weite Verbreitung. Allein ihr faserförmiger Anteil macht 25–30 Prozent der Körperproteine aus. Die universelle Verbreitung der Bindegewebe erklärt, dass Krankheiten wie rheumatisches Fieber und chronische Polyarthritis überall dort Symptome verursachen können, wo Bindegewebe vorkommt: Knorpel, Knochen, Sehnen, Faszien, Gelenkkapseln, Schleimbeutel, Bänder, Sehnenscheiden; als Stroma in Organen wie Lunge, Leber und Niere; im Unterhautbindegewebe; in den Hohlorganen Speiseröhre, Magen, Darm, Harnblase; in den Bandscheiben; an Herzklappen, Herzbeutel sowie Lungen- und Rippenfell; im umhüllenden Bindegewebe von Muskeln (Perimysium) und Nerven (Perineurium).
In Bindegeweben ist der Zellanteil im Vergleich zum extrazellulären Raum prozentual eher gering. Der extrazelluläre Raum ist mit den spezifischen Syntheseprodukten (Extrazellulärmatrix) der Bindegewebszellen gefüllt. Die charakteristische Zelle der Bindegewebe ist der Fibrozyt. Er produziert kollagene, retikuläre und elastische Fibrillen sowie Proteoglykane und Adhäsionsproteine. Die fibrillären Bestandteile der Bindegewebe bedingen die Reißfestigkeit, Elastizität und Formkonstanz von Sehnen, Bändern und Faszien. Proteoglykane können Wasser speichern und sind für die Elastizität von Geweben (Lederhaut, Knorpel, Knochen) verantwortlich. Adhäsionsproteine vermitteln die Haftung zwischen Epithel und Bindegewebe, beispielsweise die Fixierung der Epidermis an der Lederhaut.
3.1.2 Alterung von Bindegewebe
Der Altersvorgang in Kollagenfibrillen ist durch eine Zunahme der Wasserstoff- und Esterverbindungen in den elementaren Tropokollagenmolekülen gekennzeichnet. Die Kittsubstanz zwischen ihnen wird geringer, ihre Packung dichter, der Wassergehalt nimmt ab. In altersveränderten Sehnen, beispielsweise der Achillessehne, erweisen sich die Fibrillen polarisationsoptisch als desorientiert. Die Proteoglykanmatrix ist körnig verändert und verkrustet die Fibrillen. Derart veränderte Sehnen können schon bei geringfügiger Belastung reißen.
In gemischten Geweben ändert sich auch das Verhältnis von dünnen retikulären Fibrillen zu kollagenen Fibrillen und von retikulokollagenen zu elastischen Fasern. Die Zusammensetzung der Glykosaminoglykane ändert sich ebenfalls.
Nach neueren Untersuchungen kommt es im Verlaufe des Alterns zu einer zunehmenden Bindung von Zuckern an die Kollagenfibrillen. Hierdurch erfahren die Kollagenfibrillen eine besondere, unphysiologische Vernetzung. Dieser Vorgang trägt zur Versteifung des Bindegewebes, insbesondere von Bändern und Sehnen, bei. Eine regelmäßige Kontrolle des Blutglukosespiegels ist daher für den alten Menschen wichtig. Dies gilt insbesondere auch für Diabetiker.
3.2 Quergestreifter Skelettmuskel
3.2.1 Histologie, Physiologie und Biochemie
Während der embryonalen Entwicklung treten die Skelettmuskeln vor den Knochen auf. Eine Faszie aus straffem Bindegewebe umgibt den Muskel außen. Darunter liegt das Epimysium, das aus lockerem Bindegewebe besteht. Vom Epimysium gehen bindegewebige Septen aus, die den Muskel untergliedern und in ihrer Gesamtheit als Perimysium bezeichnet werden. Gröbere Sekundärbündel werden von einem äußeren Perimysium umgeben und sind mit dem bloßen Auge sichtbar. Feinere Primärbündel werden von einem inneren Perimysium umgeben; sie bestehen aus ca. 200 Muskelfasern und können mit schwacher mikroskopischer Vergrößerung erkannt werden. In den durch das Perimysium abgegliederten Bindegewebsstraßen verlaufen Gefäße und Nerven. Die Zelle der Skelettmuskulatur hat ein lang gestrecktes, zylindrisches Aussehen und wird als Muskelfaser bezeichnet. Sie enthält viele Zellkerne. Die Muskelfaser zeigt bei polarisationsmikroskopischer Betrachtung abwechselnd helle und dunkle Streifen und wird daher als quergestreift bezeichnet. Dieses Phänomen tritt auch bei der Herzmuskulatur, nicht aber bei der sogenannten glatten Muskulatur, die unter anderem im Magen-Darm-Trakt vorkommt, auf.
Eine Muskelfaser enthält, wie bei elektronenmikroskopischer Betrachtung erkennbar, einige Hundert Myofibrillen, die die Fähigkeit zur Verkürzung (Kontraktion) besitzen. Myofibrillen wiederum bestehen aus Ketten von Sarkomeren, der Baueinheit des Muskels. Eine Verkürzung der Myofibrillen überträgt sich auf das Sarkolemm und schließlich auf die Sehne des Muskels. Zwischen den Myofibrillen liegen die Zellorganellen der Muskelfaser, insbesondere die Mitochondrien als Kraftwerke der Zelle und das sarkoplasmatische Retikulum als Kalziumspeicher. Das Zytoplasma der Muskelfaser enthält einen zusätzlichen Sauerstoffträger: das Myoglobin. Diese oft nicht hinreichend berücksichtigte Tatsache erklärt die hohe und ausdauernde Leistungsbereitschaft von Skelettmuskeln. In einem Sarkomer sind dünne und dicke Myofilamente so angeordnet, dass sie gegeneinander verschoben werden können. Die dünnen Filamente werden Aktinfilamente genannt, die dicken Filamente werden als Myosinfilamente bezeichnet. Da die Myosinfilamente bewegliche Köpfchen tragen, können sie – vereinfacht gesagt – mit den dünnen Aktinfilamenten Kontakt aufnehmen, eine Mikrobewegung durchführen und so die Aktinfilamente über sich hinwegrudern. Wenn die Myosinköpfchen aller Sarkomere in allen Myofibrillen »rudern«, so wird dies äußerlich in einer Verkürzung des Muskels, der Muskelkontraktion, sichtbar.
Die Planung einer Bewegung entsteht im Frontallappen des Großhirns in Zusammenarbeit mit dem Kleinhirn. Als Ausgangspunkt der Motorik spielt die vordere Zentralwindung des Frontallappens eine besondere Rolle. Von hier aus werden Impulse über die Pyramidenbahn an die motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks weitergegeben. Viele motorische Vorderhornzellen tragen mit entsprechenden Wurzelfäden zur Bildung eines mit einer Markscheide versehenen Spinalnervs bei, der die Erregung zum jeweiligen Skelettmuskel weiterleitet. Der periphere Nerv endet aufgezweigt mit Verdickungen und ist vom Sarkolemm der Muskelfaser durch einen synaptischen Spalt getrennt. Im Falle des Skelettmuskels nennt man diese Synapse motorische Endplatte. Zur Überbrückung des synaptischen Spaltes wird am verdickten Nervenende der Überträgerstoff Azetylcholin ausgeschüttet, der an entsprechende Rezeptoren des Sarkolemms der Muskelfaser bindet. Hierauf entsteht ein Aktionspotenzial, das den ganzen Muskel erfasst und in den Muskelfasern zur Freisetzung von Kalzium aus dem sarkoplasmatischen Retikulum führt. Das freigesetzte Kalzium bewirkt eine Kontaktaufnahme der Myosinköpfchen mit den Aktinfilamenten. Unter Verbrauch von energiereichem Adenosintriphosphat beginnt die »Ruderbewegung« der Myosinköpfchen und damit die Kontraktion.
3.2.2 Altersbedingte Veränderungen der Skelettmuskulatur
Um das 20. Lebensjahr ist das Muskelgewebe des Körpers voll entfaltet. Ab dem 30. Lebensjahr kommt es zunächst kaum merklich zum Abbau von Muskelgewebe. Der Verlust von Muskelgewebe durch Atrophie wird Sarkopenie (Muskelschwund) genannt. Die Sarkopenie ist nicht nur vom Alter abhängig, es bestehen auch Korrelationen zum Beruf und zur Ernährung. Die Muskelatrophie wird von einer vermehrten Einlagerung von Binde- und Fettgewebe begleitet. Vom 20.–70. Lebensjahr verringert sich die Muskelmasse um ca. 40 Prozent. Ab dem 50. Lebensjahr verliert der Mensch durchschnittlich 1–2 Prozent seiner Muskelmasse pro Jahr. Frauen sind von der Muskelatrophie meistens stärker betroffen. Das Auftreten einer Sarkopenie wird mit der Entstehung chronischer Leiden wie Osteoporose, Diabetes mellitus vom Typ 2 sowie einem erhöhten Sturzrisiko und einer reduzierten Lebensqualität in Verbindung gebracht.
Durch eine Verlangsamung der Mitoserate kommt es zu einer Zellverarmung in der vormals vielkernigen Muskelfaser. Das im endoplasmatischen Retikulum gespeicherte Kalzium ist nicht mehr so schnell mobilisierbar wie in der Jugend. Dies bedingt eine Verzögerung des Kontraktionsbeginns der Muskelfasern. Der Stoffwechsel des Muskels verschlechtert sich, da es zu Veränderungen in den Mitochondrien kommt. Zur Abwehr von oxidativem Stress stehen weniger Antioxidantien zur Verfügung. Es häufen sich vermehrt freie Radikale im Sarkoplasma an. Die Synthese von extrazellulären Bindegewebsbausteinen, wie Kollagenfibrillen und Glykosaminoglykanen, ist vermindert. Infolge der verminderten Synthese von Wasser speichernden Glykosaminoglykanen tritt eine Wasserverarmung des Gewebes um 10–15 Prozent des Normalwertes auf. Die Verminderung der extrazellulären Matrixkomponenten führt zu einer herabgesetzten Dehnbarkeit, Elastizität, Reißfestigkeit und Gleitfähigkeit von Bändern, Sehnen und Muskeln. Bekannt ist die Anfälligkeit für die Ruptur der Achillessehne nach Bagatelltraumen, wie sie beispielsweise beim Aussteigen aus dem Omnibus auftreten können. Die Verminderung der Kraft betrifft nicht alle Muskelgruppen in gleichem Ausmaß. Besonders häufig sind die Fußheber betroffen. Hierdurch kann das jenseits des 70. Lebensjahres häufiger auftretende Stolpern erklärt werden.
Als Mitauslöser der Sarkopenie werden auch Altersveränderungen im zentralen und peripheren Nervensystem diskutiert. Im Rückenmark kommt es zu einem Verlust von motorischen Vorderhornzellen. Als Folge gehen Axone zugrunde. Vergleicht man histologische Präparate vom N. ischiadicus bei jungen und alten Menschen, so ist der Verlust von Axonen und der Ersatz durch Bindegewebe deutlich zu erkennen. Damit geht eine herabgesetzte Nervenleitgeschwindigkeit einher. Altersveränderungen machen sich auch am Groß- und Kleinhirn sowie an den ab- und aufsteigenden Nervenbahnen bemerkbar. Die Windungen des motorischen Kortex werden schmaler, gleichzeitig werden die Furchen breiter. Insgesamt führen die Veränderungen an den Muskeln sowie am peripheren und zentralen Nervensystem zu einem Nachlassen der Haltungskontrolle sowie zu einer Verminderung der Konzentration, der Koordination und der Reaktionsgeschwindigkeit.
Auch auf hormoneller Ebene finden Veränderungen statt, die den Skelettmuskel betreffen. Die Spiegel für das Wachstumshormon und für den Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktor I (Insulin-like-growth-factor I) nehmen im Altersverlauf ab. Hierdurch werden die spezifischen Proteinbausteine der Myofilamente und die Bindegewebsbausteine der Skelettmuskulatur langsamer erneuert als in der Jugend. Ein herabgesetzter Androgenspiegel wird für eine Reduktion der Satellitenzellen, aus denen eine Erneuerung der Muskulatur möglich ist, verantwortlich gemacht.
Gezieltes Muskeltraining, viel Bewegung und eine proteinreiche Nahrung wirken der Sarkopenie entgegen. Der Muskelaufbau wird im Alter zwar schwieriger, aber nicht unmöglich. Eine mögliche Therapie besteht in dem sogenannten Vibrationstraining. Hierbei werden mechanische Schwingungen auf den Muskel übertragen. In der Folge werden die Muskelspindeln gedehnt, worauf der Körper mit einer Kontraktion des betreffenden Muskels reagiert.
3.3 Knochengewebe
3.3.1 Makroskopischer und histologischer Aufbau
Die langen Knochen unseres Skeletts, wie sie an Arm und Bein vorkommen, haben einen charakteristischen Aufbau. Dies kann besonders gut am Beispiel des Schienbeins erklärt werden. Ein schmaler röhrenförmiger Teil, die Diaphyse, verbreitert sich nach oben (zur Körpermitte hin) und nach unten (von der Körpermitte weg) jeweils zur Metaphyse. Es folgen die Knochenenden, die Epiphysen. Während des Wachstums sind Metaphysen und Epiphysen durch die knorpelige Wachstumsfuge voneinander getrennt. Die Epiphysen, als die äußersten Enden eines Extremitätenknochens, tragen den Gelenkknorpel. Mithilfe des Gelenkknorpels und der Gelenke treten einzelne Knochen miteinander in Verbindung und können reibungslos gegeneinander bewegt werden.
Die äußere Schale der Knochen besteht aus kompaktem Knochen. Im Knocheninneren, und hier besonders in den Metaphysen und Epiphysen, herrscht spongiöser Knochen vor. Spongiöser oder schwammartiger Knochen ist durch seinen lockeren Aufbau aus Knochenbälkchen gekennzeichnet. Außen wird der Knochen von einer Knochenhaut, dem Periost, umgeben. Das Periost ist stark schmerzempfindlich.
Knochengewebe gehört wie auch Knorpelgewebe zu den Stützgeweben. Die spezifische Zelle des Knochengewebes, der Osteoblast, synthetisiert eine Extrazellulärmatrix, die überwiegend aus Kollagenfibrillen und nur zu einem geringen Anteil aus Proteoglykanen und Glykosaminoglykanen besteht. Kollagenfibrillen sind für die Strukturfestigkeit wichtig. Proteoglykane und Glykosaminoglykane können Wasser speichern und gewährleisten Elastizität. Der wichtigste Unterschied zum Bindegewebe und zum Knorpelgewebe besteht darin, dass diese Extrazellulärmatrix verkalkt und somit eine große Festigkeit erhält. Knochen besitzt eine hohe Zug- und Druckfestigkeit sowie eine gewisse Elastizität.
Diese Eigenschaften können durch zwei einfache Experimente sichtbar gemacht werden: Wenn man einen Langknochen des Skeletts, beispielsweise das Wadenbein, chemisch entkalkt, so wird es plötzlich biegsam. Es treten die Eigenschaften der organischen Bestandteile (Proteine) des Knochens hervor. Verbrennt man denselben Knochen, bis er ein schwärzlich-silbernes Aussehen bekommt, so erweist er sich als spröde und zerbrechlich. Dadurch treten die Eigenschaften der anorganischen Bestandteile (Apatitkristalle) hervor. Weiterhin ist Knochen durch eine effiziente Leichtbauweise und ein gutes Heilungsvermögen gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Knorpelgewebe kann Knochengewebe nur durch ein gut entwickeltes Gefäßsystem am Leben erhalten werden. Aufgrund der Eigenarten des Gefäßsystems ist eine Infektion aus dem Knochengewebe nur schwer zu beseitigen.
Osteoblasten synthetisieren zunächst ein Vorknochengewebe, das unmineralisiert ist und Osteoid genannt wird. Innerhalb von Stunden bis Tagen verkalkt es zu Knochengewebe. Hierbei werden – vereinfacht ausgedrückt – Apatitkristalle zwischen die Kollagenfibrillen eingelagert. Neu gebildeter Knochen hat hinsichtlich der Anordnung seiner Kollagenfibrillen eine geflechtartige Struktur und wird als Geflechtknochen bezeichnet. Später wird dieser Geflechtknochen zu reifem Knochen mit regelmäßig und parallel zueinander angeordneten Kollagenfibrillen umgebaut. Diese reife Knochenart nennt man Lamellenknochen. Anfänglich besitzen die Osteoblasten ein rechteckiges Aussehen und sekretieren nur an einer Seite ihres Zellkörpers Knochensubstanz. Im Laufe der Bildung von Geflecht- und Lamellenknochen sind die Osteoblasten bald völlig von verkalkter Knochensubstanz umgeben, sie haben sich sozusagen eingemauert, und werden nun Osteozyten genannt.
Unter dem Gesichtspunkt der Architektur von Knochengewebe unterscheidet man Kompakta von Spongiosa. Die Kompakta bildet die äußere Schicht eines Knochens und ist überwiegend aus Osteonen, der Baueinheit des Knochens, aufgebaut. Ein Osteon besteht aus konzentrisch um einen zylindrischen Hohlraum, den Havers’schen Kanal, angeordneten Lamellen. Meistens besteht es aus 10–15 Lagen solcher Lamellen. Von einem Blutgefäß, das den Havers’schen Kanal durchzieht, werden die in den Lamellen sitzenden Osteozyten ernährt. Die Spongiosa besteht aus Knochenbälkchen (Knochentrabekel) und findet sich im Inneren des Knochens. Die Bälkchen sind belastungsabhängig angeordnet. Man unterscheidet Zugtrabekel von Drucktrabekeln.
Der Oberschenkelkopf sowie der Oberschenkelhals werden auf Druck und Zug belastet. Der Oberschenkelkopf hat unter normaler Belastung mehr Drucktrabekel, der Oberschenkelhals mehr Zugtrabekel. Das ändert sich unter pathologischen Bedingungen. Steht der Schenkelhals mehr steil (Coxa valga), so passt sich der Knochen durch ein vermehrtes Einbringen von Drucktrabekeln an die veränderte Belastungssituation an. Umgekehrt werden bei einem mehr flach ausgeprägten Schenkelhalswinkel (Coxa vara) noch mehr Zugtrabekel als schon unter normalen Bedingungen eingebaut.
Im Gegensatz zum Knorpelgewebe unterliegen die Knochen unseres Skeletts einem ständigen Umbau. In etwa 18 Jahren wird die gesamte Knochensubstanz des Skeletts einmal vollständig umgebaut. Die für den Abbau von Knochensubstanz zuständige Zelle ist der Osteoklast. Der Osteoklast ist eine relativ große Zelle, die ca. 50 Zellkerne besitzt. Ungefähr 1 Prozent der Knochenoberfläche ist mit Osteoklasten besetzt. 1 Osteoklast baut pro Zeiteinheit so viel Knochen ab wie 100 Osteoblasten produzieren. Der Abbau von Knochen wird vom Osteoblasten selbst eingeleitet. Osteoblasten besitzen als einzige Knochenzellen Rezeptoren für Parathormon. Nach der Bindung von Parathormon, das von den Nebenschilddrüsen synthetisiert wird, bilden die Osteoblasten Enzyme, die Knochen abbauen, sowie Zytokine, die Osteoklasten stimulieren.
3.3.2 Altersbedingte Veränderungen des Knochengewebes
Während des Wachstums stehen die knorpeligen Wachstumsfugen unter dem Einfluss von Östrogenen. Der Knochenanbau durch Osteoblasten in den Metaphysen der langen Extremitätenknochen überwiegt den Abbau durch Osteoklasten. Danach braucht das Skelett zur Aufrechterhaltung seiner vollen Entfaltung spezifische Reize wie Druck und Zug sowie Biegebeanspruchung. In Abhängigkeit von Beruf, Ernährung, sportlicher Aktivität und einer möglichen Medikamenteneinnahme tritt ein Abbau von Knochensubstanz bereits nach dem 35. Lebensjahr auf. Schon zuvor, im dritten Lebensjahrzehnt, kann es nach neueren Untersuchungen zu einem gestörten Zusammenspiel von Osteoblasten, Osteozyten und Osteoklasten kommen; hierfür ist in erster Linie eine durch oxidativen Stress bedingte verkürzte Lebensdauer der Osteozyten verantwortlich. Der Osteozyt kann durch seine zytoplasmatischen Zellvorsätze, die ihn mit den Nachbarzellen und den freien Osteoblasten der Knochenoberfläche verbinden, Signale zur Knochenreparatur und zum Knochenanbau weitergeben. Ein Verlust an Osteozyten trägt daher zu einer negativen Knochenbilanz bei.
Hypermobilität, die nicht auf selbst erlaufene Strecken, sondern auf den Gebrauch von Auto, Bahn oder Flugzeug zurückgeht, gibt den Muskeln, Knochen und Gelenken unseres Körpers zu viele Reizpausen. Rolltreppen, Aufzüge, selbstöffnende Türen haben ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran, dass unser Skelett zu wenig Reize durch den Gebrauch von Muskeln erfährt. Darüber hinaus werden Rollatoren als Gehhilfe möglicherweise manchmal zu früh verschrieben. Eine Atrophie von Knochengewebe kann auf eine verminderte Tätigkeit der Osteoblasten oder auf eine verstärkte Aktivität der Osteoklasten zurückzuführen sein. Erstere ist in der Regel diffus und betrifft das ganze Skelett, Letztere tritt meist herdförmig auf.
Bei der Inaktivitätsatrophie hängen Um- und Abbau des Knochens wesentlich von der Funktion und Belastung des Knochens ab. Im nicht entsprechend beanspruchten Gewebe tritt eine Rarefizierung der Knochenbälkchen auf. Im betroffenen Gebiet, zum Beispiel bei einer gelähmten Extremität oder nach Ruhigstellung durch einen Gipsverband, kommt es zu einer Entkalkung und nachfolgend zu einer Hyperkalzämie und Hyperkalzurie. Durch eine Atrophie der Muskulatur oder durch mangelnde Belastung des Gelenkknorpels kann das Krankheitsbild verschlechtert werden.
Bei der senilen Atrophie führt ein mangelhaftes Angebot an Proteinen und Kalzium zu einer Verminderung der Osteoblastenfunktion und damit bei gleichbleibendem Knochenabbau zu einer negativen Knochenbilanz. Verdünnung der Kompakta und der Spongiosabälkchen sowie Vergrößerung des Markraumes stehen im Vordergrund. Diese Art der Atrophie ist im Röntgenbild gut zu erkennen und ist verantwortlich für die Häufigkeit des Altersbuckels und der Schenkelhalsfraktur.
Bei der Druckatrophie reagiert der Knochen an umschriebener Stelle mit einer Aktivierung der Osteoklasten. Im Gegensatz zu Binde- und Knorpelgewebe kann der Knochen einem lokalen Druck nicht ausweichen. Auf den Knochen drückende gut- und bösartige Tumoren, aber auch Aussackungen von Arterien (Aneurysmen) führen zu tiefen Knochendefekten (Knochenusuren).
Altersveränderungen sind primär nicht mit Krankheiten gleichzusetzen, sie können aber fließend in Krankheiten übergehen. Bei einem im Vergleich zum Lebensalter inadäquaten Knochenschwund, der sich mit modernen Messverfahren zur Knochendichte ermitteln lässt, spricht man von Osteoporose. Ein Spezialfall dieser Erkrankung ist die sogenannte Involutionsosteoporose, die nicht das ganze Skelett, sondern bevorzugt Wirbelsäule, Rippen und Becken betrifft. Von diesem Krankheitsbild sind besonders Frauen in der Menopause infolge eines Östrogenmangels betroffen. Ungeklärt ist, warum Frauen, die an einer Osteoporose leiden, in der Regel keine schwerwiegende Arthrose bekommen und umgekehrt. Auch Männer können im Rahmen der im Einzelfall oft unterschiedlich stark ausfallenden Andropause an Osteoporose erkranken. Bei beiden Geschlechtern hemmen Östrogene die Entstehung und Aktivierung von Osteoklasten. Bei Frauen ist therapeutisch eine kurzzeitige Östrogenersatztherapie gegen das Risiko der Entwicklung eines Mammakarzinoms durch Östrogene abzuwägen.
Nach neueren Befunden stellt die Osteoporose kein eigenständiges Krankheitsbild dar, sondern ist mit anderen Alterskrankheiten wie Arteriosklerose, Herzmuskelhypertrophie, Sarkopenie, Hyperlipidämie, Insulinresistenz und M. Alzheimer vergesellschaftet.
Die Steroidosteoporose geht auf die Langzeiteinnahme von Glucocorticoiden zurück. Hier steht die Osteoporose der Wirbelsäule und des Schädeldaches im Vordergrund.
Wenn neu gebildeter Knochen beim Erwachsenen nicht verkalkt, spricht man von Osteomalazie. Diese Erkrankung ähnelt der Rachitis im Kindesalter und wird durch einen Vitamin-D-Mangel verursacht. Der Mangel kann durch verschiedene Faktoren bedingt sein: zu geringe Zufuhr von Vitamin D mit der Nahrung, mangelhafte Bildung des Vitamin D in der Haut wegen unzureichender Sonnenbestrahlung, gastrointestinale Störungen (Malabsorption) und schließlich Niereninsuffizienz mit Hyperphosphatämie. Im Laufe von Jahren kommt es zu einer Verbiegung der übermäßig elastisch gewordenen Knochen wie bei der Rachitis.
3.4 Gelenke und Gelenkknorpel
3.4.1 Makroskopischer Aufbau eines Gelenkes
In einem Gelenk treten im Allgemeinen zwei Skelettknochen durch ihre knorpelig überzogenen Epiphysen miteinander in Verbindung. An vielen Gelenken können ein Gelenkkopf und eine Gelenkpfanne unterschieden werden (Schultergelenk, Hüftgelenk). Manche Gelenke haben inkongruente Gelenkflächen, was beispielsweise beim Kniegelenk durch die Zwischenschaltung von Faserknorpelscheiben (Menisken) ausgeglichen wird. Die Gelenkkapsel umgibt die miteinander in Verbindung tretenden Skelettteile und grenzt sie gegenüber der Außenwelt ab; sie besteht aus einem äußeren fibrösen Anteil (Stratum fibrosum) und einem inneren synovialen Anteil (Stratum synoviale). Die Zellen des Stratum synoviale bilden die Gelenkschmiere (Gelenkflüssigkeit, Synovia), die ein reibungsloses Gleiten der überknorpelten Skelettteile ermöglicht und darüber hinaus den Gelenkknorpel ernährt. Die Bewegungsmöglichkeiten eines Gelenks sind durch Achsen definiert. Um derartige Achsen sind bei den großen Gelenken des menschlichen Körpers beispielsweise Beugung und Streckung, Abduktion und Adduktion sowie Außen- und Innenrotation möglich. Der Mensch bewegt Hüft- und Kniegelenke durch Beugung und Streckung ca. 1–2 Millionen Mal pro Jahr.
3.4.2 Histologie und Biochemie des hyalinen Gelenkknorpels
Im Gegensatz zu Knochen ist hyaliner Knorpel zwar fest, aber dennoch elastisch, verformbar und schneidbar. Vom Aussehen her ist er glasig (griechisch: hyalos) und hat eine weißlich-bläuliche Färbung. Die spezifische Zelle des Knorpelgewebes ist der Chondrozyt. Die Baueinheit des Knorpels ist das Chondron, eine Gruppe von zwei bis acht Zellen einschließlich der sie umgebenden extrazellulären Matrix (Kollagenfibrillen, Proteoglykane und Glykosaminoglykane). Die Zellen nehmen nur 1–2 Prozent des Gelenkknorpelvolumens ein. Der Rest besteht aus der von den Chondrozyten gebildeten extrazellulären Matrix und aus Wasser. Zur extrazellulären Matrix gehören Kollagenfibrillen sowie Proteoglykane und Glykosaminoglykane. Kollagene Fibrillen machen 10–20 Prozent des Knorpelvolumens aus und sind für die Strukturfestigkeit des Knorpels verantwortlich. Proteoglykane und Glykosaminoglykane kommen zu 10–25 % vor und sorgen für eine hohe Wasserabsorptionskapazität und damit für die Druckelastizität des Knorpels. Der Wasseranteil liegt bei 65–80 Prozent. Gegenüber dem Knochengewebe ist also der Anteil der Wasser speichernden Proteoglykane und Glykosaminoglykane wesentlich höher. Im Gegensatz zu Knochengewebe hat Knorpel nach Entwicklungsabschluss keine Gefäße mehr. Seine Heilungsfähigkeit nach Verletzungen ist als schlecht einzustufen.
Der hyaline Gelenkknorpel hat einen spezifischen Schichtenaufbau. Die der Epiphyse zugewandte Schicht des Gelenkknorpels besteht aus mineralisiertem, also verkalktem Knorpel. Mineralisierter Knorpel hat ähnliche Materialeigenschaften wie Knochen. Der mineralisierte Knorpelanteil stellt eine optimale Zwischenzone in Richtung auf den unterliegenden Knochen dar und dient darüber hinaus zur Befestigung. Ohne diese Schicht mineralisierten Knorpels würde der weiche, elastische und gänzlich unmineralisierte Gelenkknorpel wesentlich schlechter auf der Knochenoberfläche haften.
3.4.3 Alterungsvorgänge des Gelenkknorpels
Der spezifische Reiz für die Erhaltung von Gelenkknorpelgewebe besteht in der Belastung der Gelenke. Bei Belastung wird der Gelenkknorpel durchgeknetet und Wasser umverteilt. Hierdurch gelangen die in der Synovia enthaltenen Nährstoffe bis in die tiefen Knorpelschichten. In früheren Zeiten war die Belastung für Hüft- und Kniegelenk höher, man legte zu Fuß nicht selten eine Strecke von bis zu 40 km pro Tag zurück.
Altersveränderungen des Gelenkknorpels lassen sich schwer von krankhaften Gelenkknorpelveränderungen, wie sie zum Beispiel bei Arthrose auftreten, trennen. In der Kindheit, in der Jugend und im frühen Erwachsenenalter enthält der Knorpel bis zu 90 Prozent der Wasser absorbierenden Glykosaminoglykane Chondroitin-4- und Chondroitin-6-Sulfat. Mit zunehmendem Alter nimmt vor allem Chondroitin-4-Sulfat ab und wird durch das Glykosaminoglykan Keratansulfat ersetzt. Schließlich macht der Anteil von Keratansulfat mehr als die Hälfte der Knorpelglykosaminoglykane aus. Gleichzeitig nimmt der Sulfatierungsgrad der Chondroitinsulfate ab.
Durch den Untergang von Knorpelzellen kommt es generell zu einer negativen Proteoglykanbilanz. Hierdurch verliert der Gelenkknorpel seine elastischen Eigenschaften: Er wird härter, spaltet, zerfällt asbestartig-faserig, wird abgerieben und dünner. Krankhafte Veränderungen des Gelenkknorpels betreffen Knorpel und subchondralen Knochen gleichermaßen. Deswegen wird das Krankheitsbild treffender als Osteoarthrose und nicht mehr als Arthrose bezeichnet. Die Inzidenz für Osteoarthrose liegt für die Bevölkerung der Bundesrepublik bei 15 Prozent. Unter den 50-Jährigen beträgt die Erkrankungshäufigkeit 20 Prozent, unter den 75-Jährigen schon 75 Prozent und unter den über 85-Jährgen 85 Prozent. Eine initiale Knorpelläsion, gefolgt von einer Entzündung der Gelenkinnenhaut (Synovialmembran) sowie eine Veränderung der Synovialflüssigkeit stehen oft am Anfang einer chronischen Gelenkerkrankung. Die Zellen des geschädigten Gelenkknorpels reagieren mit einer Proliferationssteigerung. Allerdings brauchen Gelenkknorpelzellen ca. 800 Tage, bis sie sich geteilt haben. Die gesamte Epidermis der Haut wird vergleichsweise in 28 Tagen erneuert.
Die Pathogenese der Osteoarthrose hat viele Facetten. Zu den pathogenetischen Faktoren gehören: angeborene oder erworbene Fehlstellungen und Achsenabweichungen von Gelenken, Inkongruenz der Gelenkflächen, Instabilität der Gelenke aufgrund eines schwachen Bandapparates, Zustand des subchondralen Knochens, neuromuskuläre Funktionsstörungen, Ernährung, hormoneller Status und Genetik. Eine ernährungsbedingte Form der Osteoarthrose ist mit der Ablagerung von Harnsäurekristallen im Gelenkknorpelgewebe, wie sie bei der Gicht auftritt, verbunden. Diabetes mellitus begünstigt die Entwicklung einer Gelenkerkrankung. Die Ursache ist eventuell in einer mangelhaften Glykosaminoglykansynthese bei Insulinmangel zu suchen. Des Weiteren trägt ein zu hoher Blutglukosespiegel zu einer Bindung von Zuckern an die Kollagenfibrilen des Gelenkknorpels bei. Infolge des Auftretens derartig veränderter Kollagenfibrillen ist die Strukturfestigkeit herabgesetzt.
Im Vergleich zu Männern bekommen auffallend viele Frauen ab der Menopause Gelenkbeschwerden. Der Pathologe spricht von klimakterischer Arthrose. Der Prozentsatz an Hüft- und Kniegelenksendoprothesen liegt bei Frauen im Alter von 50–80 Jahren um das Doppelte bis Dreifache höher als bei gleichaltrigen Männern. Es wird vermutet, dass Östrogene nicht nur für den Erhalt von Knochengewebe, sondern auch für die Funktionsfähigkeit von Gelenkknorpel von Bedeutung sind.
3.5 Zentrales Nervensystem
3.5.1 Aufbau des Großhirns
Groß- und Kleinhirn sind an der Planung und Ausführung von Bewegungen entscheidend beteiligt. Das Großhirn als höchstes Integrationszentrum des zentralen Nervensystems ist in Lappen gegliedert. An den Lappen fallen die sehr variabel ausgeprägten Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci) auf. Die Oberfläche der Windungen ist von grauer Substanz, dem Sitz spezifischer Nervenzellen, überzogen. Im Inneren der Windungen und in den zentralen Bereichen des Großhirns liegt die weiße Substanz, in der von einer Markscheide umgebene Bahnen verlaufen. Die Rinde der phylogenetisch jungen Anteile des Großhirns (Neokortex) ist sechsschichtig und besteht aus morphologisch verschieden ausgeprägten Nervenzellen (Neuronen). Neurone sind als Bausteine des Nervensystems zu betrachten. In den Lappen sind verschiedene Zentren untergebracht. Im Stirnlappen liegt das motorische Sprachzentrum (Broca-Sprachzentrum), im Schläfenlappen das Hörzentrum, am Übergang vom Schläfenlappen zum Scheitellappen das sensorische Sprachzentrum (Wernicke-Sprachzentrum) und im Hinterhauptslappen das Sehzentrum. Die basalen Anteile des Großhirns sind phylogenetisch alt (Paläokortex und Archikortex). Zum Paläokortex rechnet man das Riechhirn. Zum Archikortex gehört das limbische System, das unter dem Einfluss von Emotionen für die Bildung des Gedächtnisses zuständig ist. Die phylogenetisch alten Hirnanteile haben in ihrer grauen Substanz nicht den typischen sechsschichtigen Rindenaufbau.
3.5.2 Altersveränderungen und Erkrankungen des Großhirns
Im Alter kommt es zu einem äußerst langsam fortschreitenden Schwund funktionstragender Neurone. Das Gehirngewicht ist verringert, die Windungen sind verschmälert, die Furchen sind tiefer. Diese Veränderungen betreffen besonders den Stirn- und Schläfenlappen. Die Hirnkammern (Ventrikel) sind erweitert.
Altersveränderungen äußern sich an spezifischen, an das Großhirn gebundenen Leistungen, nämlich an der Intelligenz und dem Gedächtnis. Zu den Formen der Intelligenz gehören die fluide und die kristalline Intelligenz. Die fluide Intelligenz kann mit der Fähigkeit, neue Probleme anzugehen und zu lösen, umrissen werden. Die kristalline Intelligenz ist durch das erworbene Wissen charakterisiert. Die fluide Intelligenz ist gegenüber der kristallinen im Alter sehr viel stärker vermindert. Die Leistungen des Gedächtnisses können mit den folgenden Begriffen erfasst werden: Semantisches, episodisches und prozedurales Gedächtnis. Das semantische Gedächtnis umfasst das Allgemeinwissen, das episodische Gedächtnis ist durch die persönliche Vergangenheit, also den Lebenslauf, charakterisiert. Im prozeduralen Gedächtnis sind Fertigkeiten, zum Beispiel die Fähigkeit des Fahrradfahrens, gespeichert. Das episodische Gedächtnis lässt im Alter relativ stark nach, semantisches und prozedurales bleiben relativ lange erhalten. Die Merkfähigkeit nimmt ab der 8. Lebensdekade deutlich ab.
Tritt zu einer Gedächtnisstörung ein markanter Intelligenzverlust mit Urteilsschwäche und Abbau der Persönlichkeit, dann spricht man von einer Demenz. Mit der alzheimerschen Erkrankung ist die häufigste im Alter auftretende Demenzform genannt. In Deutschland leiden etwa 1,2 Millionen Menschen an dieser Krankheit. Die Erkrankung ist histologisch durch die Ablagerung von Plaques und Fibrillen in der Großhirnrinde gekennzeichnet. Der Beginn der Alzheimerdemenz ist fließend und anfangs nicht von normalen Alterungsprozessen abzugrenzen. Auffallend ist zu Beginn die Störung des Kurzzeitgedächtnisses. Im weiteren Verlauf treten Wortfindungsstörungen (Aphasie) auf. Die zunehmende Gedächtnisstörung weitet sich auf die Orientierungsfähigkeit aus. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es zum Nichterkennen von Gegenständen (Agnosie) und zum unsachgemäßen Gebrauch von Gegenständen (Apraxie). Weitere Symptome sind Halluzinationen, meist akustischer Art, sowie erhöhte Reizbarkeit und Depressionen. Der Ablauf der Erkrankung kann in 7 Stadien eingeteilt werden: 1. normaler Zustand, 2. subjektive Beschwerden, 3. Schwierigkeiten, sich an fremden Orten zurechtzufinden, 4. verminderte Fähigkeit, komplexe Aufgaben (Einkaufen) durchzuführen, 5. selbstständiges Überleben ohne Hilfe ist nicht mehr gewährleistet (Probleme bei der Auswahl von Kleidung), 6. Verlust grundlegender Tätigkeiten (Anziehen, Toilettengang, Urinkontrolle, Darmkontrolle), 7. Verlust der Sprache und der Psychomotorik.
Neben den das Großhirn betreffenden Altersveränderungen darf nicht vergessen werden, dass auch das Kleinhirn altert. Die Anzahl der Purkinje-Zellen, als den führenden Neuronen des Kleinhirns, nimmt im Altersverlauf ab.
3.6 Genetik des Alterns
Zwillingsstudien aus Schweden und Dänemark ergaben, dass die Langlebigkeit bis zu 30 Prozent durch genetische Faktoren bestimmt wird. Der Rest geht auf Umweltfaktoren und den persönlichen Lebensstil zurück.
Eine der wenigen bislang gesicherten Einflussgrößen auf die Langlebigkeit wird durch das Apolipoprotein-E-Gen (ApoE) auf dem Chromosom 9 repräsentiert. Das 4-Allel dieses Gens erhöht das Risiko für M. Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfall um das Vier- bis Fünffache. Bei Hochbetagten wurde überwiegend das 2-Allel gefunden, welches diese Risiken vermindert.
Das Klotho-Gen wurde 1997 entdeckt. Der Name »Klotho« entstammt der griechischen Mythologie. Klotho, eine Tochter des Zeus, ist die Göttin, die den menschlichen Lebensfaden spinnt. Das gleichnamige Gen spielt beim Menschen möglicherweise eine ähnliche Rolle. Bei Mäusen führt eine vermehrte Expression des Klotho-Gens zu einer Verlängerung der Lebensspanne. Die Wirkung des Gens setzt an der Niere an, wo es die Rückresorption von Phosphat und die Vitamin-D-Synthese hemmt sowie die Kalziumrückresorption regelt. Mäuse, bei denen das Klotho-Gen experimentell ausgeschaltet wurde, leiden an Arterienverkalkung und Knochenschwund. Auch beim Menschen können Mutationen im Klotho-Gen schon in jungen Jahren zu einer Verkalkung der Halsschlagader führen. Aufgrund dieser Tatsachen wird derzeit über eine enge Verbindung zwischen dem Altern des Gefäßsystems, Vitamin D und Phosphathaushalt nachgedacht. Die Untersuchung eines im 113. Lebensjahr verstorbenen Mannes auf Menorca ergab ein intaktes Klotho-Gen. Dieser Mann hatte ein ausgesprochen gesundes Skelett, keinen Altersbuckel und hat sich lebenslang nie einen Knochen gebrochen. Er fuhr im 102. Lebensjahr noch Fahrrad und arbeitete im Garten.
Nach einer anderen Hypothese hat die mitochondriale DNA mit dem Altern zu tun. Da die mitochondriale DNA über die Mutter vererbt wird, könnte Langlebigkeit hauptsächlich über die Mutter weitervererbt werden. So sollen Hochbetagte mitochondriale DNA-Typen haben, welche Mitochondrien vor Sauerstoffradikalen schützen.
Zelluläres Altern ist auf die Beseitigung von oxidativem Stress und auf die Reparatur der DNA zurückzuführen. Veränderungen von Genen, die für die DNA-Reparatur zuständig sind, können daher den Alterungsprozess beschleunigen. In diesem Zusammenhang muss auch die Telomer-Hypothese erwähnt werden. Im Laufe des Lebens ist der Körper auf zahlreiche Zellteilungen (Mitosen) angewiesen. Allerdings verkürzt sich die DNA bei jeder Replikation um 25–200 Basenpaare. Um das genetische Material zu schützen, trägt jeder DNA-Strang an seinem Ende repetitive DNA, ein Telomer. Die Länge der Telomere sagt aus, wie oft sich eine Zelle teilen kann und ist direkt mit der maximalen Lebenserwartung eines Individuums verbunden. So haben die langlebigen Galápagos-Riesenschildkröten besonders lange Telomere, die 125 Teilungen erlauben. Der Mensch ist pro Zelle für 60 Mitosen ausgelegt, die Hausmaus hingegen nur für 28.
3.7 Hochbetagte Menschen
Seit dem Jahr 1840 ist die allgemeine Lebenserwartung um ca. 40 Jahre gestiegen. Die Ursachen für diese Akzeleration sind in besseren Ernährungs- und Wohnbedingungen zu suchen. Hinzu kommt die ständig besser werdende medizinische Versorgung. Die höchste Lebenserwartung liegt in Ländern wie Amerika, Australien, Europa, Japan, Kanada und Neuseeland. Länder mit mittlerer Lebenserwartung sind Asien und Indien. Eine vergleichsweise niedrige Lebenserwartung haben einige Regionen im südlichen Afrika.
Der überwiegende Teil alter Menschen lebt in Japan. Dort wurde 2003, erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1963, die Marke von 20.000 Hundertjährigen überschritten. Bei über Hundertjährigen können drei Vitalitätsgruppen unterschieden werden:
1. auffallend Rüstige mit bewundernswerter Lebendigkeit,
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783842686618
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2016 (März)
- Schlagworte
- Aktivierung Alltagsbegleiter Altenpflege Bewegung Demente Menschen Dementenbetreuung Demenz Expertenstandard Lebensqualität Mobilität Pflegekräfte Senioren Spiele Tagesbetreuung