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Pflegemanagement in Altenpflegeeinrichtungen

Zukunftsorientiert führen, konzeptionell steuern, wirtschaftlich lenken

von Karla Kämmer (Herausgeber:in)
512 Seiten

Zusammenfassung

auf den Punkt gebracht:

Tipps und Denkanstöße für die Praxis
Kompaktes Wissen für Pflegemanager
Das ideale Nachschlagewerk für die tägliche Arbeit

Das Management von Pflegeeinrichtungen ist eine höchst komplexe Aufgabe, ständig neuen Anforderungen und Rahmenbedingungen ausgesetzt. Umso wichtiger ist es, auf einer Basis zu arbeiten, die flexibles und zukunftsorientiertes Arbeiten ermöglicht.
Die 6., aktualisierte Auflage dieses Standardwerkes bietet die Grundlagen für ein optimales Pflegemanagement in Einrichtungen der Altenpflege. Ob Organisationsstruktur oder Pflegeprozess, neue Pflegedokumentation oder kompetenzorientierte Personalentwicklung – Hier finden sich die wichtigsten Themen fürs Management: kompakt, aktuell und praxisnah.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1 ALTENPFLEGE IN EINER GESELLSCHAFT
DES LANGEN LEBENS

Karla Kämmer

So wie die alten Menschen heute im Heim wollen viele Angehörige der heutigen Generation 50plus nicht leben. Nicht in einer Einrichtung mit so vielen alten Menschen, nicht so »versorgt« … Gefragt sind neue Konzepte für mehr Bedarfsgerechtigkeit und systematisches Qualitätsmanagement. Dieses Buch soll Sie darauf vorbereiten, Altenpflege im gesellschaftlichen Wandel »neu« zu denken und Sie in Ihrer Gestaltungsaufgabe unterstützen. Denn die Altenhilfe wird vielschichtiger. Gesellschaftliche Inklusion und Teilhabe bekommen eine hohe Bedeutung. Der reale, individuelle Hilfebedarf einer Person in ihrer Lebenssituation und ihre Wünsche an die Lebensqualität rücken stärker in den Fokus – und unsere bürgerschaftliche Verantwortung auch. Die Grenzen zwischen selbstorganisierter Hilfe, teilstationärer und stationärer Pflege werden – so ist es politisch gewollt – aufgelöst. Die Angebote werden sich stärker an den regionalen Bedarfen und Wünschen der Bürger ausrichten. Das Votum der Bürger: Ambulant in der eigenen Wohnung geht vor stationär, wohnortnahe, sozial vernetzte Dienstleistungen im Viertel und kleinere Einrichtungen vor großen, Normalität vor Funktionalität.

Das heißt für Sie als Pflegemanager(innen): Hinschauen und reflektieren, neu sortieren, neu vernetzen, neu konzipieren, eventuell umbauen und sanieren.

1.1 Neue Rahmenbedingungen bieten neue Chancen

Angesichts der demografischen Herausforderung erfolgt zurzeit fach- und sozialpolitisch eine Kurskorrektur hin zu Altenhilfe- und Altenpflegekonzepten, die eigenverantwortliche Lebensentwürfe auch bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit stärker unterstützen (z. B. Lebensweltorientierung), die sich mehr an der Normalität, selbst verantworteten Wohnformen und quartiersnaher Versorgung orientieren.

Unsere professionelle Aufgabe ist es, die Ausbildung neuer Qualitäten von Zusammenleben in den Vierteln und Stadtteilen und von Vernetzung und Selbsthilfemanagement mit zu entwickeln. Ohne Entbürokratisierung sind Gemeinwesenorientierung und Förderung von Eigenverantwortung nicht zu schaffen. Da, wo echte Freiräume entstehen, können unter qualifizierter, professioneller Begleitung und Moderation die Produktivitätspotenziale vieler Menschen geweckt werden. Sie können und sollen systematisch in das soziale Netzwerk, z. B. von Quartieren und Gemeinden, eingebunden werden. Die neuen (gesetzlichen) Rahmenbedingungen unterstützen diese Bewegung:

Das Pflegestärkungsgesetz, dessen erster Teil am 1. Januar 2015 in Kraft getreten ist, ermöglicht eine bessere Berücksichtigung der individuellen Situation von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen und einen Abbau von Unterschieden im Umgang mit körperlichen und geistigen Einschränkungen. Außerdem ist im ersten Pflegestärkungsgesetz jetzt auch die Anerkennung des Tariflohns im Pflegesatz gesetzlich fixiert. »Hinter der Neuerung steckt die politische Absicht, einen Preiskampf zwischen den Einrichtungen zu Lasten der Beschäftigten […] zu vermeiden sowie damit den Anreiz zu Tarifflucht, Leiharbeit und Outsourcing zu verringern.«1

Mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz soll der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren eingeführt werden (vgl. Kapitel 6.2).

Die erste Landespflegekammer in Deutschland entsteht in Rheinland-Pfalz.

Die Entbürokratisierung der Pflegedokumentation. Seit Januar 2015 läuft die bundesweite Implementierung der neuen Dokumentation in der Pflege. Es ist laut Bundesregierung das bisher größte Entbürokratisierungsprojekt in der Geschichte der Pflegeversicherung.

1.1.1 Ihr Aufgabenfeld: Soziales Engagement fördern
und Beteiligungsstrukturen schaffen

Wenn der Wandel gelingt, wird sich im Zusammenspiel der Generationen eine neue Norm der sozialen Verpflichtung entwickeln. Soziale und pflegerische Unterstützung in der direkten Nachbarschaft mit ihrem Beziehungsgefüge erhält Vorrang vor dem Institutionsansatz. Auch in den Institutionen gibt es neue Konzepte, veränderte Qualitätsziele und neue Formen von Beteiligung und Alltagsgestaltung.

Die zentralen Eckpunkte der Neuausrichtung:

Ambulante und stationäre Versorgungsangebote miteinander verknüpfen

Geldmittel von den klassischen stationären Versorgungsangeboten zu vernetzten Stadtteil-Lösungen umverteilen

Integration und Durchlässigkeit ambulanter und stationärer Unterstützungssysteme materiell steuern. Niederschwellige Stadtteilangebote fördern

Bestehende Pflegeeinrichtungen bedürfen der grundlegenden Neuausrichtung als Versorgungsmittelpunkte im Sinne von Quartierszentren – mit ambulanter Versorgung, als professionelle Orte für die Begleitung schwerstpflegebedürftiger Menschen, für die Begleitung von Menschen mit schwerer Demenz und herausforderndem Verhalten sowie für ein würdiges Sterben

Die Aufgabe professioneller Pflege alter Menschen besteht zukünftig verstärkt darin, die spezifischen Pflegesituationen fachlich zu erfassen sowie die Beteiligten zu beraten, anzuleiten, zu begleiten und die Zielerreichung zu überwachen. Das ambulante Beteiligungsmodell wird verstärkt Einzug in das Heimsetting halten.

Fazit

1.1.2 Die Entbürokratisierung der Altenpflege

Hauptthema des sog. »Entbürokratisierungsprojektes« des Bundesministeriums für Gesundheit sind Art und Umfang der Dokumentation in der Langzeitpflege. Daneben geht es auch um die Umleitung von finanziellen Mitteln, die der bürokratische Zeitaufwand derzeit noch bindet, in die direkte Pflegezeit. Insgesamt spricht man von 2,7 Milliarden Euro2. Für die Dienste und Nutzer eröffnen sich neue Optionen. In den nächsten zwei Jahren wird die entbürokratisierte Dokumentation bundesweit umgesetzt. Das Projektbüro hat unter dem Titel »Einführung des Strukturmodells zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation (Ein-STEP) am 1. Januar 2015 seine Arbeit aufgenommen. Die Website des Projektbüros ist seit März 2015 unter der Adresse www.ein-step.de erreichbar. Dort werden laufend aktuelle Informationen zur Implementierung angeboten.

1.1.2.1 Die Elemente der entbürokratisierten Pflegedokumentation

Diese grundlegende Veränderung in Art und Umfang der Pflegedokumentation ist die Chance für einen Paradigmenwechsel – hin zu einer konsequenteren Orientierung an der pflegebedürftigen Person, zu mehr Transparenz und zu professioneller Vertrauenskultur.

Bestandteile der entbürokratisierten Pflegedokumentation:

Strukturmodell mit klarer Grundstruktur in einem vierphasigen Pflegeprozess

Strukturierte Informationssammlung (SIS)

Verfahren der Risikoeinschätzung

Maßnahmenpläne in der Tagesstruktur

Eine Ausrichtung der Pflegedokumentation an einem speziellen Pflegemodell, entfällt. Geraten wird zu einer qualifizierten Personzentrierung in der Planung und Dokumentation für Lebenssituationen der Langzeitpflege.

Der Pflegeprozess nach dem Strukturmodell

1. Aufnahmegespräch mithilfe der Strukturierten Informationssammlung in der narrativen Methode

2. Pflegeplanung

3. Pflegebericht (Verlaufsdokumentation, abweichend vom Pflegeplan)

4. Evaluation (mit Fokus auf Erkenntnisse aus SIS, Pflegeplanung und Bericht)

Umgang mit Risiken und Phänomenen

Das Risikomanagement konzentriert sich auf fünf (statistisch häufigste) Risikobereiche und Pflegephänomene:

1. Dekubitus

2. Schmerz

3. Sturz

4. Inkontinenz

5. Ernährung

»Zusatz-Joker« ist die Kategorie »Sonstiges« für weitere spezifische kritische Situationen, z. B. gerontopsychiatrische Fragestellungen (herausforderndes Verhalten, Wanderungstendenz, Verursachen gefährlicher Situationen, gestörter Ausdruck von Bedürfnissen, Tag-Nacht-Rhythmus).

Risikoeinschätzung mit Initial- und Differenzialerfassung

Es erfolgt eine Rückbesinnung auf die fachliche Kompetenz. Zunächst wird der jeweilige Nutzer fachlich eingeschätzt, bevor ein Differenzialassessment erfolgt, eine intensive Beobachtungsphase eingeleitet oder eine Skala ausgefüllt bzw. ein Assessment durchgeführt wird.

Strukturmodell mit neuer Gewichtung

Die Veränderungen und die neue Gewichtung im neuen Strukturmodell zeigen sich an folgenden Elementen:

1. Stärkung und konsequente Beachtung von Individualität und Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Person. Berücksichtigung pflegerelevanter biografischer Informationen

2. Darstellung des Pflegeprozesses auf vier Schritte beschränkt

3. Struktur der Pflegedokumentation mit sechs Themenfeldern, orientiert am Neuen Begutachtungsassessment (NBA)

4. Strukturierte Informationssammlung (SIS) als Einstieg in den Pflegeprozess

5. Matrix zur fachlichen Einschätzung der individuellen Risiken und Phänomene und Verdeutlichung des Handlungsbedarfs

Die SIS macht die bisher genutzten Anamnese- und Biografiebögen und die klassische Pflegeplanung im 6-Schritte-Modell überflüssig.

»Immer-so-Leistungen« und Behandlungspflege

Ganz wichtig: Berücksichtigen Sie unbedingt, dass der reduzierte Dokumentationsaufwand im Bereich des Abzeichnens in erster Linie die grundpflegerische Versorgung als »Immer-So-Leistungen« betrifft. Um im Haftungsfall den Immer-so-Beweis führen zu können, sorgen Sie dafür, dass eine überschaubare Zahl sog. »Verfahrensanweisungen Grundpflege« hinterlegt ist, die das Vorgehen in den Immer-so-Leistungen kurz beschreiben.

Es geht nicht um Pflegestandards! In der Dokumentation der pflegebedürftigen Person werden nur noch die Abweichungen beschrieben. Die Dokumentation der behandlungspflegerischen Versorgung nach dem Arzthaftungsrecht bleibt, wie sie ist.

Fazit

1.1.2.2 Umsetzung mit Gestaltungsspielraum

Die Einhaltung des Strukturmodells und der Verfahrensanleitung ist eine Rahmenvorgabe, innerhalb derer Sie die Umsetzung gemäß Ihren Bedürfnissen und QM-Strukturen frei gestalten können. Das gibt Ihnen Sicherheit und gleichzeitig angemessenen Spielraum, z. B. in der Gestaltung der Maßnahmenplanung.

Die verschlankte Dokumentation braucht mehr fachliches Knowhow. Die Pflegefachkraft muss selbstständiger und reflektierter beobachten, einschätzen und entscheiden.

Die »richtige Kompetenz am richtigen Ort« – Qualifikationsmix: Je weniger – aber (fachlich) konzentrierter – geplant und dokumentiert wird, umso wichtiger wird für Ihren Pflegedienst/Ihre Einrichtung die Nutzung der »richtigen« Kompetenzen der Mitarbeitenden an der »richtigen« Stelle. Sorgen Sie für einen funktionierenden Qualifikationsmix!

Die neue Prüfanleitung, der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, das neue Begutachtungsinstrument, die neuen Qualitätsindikatoren und die neue, entbürokratisierte Pflegedokumentation stehen in einem konzeptionellen, logischen, strategischen und betriebswirtschaftlichen Zusammenhang.

Kann ein Mitarbeiter in Begutachtung und Prüfsituation nicht angemessen argumentieren, zeigen Planung und Risikomanagement keinen roten Faden auf, wird es eng für Note, Reputation und Finanzierung.

Gefordert sind reflektierte Kreativität statt Buchstabentreue, Kooperation auf Augenhöhe und echte Entwicklungsräume für unterschiedliche Begabungen. Neue Anforderungen an Arbeitsteilung und an den Umgang mit Verantwortung erfolgen.

Fazit

1.1.2.3 Umsetzung dank potenzialorientierter Organisation

Eine effizientere, verschlankte Pflegedokumentation erfordert potenzialorientierten Personaleinsatz. Ein erprobtes Instrument zur Potenzialfindung und -entfaltung ist der von Gerd Palm und Karla Kämmer entwickelte Kompetenzkompass. Mit seiner Hilfe analysieren Sie, wer fachlich für welche Aufgaben geeignet ist und kombinieren geschickt Anforderungen, Aufgabenbereiche und Verantwortlichkeiten. Bauen Sie ein Expertennetzwerk auf. Qualifizieren Sie gezielt. Das spart Ressourcen und schafft Motivation.

Der Kompetenzkompass lotet u. a. folgende Potenziale bei Mitarbeitenden aus:

1. Potenzial Bezugs- und Beziehungspflege allgemein (Basislevel)

2. Analytisch-planerisches Potenzial

3. Pflegefachliches Potenzial

4. Organisatorisches Potenzial

5. Beziehungsorientiertes Potenzial

6. Pflegepraktisches Potenzial

Beispiel »Kriterien für eine Pflegefachperson«

Die spezifischen Kriterien für eine Pflegefachperson im ambulanten Dienst wären in einer Potenzialanalyse z. B.:

1. MA mit Potenzial Bezugs- und Beziehungspflege (Basislevel)

Kompetenzen:

Interaktion mit Klienten und Angehörigen

Narrative Informationssammlung und Biografiearbeit durchführen

Hermeneutische Deutung

Evaluationen durchführen

2. MA mit analytisch-planerischem Potenzial (Pflegeprozessexperte)

Kompetenzen:

Hohe Kompetenzen in der Gestaltung von Pflegeprozess- und Dokumentation

Einstufungsmanagement

Kritische Situationen/Konstellationen frühzeitig erkennen

Pflegecontrolling

3. MA mit pflegefachlichem Potenzial (Pflegefachexperte)

Kompetenzen:

Pflege am allg. Stand des Wissens

Pflegefachliche Begründungen

Schwerpunktsetzung, Risiken und Phänomene im Pflegeprozess bearbeiten

Spez. Fachschwerpunkt (Pallcare, Geronto, Quartier)

4. MA Koordination/Steuerung (Organisatorische Begabung)

Kompetenzen:

Organisationsfähigkeit (Zeit- & Selbstmanagement)

Gesamtüberblick über Abläufe und Vorkommnisse

Koordinationsfähigkeit (auch mit Schnittstellen) Familien & Klienten

5. MA mit beziehungsorientiertem Potenzial (Experte Demenz oder Pallcare)

Kompetenzen:

Praktische Milieugestaltung/Wohlbefinden im Blick/Empathie einsetzen, Menschen mit Demenz

Direkte Pflege/Ausführung: sehr individuell, achtsam und ethisch reflektiert

Psychosoziale Begleitung und Krisenbegleitung

6. Schwerpunkt Pflegepraxis (Hands-on-Pflege)

Kompetenzen:

Besondere fachliche Begabung in einem fachlichen Handlungsfeld

Direkte Pflege fachlich umsichtig und praktisch hochwertig durchführen

Behandlungspflege/Medikamentenmanagement/Wundmanagement/Hygiene

Umsetzung von mobilitätsorientierten Konzepten: Kinesthetics, Bobath,

3-Schritte-Konzept

1.1.2.4 Zwischenfazit aus Expertensicht

Die Zeitersparnis durch die entbürokratisierte Dokumentation beträgt 30 bis 50 Prozent des bisherigen Gesamtaufwands. Hinzu kommen die positiven Effekte auf die Mitarbeiterzufriedenheit, wie sie sich in den Erfahrungsberichten der Modelleinrichtungen zeigen. Offensichtlich fühlen sich Pflegefachkräfte wieder ernst genommen. Gerade erfahrene Berufskolleginnen und -kollegen fühlen sich in ihrer Sicht auf ihre Berufsschwerpunkte bestätigt und sagen: »Eigentlich ist das neue Verfahren ein wenig so wie zu Anfang der Einführung der Pflegeplanung, nur differenzierter.«

1.1.3 Pflege im Quartier: Gemeinsam vor Ort leben

Auch im Strukturbereich werden die politischen Weichen eindeutig gestellt: Im Rahmen der Schaffung demografiesicherer Städte und Gemeinden sollen Wohnquartiere entstehen, in denen gelebt, ausgetauscht, unterstützt, gewohnt und gepflegt wird – ambulant, stationär und teilstationär. Die Grenzen der alten Versorgungsformen sollen sich nach und nach auflösen, wohnortnah sollen tragfähige Versorgungsnetze entstehen. Sie sind gut beraten, sich auf den Versorgungsansatz »Quartier« vorzubereiten, darin neue Chancen und Möglichkeiten zu sehen.

Was ist neu am Quartier? Die Auswirkungen des demografischen Wandels stellen Städte und Gemeinden, aber auch soziale Dienstleister, vor große Herausforderungen. Sie bedeuten eine stärkere Differenzierung der Bedürfnisse und Ansprüche besonders auch beim Thema Wohnen. Erforderlich sind generationengerechte Wohnformen sowie quartiersnahe Beratungs- und Dienstleistungsangebote. »Wohnquartiere für Jung und Alt« heißt – neben dem Blick auf junge Familien – vor allem auch, das Thema »Wohnen im Alter« stärker als bisher in den Mittelpunkt zu stellen.

Wohnen im Quartier

Eine Anforderung an die Altenhilfe besteht darin, viel mehr als bisher soziale Netzwerke und die unmittelbare Solidarität zwischen den alten und jungen Menschen eines Wohnquartiers zu stärken und in die Organisation von Hilfeangeboten einzubeziehen.

1.1.3.1 Ihre Rolle als stationärer Dienstleister

In Quartiersprojekten können Sie mit Ihrer Einrichtung eine zentrale Rolle übernehmen. Sie besteht darin,

mit allen an der Versorgung Beteiligten optimal im Stadtteil zu kooperieren;

Ihre Achsenfunktion als »lebendiges Herz« des Stadtteils auszubauen;

Potenziale zu stärken;

mit ambulanten Diensten, Gemeinden sowie Ehrenamtlichen (z. B. aus Freiwilligenbörsen) eng zusammenzuarbeiten;

Organisationen und Selbsthilfe im Stadtteil zu unterstützen (z. B. Quartiersgruppen aufbauen, an Runden Tischen und Konferenzen teilnehmen, bürgerschaftliches Engagement mitunterstützen);

»Die Arbeit im Quartier und im Gemeinwesen erfordert […] neben der Fachlichkeit besondere personale und soziale Kompetenzen, die sich förderlich auf die nachbarschaftliche Beziehungsgestaltung auswirken.«3

1.1.3.2 Aufbau institutionsübergreifender Netzwerke

In Bezug auf hilfebedürftige Personen umfassen institutionelle Netzwerke4

primäre, nicht bzw. wenig organisierte, auf persönliche Bindung aufbauende Netze (Privatbereich: Familien und Freunde),

sekundäre, organisierte formelle Netze (öffentlicher Lebensbereich: Vereine oder z. B. der Männerkreis der Kirchengemeinde),

tertiäre Netze in Form von professionellen Institutionen (gemeinnütziger Sektor: u. a. Krankenhäuser, Wohnhäuser für ältere Menschen, Tagespflegeangebote, Stadtteilbüros) und Unternehmen (z. B. der Supermarkt an der Ecke mit seinem Lieferservice oder die Taxizentrale mit den Stammfahrern).

Die Anforderungen vor allem des Managements verändern sich wegen der regionalen Vernetzung Schritt für Schritt:

Unterstützen Sie bewusst und gezielt Eigenverantwortung und Eigeninitiative in Ihrem Quartier

Hilfebedürftige Menschen, ihre Angehörigen und Nachbarn sind im Quartier die bestimmenden Akteure, die im Bedarfsfall ergänzende professionelle Hilfe in Anspruch nehmen werden. Als professionelle Dienstleister unterstützen Sie bewusst die Entwicklung von Gemeinsinn, Eigenverantwortung und Eigeninitiative in Ihrer Umgebung. Das kann durch Informationsbörsen zu Quartiersarbeit, Bedarfsbefragungen in den Haushalten und Aufbau regionaler mobiler Einkaufsservices geschehen (Rollender Bäcker/Bauer, Rollendes Warenhaus oder Blumenservice), aber auch in der weiteren Öffnung hausinterner kultureller Angebote für Bewohner des Stadtteils (Achtung: Rollatorreichweite beachten!).

Kooperieren Sie noch bewusster mit anderen Akteuren

Quartiersbezogene Wohnkonzepte werden meist nicht von einem Träger allein umgesetzt. Sie sind vor allem dann erfolgreich, wenn auch Sie sich auf andere Akteure zubewegen, sich als Zukunftspartner sehen und Ihre Ressourcen zur Verfügung stellen. Kooperationspartner können hierbei aus der Wohnungswirtschaft kommen, aber auch u. U. von Mitbewerbern und Dienstleistern. Ihre Fachlichkeit steht dabei gleichwertig neben der anderer Fachdisziplinen und Anbieter. Das erfordert kommunikativen Austausch und Abstimmung sowie ein Denken in multiprofessionellen und vernetzten Zusammenhängen. Dabei ist immer zu klären, wer den Gesamtprozess steuert!

Kooperieren Sie mit privaten Netzwerken

In Zukunft werden Leistungen nur noch in Dienstleistungsnetzwerken qualitätsvoll zu erbringen sein. Von Ihnen und Ihren Mitarbeitern wird also die Kompetenz erwartet, Netzwerke aufzubauen und deren Zusammenarbeit zu koordinieren. Dies setzt auch die Kenntnis von Gruppenprozessen und -entwicklungen voraus.

Teilen Sie Verantwortung

Die Expertenmacht der Fachkräfte wird in der quartiersnahen Versorgung aufgrund der neuen Kräfteverteilung zwischen Hilfebedürftigen, Angehörigen, anderen Bürgern des Quartiers und Profis geringer werden. Profis bringen vorwiegend ihre Fachlichkeit ein, die Hilfebedürftigen, ihre Angehörigen und Freunde steuern ihre biografische und Alltagsexpertise bei. Die Mitarbeiter müssen darin gestärkt werden, auf Augenhöhe mit anderen – vor allem nicht professionellen – Partnern zusammenzuarbeiten und Verantwortung in einem Hilfemix zu teilen.

Intensivieren Sie in Steuerungsfähigkeiten

Unter den professionellen Helfern wird der proportionale Anteil der Fachkräfte deutlich abnehmen. Deren Hauptaufgabe besteht zukünftig in der Führung der Nicht-Fachkräfte und in der Steuerung der Pflege-, Betreuungs- und Kommunikationsprozesse. Die professionellen Mitarbeiter sehen die unterschiedlichen Expertisen, die andere Akteure einbringen. Sie steuern den Kommunikationsprozess mit allen Beteiligten, in dem die unterschiedlichen Kompetenzen zum Wohl des hilfebedürftigen Menschen zusammengeführt werden. Sie müssen also die ihre Fachlichkeit zurücknehmen, ein hohes Maß an Kommunikationsfähigkeit mitbringen und sich im Konfliktmanagement auskennen. Gleichzeitig müssen sie den Hilfebedarf diagnostisch definieren und ihre Dienstleistung dem aktuellen fachlichen Stand entsprechend erbringen.

1.1.3.3 Im Hilfemix aufgabenbezogen kooperieren

Wenn das Zusammenspiel der unterschiedlichen Partner gelingt, entstehen innovative Lösungen, die

1. fallbezogen jetzt und hier gut für den Einzelnen sind und/oder

2. feldbezogen helfen, die Versorgungsstrukturen im regionalen Rahmen generell zu verbessern, die damit auch mittel- und langfristig nützlich für die Allgemeinheit sind.

Eine vorrangige Aufgabe institutioneller Netzwerkpartner, insbesondere von Behörden und Ämtern, besteht in der aufgabenbezogenen Kooperation und der Fähigkeit, bürgerschaftliches Engagement in zukunftsweisende Lösungen einzubinden. Nur so kann der Hilfemix funktionieren und als Bündnis politisch wirksam werden.

1.1.3.4 Bürgerschaftliches Engagement kompetent konzipieren

Die Bereitschaft, sich um Angehörige – auch im Falle einer Heimunterbringung – zu kümmern, ist ausgeprägt. Das zeigt beispielsweise die Kasseler Pflegestudie5. Die Hilfsbereitschaft bezieht sich potenziell auch auf Fremde. So pflegeunerfahren ist die Bevölkerung heute nicht: Über 50 Prozent der 40- bis 60-Jährigen haben bereits Erfahrungen in Pflegesituationen gesammelt. Sie geben diese bereits heute, z. B. in der Alzheimer- und Hospizgesellschaft, weiter.

Der Nutzen beruht auf Gegenseitigkeit: Bürgerschaftliches Engagement hilft nicht nur den Bedürftigen, sondern verhilft auch den Freiwilligen zu neuen Kompetenzen, einem abwechslungsreichen Alltag und im begrenzten Umfang auch zu einem finanziellen Vorteil. Soziales Handeln kann auch der Angst vor Einsamkeit, unwürdigen Pflegesituationen und Abhängigkeit entgegenwirken.

Sowohl Profis als auch Freiwillige benötigen Begleitung, Anleitung und Informationen zum Umgang miteinander. Freiwillige brauchen eine systematische Unterweisung, Training und Reflexion in ihrem Aufgabenbereich.

1.1.3.5 Kein Netzwerk ohne Stakeholder

Als Grundlage für die quartiersbezogene Netzwerkbildung bietet sich eine offene Arbeitsform an, ein Forum aller Beteiligten, das sich gemeinsam auf den Weg macht und sowohl Professionelle als auch Interessierte einbindet, Pionierarbeit leistet und Informationen austauscht.

Wichtig für Ihren Start in die Vernetzungsarbeit sind eine exakte Umfeldanalyse der Infrastruktur des Sozialraumes, seiner Mitglieder und deren Verflechtungen. Hier bietet sich eine Stakeholderanalyse an. Sie hilft, Interessenträger (stakeholder) zu identifizieren, also Personen oder Gruppen, die besonderen Einfluss auf den praktischen Aufbau von Quartiersarbeit haben.

Stakeholder

Typische Stakeholder sind einflussreiche Interessenvertreter bzw. Persönlichkeiten des regionalen politisch-administrativen Systems (z. B. Bürgermeister, Vertreter von Parteien, Träger bzw. Vertreter von Wohlfahrtsverbänden und deren lokalen Einrichtungen), Leitungen von Kirchengemeinden, Eigentümer, Unternehmens- und Behördenvertreter. Sie werden geordnet nach

ihrem Einfluss auf andere Stakeholder,

ihrem Entscheidungspotenzial (finanziell, technisch, politisch etc.),

ihrer Einstellung zur Quartiersarbeit (Gegner, Befürworter, neutral etc.),

ihrer Rolle im Projekt (Konkurrenten, Mitbewerber),

ihren Beziehungen untereinander (Vorerfahrungen in Projekten).

Diese Analyse ist die Grundlage dafür, Stakeholder gezielt einzubinden und das gegenseitige Verständnis im Sinne der gemeinsamen Gestaltungsaufgabe zu verbessern. Sie ist aber immer nur eine Momentaufnahme und muss aktuell gehalten werden, um wirksam zu bleiben. Die Stakeholderanalyse ist recht einfach – Sie werden erstaunt sein, wie viel Wissen in Ihrer Organisation vorhanden ist!

Fragen im Rahmen der Stakeholderanalyse

1.1.3.6 Kooperationen einüben

Produktive Netzwerkarbeit setzt offene und reflektierte Kompetenzen und Kommunikationswege voraus. Daher müssen Kooperation und Vertrauen unter den potenziellen Partnern eingeübt werden. Hierzu hat es sich bewährt6

monatliche Sitzungen abzuhalten,

Ziele und Regeln aufzustellen (Leitlinien der Zusammenarbeit),

Teilprozesse zu definieren,

Verantwortlichkeiten zu übertragen und

regelmäßig zu rapportieren.

Es geht darum, eine positive Einstellung zu verstetigen, Verantwortung für das gemeinsame Ganze zu übernehmen und Schwierigkeiten in Kooperation zu bewältigen.

Binden Sie Ihre Mitarbeitenden aktiv ein. Sorgen Sie in Ihrem Team und auf der Kooperationspartnerebene für klare Verhältnisse und machen Sie Handlungsspielräume und Grenzen transparent. Das schafft Sicherheit. Legen Sie von Regeln für das Konfliktmanagement fest. Sie können mit Ihrer Einrichtung eine zentrale Rolle übernehmen, beispielsweise, indem Sie

mit allen an der Versorgung Beteiligten optimal kooperieren,

mit anderen eng im Win-win-Prinzip des gegenseitigen und gesellschaftlichen Nutzens zusammenarbeiten,

gelingende Lösungen anbieten, die Sie aus eigener Kraft nicht hätten realisieren können.

1.1.3.7 Strukturierungs- und Finanzierungshilfen

Sind alle wichtigen Akteure identifiziert, bedarf das sich entwickelnde Netzwerkprojekt der Struktur (z. B. als Verein) und der Finanzierung. Für diese sensible Phase können Initiativen bei vorliegender Förderfähigkeit Unterstützung erhalten.

Das Kuratorium Deutsche Altershilfe Köln (kda) ermöglicht Hospitationen in Quartiersprojekten, regt Projekte des bürgerschaftlichen Engagements im Quartier und den Aufbau von Nachbarschaften/Nachbarschaftshilfen an, unterstützt Initiativen und Gruppen, um öffentliche Veranstaltungen durchzuführen, aktivierende Befragungen vorzunehmen, Konzepte zu entwickeln und die Quartiersinnovationen voranzutreiben.

Das Deutsche Hilfswerk (DHW) bietet unter bestimmten Bedingungen finanzielle Unterstützung bei der personellen Ausstattung der Koordination des Quartiersmanagements. Mit neuen Kompetenzprofilen werden sich auch die entsprechenden Aus- und Weiterbildungsschwerpunkte verändern. Die verschiedensten Träger und Institutionen entwickeln entsprechende Konzepte und Projekte, insbesondere das »Netzwerk: Soziales neu gestalten« (SONG).

Regeln für den Aufbau Ihres Netzwerkes:

1. Gehen Sie in der Auswahl der Netzwerkpartner sorgfältig vor:

a) Lassen Sie sich Zeit.

b) Klären Sie Ziele, Gemeinsamkeiten und Differenzen.

2. Legen Sie Ziele, Leitbild, Leitlinien, Kooperationsstruktur und -kultur fest.

3. Binden Sie Ihre Mitarbeiter mit ihrem Wissen von Anfang an sorgfältig ein: Sorgen Sie für Wissen, Begeisterung, Transparenz und Rollenklarheit.

4. Pflegen Sie einen offenen Umgang mit den unterschiedlichen Interessen und Konkurrenzen.

5. Stellen Sie sich auf Rückschläge ein.

6. Bleiben Sie hartnäckig – es lohnt sich!

1.1.3.8 Quartiersanalyse vorbereiten

Finden Sie Antworten auf diese Fragen:

Welche Bürgerstruktur haben wir?

Welche Versorgungsmöglichkeiten für den Alltagsbedarf liegen im Umkreis von fünf, sieben oder 15 Minuten Fußweg?

Welche Anbieter sind im Quartier präsent? Bestehen Kontakte?

Wer hat Interesse an welchen zukünftigen Schwerpunkten?

Wer verfügt über welche Kapazitäten?

Mit wem haben Sie bereits Kooperationserfahrungen?

1.1.3.9 Die Stationen des Quartiersaufbau

Beantragung von Fördermitteln bei KDA und DHW

Standort- und Sozialraumanalyse

Quartiersbegehungen

Informationsveranstaltungen

Bürgerbeteiligung

Konzeptvarianten bis Entwicklungsreife

Auswahl geeigneter Kooperationen und Aufbau von Partnerschaften

Umbauplanung und -begleitung

1.2 Berufsstand Pflege – Professionelles Selbstverständnis

Das 20. Jahrhundert war gekennzeichnet durch die Verberuflichung der Pflege. Seither hat sich der Wissensstand der Pflege erweitert. Die Anforderungen an die Gesundheitsversorgung werden komplexer und verändern sich kontinuierlich. Der Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren von Gesundheit, chronischen Krankheiten und funktionellen Beeinträchtigungen verlangt zunehmend pflegerische Expertise. Im 21. Jahrhundert baut Pflege weiter auf: mit ihren Studiengängen und eigenen Forschungsstätten, ihrer stärker werdenden Definitionsmacht in Sachen Qualität und jetzt auch mit der Einführung der Pflegekammer. Pflege muss vor allem von den Mitgliedern der Pflegeberufe kompetent, eindeutig und nachdrücklich repräsentiert werden.

Pflegewissenschaft

Das Alten- und das Krankenpflegegesetz weisen die Pflegewissenschaft als Leitwissenschaft aus.7 Lehrinhalte in Theorie und Praxis gründen auf wissenschaftlichen Bezügen und Forschungsergebnissen. Dadurch wird die Wirksamkeit pflegerischen Handelns als eigene Profession belegbar. Schon in der Ausbildung sollen Lernende dazu angeleitet werden, wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen, zu bewerten und konkret anzuwenden. Pflegerisches Handeln ist wissensbasiert, z. B. durch Expertenstandards.

Meilensteine für die professionelle Pflege alter Menschen

Vor fast 20 Jahren wurde vom Arbeitskreis Pflege der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie ein wichtiger Grundstein mit einem Positionspapier zur Professionalisierung der Pflege im Kontext von Gerontologie und Altenhilfe gelegt: »Alte Menschen pflegen bedeutet, den einzelnen Menschen zu unterstützen und zu begleiten, damit er sein Leben trotz Hilfebedürftigkeit und Abhängigkeit bis in den Tod als sinnvolle Einheit erfahren kann. Diese Orientierung […] verlangt von der Pflege […] eine Standortbestimmung und entsprechende Konzepte.«8

Die Pflege alter Menschen verändert sich ständig weiter.

Aus Versorgungseinrichtungen wurden Servicezentren mit Pflegekonzepten, die auf Selbstbestimmung und Selbstständigkeit ausgerichtet sind.

Der ambulante Sektor hat sich stark weiterentwickelt: Selbstverwaltetes Wohnen und Wohngemeinschaften sind Teil unseres Alltags geworden.

Durch integrierte Versorgungsformen, Quartiersarbeit und Casemanagement werden die einzelnen Leistungssegmente mehr und mehr im Sinne der Nutzer verschränkt.

Aufgabenverteilung und Berufsprofile

Passend zu den speziellen Ausdifferenzierungen der Versorgung –selbst organisiert, ambulant, teilstationär oder stationär – bieten Konzepte mit eigenen Schwerpunkten unterschiedliche Lebensformen für das Alter und Arbeitsmöglichkeiten für beruflich Tätige an. Bei den Pflegeberufen gibt es eine besondere Dynamik an den Schnittstellen zur Medizin. Aus Sicht der Pflege ist vorrangig eine vollständige Übertragung von Zuständigkeiten im Sinne der Heilkunde sinnvoll, z. B. der Verordnungskompetenz von Heil- und Hilfsmitteln durch Pflegeprofis. Es gilt dabei pflegerische Kompetenz zu erweitern, um die Versorgung zu verbessern.

Durch die große Nähe von Pflege- zu Alltagstätigkeiten kommt es am anderen Rand der Fachlichkeit immer wieder zu Irritationen. Nach dem Motto »Pflegen kann jeder« erfolgen immer wieder unreflektierte Delegationen zum Teil risikogeneigter Prozesse an Personen unterhalb der Qualifikationsebene.

Bildung

Pflegefachpersonen im Sinne der EU-Richtlinie absolvieren eine mindestens dreijährige Erstausbildung. Die Ausbildung schließt mit der Erlaubnis zur Führung der Berufsbezeichnung ab. Schon heute (und zukünftig verstärkt) findet die pflegerische Erstausbildung an Hochschulen statt. Die Einrichtungen sind im Sinne der Abdeckung aller Qualifikationslevels gefordert, hier zum Partner akademischer Lernfelder zu werden, d. h. im dualen System oder im Rahmen von integrierten Studiengängen als praktischer Lernort zur Verfügung zu stehen. Vergessen Sie nicht: Zukünftig geht es um die Rekrutierung der Besten und Kompetentesten des Berufsnachwuchses, wenn Sie mit Ihrer Einrichtung langfristig punkten wollen! Weitere Qualifikationen erfolgen über Weiterbildung oder auf akademischem Level mit Master-Abschluss in Management oder Lehre. Die Promotion ist nicht nur für die akademische Tätigkeit an Hochschulen sinnvoll, sondern auch in der Pflegepraxis.

Lebenslanges Lernen

Als Garant für wirtschaftlichen und beruflichen Erfolg und die Beschäftigungsbefähigung in allen Lebensphasen gilt lebenslanges Lernen. Abgebildet werden diese Kompetenzen durch den Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR), in Deutschland DQR. Er bildet die Basis des Kompetenzkompasses (vgl. Kapitel 9.4)

Hinter dem Begriff Qualifikationsrahmen verbirgt sich ein aus acht Kategorien bestehender Katalog, der allgemeine, berufliche und hochschulische Bildung europaweit vergleichbar machen soll. Berücksichtigt werden dabei Kompetenzen aus Erfahrung und Praxisexpertise sowie Persönlichkeitsbildung.

Klarheit nach außen

Eine transparente gesamtgesellschaftliche Diskussion zum Anspruch auf Gesundheits-, Sozial- und Pflegeleistungen – sowohl umfänglich als auch qualitativ – steht noch aus. Für das Arbeitsfeld Pflege bedarf es einer Strukturierung der unterschiedlichen Qualifikationslevel (vgl. Kapitel 9.4). Pflegeassistenz ist unterhalb der Professionsebene (Heilberuf) zu definieren, zu entwickeln, in Vernetzung zu organisieren (vgl. Kapitel 4.9.1) und anzusiedeln. Ihre Aufgaben – in Abgrenzung zur Profession – bedürfen zum Schutz der Mitarbeitenden der rechtlichen Regelung.

Klarheit nach innen

Im Inneren der Einrichtung liegt mit der Ausrichtung an Normalität und Lebenswelt die sinnvolle Kooperation aller im Trend: Zukunftsfähige Zusammenarbeit von Pflege und Hauswirtschaft, von Betreuung, Alltagsbegleitung und Küche sind erforderlich, wenn hervorragende Qualität und Kundenbindung9 mit einem vertretbaren Kosteneinsatz entstehen sollen. Mit dem demografischen Wandel ändert sich vieles: Überall ist Schwächerwerden, Abhängigkeit, Pflegebedürftigkeit und Sterben ein Thema. Ob als heimliche Angst ewig junger Ruheständler, als drängende Frage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus oder nach einem Sturz in der eigenen Häuslichkeit.

1.2.1 Selbstbewusstsein, Selbstverständnis und Solidarität

Pflege muss heute mehr denn je zeigen und beschreiben, was sie leisten kann. Wichtig für ein kontinuierliches und prüfbares Leistungs- und Angebotsprofil der Pflege sind

das Berufsbild als Beschreibung spezifischer Merkmale eines Berufs, durch die er sich von anderen Berufen abgrenzt,

die ethischen und fachlichen Grundlagen des Handelns sowie

die schrittweise Professionalisierung und Akademisierung der Pflegeberufe.

Sie sind gefragt

Als pflegerische Leitungsperson sind Sie Vorbild – nicht nur in puncto Fachlichkeit und Führung. Es ist Ihre Aufgabe, den Berufsangehörigen in ihrem beruflichen Selbstverständnis und ihrer professionellen Entwicklung selbstbewusst, vorausschauend und verantwortlich voranzugehen. Nur ein stolzer und selbstbewusster Pflegeberuf, der Heilberuf ist, mit einem hohen Anteil an selbstverantwortlichen und mitverantwortlichen Aufgaben wird zukünftig nachwuchsfähig sein. Das gilt national und international. Das heißt nicht, dass Sie alle Entwicklungen, Rahmenbedingungen und Situationen in der Pflege alter Menschen kritiklos »toll« oder »spannend« finden sollen. Aber aktives und konstruktives Zugehen auf neue Gestaltungsanforderungen, gehört zu Ihrem Aufgabenbereich und zu Ihrem professionellen Selbstverständnis. Der Druck des Alltags engt aber oft den Blick ein. Das eigene Team oder die eigenen vier Wände sind ggf. nicht der geeignete Ort, sich mit Chancen, Gefahren und Entwicklungen konstruktiv auseinanderzusetzen und den Überblick in den Widersprüchen kurz-, mittel- und langfristiger Ziele zu behalten.

1.2.2 Austausch- und Beratungsnetzwerk

Als Pflegemanagerin sollten Sie es sich gönnen, regelmäßig über den betrieblichen Tellerrand zu blicken. Eine einfache Möglichkeit hierzu bieten die Berufsverbände, z. B. der Deutsche Berufsverband für Pflege (DBfK). Hier können Sie Ihr persönliches Austausch- und Beratungsnetzwerk aufbauen, Ihre Ideen einbringen und sie mit anderen weiter entwickeln.

Diese Ressource werden Sie besonders schätzen, wenn Sie als PDL mit anderen Berufs- und Interessengruppen in den klassischen Nahtstellen des Versorgungsalltags arbeiten und flexibel und konsequent im Interesse der Bewohner und der Berufsangehörigen argumentieren und verhandeln müssen.

Mit dem demografischen Wandel ändert sich vieles in immer schnellerem Tempo: die Rahmenbedingungen, die Arbeitsfelder und die Anforderungen. Eine PDL, die die Zukunft für die alten Menschen für sich und ihre Mitarbeitenden aktiv gestalten will, sollte informiert sein, auch fachlich.

Professionelles Netzwerken sorgt für aktuelle Informationen

Professionelle Netzwerker sind im Vorteil: Sie haben die Informationen über interessante Tagungen, über das Knowhow, das man braucht. Sie bekommen ihre Informationen ins Haus, bei Bedarf holen Sie sich persönlich Informationen, Tipps, Rat und Hilfe. Das gibt Sicherheit im Alltag, in dem man oft rasch, richtig und sicher reagieren muss. Rechtzeitig vorauszuschauen ist gerade in Veränderungssituationen wichtig –nicht nur für die eigene Person, sondern auch ganz praktisch für das Handlungsfeld, für dessen Mitarbeitende man Verantwortung trägt.

1.2.3 Die Selbstverwaltung der Profession

Ärzte, Apotheker und Juristen haben die Geschicke ihres Berufes selbst in der Hand, für Pflege ist diese Möglichkeit gerade erkämpft worden: die berufliche Selbstverwaltung im Sinne der Pflegekammer. Es ist sinnvoll, dass Aus-, Fort- und Weiterbildung, Standards und wichtige fachliche Fragen von der verantwortlichen Profession selbst diskutiert, festgelegt und überwacht werden. Nehmen wir als Beispiel einmal die Verantwortung für die professionelle Gestaltung des Pflegeprozesses, die Definition, wie viel Pflege-Knowhow in welcher Pflegesituation im Interesse des pflegebedürftigen Menschen zwingend fachlich erforderlich ist.

Ärzte haben das klar definiert, bei der Pflege entscheidet darüber im Augenblick eher die Kassensituation der Länder …

Informationen zur Pflegekammer

Wo tut sich was in Sachen Pflegekammer? Mit diesen Adressen bleiben Sie auf dem Laufenden:

DBfK: dbfk.de/pressemitteilungen/
wPages/index.php?action=showArticle&article= Pflegekammer-Diskussion-fair-und-sachlich-fuehren-.php

Verdi: https://gesundheit-soziales.verdi.de/berufe/pflegeberufe/
pflegekammer/++co++0eb382fc-2da3-11e2-8e17-52540059119e

Die übergreifenden Protagonisten: Förderverein Pflegekammer, z. B. NRW, www.pflegekammer-nrw.de/

Auf dem Deutschen Pflegetag 2015 in Berlin wurde übrigens Anja Kistler (DBfK) zur Geschäftsführerin der ersten Pflegekammer ernannt, die sich in Rheinland-Pfalz gegründet hat.

Freiwillige Registrierung

Solange es die Kammer noch nicht überall gibt, gehört die freiwillige Registrierung als Pflegeprofi einfach dazu. Als DBfK-Mitglied ist es vor dem Hintergrund der Selbstverwaltung eine professionelle Selbstverständlichkeit, die Weiterentwicklung seiner Fachlichkeit im Zuge einer Registrierung regelmäßig nachzuweisen.

1.2.4 Im Konflikt auf der sicheren Seite

Als PDL bekleiden Sie eine klassische Sandwich-Position –zwischen Träger-, Bewohner- und Mitarbeiterinteressen. Als professionelle Person achten Sie auf Ihre eigene Absicherung. Sie brauchen eine Berufshaftpflicht, die auch bei grober Fahrlässigkeit, bei Sach- und Personenschaden greift. Viele Kolleginnen benötigen mindestens einmal in ihrer beruflichen Laufbahn mehr als nur einen guten Rat. Sie brauchen eine handfeste, beruflich kompetente und solide rechtliche bzw. anwaltliche Vertretung.

Lange Zeit dachten die Kollegen nicht darüber nach, dass es sinnvoll und notwendig ist, sich zu engagieren und gemeinsam stark zu sein. Sie fühlten sich abgesichert bei Ihren Trägern, in ihren Stellenplänen, Tarifverträgen und festgelegten Wochenarbeitszeiten.

Die Zeiten ändern sich. Wenn die Rahmenbedingungen härter werden, finden Entsolidarisierungsprozesse statt, wie die aktuellen Tarifkonflikte in den Unikliniken zeigen. Sie als Pflegemanager(in) haben die Chance, Ihre Einbindung in Ihr professionelles Engagement ebenfalls zu zeigen. Sprechen Sie positiv über Ihre Arbeit und zeigen Sie Ihren Stolz auf Ihre Berufsgemeinschaft. Mischen Sie sich politisch im Sinne der älteren Menschen dieser Gesellschaft ein.

1.2.5 Die Berufsbilder Pflege (DBfK) und Altenpflege (DBVA)

Im Mai 1992 verabschiedete der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) eine Berufsordnung für die Pflegeberufe. Darin ist das Berufsbild der Pflege definiert:

Ȥ 1 Berufsbild Pflege

Pflege ist als eigenständiger Beruf und selbstständiger Teil des Gesundheitsdienstes für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit, die Planung, Ausführung und Bewertung der Pflege zuständig.

Pflege als Beruf ist Lebenshilfe und für die Gesellschaft notwendige Dienstleistung. Sie befasst sich mit gesunden und kranken Menschen aller Altersgruppen.

Pflege als Beruf leistet Hilfe zur Erhaltung, Anpassung und Wiederherstellung der physischen, psychischen und sozialen Funktionen und Aktivitäten des Lebens.

Pflege als Beruf ist abgrenzbare Disziplin von Wissen und Können, welches sie von anderen Fachgebieten des Gesundheitswesens unterscheidet.

Pflege als Beruf definiert, bestimmt mit und verantwortet die eigene Aus-, Fort- und Weiterbildung.

Pflege als Beruf stützt sich in der Ausübung des Berufs und in der Forschung auf ihre eigene wissenschaftliche Basis und nützt dabei die Erkenntnisse und Methoden der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften …«*

* vgl. DBfK (Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe) (Hrsg.) (1992). Berufsordnung für Pflegeberufe. Eschborn: DBfK-Verlag

Altenpflege ist ein wesentlicher Zweig der Pflege. Sie setzt sich speziell mit der Lösung komplexer Pflegeprobleme im Alter auseinander. Sie befasst sich mit dem psychischen, geistigen, sozialen und körperlichen Erleben des gesunden und kranken älteren Menschen. Dabei ist die persönliche pflegerische Beziehung zwischen den älteren Menschen und den Pflegepersonen von besonderer Bedeutung. Sie sollten Partner im Pflegeprozess sein.

1.2.6 Pflege professionalisieren

Pflege ist ein attraktiver Beruf mit Zukunft. Damit das so bleibt, muss die Bildung stimmen. Gerade im Bereich der Pflegebildung gibt es derzeit eine wichtige Entwicklung: die Generalisierung der Ausbildung von Pflege.

Wohin steuert die Ausbildung in der Pflege? Informieren Sie sich über das Pro und Contra und bleiben Sie auf dem Laufenden. Etwa mit diesen Adressen:

Pro Generalistik

DBfK: www.dbfk.de/download/download/reader_
generalistik_final-2014-03-14-o-Beschn.pdf

Verdi: gesundheit-soziales.verdi.de/berufe/pflegeberufe/
++co++0b726c88-38a8-11e2-bbc6-52540059119e

Kontra Generalistik

BPA (Verband Privater Pflegeanbieter): www.bpa.de/News-detail.12.0.xhtml?
&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1301&cHash=d5ac2ab40ab518db25ddf152525d53ec

DVLAB (Deutscher Verband der Leitungskräfte in in Altenheimen und Behindertenhilfe): http://www.altenpflege-online.net/Infopool/
Nachrichten/DVLAB-schuertden-Protest-gegen-eine-generalistische-Pflegeausbildung

Wissenschaftliche Interpretationen

Abwägung pro/kontra in Bezug auf die unterschiedlichen Handlungsfelder (Kliniken Gewinner/Heime Verlierer der Generalistik):

http://www.dbva.de/docs/buendnis/Mai_2014/PatentrezeptgeneralistischePfle-geausbildungWirkungenNebenwirkungen%20pdf%20%282%29.pdf

http://www.ipp.uni-bremen.de/downloads/abteilung4/publikationen/Abschlussbe-richt_Generalistische_Pflegeausbildung.pdf

Die Generalisierung wird im Zuge der Angleichung der Europäischen Union kommen. Wie wir sie ausgestalten, wird unsere Verantwortung sein. Wichtig ist, dass Bildung durchlässig ist (»Kein Abschluss ohne Anschluss«), ebenso wie die horizontale und vertikale Anrechenbarkeit von Bildungsleistungen, der Ausbau der Pflegewissenschaft als eigenständige Wissenschaftsdisziplin, die rechtliche Regelung der Berufsausübung und die pflegerische Selbstverwaltung10.

Stellung als Heilberuf: Autonomie

Die Pflege entwickelt eigene handlungsleitende Theoriekonzepte und Modelle, sie erarbeitet sich ihre Autonomie in der Feststellung des Pflegebedarfs und der Planung der Pflegeprozesse. Die Anbindung der Pflege an Hochschulen treibt Professionalisierung und Akademisierung weiter voran.

Pflege – Beruf und Profession

»Altenpfleger(in)« ist ein Beruf. »Profession« heißt »Beruf«. Warum sprechen wir dann von Professionalisierung? Weil Profession aus soziologischer Sicht mehr bedeutet: nämlich den Besitz einer Domäne, die Nützlichkeit der Tätigkeit für die Gesellschaft, ein hohes Maß an Fach- und Spezialwissen, ein Berufskodex und eine eigene Wissensbasis. Eigene Aufsichtsinstanzen (Kammern) erlassen Regeln und Standards, sie überprüfen auch deren Einhaltung.

Die Definition als Profession ist für die Positionierung, die Anerkennung und das Prestige eines Berufsstandes also von hervorragender Bedeutung. Ende der 70er Jahre wurde diese Professionstheorie revidiert und eine erweiterte Sichtweise auf anderer Basis entwickelt. Sie stellt folgende Leitfragen: »Welche spezifische Handlungskompetenz wird von der Struktur einer professionellen Handlung gefordert? Wie ist die Logik professionellen Handelns zu beschreiben?«11 Nach Oevermann12 sind alle professionellen Tätigkeiten um drei allgemeine Funktionen organisiert:

»Wahrheitsbeschaffung

Therapiebeschaffung und

Konsensbeschaffung.«

Überträgt man diese Aspekte in die Pflege, ergeben sich daraus folgende Ansätze für eine Professionsdefinition:

Wahrheitsbeschaffung meint die systematische Erzeugung von Wissen, z. B. im Rahmen von Pflegeforschung. Pflegeforschung »ist die systematische Untersuchung der Pflegepraxis und ihre[r] Auswirkungen auf die betroffenen Personen und ihr Umfeld unter Einbeziehung von Theorieentwicklung.«13

Noch vor wenigen Jahrzehnten war das pflegerische Wissen medizinisch geprägt, unzusammenhängend und nicht verallgemeinerbar. Hier ist ein stetiger Wandel festzustellen; denn die Pflegewissenschaft, die die theoretische Fundierung des Pflegehandelns entwickelt, wird dafür sorgen, dass Pflege zunehmend Methoden anwendet, die auf wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen beruhen.

Therapiebeschaffung in der Pflege ist z. B. die Verringerung von Schmerzen durch pflegetherapeutische Maßnahmen und die Förderung der Harnkontinenz durch die Umsetzung der Nationalen Standards.

Konsensbeschaffung bedeutet z. B. die Bearbeitung von Normverstößen wie Pflegefehler und den Einsatz für die Interessen der Klientel in Rechtsprechung und Politik.

Professionelles Handeln

Professionelles Handeln zeigt sich nach Oevermann* in folgenden Merkmalen:

1. Stellvertretende (Sinn-)Deutung

2. Einheit von wissenschaftlicher und hermeneutischer Kompetenz

3. Professioneller Habitus

4. Wahrung der Autonomie in der Lebenspraxis

5. Gleichzeitigkeit von Diffusität und Spezifität

* Vgl. Lehmenkühler-Leuschner 1993:21-25

1. Stellvertretende (Sinn-)Deutung

Als stellvertretende (Sinn-)Deutung bezeichnet man die Art und Weise, wie sich eine Person einen Sachverhalt erklärt bzw. zu verstehen versucht. Professionelles Handeln bearbeitet schwierige Problemstellungen z. B. mit stellvertretender Deutung. Sie gibt einem Sachverhalt eine Bedeutung oder Erklärung und wendet dabei fachliche Ordnungs- und Diagnoseinstrumente an. Eine Pflegeperson muss aus den Andeutungen einer älteren Dame zu ihrer Befindlichkeitsstörung exakte Pflegeprobleme ableiten können. Diese Strukturierung geschieht mit Hilfe von Deutungsschemata, Assessments, z. B. der Braden-Skala als Unterstützung zur Erfassung des Dekubitusrisikos. Assessments und Diagnoseinstrumente sind aus fundiertem Wissen entstanden. Dabei ist jede einzelne Begegnung neu und einzigartig, weil die Bewohner, ihre Lebenssituation und Lebenspraxis unterschiedlich sind.

Wie weit Pflege auf ihrem Professionalisierungsweg vorangeschritten ist, zeigt sich z. B. daran, wie sie die pflegerelevante Situation eines Bewohners stellvertretend zu deuten versteht und in der individuellen Begegnungssituation die individuelle Lebenspraxis der Bewohner berücksichtigen kann.

2. Einheit von wissenschaftlicher und hermeneutischer Kompetenz

Professionelles Handeln besteht darin, theoretisches (in der Regel wissenschaftlich fundiertes) Wissen und die hermeneutische Kompetenz des Verstehens zu verknüpfen. Hermeneutik ist die Lehre von der Auslegung einer Äußerung, das Offenlegen der Bedeutung oder des Sinnes aus der Situation heraus.

Professionelle Pflege wendet Wissen z. B. aus Theorien und Modellen an. Sie verbindet es im Kontakt mit dem älteren Menschen, mit dem sinnverstehenden Zugang zu den sozialen, gesundheitlichen oder psychischen Bedürfnissen vor dem Hintergrund seiner individuellen Lebenspraxis. Beispielsweise versucht eine Pflegeperson die Ängste einer Tochter genauer zu erfassen, deren Mutter mehrmals gestürzt ist. Sie geht auf ihre Ängste ein, hört zu: Hat sie Angst davor, dass ihre Mutter sich ernsthaft verletzt? Geht es um vermeintliche Schuld, die Mutter nicht »rund um die Uhr« selbst beaufsichtigen zu können? Die hermeneutische Herangehensweise kann als eine sensible Suchhaltung beschrieben werden, die in der konkreten Pflegesituation mit Fachwissen (hier: zur Sturzgefährdung) verbunden wird, mit dem Ziel einer individuell angemessenen Problemlösung.

3. Professioneller Habitus

»Das Auftreten eines Menschen lässt sich kennzeichnen durch seinen Habitus: seine äußere Erscheinung, seine Körpersprache, seine Gewohnheiten und Haltungen, sein routinemäßiges Verhalten …«14

Spezifische Gewohnheiten der Berufsgruppe und regelhafte Vorgehensweisen, z. B. bezüglich der Kleidung oder Körpersprache, spezifische Wahrnehmungsmuster, z. B. pflegerische Krankenbeobachtung sowie die schon beschriebenen Deutungsmuster sind Elemente des professionellen Habitus.

Der professionelle Habitus hilft Eindeutigkeit, z. B. in der Rolle als Pflegeperson, herzustellen. Er unterstützt professionell Pflegende darin, sich rasch zu orientieren. Dies ist besonders wichtig in ungewohnten und überraschenden Situationen. Oft kann erst im Nachhinein rational begründet werden, warum man »automatisch« dieses oder jenes Verhalten gezeigt hat und wie man zu der spezifischen Einschätzung der Situation gekommen ist.

4. Die Wahrung der Autonomie in der Lebenspraxis

Menschen, die professionelle Pflege in Anspruch nehmen, begeben sich in eine asymmetrische Beziehung. Sie sind abhängig von der Hilfe der Pflegeperson. Um ältere Menschen vor der Ausnutzung dieser Abhängigkeitsbeziehung zu schützen, werden z. B. Haltungs- und Handlungsstandards entwickelt. »Zu diesen Standards gehört die Wahrung der Autonomie in der Lebenspraxis oder die Sicherung der Autonomie des Klientels …«15 Insbesondere sollten beachtet werden:

die eigenverantwortliche Kontaktaufnahme (Ausnahmen bedürfen der rechtlichen Legitimierung: z. B. Betreuung)

Informationspflicht (bei Pflegemaßnahmen und Dokumentation der Pflege)

Schweigepflicht

Bezahlung der geleisteten professionellen Arbeit (vermeidet unnötige Abhängigkeiten und erzeugt Beziehungsklarheit)

Kritische Überprüfung bzw. Reflexion der Notwendigkeit von Entscheidungsübernahmen und praktischen Hilfen

Hilfe zur Selbsthilfe

5. Gleichzeitigkeit von Diffusität und Spezifität

Professionelle Beziehungen sind diffus und speziell zugleich. Sie ermöglichen dem Klienten eine uneingeschränkte Kommunikation: Zum Beispiel kann eine ältere Dame mit der Pflegeperson einerseits über »Prinz Charles und seine Chancen auf den englischen Thron« sprechen (diffuses Kommunikationsangebot) und andererseits über ihre Ausscheidungsprobleme (spezifische pflegerische Fragestellung). Alles lässt sich besprechen. Dabei beachtet die professionelle Person in der Kommunikation ihren professionellen Habitus. Das heißt, sie fragt die ältere Dame bspw. nicht bei ihren Eheproblemen um Rat. Dies ist nicht Inhalt ihres professionellen Pflegeauftrags und entspricht nicht ihrem professionellen Habitus. Die Wahrung der notwendigen professionellen Distanz zeigt sich z. B. als Zurückhaltung der Pflegefachkraft, ihr Leben vor dem Klienten auszubreiten oder die zu pflegenden älteren Menschen als Freunde oder Ersatz-Angehörige zu betrachten. Die Kunst der professionellen Beziehung besteht in der Bereitschaft, Empathie zu entwickeln (»in den Schuhen des anderen zu gehen«) und sich dabei dessen bewusst zu sein, dass die eigene Haltung immer eine bewusste »Als-ob-Haltung« bleiben muss. Hier zeigt sich die Fähigkeit, die optimale professionelle Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren.

Pflege erfüllt heute – auch in Deutschland – schon einige wichtige Merkmale für eine Profession, wenn die moderne (strukturtheoretische) Sichtweise der Professionssoziologie zugrunde gelegt wird.

Welche Tätigkeiten erfordern insbesondere den Einsatz einer professionellen Pflegeperson? Welche sollten ihr vorbehalten sein? Der Arbeitskreis Pflege der DGGG schrieb dazu 1996 in seinem Positionspapier:

1. »Die Festlegung des konkreten Pflegebedarfes

2. Die Festlegung der personellen und pflegerischen Maßnahmen

3. (Pflegeplan)

4. Die Beratung, Anleitung und Überwachung der Personen, die an der Pflege beteiligt sind (Pflegeaufsicht)

5. Die Überprüfung und Bewertung der erbrachten Pflegeleistungen (Sicherung und Kontrolle der Qualität der Pflege«16

_____________________

1 Vgl. Tybussek, K. (2014). Anerkennung von Tariflohn im Pflegesatz jetzt gesetzlich fixiert. Das Pflegestärkungsgesetz 1 stellt aber hohe Anforderung an die Anerkennung. CURACON Weidlich Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Mitteilung vom 22.11.2014

2 Vgl. Statistisches Bundesamt (2013). Erfüllungsaufwand im Bereich Pflege. Antragsverfahren auf gesetzliche Leistungen für Menschen, die pflegebedürftig oder chronisch krank sind.

3 De Vries, B., Evangelisches Johanneswerk (Hg.) (2011). Quartiersnah. Die Zukunft der Altenhilfe. Reihe Management Tools. Hannover: Vincentz Network, S. 12

4 Vgl. Netzwerk: Soziales neu gestalten (Hg.) (2008b): Zukunft Quartier – Lebensräume zum Älterwerden. Themenheft 3: Den neuen Herausforderungen begegnen – Mitarbeiter weiter qualifizieren. Zusammengetragen von Ursula Kremer-Preiß und Holger Stolarz. Essen: KDA, S. 11

5 Vgl. Blinkert, T. & Klie, T. (2004). Solidarität in Gefahr? Pflegebereitschaft und Pflegebedarfsentwicklung im demografischen und sozialen Wandel. Hannover: Vincentz

6 Vgl. Netzwerk: Soziales neu gestalten (Hg.) (2008c). Zukunft Quartier – Lebensräume zum Älterwerden. Themenheft 2: Gemeinsam mehr erreichen- Lokale Vernetzung und Kooperation. Zusammengetragen von Dr. Renate Narten, Büro für sozialräumliche Forschung und Beratung. Hannover, S. 29

7 Vgl. DBfK (2012). Tausche wichtigen gegen guten Arbeitsplatz. Im Internet: http://www.dbfk.de/Startseite/Aktion-Tausche-wichtigen-gegen-guten-Arbeitsplatz/Zahlen—Daten—Fakten-Pflege-2012-01.pdf [Zugriff am 21.02.2015], S. 2

8 Arbeitskreis Pflege DGGG (Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Altenarbeit) (1996). Professionelle Pflege alter Menschen. Positionspapier, S. 5

9 Vgl. Greve, G. & Benning-Rohnke, E. (Hg.) (2010). Kundenorientierte Unternehmensführung: Konzept und Anwendung des Net Promoter® Score in der Praxis. Wiesbaden: Gabler, S. 7

10 Vgl. DBfK 2012

11 Lehmenkühler-Leuschner, A. (1993): Professionelles Handeln und Supervision: eine Einführung in professionssoziologische Grundlagen. Forum Supervision 2, S. 20

12 Ebd.

13 Arbeitskreis Pflege DGGG 1996:12

14 Lehmenkühler-Leuschner 1993:23

15 Lehmenkühler-Leuschner 1993:24

16 Arbeitskreis Pflege DGGG 1996:44

2 LEBENSWELTEN ÄLTERER MENSCHEN
KENNEN UND GESTALTEN

Karla Kämmer

2.1 Zukunftssicher und personorientiert:
Lebensweltorientierung in Pflege und Organisation

Das Lebensweltkonzept ist eine bewährte und wissenschaftlich fundierte Methode, um den Heimalltag zu verbessern und die Effekte der totalen Institution systematisch zu minimieren. Es geht auf den Soziologen Alfred Schütz (1981) zurück und pflegetheoretisch auf Hildegard Entzian. Lebensweltorientiertes Handeln und Pflegen zielt nach Entzian17 auf die Verbesserung der Lebensqualität der pflegebedürftigen älteren Menschen wie der ihrer Angehörigen.

Lebensweltorientiertes Arbeiten betrachtet die unterstützungsbedürftige Person als Subjekt und richtet ihre Interventionen entsprechend aus. Von zentraler Bedeutung ist, was der auf Pflege angewiesene ältere Mensch denkt, wie er sich körperlich und seelisch fühlt und wie er seine Möglichkeiten zur (Mit)-Gestaltung seines Lebensalltags erlebt. Wichtige Aspekte des Erlebens eines normalen Alltags sind Kompetenzgefühle, u. a. das Erleben von »Wirksam-Sein«, von »Gestalten-Können« und von der regelhaften Abfolge »immer wiederkehrender, vertrauter, sinnvoller Handlungen« im Alltagsgeschehen.

Das Lebensweltkonzept

Ziel des Lebensweltkonzeptes ist es, den Bewohnern ein möglichst autonom geführtes, partizipatives und von Vertrautheit mit der Umgebung gekennzeichnetes Leben anzubieten.

Es gilt, eine Umwelt für pflegebedürftige Menschen zu schaffen, in der die Gestaltung eines ganz normalen, an der eigenen, individuell passenden und gewohnten Lebensrealität orientierten Alltags gefördert wird. Wichtig ist dabei die Umfeldgestaltung, die die Bewohner in ihrem Engagement und ihrer Verantwortung unterstützt18. Der auf Hilfe angewiesene Mensch bleibt »Experte seines Lebens«. Alle Maßnahmen zielen darauf ab, seine Selbstbestimmung weitestgehend zu erhalten. Gemeinsam mit dem älteren Menschen erarbeiten die Mitarbeitenden den konkreten Unterstützungsbedarf.

Die pflegebedürftige Person soll darin unterstützt werden, ihr individuell angemessenes Maß an Vertrautheit/Sicherheit, an Autonomie, an Tagesgestaltung und an gewohnten Routinen zu erfahren.

Der alte Mensch soll bewahrt werden vor den negativen Effekten funktionaler Versorgung und totaler Institution, vor Entpersonalisation, Resignation und dem Zerstören seines gewohnten Alltags.

Zu den wichtigsten Bedingungen, die das Wohlbefinden der Heimbewohner(innen) gewährleisten, gehören nach Amann19 zuallererst die Sicherstellung individueller Autonomie, die möglichst weit reichende Verfügung über handlungsbefähigende Ressourcen und das Gefühl der Akzeptanz der eigenen Biografie20 des gelebten Lebens. Lebensweltorientierte Pflegeinterventionen tragen unmittelbar zur Förderung der Lebensqualität und zur Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden bei.

2.1.1 Lebensweltorientierung aus der Perspektive
der Pflegeperson
21

 

1. Lebensweltorientierte Pflege betrachtet nicht nur die pflegerischen Defizite eines alten Menschen. Professionell Pflegende erkennen den sachlichen Pflegebedarf, seine Bedeutung für das Individuum und die Auswirkungen für seinen Lebensalltag.

2. Es geht um Wohlbefinden durch größtmögliche Selbstständigkeit, Autonomie und Vertrautheit durch Lebenskontinuität sowie eine sichere, fördernde Umgebung.

3. Der alte Mensch soll erleben, dass sein Leben Sinn hat, dass es Lebensbereiche gibt, in denen er noch Kompetenzen besitzt und dass er nicht die völlige Kontrolle über sein Leben verliert. Deshalb sollten professionell Begleitende größtmögliche Entscheidungs-, Handlungs-, Bewegungs- und Gestaltungsspielräume für ihn schaffen.

4. Die lebensweltorientierte Pflege ist geleitet vom Bewusstsein, dass der Arbeitsplatz der Wohnort des alten Menschen ist. Hierzu gehört, die Privatheit der Räume und die Territorialgrenzen der Person zu respektieren und zu schützen.

5. Die wirtschaftlichen und zeitlichen Ressourcen werden fachkompetent, wirtschaftlich und ökologisch verantwortlich eingesetzt. Der Arbeitsalltag wird im Spannungsfeld eigener Zeitknappheit und dem nicht selten erlebten Zeitüberfluss aufseiten des hilfeabhängigen alten Menschen gestaltet.

6. Professionell Pflegende arbeiten auf der Grundlage einer Pflegekonzeption, die dem allgemeinen Stand des Wissens entspricht. Kontinuierliche Weiterentwicklung durch Personalentwicklung und Wissensmanagement ist selbstverständlich.

7. Verstehen und Verständnis sind Kernkompetenzen der lebensweltlichen Arbeit. Beobachtungen, Deutungen und Pläne müssen logisch und fachlich nachvollziehbar, begründet, reflektiert und dokumentiert sein. Erst durch Transparenz und Dialog wird Kooperation zwischen allen Beteiligten möglich.

8. Fachlichkeit am Stand des Wissens lebensweltlich umsetzen. Die Fachlichkeit soll aus der Perspektive der spezifischen Lebenssituation multimorbider älterer Menschen und in Anbetracht ihrer Lebenszeit geleistet werden. Primär geht es darum, in einer begrenzten und durch große Verletzlichkeit gekennzeichneten Lebensspanne eine hohe individuelle Lebensqualität zu fördern. Dies geschieht in Anpassung an das Hospiz-Prinzip »Den Tagen Leben geben«. Prävention, Prophylaxen, Aktivierung und Risikomanagement werden mit dem Ziel durchgeführt, einer Einschränkung der Lebensqualität vorzubeugen.

2.1.2 Die drei zentralen Leitideen der Lebensweltgestaltung

Die Prinzipien lebensweltorientierter Pflege ergeben sich aus den ihnen zugrunde liegenden drei Leitideen:

1. Vertrautheit,

2. Autonomie und

3. Partizipation.

Sie werden in Ihrer Organisationsarbeit für mehr Lebensqualität und Bewohnernähe immer wieder durch »Rückfälle« in die alte Denkwelt der Anstalt überrascht werden. Vor allem nach Personalwechsel in den Teams, wenn z. B. Mitarbeiter die Schnabeltassen plötzlich wieder bei viel mehr Personen einsetzen, »weil’s schneller geht«, oder wenn Bewohner schon 30 Minuten vor dem Mittagessen mit umgebundenen Mundtuch warten. Verstehen Sie die folgenden Beschreibungen der lebensweltorientierten Begleitung einfach als Anregungen. Vielleicht haben Sie ja schon alle erwähnten Anforderungen umgesetzt – dann nehmen Sie die folgenden Inhalte einfach als Bestätigung Ihrer gemeinsamen Leistung!

Die Merkmale funktionalen Arbeitens im Stil der »totalen Institution« für die Bewohner sind:

1. Entpersonalisation

2. Resignation

3. Zerstörung des eigenen Alltags

 

2.1.2.1 Herstellen von Vertrautheit

Grundlegend für das Wohlbefinden einer Person ist das Erleben von Sicherheit und Vertrautheit. Am Beispiel von drei Handlungsfeldern wird deutlich, wie Sie diese abstrakten Begriffe in praktisches Handeln umsetzen:

1. Offene Biografieorientierung

2. Individuelle, anregungsorientierte Tagesgestaltung

3. Integration der Angehörigen/Stärkung der Zugehörigkeit

1. Offene Biografieorientierung

Offene Biografiearbeit stärkt Vertrautheit

Interesse am gelebten Leben einer hilfe- und pflegebedürftigen Person gehört zum allgemein anerkannten Stand der Altenpflege. Dabei ist es das Ziel, die hilfebedürftige Person umfassender wahrzunehmen. Sie soll durch vertraute Aspekte aus Heimat, Herkunft, Brauchtum, Ritualen, Lebensereignissen in Sicherheit und Selbstwert bestätigt werden. Diese Ansätze und Aktivitäten fasst man unter dem Oberbegriff »Biografiearbeit« zusammen. Dabei handelt es sich um einen undefinierten Begriff mit vielfältigen Bedeutungen, denen gemeinsam ist, dass sie die individuelle Lebensgeschichte als relevant für die Interpretation und Bewältigung der aktuellen Lebenssituation ansehen und dass sie bewusst im »Hier und Jetzt« das »Dort und Damals«22 berücksichtigen. In der heutigen Pflegepraxis ist die Umsetzung von sehr unterschiedlicher Qualität.

Professionell und systematisch vorgehen

Es gibt Einrichtungen, die ganz gezielt Angebote zur Biografiearbeit im Alltag realisieren (z. B. Erzählcafés); andere, bei denen es nur im Konzept steht und wiederum andere, die lediglich beim Heimeintritt einen Standardvordruck mit biografischen Daten ausfüllen – alle sprechen von Biografiearbeit.

Im Lebensweltkonzept verstehen wir Biografiearbeit als die professionelle Auseinandersetzung mit den vom Klienten als relevant angegebenen Erfahrungen und Geschichten aus seinem Lebensweg. Nach dem Wunsch des Klienten werden sie erfasst und gezielt in der lebensweltorientierten Begleitung aufgegriffen. Biografie ist weit mehr als die objektive Aneinanderreihung biografischer Fakten. Es ist eine Auswahl der Erfahrungen und Erlebnisse, die je nach Anlass interpretiert werden. Biografien haben nach Schweppe immer den »Charakter des offenen Entwurfs«23. Obwohl voller Umdeutungen und Änderungen ist die Lebensgeschichte durch Kontinuität gekennzeichnet und dient gleichzeitig als Filter für neue Erfahrungen.

Praxistipp

Dabei bleibt die (biografische) Ausgestaltung von Pflege immer ein offenes Angebot, d. h., der alte Mensch wird nicht festgelegt auf einmal erfasste Gewohnheiten und Vorlieben. Biografiearbeit erfordert Respekt vor und professionelle Verantwortung gegenüber der befragten Person und ihrer Lebensgeschichte.

Wichtige Voraussetzungen für die offene Biografiearbeit sind Wertschätzung, Empathie und die Fähigkeit, angemessen zu kommunizieren. Das sind wichtige Themen für Ihr Wissensmanagement und Ihre Personalentwicklung.

Exkurs: Lebensweltorientierte vs. funktionale Pflege – Personenbezogene Unterstützung geben oder Tätigkeiten abarbeiten?

In der funktionalen Pflege mit institutionell-totalitärer Ausrichtung wird der Mensch als Gegenwartsobjekt wahrgenommen, seine Defizite stehen im Vordergrund, seine Lebensgeschichte ist für die Durchführung der Pflegehandlungen nicht relevant. Die Pflege ist in einzelne Teilbereiche untergliedert, die in Form von »Runden« abgearbeitet werden. Eine persönliche Zuordnung von Bewohnern zu Mitarbeitern findet nicht statt. Echte Beziehungen und persönliche Kontakte werden vermieden.

Das hat Folgen – auch für die Arbeitssituation der Pflegenden: Sie erleben ihre Tätigkeit als eine endlose Aneinanderreihung immer gleicher Tätigkeiten, die sie routiniert nach einem zeitsparenden und möglichst gleichbleibenden Muster durchführen. Deutlich zu erkennen sind diese funktionalen Routinen im Bereich der Körperpflege, die bei den meisten Bewohnern am qualitativen Minimum orientiert ist und (fast) gleich abläuft. Individuelle Aspekte (Parfüm oder Creme, Kleidung) bleiben auf der Strecke. Durch den fehlenden Beziehungsaufbau zu den Individuen klagen Pflegende in dieser Kultur oft über innere Leere und eine emotionale Auskühlung, die sie durch freundlich gemeinte, verbindende und scheinbar warme Gesprächsfloskeln und Anredeweisen zu überwinden/überspielen versuchen. Oft kommt es zu Verniedlichungen (»mein Schätzchen«), zu Veränderungen des Namens (»die Müllerin« statt Frau Müller) oder zu Duzen. Pflegende empfinden nicht selten Langeweile und Überdruss in ihrer Tätigkeit bei gleichzeitiger körperlicher Erschöpfung.

2. Individuelle, anregungsorientierte Tagesgestaltung

Der überwiegende Teil der Bewohner von Pflegeheimen leidet an einer Demenz, wobei die Senile Demenz vom Alzheimertyp (SDAT) die häufigste Erkrankungsform bildet. Das Individuum bleibt aber auch im Krankheitsgeschehen einzigartig. Dies betrifft insbesondere die Reaktion auf die krankheitsbezogenen Einschränkungen und die Art des Umgangs mit ihnen. Es gibt Betroffene, die relativ unauffällig in ihrer Demenz erscheinen, 40 bis 50 Prozent der Demenzkranken in Heimen zeigen jedoch Verhaltensauffälligkeiten. Dabei bildet – im Gegensatz zur üblichen Diskussion – die Apathie die am weitesten verbreitete Verhaltensstörung. Darauf folgt das »Wandern« bei 23 Prozent der im Rahmen von MuG IV24 Untersuchten und anderes herausforderndes Verhalten wie z. B. Suchen, Rufen oder Abwehrverhalten25.

Gewohnheiten beibehalten

Das Aufrechterhalten bzw. Unterstützen gewohnter Alltagsroutinen entscheidet oft über die Wahrung der Autonomie. So sollte etwa die gewohnte Reihenfolge beim Aufstehen und in der Körperpflege schon zu Beginn der Pflegesituation ermittelt und beibehalten werden. Es sei denn, die betroffene Person wünscht eine Veränderung bzw. diese wird gemeinsam aus einer therapeutischen Sinnhaftigkeit heraus festgelegt (spezielle Trainings oder verstärkte Unterstützungsnotwendigkeit). Anerkannt ist der Zusammenhang zwischen der Qualität des sozialen Milieus, der Kommunikation und dem Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten bzw. herausforderndem Verhalten.

Normalisierung als Maßstab für Lebensqualität

Normalisierung als Form der individuell anregenden Tagesgestaltung für Menschen mit Demenz bedeutet Vertrautheit und das Gefühl, Person zu sein. Normalisierung fördert die Stärkung des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten, eröffnet Wahlmöglichkeiten und die Mitsprache bei Entscheidungsprozessen im Alltag. »›Es ist doch verrückt‹, bemerkt Anette, ›wir versuchen hier, alles so alltäglich wie möglich zu machen und müssen das noch als etwas Besonderes verkaufen‹«26

Qualitätsmerkmal »Orientierung an der Alltagsnormalität«

Die konzeptionelle Orientierung an der Alltagsnormalität ist ein Qualitätsmerkmal vieler Einrichtungen und Dienste. Hiermit ist der fachliche Anspruch verknüpft, den traditionell an den Abläufen und Rhythmen der Organisation ausgerichteten Strukturen solche entgegenzusetzen, die sich an den in der Bevölkerung üblichen Alltagsstrukturen orientieren.

Alltag orientiert sich in erster Linie an der Normalität. Hier gilt es, Pflegeroutinen vor dem Hintergrund der gewohnten Lebensvollzüge des älteren Menschen zu reflektieren und die bewohnerbezogenen Abläufe darauf abzustimmen. Professionelle Unterstützung zielt darauf ab, durch diskrete Begleitung die gewohnte Tagesstruktur mit ihren Abläufen und individuellen Routinen zu erhalten.

In diesem Zusammenhang spielt beispielsweise die haushaltsnahe Umorganisation der Mahlzeitengestaltung eine große Rolle. Durch die Einnahme des Essens in Gemeinschaft mit Eigenportionierung, auch ergänzt durch Frühstücksbüffets, Platten und Schüsseln, werden die Sinne stärker angesprochen als durch ein Tablettsystem. Als sinnvolle Anregung außerhalb der Mahlzeiten kommen alltagsnahe Tätigkeiten, Spaziergänge, 10-Minuten-Aktivierung, Musik- und Bewegungsmöglichkeiten sowie jahreszeitliche Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Hauses infrage. Auf der Basis von Beobachtungen werden Angebote und Aktivitäten gestaltet, die z. B. dem Wirken-Wollen des Menschen mit Demenz und seinen Möglichkeiten entsprechen. Geben Sie der subjektiven Sichtweise von demenzkranken Menschen Raum und Zeit. Schaffen Sie eine flexible Betreuungsstruktur. Nur auf dieser Basis entstehen Freiräume, die die Möglichkeit bieten, weniger funktional und nicht konfrontierend, sondern deeskalierend – und damit zeitsparend – arbeiten zu können.

Exkurs: Lebensweltorientierte vs. funktionale Pflege – Verrichtungsorientierte Tagesstruktur

In der funktionalen und an den Regeln der totalen Institution orientierten Pflege ist die Lebenswelt der alten, hilfe- und pflegebedürftigen Menschen gerade durch den Wegfall der strukturierenden Pflichten und den schrittweisen Verlust von Handlungskompetenz in den sicherheitsspendenden Routinetätigkeiten des Alltags gekennzeichnet.

Pflege und Verrichtungen erfolgen zu der Zeit, die der Institution passt und werden durch die jeweils anwesenden Pflegepersonen bestimmt, nicht durch die individuellen Vorlieben und Gewohnheiten der Bewohner. Die Pflegepersonen entscheiden ohne Absprache mit den Bewohnern, wer welche Person in der Körperpflege betreut. So kann es vorkommen, dass die Person, die bei einem Pflegebedürftigen die intimsten Verrichtungen des Tages durchführt, nahezu täglich wechselt. Erst wenn die Tür am Morgen aufgeht, weiß die betroffene Person, wer sie heute versorgt.

3. Integration der Angehörigen/Stärkung der Zugehörigkeit

Angehörige sind ein wichtiger Teil der Lebenswelt der Bewohner. Die Integration von Angehörigen und anderen Mitgliedern des sozialen Netzwerkes hat eine hohe Bedeutung, da sie gemeinsame (vertraute) Erfahrungen mit der betroffenen Person teilen.

Konflikte um Qualitätsvorstellungen

Der Kontakt zu Angehörigen ist ein wichtiger Bestandteil der lebensweltorientierten Pflege. Konflikte sind dabei nie auszuschließen. Dabei geht es meist um die Qualität der Pflege, aber auch ums Essen oder die hauswirtschaftliche Versorgung. Bei den Konflikten wird deutlich, dass das Verständnis darüber, was gute Pflege in der Einzelsituation (z. B. bei Menschen mit Demenz) ist, zwischen Professionellen und Angehörigen durchaus unterschiedlich ist. Spürbar gewachsen sind die Erwartungen der Kunden an Qualität und Individualität der erbrachten Dienstleistungen. Diese Anforderungen müssen in einer insgesamt schwierigen Personalsituation bewältigt werden: Systematische, risikobegrenzende Zufriedenheits- und Konfliktregulierungskultur sind wichtig wie nie.

Wenn auch die Angehörigen den Kontakt als überwiegend positiv bezeichnen, gibt es doch Wünsche nach mehr Kontakt, nach Information, nach offenem Ansprechen von Konflikten. Auch hätten sie gern mehr Beschäftigung, Respekt und Einfühlungsvermögen für die Bewohner(innen).

Als belastend empfinden Angehörigen drei Dinge:

dass sie selbst und die Mitarbeitenden zu wenig Zeit haben,

die Situation von Menschen mit Demenz und

das Mitansehen-Müssen von Leiden und Sterben.

Um Angehörige in ihrer Teilhabe am Heimleben und im Sinne ihrer Angehörigen zu unterstützen, sollten Sie regelmäßige Angehörigenabende durchführen und Beratungsangebote z. B. zu diesen drei relevanten Themenbereichen anbieten.27

Angehörige sollen Zugehörigkeit erleben

Gelingende Angehörigenarbeit setzt voraus, dass Sie die Unterschiedlichkeiten in den Bedürfnissen berücksichtigen. Wenn die Einbindung gewünscht ist, halten Sie Information, Befähigung und Unterstützung bereit, denn diese Personen bringen für den Heimalltag wichtige Ressourcen mit, z. B. in der Biografiearbeit, in der Gestaltung des Pflegeprozesses, im Pflegecontrolling (durch Teilnahme an Pflegevisiten). Sie wirken u. U. aktiv in der Pflege mit (z. B. Essen reichen) oder übernehmen Präsenzfunktion in den Wohnküchen, von der auch andere Nutzer profitieren. In den Augen erfolgreicher Einrichtungen repräsentieren die Angehörigen ein wichtiges Stück interner und externer Öffentlichkeit. Denken auch Sie darüber nach, geeignete Angehörige in qualitätssichernde Funktionen einzubinden, z. B. in der Bewohnervertretung, in Selbstbeurteilungssystemen oder als Beobachter im Dementia Care Mapping.

Exkurs: Lebensweltorientierte vs. funktionale Pflege – Angehörige als Unbeteiligte und Kritiker

In der funktionalen Pflege der totalen Institution werden Angehörige eher als Störenfriede erlebt. Nicht selten ist das Klima zwischen Angehörigen und Profis in funktional arbeitenden Einrichtungen durch Misstrauen und Ängste gekennzeichnet. Auch Eifersuchts- und Konkurrenzgefühle werden spürbar, die von professioneller Seite nicht bearbeitet werden.

2.1.2.2 Sichern der Autonomie

Unter Autonomie wird die Selbstbestimmung über Unabhängigkeit und Abhängigkeit einer Person verstanden. Die Bewohner sollen durch Teilhabe und Teilnahme am Alltag beteiligt sein. Sie werden in ihrer Selbstbestimmung und ihren Selbsthilfekompetenzen gefördert (Ressourcenorientierung). Der Grundsatz lautet: Nicht mehr Leistung anbieten als notwendig. Am Beispiel von drei Handlungsfeldern wird deutlich, wie Sie diese abstrakten Begriffe in praktisches Handeln umsetzen:

1. Autonomiesicherung durch positive Beziehungsgestaltung

2. Selbstständigkeitsorientierte Kommunikation und fördernde Pflege

3. Soziale Integration von Beginn der Heimübersiedlung an

Voraussetzung für die Stützung der Autonomie ist eine positive Beziehungsgestaltung.

1. Autonomiesicherung durch positive Beziehungsgestaltung

Im Alltag der Einrichtung sollten Bewohner Achtsamkeit erfahren und eine wertschätzende und lösungsorientierte Kommunikation, die ihre Potenziale, Stärken und Möglichkeiten gezielt in den Vordergrund rückt.

Hier kommt gezielte Gefühlsarbeit zum Einsatz, die den Blick darauf richtet, die personenbezogene Dienstleistung in dialogischer und positiver Weise zu gestalten.28 Diese Beziehungsgestaltung gelingt u. a. durch Kontinuität der Bezugsperson. Pflegepersonen und Alltagsbegleiter müssen geschult sein, um ein Umfeld der unaufdringlichen Achtsamkeit aufzubauen. Hier spielen aufmerksam gerichtete Kurzkontakte, sog. 5-Sekunden-Kontakte und »Bienchendienste« eine große Rolle.

Bienchendienste

Bienchendienste sind kleine Gaben von Zuwendung und Kontakt. Sie sind Möglichkeiten, im Alltagsverlauf situativ und spontan (trotzdem verbindlich und konzeptionell geplant) Personen aus ihren Tagtrancen wecken, ein Lächeln auf das Gesicht zaubern – ihnen einfach zeigen: Sie werden wahrgenommen.

Bienchendienste sind höchst unterschiedlich: Bei Frau M. ist es das Erinnern an eine lustige Begebenheit; bei Frau O. ein kurzes Kompliment; Hr. W. freut sich über eine Berührung im Vorübergehen. Es geht um eine »Ich-bin-da«-Haltung in bewusster Präsenz, Austausch über Lieblingsthemen, bevorzugte Kontaktpersonen und -aktivitäten.

Nicht die Dauer eines Kontaktes entscheidet, sondern die Verlässlichkeit und Identifikation mit der Beziehungsorientierung. Dies auch in stressigen und schwierigen Situationen durchzuhalten ist anspruchsvoll, aber essenziell. Empfehlenswerte Methoden zur Stärkung dieser Haltung sind etwa Validation und Marte Meo. Als Reflexionsinstrumente eignen sich Fallbesprechungen. Für Bewohner mit Demenz kann das Qualidem als (Selbst-)Überprüfungs- und Steuerungsinstrument von Lebensqualität bei Menschen mit Demenz verwendet werden. Darüber hinaus sind die heutigen Nutzer von pflegerischen Angeboten und Hilfen vor dem Hintergrund ihrer psychischen, kognitiven und körperlichen Situation immer weniger in der Lage, sich auf wechselnde Ansprechpartner einzustellen. Kontinuierliche Bezugspersonen (vgl. Kapitel 4.9) und Maßnahmen zur Förderung der Kommunikation (zentral für die Lebensqualität) sind notwendig. Es kommt darauf an, die zu betreuende Person als Subjekt der Pflege anzuerkennen – sowohl hinsichtlich ihrer individuell erworbenen Eigenheiten als auch hinsichtlich ihrer eigenen Kompetenzen.

2. Selbstständigkeitsorientierte Kommunikation & fördernde Pflege

Hans Werner Wahl geht der Frage nach, wie unselbstständiges oder selbstständiges Verhalten im Kontext von Pflege zu erklären ist und fasst zusammen: »Nach allem, was wir heute wissen, spielen hierbei Charakteristika der Interaktion zwischen den alten Menschen und der sozialen Lernwelt eine bedeutsame Rolle.«29

Die Ergebnisse zeigen, dass auf unselbstständiges Verhalten signifikant häufiger als zu erwarten unselbstständigkeitsunterstützendes Verhalten der beruflich Pflegenden erfolgte. Demgegenüber folgte auf selbstständiges Eigenpflegeverhalten der Bewohner signifikant häufiger die Verhaltensweise »keine Reaktion«. Selbstständigkeitsunterstützendes Verhalten der Sozialpartner folgte dagegen nur selten auf selbstständiges Verhalten alter Menschen.30

Bei der Überprüfung von Wechselwirkungen zeigte sich, dass bei entsprechend selbstständigkeitsunterstützendem Verhalten des Pflegepersonals auch die Bewohner wieder mehr Eigenpflegeverhalten zeigten, dies auch bei Verrichtungen, die seit Jahren nicht mehr ohne Hilfe durchgeführt wurden. Eine wichtige Funktion der alltäglichen Lebenswelt ist das verlässliche, weil vertraute, Wirklichkeitsfundament. Zwei weitere wesentliche Merkmale der Lebenswelt sind stützende und positive Beziehungen im Kontakt von Person zu Person (Face-to-face) und ihre Ausrichtung auf praktische Alltagsthemen und -tätigkeiten. Das Wissen und Handeln im Alltag ist grundsätzlich vom Motiv der unmittelbaren Lösung von Lebensproblemen durchdrungen.31 Dieses »Wirken-Wollen« ist ein wesentlicher Grundzug des Mensch-Seins. Das Wirken als ein Aufrechterhalten der Lebensbedingungen wirkt der Angst vor der Endlichkeit entgegen.32 Tätig-sein-Können, sich und sein Dasein in der Einrichtung durch sinnvolles, praktisches, eigenes Tun als wirksam und erfolgreich zu erleben, ist also kein Luxus einer guten Pflegeausrichtung, sondern für die meisten älteren Menschen eine Notwendigkeit zur Förderung der Resilienz.

Hinzu kommen für Sie als PDL die sorgfältige und ständige Arbeit an der Achtsamkeitskultur: an einer angenehmen, zugewandten, aufmerksamen, möglichst heiteren und höflichen Atmosphäre, in der Bewohner umsichtig vor dem Ausleben von Launen und Stimmungsschwankungen des Personals geschützt sind, an Sprachkultur und praktischer Umsetzung des Ethikkodex (vgl. Kapitel 3).

Sinnstiftende und individuell angepasste Aktivitäten müssen stimmen: Förderung der Mobilität, Bewegung drinnen und draußen, Gemeinschaftserleben und Rückzugsmöglichkeit.

Exkurs: Lebensweltorientierte vs. funktionale Pflege – Unselbstständigkeitsorientierte Kommunikation und Pflege

Die Konzentration auf Pflegebedürftigkeit, Defizite, Schwierigkeiten, kritische Ereignisse und Probleme steht im Zentrum der Informationsgespräche. Es wird viel gesprochen über das, was die Bewohner nicht mehr können, was ihnen nicht gelingt, was passieren könnte. Wenig wird gesprochen über das, was die Bewohner können, wie sie sich selbst zu helfen versuchen- auch wenn es unzureichende Bemühungen sind.

3. Soziale Integration von der Heimübersiedlung an

Nach Winfried Saup durchlaufen alte Menschen bei der Übersiedlung in ein Heim mehrere Phasen33, beginnend mit der Phase des Erkennens einer Unterstützungsnotwendigkeit bis zum Abschluss der längerfristigen Adaption, ca. sechs Monate nach Einzug. Wie diese Adaption gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, wie viel Aufmerksamkeit die Einrichtung der Rekonstruktion der Lebenswelt der einziehenden Person beimisst: ob beispielsweise bereits ein Besuch in der gewohnten Häuslichkeit vor Einzug durchgeführt wird, bei dem Fragen zur Mitnahme von Möbeln und persönlichen Gegenständen – ggf. auch von Haustieren – im Vordergrund stehen; ob das Kennenlernen der Einrichtung arrangiert wird und ob existenzielle Fragen des Übergangs (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) geklärt werden.

Die lebensweltliche Pflege achtet darauf, die ältere Person (oder ihre Stellvertretung) umgehend mit den Informationen zu versorgen, die es ihr ermöglichen, vor dem Hintergrund ihrer Lebensziele ihren Pflegeprozess mit der verantwortlichen Pflegefachkraft gemeinsam zu gestalten. Ausgangspunkt für pflegerisches Handeln sind die Orientierungsmuster des älteren Menschen34. Im lebensweltlichen Pflegekontext wird den Erwartungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die die älteren Menschen mit Blick auf Leistungen der Einrichtung haben. Es sind dabei Möglichkeiten und geeignete Informationen in angemessener Form bereitzustellen, damit die hilfebedürftige Person Entscheidungs- und Gestaltungsräume erfährt, aus denen sie wählen kann. Damit wird die Handlungsfähigkeit in der Wirkwelt gewährleistet:

Alte Menschen brauchen Wissen, um Entscheidungen treffen und geeignete Aktivitäten entfalten zu können. Aber gerade die Qualität der Informationen und die Wahlmöglichkeiten sind es, die im pflegerisch-institutionellen Handeln im Umgang mit älteren Menschen nach einer Studie von Schopp, McElmurry und Zabrocki35 auf der Strecke bleiben. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die befragten Älteren – im Gegensatz zu den Jüngeren – nur wenig über den Pflege- und Behandlungsplan informiert wurden und von daher kaum selbstbestimmte Entscheidungen treffen konnten.

Auch die Handlungsfähigkeit muss durch die begleitende Pflegeperson gestützt werden, indem sie z. B. die getroffenen Absprachen und Planungen einhält.

Das Erfragen der gewohnten Lebenssituation, der Wünsche und Interessen dient gerade beim Übergang in das Heim dazu, das durch den Wegfall der gewohnten Umgebung unsicher gewordene Wissen der Person über sich selbst zu bestätigen und zu stützen und das Zusammenbrechen der gewohnten Lebenswelt36 zu vermeiden bzw. durch entsprechend situationsgerechtes, professionelles Begleiten in ihren potenziellen Folgen weniger schwerwiegend werden zu lassen. Hierbei spielt das Erstinterview im Rahmen der entbürokratisierten Pflegedokumentation eine große Rolle, die dort erhobenen Informationen werden in der Planung wirksam. Die praktische Begleitung der Person orientiert sich sehr genau an den von der/dem Bewohner/-in angegebenen Wünschen und Bedarfe. Die Einzugsphase wird gut strukturiert und sensibel begleitet und im 6-Wochen-Gespräch zum Abschluss des ersten Abschnitts der Einzugsphase ist eine Fallbesprechung möglichst unter Einbezug der Angehörigen sinnvoll, die das Pflege- und Begleitungsgeschehen reflektiert und gute Praxis absichern hilft.

Exkurs: Lebensweltorientierte vs. funktionale Pflege – Heimaufnahmeschock und fehlende Aufmerksamkeit für soziale Integration

Viele alte Menschen kommen nach wie vor unfreiwillig und überraschend nach einem kritischen Ereignis (Sturz, Schlaganfall, risikohafte Entwicklung bei Demenz) direkt aus dem Krankenhaus ins Heim. Hier wird etwas mit der Person getan, was sie nicht intendiert hat und was ihre autonome Handlungsperspektive bedroht. Diese Situationen sind traumatisierend und werden als existenziell bedrohlich erlebt, nicht selten mit der Folge eines »Heimaufnahmeschocks« – einer kaskadenartigen Verschlechterung des Gesundheitszustandes.37 Die Gefahr ist umso höher, wenn das »Wirken-Wollen« des älteren Menschen infolge mangelnder sozialer Integration im Heim und fehlender Autonomie und Selbstständigkeitssicherung keine Resonanz findet. Wenn beispielsweise ein älterer Mensch in dieser Phase eine Pflege erfährt, die mit ihm als Person – außer mit seinen körperlichen Defiziten – nichts zu tun hat, werden schützende Prozesse einsetzen (z. B. Rückzug in eine innere Welt, in die »Welt des Körpers«, in den Tagschlaf, das Dösen, in imaginäre Lebenswelten.38 Mit dem Heimeinzug begegnet der ältere Mensch oft erstmals persönlich der örtlichen Institution Pflegeheim. Er durchläuft Aufnahmeprozeduren39 wie das Ausfüllen von Formularen (Heimvertrag), Messen und Wiegen (zur Risikoerfassung), er wird nach seinen Alltagsroutinen gefragt. Bei Menschen mit schwerer Pflegebedürftigkeit gehen die Fragen bis in die intimsten Alltagsverrichtungen und gewohnten Rituale hinein: das Aufstehen, der Toilettengang, die Tagesgestaltung, die Mahlzeiten, das Zubettgehen und das Schlafen. Es macht einen Unterschied, ob die betroffene Person diese Fragen aufgrund der Art und Weise ihrer Gestaltung eher als Interesse und wertschätzende Fürsorge oder als Verletzung eines persönlichen Territoriums, ihrer Privatheit, erlebt. Eine lebensweltliche Ausführung bedeutet: Die notwendigen Aktivitäten werden mit der Person gemeinsam in ihrem Tempo mit Takt, Höflichkeit, Diskretion und Aufmerksamkeit für ihre Persönlichkeit verrichtet. Begleitet werden diese Handlungen von »Gefühlsarbeit« als »Fassungs- und Vertrauensarbeit sowie Identitäts- und Biografiearbeit«, die unabdingbar für »gute Pflege« sind.40

Auch bei der Pflegedokumentation sind Unterschiede zwischen einer funktionalen und lebensweltorientierten Erfassung auszumachen: Bei der ersteren finden sich vor allem defizit- und verrichtungsorientierte Informationen; bei der lebensweltlichen finden sich Beschreibungen von Ressourcen, Selbstpflegepotenzialen und Interessen –Aspekte, die im Rahmen von Autonomie stützender Kommunikation und rehabilitativer Pflege bedeutsam sind. Das alles erleichtert der neuen dem neuen Bewohner die soziale Integration in der neuen Lebenswelt Heim.

2.1.2.3 Fördern von Partizipation

Am Beispiel von vier Handlungsfeldern wird deutlich, wie Sie diesen abstrakten Begriff in praktisches Handeln umsetzen:

1. Diskrete Pflege und Begleitung

2. Soziale Teilhabe & Mitwirkung

3. Aufrechterhalten vertrauter Alltagsroutinen

4. Therapeutisches Bündnis als Grundlage der Pflegebeziehung

Wie Lay in Kapitel 3.1.5 ausführt, bietet die reflektierte Auseinandersetzung mit der Bündnisethik eine stabile Grundlage für die Vertrauensbeziehung zwischen Pflege und Klienten.

1. Diskrete Pflege und Begleitung

Unter »diskreter Pflege« wird eine Leistungserbringung verstanden, die sich zurückhaltend in die gewohnten Lebensabläufe und das Wohnumfeld einfügt, ohne sie/es zu zerstören. Privatheit zu sichern und zu erweitern ist ein wesentliches Ziel aller Professionen. Das Eindringen in die Privatsphäre ist an Erlaubnis gebunden und der Umgang der professionellen Begleiter geprägt von Respekt und Höflichkeit, Diskretion im Umgang mit persönlichen Daten und in den direkten Pflegesituationen.

Exkurs: Lebensweltorientierte vs. funktionale Pflege – Dominanz der Pflegeabhängigkeit

In der Welt der ›Anstalt‹ ist Pflege mit ihren Hilfsmitteln überall präsent: Der Bettenwagen bleibt – wie eine Erinnerungshilfe an die Abhängigkeit der Bewohner – auf dem Flur stehen, auch wenn er nicht gebraucht wird. In der gemütlichen Ecke liegt ein Paket Plastikhandschuhe griffbereit. Die Tür zum Schmutzraum bleibt angelehnt, so dass sich der Geruch von Urin auf den Bereich ausbreitet. Selbst die persönlichen Ablageflächen im Nahbereich der Bewohner sind gut sichtbar mit Pflegematerial belegt: das Mundpflegeset ohne Abdeckung und das Bübchen-Pflegeöl in Griffweite. Das alles sagt: Schaut her, die Bewohner sind hilfebedürftig, dies hier ist kein Zuhause, das ist eine Pflegestation. Hier steht Pflege im Vordergrund – auch wenn an der Tür »Wohnetage 1« steht!

Leider verführt das Bewohner zu einem hilflosen Verhalten und die Mitarbeiter zur unreflektierten Satt-und-sauber-Arbeitsweise mit viel mehr Übernahme als nötig. Durch diese Effekte kostet funktionales Arbeiten nachweislich durch die damit verbundenen abhängigkeitsverstärkenden Routinen mittel- und langfristig Zeit ohne Ende.

2. Soziale Teilhabe & Mitwirkung

Hiermit ist die Absicht verbunden, bei den Bewohnern ein größtmögliches Maß an individuellen Kompetenzen, Selbsthilfe und vertrauten Copingstrategien zu erhalten.

Bewohner wirken beim Zusammenstellen des Tagesplans mit. Wenn keine aktive Teilnahme möglich ist, erfolgt eine indirekte Beteiligung durch Erfahrungsaustausch in Gesprächen oder kleinen Gruppen. Angehörige als vertraute Bezugspersonen, Ehrenamtliche, Besuchsdienste mit und ohne Tiere gehören zur Lebenswelt dazu. Menschen mit stark reduzierten Fähigkeiten werden durch heimatliche Düfte und Geräusche in das gemeinschaftliche Leben eingebunden.

3. Aufrechterhalten vertrauter Alltagsroutinen

Der ältere Mensch soll durch systematische Reflexion, z. B. bei Pflegevisiten, regelmäßig die Gelegenheit erhalten, seine Situation und Angebote zu modifizieren bzw. sich selbst durch professionelle Vorschläge zu neuen, förderlichen Erfahrungen anregen zu lassen. Hierzu werden Aktivitäten der Willensbildung, Mitgestaltung, Teilhabe und gegenseitige Hilfeleistung der Bewohner unterstützt

4. Therapeutisches Bündnis als Grundlage der Pflegebeziehung

Begleitung

Das Lebensweltkonzept trennt nicht mehr zwischen Pflege, Sozialem Dienst und Hauswirtschaft, sondern weist allen drei Berufen die Aufgabe der Begleitung zu – in der Gestaltung des Lebens und als Unterstützung in der Bewältigung von Lebenskrisen. Die Hauswirtschaft begleitet vor allem in den Alltagsbelangen rund um Ernährung, Reinigung und Wäsche. Der Soziale Dienst trägt spezifische Verantwortung für die soziale Integration der Einrichtung, für die Organisation und Gestaltung von sozialen Gruppen- und Einzelaktivitäten gegen die negativen Folgen von Einsamkeit infolge des »Alterns der Netzwerke«41. Er sorgt für die »Ermutigung zum Ausbau lebensweltlich tragfähiger Ressourcen«42 mit Respekt vor dem Eigensinn der Betroffenen sowie für die sozialtherapeutische Diagnostik und Unterstützung der Begleitung von Menschen mit Demenz in Gruppen- und Einzelarbeit.

2.1.3 Wahrnehmen der professionellen Steuerungsfunktion

Aus der Sicht der Pflege als Heilberuf lassen sich nach Entzian Hauptaufgabenbereiche benennen:

Die Pflegefachkraft ermittelt den professionellen Unterstützungsbedarf in Hinblick auf die Gestaltung der individuellen Lebenssituation aus Sicht der betroffenen Person.

Sie erstellt Pflegediagnosen und gestaltet den Pflegeprozess unter Einbezug der betroffenen Person, ihrer Fürsprecher und der zuständigen pflegerischen Bezugsperson.

Sie leitet andere am Pflegeprozess beteiligte Personen an, begleitet ihr Handeln und hilft Risiken zu vermeiden.

Sie verantwortet die fachliche Schwerpunktsetzung, das »Wie, Was und Wozu« der Dienstleistung.

In diesem Zusammenhang trifft/wirkt sie mit an Entscheidungen, die fachlich begründet, nachvollziehbar und überprüfbar sind sowie dem anerkannten Stand des Wissens entsprechen.

Sie überprüft die Qualität der erbrachten Dienstleistung.

Professionelle Verantwortung sichert personorientierte Dienstleistung Die neue professionelle Kernaufgabe der Pflege umfasst:

Fachlich reflektierte Unterstützung fremder Menschen in ihren Alltagsaktivitäten

Sorge für eine sichere, fördernde Umgebung

Mitarbeit bei ärztlicher Diagnostik und Therapie

Begleitung des Menschen bis zu seinem Tod und die seiner Angehörigen darüber hinaus.

Viele Berufskollegen definieren sich in ihrem Handeln noch primär über die direkte Pflege am Menschen (Hands-on-Pflege) und weniger über ihre professionelle Steuerungsfunktion inklusive Pflegeprozessplanung und Dokumentation. Hier stehen Veränderungs- und Klärungsprozesse an. Wenn die professionelle Pflege ihre bedeutsame Rolle und Verantwortung in der Zukunftsgestaltung wahrnehmen will, muss sich das ändern. Professionell Pflegende werden zukünftig primär Teams aus unterschiedlichen personenbezogenen Dienstleistungserbringern in der Pflegesituation anleiten, koordinieren und reflektieren. Selbst werden sie die fachlich oder situativ anspruchsvollen Aspekte leisten und die risikogeneigten Prozesse im Blick haben. Sie werden es sein, die durch diese gezielte Verknüpfung eine ganzheitliche Dienstleistung sichern. Die PDL ist aufgefordert, diese Veränderungsprozesse zu initiieren und anzuregen, beispielsweise über die Kriterien, nach denen sie Pflegefach- und Leitungskräfte fördert und fordert, aber auch in der Art, wie sie ihre Mitarbeitenden zu Veränderungsprozessen ermutigt und sie darin unterstützt.

2.1.4 Vernetzung von Innen- und Außenwelt

Ein Gestaltungsfeld moderner Altenhilfe und -pflege sind die Vernetzungspotenziale von Außenwelt und Innenwelt einer Einrichtung des institutionellen Wohnens. Als eine naheliegende Strategie für Altenheime lässt sich beispielhaft die engere Kooperation im Quartiersmanagement mit der tieferen Verwurzelung in der örtlichen Nachbarschaft benennen. Die Einbindung der nachbarlichen Anwohnerschaft, wie z. B. konkret die Haushalte der angrenzenden Straßenzüge, die ansässigen Kirchenkreise und Vereine, Kindergärten, Schulen, Selbsthilfeorganisationen, Arztpraxen, Geschäfte und Kulturstätten, baut dabei im Wesentlichen auf Formen des bürgergesellschaftlichen Engagements wie Ehrenamt und Freiwilligenarbeit auf. Die regelmäßige Begegnung mit nicht-professionellen Helfern aus dem nahen und damit vertrauten Lebensumfeld erhöht die Lebensqualität der Hausbewohner(innen) und trägt zu einer Reduktion der Totalität der Institution Heim bei. Es gilt, ein Klima zu fördern, in dem sich Menschen gerne engagieren und mittun. Durch eine Politik der offenen Tür und lebensweltlichen Einbindung leisten Sie im Management des Hauses einen wichtigen Beitrag.

2.2 Wohnen in Zeiten des demografischen Wandels

Deutschland wird immer älter und die Lebenserwartung steigt. Überraschend erscheinen hier die Umfrageergebnisse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung43: Die Altersgruppe zwischen 55 und 70 Jahren hat eine überwiegend positive Vorstellung vom Leben im Alter, 43 Prozent sehen optimistisch in die Zukunft. Gesundheitliche Verfassung und finanzielle Situation beeinflussen die Erwartungshaltung. Ausschlaggebend für die Einschätzung der Lebensqualität im Alter sind allerdings die Familiensituation und das persönliche Umfeld.

Interessant: Eine bestehende Partnerschaft stimmt die Befragten zuversichtlicher in Hinblick auf das Alter als die Tatsache, Kinder zu haben. Eine anscheinend sehr realistische nüchterne Haltung, denn das BiB prognostiziert: »Aufgrund der Bevölkerungsalterung und der Veränderung der Lebensformen wird […] die Zahl alleinstehender und kinderloser Senioren in Zukunft stark zunehmen.«44 Auch das Statistische Bundesamt hat die Alten fest im Blick, wie Abbildung 2 zeigt.

 

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Abb. 2: Statistisches Bundesamt, Im Blickpunkt: Ältere Menschen in Deutschland und der EU, 2011.

Der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung wird von knapp 21 (2009) auf fast 30 Prozent bis zum Jahr 2030 steigen, also ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Der Anteil der über 85-Jährigen verdoppelt sich von zwei auf vier Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2011:11). Drei Prozent der über 65-Jährigen leben 2009 in Gemeinschaftseinrichtungen, 97 Prozent im eigenen Haushalt.

Diese Gewichtung wird sich durch den Wandel der Lebensumstände verschieben. Und nach einer längeren Phase der Stagnation und der Schockstarre angesichts der demografischen Entwicklung und ihrer Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft gibt die Politik endlich Gas, passt die rechtlichen Rahmenbedingungen an die neuen Bedarfe an, fördert Forschung und Projekte zu neuen Wohnformen.

2.3 Möglichkeiten und Grenzen häuslicher Pflegearrangements

2.3.1 Fakten und Prognosen zur Wohnsituation älterer Menschen

In ihrem Beitrag »Soziale Ungleichheit und Pflege« stellen Klie und Blinkert45 dar, dass und wie die Versorgungschancen für hilfe- und pflegebedürftige Menschen sozial verteilt sind. Der Anteil an Menschen, die in der eigenen Häuslichkeit gepflegt werden, liegt immer noch bei rund 70 Prozent. Von den helfenden Familienangehörigen nehmen nur rund zwei Drittel professionelle Hilfe in Anspruch. Klie und Blinkerts Prognose fußt darauf, dass die größte Bereitschaft zum Selberpflegen – auch ohne professionelle Hilfen – vor allem bei Personen mit niedrigem sozialen Status und vormodernem Lebensentwurf anzutreffen sei. Umgekehrt zeige sich die geringste Bereitschaft zum Selberpflegen immer bei einem hohen Sozialstatus mit einem modernen Lebensentwurf. »Dazwischen« liegt nach Josefine Heusingers Untersuchung46 das konservativgehobene Milieu der alten Bundesländer, in dem in der häuslichen Versorgung früh und umfangreich auf professionelle Hilfe zurückgegriffen und gleichzeitig viel Hilfe aus der Familie erwartet wird. Die Menschen in diesem Milieu können durch ihr kulturelles Kapital ihre Ansprüche gegenüber dem Versorgungssystem geltend machen.

Bei Pflegenden und Pflegebedürftigen im kleinbürgerlichen Milieu der alten Bundesländer ist das Aufnehmen von pflegebedürftigen Eltern im eigenen Haushalt als Ideal und real47 besonders verbreitet – mit hoher Belastung für alle Beteiligten. Die Gründe für die Wahl eines Pflegearrangements sind eher finanzieller Natur: Das Selberpflegen mit geringer oder ohne professionelle Unterstützung ist für die Betroffenen in den unteren Schichten relativ preisgünstig und ermöglicht unter Umständen sogar ein Aufbessern des Haushaltsbudgets. In den mittleren und höheren Milieus stellen die Heimkosten durch die Unterstützung der Pflegeversicherung einen zu verschmerzenden Posten dar. Die infolge von eigener Pflegezeit verpassten beruflichen Chancen haben in Anbetracht der hohen Bildungs- und Berufsabschlüsse hier ein größeres Gewicht.

Dagegen schätzt Gabriele Doblhammer48 vom Rostocker Zentrum für demografischen Wandel das Pflegearrangement bis 2030 anders ein: In dieser Zeit wachse der Anteil der Frauen, die das geringste Risiko hätten, in ein Heim zu kommen, weil sie viele eigene Kinder (Babyboomer-Generation 1940–1955) als auch Ehemänner hätten.

Die Frage, wie viel Selberpflegen »gut« ist, wie viel Unterstützung ein familiäres System im Sinne eines bedarfsgerechten, kreativen Pflegemixes dazu braucht, ist noch nicht zu beantworten – in jedem Fall so viel, dass nicht Überforderung in Kälte und Gewalttätigkeit umschlägt. Blinkert und Klie49 forderten bereits 2008 arbeitsmarktpolitische Regelungen wie z. B. bedarfsgerechte Flexibilisierung und das »Pflegejahr«, um eine problemlose Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses nach der Pflegephase zu ermöglichen. Diese Forderung ist inzwischen politisch aufgegriffen worden. Diese Möglichkeit ist insbesondere für pflegebedürftige Angehörige der Mittel- und Oberschicht wichtig, wenn sie bei Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in der eigenen Häuslichkeit verbleiben möchten. Je älter die Menschen werden, desto eher wohnen sie in Heimen: Bei den 65-bis 80-Jährigen sind das drei Prozent, bei den 85-und-plus-Jahrgängen 17 Prozent. Nicht überraschend ist die Gender-Verteilung: Männer werden eher in der eigenen Wohnung gepflegt als Frauen.

Das hohe Alter ist weiblich: Laut statistischem Bundesamt waren 2009 »in Deutschland gut 2,3 Millionen Menschen pflegebedürftig im Sinne des SGB XI. Die Mehrheit davon waren Frauen (67 %). Fünf von sechs Pflegebedürftigen (83 %) waren 65 Jahre und älter, 55 % waren 80 Jahre und älter.«50 Ältere Männer bleiben in der Regel mit ihrer Partnerin im gemeinsamen Haushalt und werden dort auch bei Pflegebedürftigkeit betreut. Frauen geben ihre Wohnungen im Normalfall auch dann nicht auf, wenn sie hochaltrig und alleinlebend sind. Sie nutzen ambulante Hilfen.

Fazit

Das Zukunftsthema der professionellen Quartiersarbeit wird also sein, eine Lebenskultur für hochaltrige Frauen zu schaffen, die ihnen ein »gutes Leben vor Ort« auch unter Bedingungen der Pflegebedürftigkeit absichert.

2.4 Neue Wohnformen

Als sog. »neue Wohnformen im Alter« etablieren sich zurzeit:

1. Betreutes Wohnen/Service-Wohnen

2. Gemeinschaftliches Wohnen

3. Ambulant betreute Wohngemeinschaften

Innerhalb dieser drei Kategorien gibt es vielfaltige Differenzierungen. Parallel dazu haben Heime Veränderungen zu mehr Individualisierung und Wohnqualität durchlaufen. Es zeichnen sich Entwicklungen ab, die die Unterschiede zwischen den »Neuen Wohnformen« und dem Heim verwischen.

2.4.1 Betreutes Wohnen

Definition

Selbstständiges Wohnen mit Betreuungs- und Serviceleistungen.

Angeboten werden alternsgerechte Wohnungen, die räumlich mit einer Servicestation und häufig mit Gemeinschaftsräumen verbunden sind.

Mietvertrag und Betreuungsvertrag werden mit verschiedenen Anbietern separat abgeschlossen.

Grundleistungen, d. h. Leistungen über eine Betreuungspauschale: Hausnotrufanlage, Sprechzeiten des Betreuungspersonals, Beratung, Vermittlung von Diensten, Verwaltung des Gemeinschaftsraums, Koordinierung ehrenamtlicher Aktivitäten.

Kostenpflichtige Wahlleistungen: Hauswirtschaftliche Hilfen (Reinigung der Wohnung, Wäschedienst, Hausmeisterdienste, Begleit- und Fahrdienste, Essensversorgung in einer Cafeteria bzw. einem Hausrestaurant.

2.4.2 Gemeinschaftliches Wohnen

Definition

Gemeinschaftliches Wohnen für ältere Menschen, das selbstständiges Wohnen in einer individuellen Wohnung um gemeinschaftlich nutzbare Räume und ein engmaschiges soziales Netz ergänzt.

Bewohner solcher Wohnprojekte erleben häufig ein hohes Maß an sozialer Integration, Sicherheit und vor allem ein selbstbestimmtes Leben auch bei Unterstützungsbedarf. Es handelt sich dabei oft um Hausgemeinschaften, deren Mitglieder jeweils über eigene Wohnungen verfugen, denen ein gemeinschaftlich nutzbarer Bereich angegliedert ist. Neben den räumlichen Angeboten ist integraler Bestandteil der Wohnform ein Plus an Nachbarschaft, das sich in Aktivitäten und Sozialkontakten innerhalb der Nachbarschaft widerspiegelt. Es gibt privat- und trägerinitiierte Angebote.

2.4.3 Ambulant betreute Wohngemeinschaften

Viele ältere Menschen kommen irgendwann an den Punkt, an dem sie auf umfassende Hilfe und/oder Pflege angewiesen sind und in ihrer bis dahin gewählten Wohnform nicht mehr versorgt werden können. Für diese Menschen stehen heute zwei alternative Sonderwohnformen zur Verfügung: die ambulant betreute Wohngemeinschaft oder eine stationäre Pflegeeinrichtung.

Als Mitte der 80er-Jahre die ersten selbst organisierten Gemeinschaftsprojekte älterer Menschen entstanden, entdeckten engagierte Pflegedienste und Vereine der Altenhilfe die Chancen, die darin liegen.

Konzept

Die Normalität des Wohnens wird so weit wie möglich aufrechterhalten. Vorhandene Fähigkeiten und Ressourcen der Nutzer sollen gestärkt werden, indem sie ihre alltäglichen Verrichtungen möglichst selbst ausführen und sich am Geschehen in der Gruppe beteiligen.

Auch die Wohngruppen für Menschen mit Demenz werden in normalen Wohngebäuden in unterschiedlichen Stadtteilen realisiert. Durch eine vertraute und überschaubare Wohnsituation soll die Orientierung erleichtert und eine psychische Stabilisierung erreicht werden. Die baulichen Anforderungen, die eine Gemeinschaftswohnung für demenziell erkrankte Menschen erfüllen muss, ähneln denen anderer betreuter Wohngemeinschaften. Allerdings erhält hier der zentrale Aufenthaltsraum mit angrenzender Küche eine Aufwertung gegenüber den Individualräumen.

Die unmittelbaren Vorteile ambulant betreuter Wohngemeinschaften gegenüber einer stationären Wohnform (Normalität, Selbstbestimmung, Integration, Betreuungsintensität) führten dazu, dass diese Wohnform in den 90er-Jahren stark diskutiert wurde und nach der Jahrtausendwende eine immense Verbreitung fand.

Die Kosten des Lebens in einer ambulant betreuten Wohngruppe sind günstiger als die Kosten einer Heimunterbringung, wenn es sich um Menschen handelt, die noch keinen umfassenden Hilfebedarf haben, aber nicht mehr allein leben können. Bei schwer pflegebedürftigen Menschen – vor allem bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz – liegen die Kosten für eine ambulant betreute Wohngruppe nicht niedriger als die Kosten im Heim und können auch höher ausfallen.

2.5 Institutionell unterstütztes Wohnen (Pflegeheime)

2.5.1 Heime, ihr soziologischer Rahmen und ihre Wirkung

Im Bereich der Altersforschung führt eine soziologische Auseinandersetzung mit Pflegeheimen unweigerlich zum soziologischen Modell der totalen Institution, dargestellt in »Asyle«51. Es ist in der Soziologie das zentrale Modell, das theoretische Orientierungspunkte bietet, um das Leben, die Organisation und den Alltag in einem Pflegeheim zu analysieren und sie zu verbessern. Mit seinem Modell hat Goffman ein erstes Analyseinstrument für Interaktionsprozesse in Institutionen geschaffen, auf dessen Basis es möglich ist, Ausprägungen und Formen zu untersuchen. In Anlehnung an Goffman sind Alten(pflege)heime Orte der Fürsorge. In ihnen leben – nach modernem Sprachgebrauch – pflegebedürftige Menschen. Hofmann (1983) betont, dass der totalitäre Charakter von Pflegeheimen nicht allein an Mauern gebunden ist, auch nicht an unsichtbare Barrieren, sondern dass eine Institution vor allem »total« wird und wirkt »aufgrund der Unterdrückung von Individualität, durch die vorrangige Orientierung an institutionsgeleiteten Zielen, Normen und Aufgabenstrukturierungen, die dazu führt, dass die Mitglieder der Institution unter entfremdeten Bedingungen leben und arbeiten«52. Sie wurden erst spät zu in ihren Rechten besonders geschützten Bürgern: 1975 trat das Heimgesetz in Kraft. In ihm wurden die übergeordnete Kontrollfunktion zum Schutz der Bewohner/-innen, die Mitbestimmung, die baulichen und personellen Mindeststandards sowie der Heimvertrag geregelt. 1992 wurde das Betreuungsrecht wirksam, das in besonderer Weise die (zivilrechtliche) Rechtstellung von hochbetagten, multimorbiden, demenziell oder psychisch veränderten und behinderten Menschen herausstellt und reflektiert. »Es ist und war ein langer Weg der […] auf Pflege Verwiesenen vom Insassen zum Kunden, vom Bittsteller zum Inhaber von Rechten […].«53

Als PDL wissen Sie, dass der Grad der Totalität eines Heimes maßgeblich beeinflusst wird durch die vom Management vorgelebte Vision, die Mission und die Konzeption, die dem praktischen Handeln zugrunde liegt. Das Zwitterdasein der Institution Altenheim, die als Lebensort die Bewohner(innen) persönlich und sozial identifiziert und zugleich als formale Organisation Dienstleistungen für immer hilfebedürftigere Klienten möglichst ökonomisch erbringt, führt zu komplizierten Interaktionsrahmen und -mustern.54 Eine weitere Herausforderung für die Heime stellt die Tatsache dar, dass sich die Nutzerstruktur der Heime sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre stark verändert hat: Während 1994 nur 63 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen pflegebedürftig waren, lag dieser Anteil 2005 bei 85 Prozent, weitere 28 Prozent waren hilfebedürftig.55 Neben der stärkeren Konzentration auf pflegebedürftige Bewohner hat auch die Zunahme von Menschen mit Demenz einen wichtigen Einfluss auf den Strukturwandel der Heime. Waren 1994 noch 30 Prozent der Heimbewohner von einer Demenz betroffen, so hatte sich dieser Anteil 2005 auf 46 Prozent erhöht. Viele Heime haben auf diese Situation mit dem Aufbau spezieller Angebote für Menschen mit Demenz reagiert.

Die Wahrscheinlichkeit der Unterbringung in einem Heim steigt mit dem Alter deutlich an. Während von den unter 80-Jährigen nur vier Prozent im Heim leben, liegt der entsprechende Anteil bei den 80- bis 84-Jährigen bei acht Prozent, bei den 85- bis 90-Jahrigen bei 18 Prozent und bei den 90 Jahre und Älteren bei 29 Prozent.56 Vor diesem Hintergrund beschreiben Schneekloth und Wahl Altenpflegeheime als »Schutzräume« für ältere Menschen, insbesondere jenseits des 85. Lebensjahres. »In dieser extremen, jedoch immer häufiger anzutreffenden, Lebensphase nimmt die Fragilität und Verletzlichkeit des ›Systems Mensch‹ nicht selten Ausmaße an, welche die traditionell negativen Erwartungen an Altern geradezu übererfüllen: schwere Mehrfacherkrankungen, häufig in komplexen Konstellationen von kognitiven Einbußen und mehreren somatischen Funktionsverlusten in den Bereichen der Sensorik und Motorik, in Kombination mit schwerwiegenden weiteren kritischen Lebenserfahrungen wie dem Tod des Ehepartners und jenseits von 95 (!) Jahren stark zunehmend auch bereits der Tod von eigenen Kindern.«57

Bei den Einzugsgründen stand 2005 ein schlechter Gesundheitszustand an erster Stelle (66 Prozent), gefolgt von einer Überlastung der Angehörigen bzw. dem Fehlen einer Hilfsperson (53 Prozent). Aufgrund der Zunahme hochaltriger und pflegebedürftiger Heimbewohner hat sich die Verweildauer in Heimen verringert. Während 1994 noch 14 Prozent der Bewohner zehn und mehr Jahre in einem Heim lebten, waren es 2005 nur noch 6 Prozent. Dagegen war der Anteil derjenigen Bewohner, die weniger als zwei Jahre im Heim verbrachten, von 39 auf 46 Prozent gestiegen.58 Aus der Tatsache, dass 69 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen länger als ein Jahr dort lebten, wird im 3. Altenbericht der Bundesregierung abgeleitet, dass es wichtig sei, Heimplätzen einen Wohncharakter zu geben.59 Was darunter zu verstehen ist, zeigte sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte deutlich. 2011 standen 57 Prozent aller Bewohner von vollstationären Alteneinrichtungen 1-Bett-Zimmer zur Verfügung; 88 Prozent der Zimmer hatten ein eigenes Bad, 39 Prozent einen Balkon oder eine Terrasse.

2.5.2 Die fünf Entwicklungsgenerationen der Heime

Das Kuratorium Deutsche Altershilfe unterscheidet historisch fünf Generationen des Pflegeheimbaus. Sie zu kennen, ist für Sie als PDL wichtig, um Prioritäten und Akzente in Neukonzeptionen zu verstehen und einordnen zu können:

1. Generation: Verwahranstalten

In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden Heime mit einem hohen Anteil Mehrbettzimmer und gemeinschaftlich genutzten Sanitäreinrichtungen nach dem Vorbild der »Verwahranstalt« gebaut.

2. Generation: Vorbild Langzeitrehabilitation

In den 1970er-Jahren orientierte sich der Altenheimbau vor allem am Vorbild des Krankenhauses, wobei Hygieneanforderungen im Vordergrund standen. Die Heime wirkten häufig steril und boten wenig Privatheit.

3. Generation: Hotelcharakter

In den 1980er-Jahren entstand die dritte Generation des Pflegeheimbaus, die mehr Wohnlichkeit in 1-Bett-Zimmern mit angegliederten Aufenthaltsbereichen für kleinere Gruppen von Heimbewohnern bieten sollte. Die Zimmer ließen unterschiedliche Eigenmöblierungen zu. Angestrebt wurde generell eine Verkleinerung der Heime, eine Gliederung in Wohnbereiche mit überschaubarer Größe sowie eine stärkere Integration der Einrichtungen in die Wohngebiete der Gemeinden.60

4. Generation: Hausgemeinschaften – Wohnen in familienähnlichen Gruppen

Gegen Ende der 1990er-Jahre ergriff das Kuratorium Deutsche Altershilfe die Initiative, Erfahrungen aus dem ambulanten Bereich auf die Heimversorgung zu übertragen. Das familienähnliche Zusammenleben von Pflegebedürftigen in Wohngemeinschaften sollte auch im Heim möglich werden. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass auf eine zentrale hauswirtschaftliche Versorgung verzichtet wird und Hausarbeit wieder in das Alltagsleben der Heimbewohner integriert wird. In kleinen Wohngruppen wird gemeinsam gekocht und gegessen, Reinigungsarbeiten werden wie in einem normalen Haushalt in den Tagesablauf integriert. In diesen sogenannten »stationären Hausgemeinschaften« können die Bewohner sich an den Hausarbeiten beteiligen und bestimmen selbst über ihre Mahlzeiten und die Organisation des Tagesablaufs.

Diese vierte Generation des Pflegeheims unterscheidet sich grundsätzlich von den bisherigen Organisationsstrukturen der Heime. Sie zeichnet sich auf der baulichen Ebene dadurch aus, dass die einzelnen Wohngruppen als autarke Einheiten konzipiert werden, deren Herz die große Wohnküche und der zentrale Aufenthaltsbereich sind.61

5. Generation: Leben in Gemeinschaft – eingebunden ins Quartier

2012 erweiterte das KDA mit der fünften Generation des Pflegeheims sein Konzept der Hausgemeinschaften zu einem übergreifenden Ansatz, der das Prinzip des »Lebens in Gemeinschaft« um eine Stärkung der Privatsphäre auf der einen Seite und eine Öffnung in das Wohnquartier andererseits ergänzt. Dabei soll durch das Prinzip des »Lebens in Privatheit« dem in stationären Hausgemeinschaften tendenziell vorhandene Zwang zur Gemeinschaft durch die Aufwertung der privaten Räume mit Pantryküche und definiertem Wohnungseingang entgegengewirkt werden. Mit dem Prinzip des »Lebens in der Öffentlichkeit« soll eine Öffnung der Heime in die umgebenden Wohnquartiere erreicht werden, bei der die Heimbewohner sich als normale Bürger im Wohnviertel bewegen und dessen Infrastruktur nutzen, die Angebote des Heims auch den Bürgern des Wohnviertels zur Verfügung gestellt werden und durch Einbeziehung von Ehrenamtlichen aus dem Wohnviertel eine stärkere Vernetzung mit der Quartiersbevölkerung hergestellt wird.62

_____________________

17 Entzian 1999:7 f.

18 Vgl. Steiner-Hummel, I. (1998). Alltagsmanagement von Pflege in der Sorgearbeit der Familien. In: Schmidt, R. & Thiele, A. (Hrsg.) (1998). Konturen der neuen Pflegelandschaft. Positionen, Widersprüche, Konsequenzen. Evangelische Heimstiftung e.V., Stuttgart, Deutsches Zentrum für Altersfragen e.V., Berlin, Regensburg: Transfer Verlag, S. 23

19 Amann, A., Löger, B. & Lang, G. (2005). Lebensqualität im Pflegeheim, Teil I:. NÖ Landesakademie Soziales und Gesundheit. St. Pölten: Zentrum für Alternswissenschaften und Sozialpolitikforschung, S. 14

20 Ebd.

21 modifiziert nach Entzian, H. (1999). Spannungsfeld – Heimalltag. Beitrag zur Entwicklung von handlungsleitenden Gestaltungsprinzipien in der stationären Altenhilfe. Oldenburg: Universität, Phil. Dissertation, S. 9 f.

22 Vgl. Huber, M. et al. (2005). Autonomie im Alter. Leben und Altwerden im Pflegeheim – Wie Pflegende die Autonomie von alten und pflegebedürftigen Menschen fördern. Hannover: Schlütersche, S. 118

23 Ebd.:117

24 Schneekloth, U. & Wahl, H.-W. (Hrsg.) (2007). Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen. München. Im Internet: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/abschlussbericht-mug4,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf [Zugriff am 03.03.2014]

25 Vgl. Schäufele, M., Köhler, L. & Weyerer, S. (2008). Antworten auf eine Herausforderung. Stationäre Pflege Demenzkranker. In: Zeitschrift Altenheim, 47 Jahrgang, 11/2008, Hannover: Vincentz Network, S. 16

26 Koch-Straube (2003). Fremde Welt Pflegeheim. Bern: Huber, S. 134

27 Vgl. Engels & Pfeuffer 2007: 259

28 Vgl. Büssing, A., Giesenbauer, B. & Glaser, J. (2003). Gefühlsarbeit. Beeinflussung der Gefühle von Bewohnern und Patienten in der stationären und ambulanten Altenpflege. In: Pflege – Die wissenschaftliche Zeitschrift für Pflegeberufe. 16. Jahrgang, Heft 6, 2003, S. 358

29 Wahl, H. W. (1989). Unselbständigkeit und Selbständigkeit alter Menschen in Pflegesituationen. Eine empirische Analyse von subjektiven und objektiven Indikatoren. Heidelberg: Universität, Dissertation Dr. Phil., S. 2

30 Vgl. Wahl 1989:20

31 Vgl. Schütz, A., Endreß, M. & Srubar, I. (Hg.) (2003).Theorie der Lebenswelt 1. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt. Alfred Schütz Werkausgabe V.1. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 183

32 Vgl. Srubar, I. (2007). Phänomenologie und soziologische Theorie. Aufsätze zur pragmatischen Lebenswelttheorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 22

33 Vgl. Huber et al. 2005:96 f.

34 Vgl. Zeman 1998:313 f.

35 Vgl. Huber, M. et al. (2005). Autonomie im Alter. Hannover: Schlütersche, S. 43 Schopp, McElmurry, Zabrocki 2001:30

36 Vgl. Scheffel 2000:91

37 Vgl. Hager 1995:78 f.

38 Vgl. Koch-Straube 2003:68 f.

39 Vgl. Goffman, E. (1972). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 27

40 Vgl. Büssing, Giesenbauer & Glaser 2003:362 f.

41 Marshall, zitiert nach Petzold, C. & Petzold, H. G. (1992). Lebenswelten alter Menschen. Konzepte. Perspektiven. Praxisstrategien. Hannover: Vincentz, S. 193

42 Thiersch 2002:206

43 vgl. BiB 2013

44 BiB 2013 Seitenzahl einfügen

45 Vgl. Blinkert, B. & Klie, T. (2008). Soziale Ungleichheit und Pflege. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 12–13/2008). Beilage der Wochenzeitung Das Parlament. 17.03.2008, S. 25 ff.

46 Vgl. Heusinger, J. (2006). Pflegeorganisation und Selbstbestimmung in häuslichen Pflegearrangements. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Band 39, Heft 3, 6/2006, S. 420

47 Ebd., S. 421

48 Vgl. Berth, F. (2008). Die Katastrophe fällt aus. Warum Heimplätze nicht knapp werden. In: Prantl, H. & von Hardenberg, N.: Schwarz, Rot, Grau. Altern in Deutschland. München: Süddeutsche Zeitung, S. 66

49 Ebd., S. 32

50 Statistisches Bundesamt (2011): Ältere Menschen in Deutschland und der EU. Im Internet: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/BlickpunktAeltereMenschen1021221119004.pdf?_blob=publicationFile (Zugriff am 20.12.2014], S. 82

51 Vgl. Goffman 1972

52 Hofmann 1983 in: Koch-Straube 2003:347

53 Klie, T. (2005). Würdekonzept für Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf, Balancen zwischen Autonomie und Sorgekultur. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Band 38, Heft 4, 8/2005, S. 269

54 Vgl. Sander, K. (2003). Biografie und Interaktion. Lebensgeschichten im institutionellen Rahmen eines Altenheimes. In: Alheit, P. et al. (Hrsg.) (2003). Werkstattbericht des INBL 13 Interuniversitäres Netzwerk Biografie- und Lebensweltforschung INBL. Bremen: Universitätsbibliothek, S. 66

55 Vgl. Schneekloth, U. & Wahl, H.-W. (Hrsg.) (2007). Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in stationären Einrichtungen. München. Im Internet: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung3/Pdf-Anlagen/abschlussbericht-mug4,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf [Zugriff am 03.03.2014], S. 60

56 Vgl. ebd.:97

57 Ebd.: 24

58 Vgl. ebd.: 133

59 Vgl. BMFSFJ (Hrsg.) (2001). PflegeCHARTA. Arbeits- und Schulungsmaterialien zur Pflege-Charta. Einsatzfelder und Instrumente/Methoden. Begleitbogen 3: Hinweise und Anregungen »Schattentage«. Im Internet: http://pflege-charta-arbeitshilfe.de/fileadmin/de.pflege-charta-arbeitshilfe/content_de/Dokumente/pdf/M3-Pflege-Charta-Begleitbogen-3.pdf [Zugriff am 27.12.2014], S. 129

60 Vgl. KDA (Hrsg.) (1988). Neue Konzepte für das Pflegeheim – auf der Suche nach mehr Wohnlichkeit. Köln: KDA

61 Vgl. KDA 2008

62 Vgl. Michell-Auli, P. & Sowinski, C. (2013). Die 5. Generation: KDA-Quartiershäuser. Köln: KDA

3 ETHIK


3.1 Ethik und professionelle Pflege

Reinhard Lay

3.1.1 Über Wertvorstellungen nachdenken

»Alte Menschen nicht so pflegen zu können, wie es sich gehört – das macht mich auf die Dauer fertig. Manchmal weiß ich wirklich nicht, wie ich mich verhalten soll.« (Zitat einer Altenpflegerin)

Was in der Altenpflege mancherorts zum Alltag gehört, löst bei ethisch sensibilisierten Pflegekräften tiefe Unzufriedenheit aus. Ist es richtig, wenn Heimbewohner(innen) hastig das Essen eingegeben wird, wenn Bewohner(innen) gegen ihren Willen bereits in der Nacht gewaschen werden, wenn Sterbende in Nebenräume abgeschoben werden?63

Der Kostendruck steigt, und es besteht heute die Gefahr, dass sich Arbeitsweisen etablieren, die an eine Fließbandproduktion erinnern und einer menschenwürdigen Pflege zuwider laufen. Achtsame Pflegekräfte halten inne und fragen sich kritisch: Welche Pflege ist moralisch vertretbar und welche nicht? Diese Frage ist essenziell. Um sie zu beantworten, soll an dieser Stelle zunächst etwas grundsätzlicher gefragt werden: Was bedeutet der Begriff Moral?

Moral

Mit Moral sind Wertvorstellungen und Verhaltensregeln gemeint, die von Menschen als gültig erachtet werden. Moralvorstellungen wechseln mit der Zeit, beispielsweise können sich die Vorstellungen von menschenwürdiger Betreuung im Laufe der Zeit ändern. Noch vor einigen Jahrzehnten galten hier zu Lande Mehrbettzimmer für vier bis zehn Pflegeheimbewohner als angemessen – heute wird dem Einzelnen bei uns weitaus mehr Privatsphäre zugebilligt, wohingegen in anderen Kulturkreisen und in wirtschaftlich schwächeren Ländern Einzelzimmer noch immer als Luxus gelten.

Moral ist immer neu zu überdenken und im Zusammenleben mit anderen Menschen neu auszuhandeln. In diesem Sinne lässt sich Moral definieren als die Summe der Normen und Werte, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft gelten.

Damit im Laufe der Zeit nicht lebenswichtige Normen außer Acht geraten, tendieren Menschen und Organisationen dazu, Regeln und Prinzipien schriftlich festzuhalten. Das Ergebnis sind Regelsammlungen (Kodizes), Verhaltensrichtlinien, Verfahrensanweisungen, (Pflege-)Leitbilder, (Pflege-)Konzeptionen und (Pflege-)Standards. Der ethische Fachausdruck für solche Schriftstücke lautet »gelehrtes Ethos«.

Ist eine qualifizierte Pflege und Begleitung alter Menschen auch ohne ein gelehrtes Ethos möglich? Fragen wir noch etwas grundlegender: Ist nicht Moral entbehrlich? Wozu brauchen wir eigentlich moralische Vorstellungen? Moral ist eine Einrichtung der Gesellschaft

zur Weitergabe kulturell oder religiös bewährter Werthaltungen,

zur Vorbeugung oder Regelung von Konflikten,

zur Förderung einer gerechten Verteilung von Gütern und Lebenschancen,

zur Sicherung der Lebensqualität.64

Weil moralische Überzeugungen in der Erziehung und in der Sozialisation erworben werden, ist es nicht möglich, keine Moral zu besitzen. Im Gegenteil: Jeder Mensch besitzt moralische Einstellungen. Sie sind nicht nur kulturell verschieden, sondern Individuen ändern im Laufe des Lebens ihre Moral. Genau betrachtet, verfügen Menschen als Mitglieder unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen gleichzeitig über mehrere Moralvorstellungen. Sie fühlen sich in moralischen Fragen manchmal hin und her gerissen und suchen nach klarer Orientierung.

Während Sie diese Zeilen gelesen und die Gedanken interessiert hinterfragt haben, dabei möglicherweise eigene Erlebnisse erinnert und sie kritisch eingeschätzt haben, ist etwas geschehen, was wir Ethik nennen. Ethik ist das Nachdenken über Moral, das kritische Reflektieren moralischer Aspekte. Vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, betreiben Sie gerade Ethik. Wenn wir über Moral nachdenken, denken wir ethisch, und wenn wir über moralische Aspekte in der Pflege nachdenken, bewegen wir uns im Bereich der Pflegeethik. Pflegeethik ist die Reflexion moralischer Aspekte in der praktischen Pflege.65

3.1.2 Ethik in der Pflege

Professionelle Pflege meint nicht nur die praktische Pflegetätigkeit (Pflegepraxis), sondern beinhaltet auch Managementaufgaben (Pflegemanagement) und Aufgaben beruflicher Aus-, Fort- und Weiterbildung (Pflegepädagogik). Außerdem verfügt die Pflege als Profession66 über eigene wissenschaftliche Grundlagen und über wissenschaftliche Institutionen (Pflegewissenschaft). Die Handlungsfelder der Disziplin Pflege setzen sich aus vier verbundenen Bereichen zusammen:

 

image

Abb. 3: Handlungsfelder der Disziplin Pflege.

Den vier Handlungsfeldern der Disziplin Pflege kommen unterschiedliche Aufgaben zu, und dementsprechend sind in den vier Bereichen unterschiedliche ethische Schwierigkeiten zu bewältigen.

Ethik in der Pflege

Wenn wir die kritische Reflexion moralischer Aspekte in der gesamten Disziplin Pflege meinen, sprechen wir allgemein von Ethik in der Pflege und unterscheiden darin

Pflegeethik (= Ethik in der Pflegepraxis; die kritische Reflexion moralischer Aspekte in der praktischen Pflege),

Ethik im Pflegemanagement (die kritische Reflexion moralischer Aspekte im Pflegemanagement),

Ethik in der Pflegepädagogik (die kritische Reflexion moralischer Aspekte in der Pflegepädagogik) und

Ethik in der Pflegewissenschaft (die kritische Reflexion moralischer Aspekte in der Pflegewissenschaft*

* vgl. Lay 2004:66 f.

Entsprechend den vier Handlungsfeldern der Disziplin Pflege lassen sich die vier Teilgebiete der Ethik in der Pflege grafisch darstellen (vgl. Abb. 4).

 

image

Abb. 4: Vier Teilgebiete der Ethik in der Pflege.

Pflegeethik

Das am gründlichsten ausgearbeitete Teilgebiet der Ethik in der Pflege ist die Pflegeethik. Sie stellt Prinzipien und Maßstäbe zur Beurteilung von moralischen Aspekten im Pflegealltag bereit und kann in schwierigen Fragen Orientierung geben.

3.1.3 Pflegeethik

Wenn wir über moralische Aspekte in der praktischen Pflege nachdenken, brauchen wir Beurteilungskriterien und Entscheidungshilfen. Pflegerische Alltagsweisheiten helfen in schwierigen Fragen nur selten weiter. Beispielsweise wird im Pflegealltag gelegentlich gefordert, man solle die Heimbewohner(innen) »so pflegen, wie man selbst gepflegt werden wollte«. Dabei wird übersehen, dass Heimbewohner(innen) vermutlich nicht so gepflegt werden möchten, wie sich Pflegekräfte ihre eigene Pflege wünschen würden. Eine siebzigjährige türkische Frau wünscht sich wahrscheinlich eine andere Pflege als eine siebzehnjährige deutsche Altenpflegeschülerin67.

Die Forderung, man solle so pflegen, wie man selbst gepflegt werden wollte, wird nicht selten mit dem Anspruch verknüpft, allen Bewohner(inne)n mit den gleichen wohlwollenden Gefühlen entgegenzutreten. Das ist jedoch nicht zu verwirklichen – eine Überforderung. In Anlehnung an Rabe68 sind dennoch alle pflegebedürftigen Menschen als gleichberechtigt zu sehen, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialem Stand, Nationalität und anderen unterscheidenden Merkmalen. Daraus lässt sich folgern, dass auch weniger sympathische Bewohner(innen) zumindest mit einem »Basis-Anstand« und »Basis-Respekt« behandelt werden sollen69.

Rufen Sie sich einmal eine ethische Entscheidung in Erinnerung, die Sie neulich in Ihrem beruflichen Alltag getroffen haben. Falls Ihnen spontan keine Situation einfallen sollte, befinden Sie sich in guter Gesellschaft: Ethische Probleme werden häufig nicht als solche erkannt. Irrtümlicherweise denken viele Pflegende beim Thema Ethik eher an medizinische Entscheidungen am Lebensende als an die vielen »kleinen« ethischen Entscheidungen im Pflegealltag.

Wer allerdings genau beobachtet, stellt fest: Der Alltag in der Altenhilfe ist voller ethischer Herausforderungen, die dazu aufrufen, Position zu beziehen. Einige Beispiele sollen diese Behauptung illustrieren:

In einem großen Pflegeheim wundert sich eine Praktikantin, dass eine Bewohnerin vom Pflegepersonal jeden Tag halb nackt mit dem Lifter über die gesamte Etage bis zum Badezimmer transportiert wird. Als sie die zuständige Altenpflegerin darauf anspricht, wird ihr gesagt: »Sie kann ja auch gleich im Badezimmer übernachten, dann müssen wir sie nicht schieben.« Die Praktikantin ist schockiert und überlegt, ob sie die Leitung informieren soll.

In einer Tagespflegeeinrichtung schimpft eine Altenpflegerin bei der Übergabe lautstark über das »verrückte Verhalten« eines dementen älteren Herrn. Die Tür steht offen und ihr emotionaler Ausbruch ist auf dem Flur zu hören. Besucher hören ungewollt mit und wollen beschämt das Haus verlassen. Eine Altenpflegeschülerin beobachtet den Vorfall und ist sich unschlüssig, ob sie den Besuchern nachgehen und sich für ihre Kollegin entschuldigen soll.

Nach der morgendlichen Unterstützung am Waschbecken möchte eine Altenpflegerin einer Bewohnerin das Frühstück richten, als sie feststellt, dass der Wandspender für das Händedesinfektionsmittel leer ist. Die Altenpflegerin ist mit ihrer Arbeit im Verzug und spielt mit dem Gedanken, das Frühstück ohne erforderliche Händedesinfektion zu richten und den Wandspender später neu zu bestücken.

Ethik erscheint in der Altenpflege wie auch im »normalen« Leben als etwas Alltägliches. Sie beginnt dort, wo man Gewohntes infrage stellt und darüber nachdenkt, ob es dem Wohl von Menschen dient. »Wir fällen ja tagtäglich fortwährend moralische Urteile, und dies so selbstverständlich, dass es uns kaum noch auffällt. […] Wer es nun nicht dabei belässt, einfach moralisch zu urteilen, sondern sich dafür interessiert, was das Moralische eigentlich ist, und ob es überhaupt einen Sinn hat, moralisch zu handeln, wie man solches Handeln begründen und rechtfertigen kann – wer solche Fragen stellt, fängt an, Ethik zu betreiben.«70

Menschen brauchen Routine, und Organisationen erfordern ein hohes Maß an standardisierten Abläufen. Weil es in der Altenpflege jedoch nicht um die Bedienung von Maschinen oder die Bearbeitung von Werkstücken geht, sondern um eine verantwortbare Pflege und Betreuung lebenserfahrener Menschen, treten zwangsläufig Konflikte auf.

Kleinere Probleme können manchmal noch mit gutem Willen und einfachem Alltagswissen gemeistert werden. Um hingegen schwierigere Aufgabenstellungen im Pflegealltag mit gutem Gewissen bewältigen zu können, haben sich verschiedene professionelle Prinzipien und Orientierungshilfen bewährt:

Klärung des Menschenbildes

Einschätzung der wahrscheinlichen Konsequenzen bestimmter Handlungen

Entwicklung und Beachtung verallgemeinerbarer Prinzipien

Orientierung an traditionellen ethischen Prinzipien der Pflege

Heranziehen von relevanten Schriftstücken, z. B. Ethik-Kodizes und Berufsordnungen

Berücksichtigung der situativen Besonderheiten, Kontextorientierung.

Wenn wir im Pflegealltag ethische Entscheidungen zu treffen haben, ist es wichtig, zunächst unser Bild vom Menschen zu klären. Die übliche Leitbildfloskel »Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt« ist nichtssagend. Nicht selten verbergen sich hinter solchen pauschalen Aussagen völlig unterschiedliche Vorstellungen vom Wert eines Menschenlebens, vom Sinn des Leidens, vom Kranksein, von Pflegebedürftigkeit und Persönlichkeitsentfaltung.

Konsequentialismus, Utilitarismus

Eine bewährte Möglichkeit zur ethischen Entscheidungsfindung ist es, die wahrscheinlichen Konsequenzen einer Handlung abzuschätzen und dann jene Handlungsalternative zu wählen, welche voraussichtlich die besten Folgen für möglichst viele beteiligte Menschen mit sich bringen wird (Konsequentialismus, Utilitarismus).

Häufig wird Immanuel Kants Kategorischer Imperativ hervorgehoben, um in einer schwierig zu entscheidenden Frage voran zu kommen. Einfach ausgedrückt, bedeutet Kants Empfehlung, sich selbst an genau jene Regeln und Prinzipien zu halten, die man sich nach reiflicher Überlegung als allgemeingültig wünschen würde (verallgemeinerbare Prinzipien; Gesinnungsethik, vgl. Kant 1987).

Weiter kann bei einem ethischen Problem im Pflegealltag überlegt werden, welche bewährten ethischen Werte und Prinzipien der Pflege als Orientierungshilfen herangezogen werden können. Eine eigene Untersuchung ergab folgende fünf Prinzipien, die sich in der Geschichte der Pflege herauskristallisiert haben71:

1. Förderung von Wohlergehen/Wohlbefinden

2. Förderung von Autonomie/Selbstständigkeit

3. Gerechtigkeit

4. Aufrichtigkeit

5. Verständigung im Dialog

Diese Prinzipien stellen einen Konsens dar, den wir auch in den meisten ethischen Berufskodizes der Pflege finden, z. B. im ICN-Ethikkodex für Pflegende72. Der Ethikkodex des Internationalen Pflegerates (International Council of Nurses, ICN) ist hierzulande der einzige Pflegekodex, der nennenswerte Verbreitung gefunden hat. Ihm zur Seite stehen die Berufsordnungen der Pflege, beispielsweise die Berufsordnung des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe oder die Rahmenberufsordnung des Deutschen Pflegerates. Je nach Thema können auch andere Dokumente Hilfe zur ethischen Entscheidungsfindung bieten, z. B. die Charta der Rechte hilfe— und pflegebedürftiger Menschen oder die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland.

3.1.4 Ethik und »gute« Pflege

»Die Würde des Menschen und die Einzigartigkeit des Lebens stehen im Zentrum allen pflegerischen Handelns«, so schreibt der Schweizer Berufsverband für Krankenpflege in seinen Ethischen Grundsätzen für die Pflege (SBK 1992). Pflegeethik ist demnach nicht ein nebensächlicher Aspekt von Pflegequalität, sondern ihr zentraler Kern. Pflegeethik und Qualitätsmanagement in der Pflege haben ein gemeinsames Anliegen: »gute« Pflege.

Welche grundsätzlichen Kriterien »gute« Pflege ausmachen, ist bislang nicht definiert. Es erscheint daher geboten, Gedanken aus der Pflegeethik mit der Qualitätsdiskussion in der Pflege zusammenzuführen. Hierzu hat sich die grafische Darstellung der wichtigsten Bestandteile »guter« Pflege bewährt (vgl. Abb. 5).

 

Eine Pflege, die »gut« ist, lässt sich sowohl aus ethischer Sicht wie auch aus der Perspektive des Qualitätsmanagements rechtfertigen. Sie ist nicht an einem einzigen Merkmal zu erkennen, sondern entsteht im Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Welche dieser Faktoren heute als grundlegend angesehen werden können, zeigt die Grafik »Komponenten der Pflegequalität«.

Die Abbildung ist ein praxistaugliches Instrument, das speziell für die tägliche Arbeit in der Pflege entwickelt wurde. Im Pflegealltag hilft es, die wichtigsten Faktoren guter Pflege im Blick zu behalten. Die Abbildung wird zur Reflexion der Arbeit mit pflegebedürftigen alten Menschen genutzt und hat sich auch als Hilfsmittel für die Pflegeausbildung und für die Anleitung von Pflegehilfskräften bewährt. Die »Komponenten der Pflegequalität« sind Teil eines Pflegemodells, das sich ausgezeichnet für die Altenpflege eignet: Modell der Gesundheitspflege73.

Die einzelnen Komponenten der Pflegequalität sollen zunächst kurz im Überblick erläutert werden, bevor wir die ethischen Zusammenhänge näher betrachten:

Wirksamkeit bedeutet erfolgreiche Gesundheitsförderung, d. h. Selbstständigkeit und Wohlbefinden der Bewohner(innen) bleiben möglichst lange erhalten bzw. werden auf ein zufriedenstellendes Maß gesteigert.

Sicherheit für Bewohner(innen), Personal und Umgebung wird durch Hygiene (z. B. Infektionsprävention, Psychohygiene) und das Beachten der anerkannten Sicherheitsbestimmungen gewährleistet (z. B. Umweltschutzregelungen, Brandschutzvorschriften, Datenschutzbestimmungen).

Wirtschaftlichkeit besteht im gezielten und verantwortungsvollen Umgang mit der zur Verfügung stehenden Zeit (z. B. Personalplanung, Arbeitsplanung, Flexibilität) und dem benötigten Material (z. B. Geräte, Verbrauchsgüter).

Interaktion: Hier wird die Qualität des zwischenmenschlichen Handelns in den Blick genommen: Kommunikation, Zusammenarbeit, Beziehungsgestaltung (z. B. Information, Beratung, Absprachen, Öffentlichkeitswirkung).

Pflegeethik: Hier wird reflektiert, ob die geleistete Pflege moralisch vertretbar ist:

Erfassen der moralischen Aspekte der Situation, Abwägen der Absichten und wahrscheinlichen Konsequenzen

Übereinstimmung des Handelns mit ethischen Prinzipien der Pflege, z. B. Förderung von Wohlergehen/Wohlbefinden und Autonomie/Selbstständigkeit, Achtung vor dem Leben und der Menschenwürde, Verständigung im Dialog, Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit.

Wie hängen die Komponenten der Pflegequalität mit Pflegeethik zusammen? Die wichtigsten Verbindungen sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

Wirksamkeit, Qualität und Ethik

Wenn Pflegende dazu beitragen, Selbstständigkeit und/oder Wohlbefinden der Bewohner(innen) zu unterstützen, dann stellen wir fest: Die Pflege war erfolgreich.

Selbstständigkeit bedeutet, dass die Bewohner(innen) einerseits möglichst selbstbestimmt leben (Selbstbestimmung) und andererseits möglichst allein ihren Alltag meistern können (funktionelle Eigenständigkeit in den Alltagsaktivitäten).Wohlbefinden zielt auf die subjektive Befindlichkeit der Bewohner(innen), sowohl in körperlicher und psychischer Hinsicht als auch in Bezug auf soziale Beziehungen und sonstige Rahmenbedingungen.

In den Alltagsaktivitäten (Aktivitäten des Lebens) Selbstständigkeit und Wohlbefinden zu erlangen, ist ein elementares menschliches Anliegen. Es steht im Einklang mit den ethischen Forderungen nach Autonomie und Würde von Menschen. Pflegebedürftigen alten Menschen ein zufriedenstellendes Niveau an Selbstständigkeit und Wohlbefinden zu ermöglichen, ist ein zutiefst ethisches Anliegen und die wichtigste Aufgabe von Pflegekräften in der Altenhilfe.

Sicherheit, Qualität und Ethik

Menschen Gutes zu tun (der ethische Fachbegriff lautet Benefizienz) und Schaden zu vermeiden (die ethischen Fachausdrücke sind nihil nocere und Nonmalefizienz) sind ethische Prinzipien, die in der Pflege eine lange Tradition besitzen, wenn auch die Schadensvermeidung bislang eher auf körperlich-prophylaktische Maßnahmen ausgerichtet ist (z. B. Dekubitusprophylaxe, Sturzprophylaxe) und i. d. R. nicht ausdrücklich als ethisch motiviert identifiziert wird.74

Maßnahmen, die Sicherheit gewährleisten, schützen Bewohner(innen), Angehörige, Pflegekräfte und andere Mitarbeitende vor Schaden. Schaden ist nicht nur als körperliche Schädigung zu verstehen, sondern auch als soziale Beeinträchtigung, beispielsweise bei nicht sachgemäßem Umgang mit vertraulichen Daten.

Menschen in Schutz zu nehmen, die dies in einer gefährlichen Situation nicht in ausreichendem Maße selbst tun können, und zu ihrem Wohl stellvertretend für sie zu handeln, ist eine traditionelle Forderung an Pflegende – in der Ethik als Advokatenfunktion bezeichnet. Die meisten pflegerischen Berufskodizes schreiben Pflegekräften eine solche Rolle zu. Sicherheit zu gewährleisten ist ein ethisches Grundanliegen der Pflege.

Wirtschaftlichkeit, Qualität und Ethik

»Deutschland ist ein reiches Land, eines der reichsten Länder der Erde. Es kommt weniger darauf an, was wir uns leisten können, als darauf, was wir uns leisten wollen hinsichtlich der Ausgaben im Gesundheitswesen. Welche Priorität hat die Gesundheit in der Politik? Und sollte das Gesundheitswesen wirklich nur eines sein, das sich um ›Gesundheit‹ kümmert und nicht auch die Sorge um Behinderte, chronisch Kranke, Alte und Sterbende einschließt?«75

Ethische Entscheidungen über wirtschaftliche Rahmenbedingungen der Pflege werden zunächst auf der politischen Ebene getroffen. In der Konsequenz sind dann auch in der Pflege vor Ort verantwortliche Entscheidungen innerhalb des vorgegebenen Rahmens gefordert. Altenpflegekräften stellt sich beispielsweise täglich die Frage, welchen Bewohner(inne)n der größte Anteil der knapp bemessenen Arbeitszeit gewidmet werden soll.

Wenn im konkreten Fall eine Altenpflegerin zusammen mit einem Altenpflegeschüler, einer Pflegehelferin und einer Praktikantin für die vielen Bewohner(innen) eines Wohnbereichs zuständig ist, von denen drei eine regelmäßige Positionsveränderung benötigen, um nicht wund zu liegen, und gleichzeitig die Begleitung eines Sterbenden und die schützende Beaufsichtigung desorientierter Bewohnerinnen gefordert wird, dann ist es nicht nur arbeitsorganisatorisch notwendig, sondern auch ein ethisches Gebot, Schwerpunkte zu setzen und moralische Entscheidungen über die Verwendung der Arbeitszeit zu treffen. Aus meiner persönlichen Erfahrung bedeutet das, zu lernen, mit gutem Gewissen verantwortbare Abstriche zu machen und jenen pflegebedürftigen Menschen weniger Zeit zu widmen, die sie an diesem Tag aus Sicht der erfahrenen Pflegekraft nicht so dringend benötigen wie andere. Diese Beurteilung sollte reflektiert geschehen, damit sie bedarfsangemessen und sozial gerecht ist.76

Neben einer professionellen Personaleinsatzplanung und dem täglich neuen Setzen von Prioritäten kann ethisch verantwortliches Handeln auch darin bestehen, auf bestehende Missstände, die zur Gefährdung von Bewohner(inne)n führen (können), deutlich aufmerksam zu machen. Nicht alle akuten oder chronischen Personalengpässe können von einzelnen Pflegekräften oder von einem Pflegeteam kompensiert werden. Wo Sicherheit und Wohlergehen von Bewohner(inne)n und/oder Personal gefährdet sind, wird Protest zur Pflicht.77 Für Pflegekräfte kann das bedeuten, dass sie nicht nur Vorgesetzte über eine aktuelle oder drohende Arbeitsüberlastung frühzeitig informieren, sondern sich langfristig in sozial- und gesundheitspolitischen Vertretungen für eine moralisch verantwortbare Pflege einsetzen.78

Eine große Chance zur Sicherung einer moralisch vertretbaren Verteilung der Mittel im Sozial- und Gesundheitswesen liegt in der Pflegeforschung. Im Bereich der direkten Pflege bieten sich gerade in einer Phase explosionsartiger pflegewissenschaftlicher Entwicklungen viele Möglichkeiten, überkommene pflegerische Maßnahmen kritisch auf ihre Effizienz zu überprüfen. Als Fortbildner erlebe ich, dass etwa zur Dekubitusvorbeugung noch immer viel Zeit und Material für unsinnige Anwendungen aufgewandt wird, was sich konsequenterweise in einem Mangel an anderen Stellen auswirkt. Maßnahmen zur Kontrolle von Effizienz und Qualität sind deshalb ethisch gefordert, weil sie ein höheres Niveau an Selbstständigkeit und Wohlbefinden erreichbar machen.79

Fry80 betont, dass von Pflegekräften Entscheidungen darüber gefordert sind, wie eine gerechte oder faire Zuteilung der Pflegeleistungen unter den von ihnen betreuten Menschen aussehen soll. Ziel sei eine faire und ethische Verteilung der zur Verfügung stehenden Pflegemittel. So könne auf eine Verteilung der Mittel, wo sie nicht benötigt werden, verzichtet werden.

Wirtschaftlichkeit bedeutet nicht nur den verantwortlichen Einsatz von Arbeitszeit, sondern auch die kostenbewusste Verwendung von Geräten und pflegerischen Bedarfsartikeln. Wirtschaftliches Arbeiten sichert den Fortbestand der Pflegeeinrichtung und leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen.

In der heutigen gesellschaftlichen Situation kann Pflegequalität nicht mehr idealistisch unter Vernachlässigung des Faktors Wirtschaftlichkeit betrachtet werden. Deshalb ist die vereinzelt vertretene Ansicht abzulehnen, Qualität bedürfe »… nicht unbedingt der Wirtschaftlichkeit«81. Der verantwortliche Umgang mit Zeit und Material muss von allen Pflegekräften verstanden, verinnerlicht und eingeübt werden.

Pflege ist eine für die Gesellschaft notwendige, auf menschliche Bedürftigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten gerichtete Dienstleistung. Wirtschaftlichkeit macht es möglich diese Leistung konstant zu erbringen. Aus diesem Grund ist Wirtschaftlichkeit in der Pflege grundsätzlich ein ethisch legitimiertes Anliegen. Diese Legitimation gilt jedenfalls dann, wenn die konkreten wirtschaftlichen Strukturen und Prozesse eine menschenwürdige Pflege ermöglichen.82

Interaktion, Qualität und Ethik

Altenpflegekräfte arbeiten im Alltag mit unterschiedlichen Menschen zusammen. Die wichtigste Kooperations- und Koordinationsleistung beruflicher Pflege ist das Zusammenspiel mit den gepflegten Menschen und ihren Bezugspersonen.

Weitreichende Auswirkungen auf die Qualität der Kommunikation mit den Bewohner(inne)n hat zudem die Qualität der Beziehungen der Pflegemitarbeitenden untereinander und zu ihren Vorgesetzten. Weil qualitativ hochwertige Pflege darüber hinaus nur bei guter Zusammenarbeit aller beteiligten Berufsgruppen geleistet werden kann, fordert der Ethik-Kodex des Internationalen Pflegerates83 von Pflegekräften eine umfassende Kooperationsbereitschaft: »Die Pflegende sorgt für eine gute Zusammenarbeit mit ihren Kolleginnen und mit den Mitarbeitenden anderer Bereiche.«

In der direkten Pflege bedeutet gute Pflege die Gewährleistung von Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit unter gleichzeitiger Beachtung ethischer Richtlinien und Prinzipien. Diese Hauptkomponenten der Pflegequalität können nur im Zusammenwirken aller am Dienstleistungsprozess »Pflege« Beteiligten verwirklicht werden.

Im Verlauf der Pflege tauschen Pflegekraft und Bewohner(innen) berufliche bzw. lebensgeschichtliche Erfahrungen und Einschätzungen aus. Indem Pflegende eine vertrauensvolle Beziehung zu Bewohner(inne)n und ihren Bezugspersonen aufbauen, ermöglichen sie es, Selbstständigkeit und/oder Wohlbefinden möglichst lange zu erhalten bzw. teilweise sogar zu steigern.

Die zeitlich intensive Betreuung führt häufig zu moralischen Problemen, etwa Fragen der Abgrenzung, der professionellen Distanz, der (übermäßig) fürsorgenden Zuwendung, der persönlichen Privat- und Intimsphäre, des Loslassens, der Aggression oder gar Gewalt, insbesondere, weil Pflege i. d. R. mit großer Nähe verbunden ist.

Nach Klie84 sind Pflegehandlungen als »…körpernahe Interaktionen [charakterisiert], in der Pflege alter Menschen wahrgenommen durch generationsverschiedene Personen, in denen in besonderer Weise Menschenwürdefragen aufgeworfen werden: Pflege ist ein potenzieller Übergriff auf den Körper des Pflegebedürftigen.« Es ist eine der Besonderheiten von Pflege, dass sie fast immer mit Körperkontakt und einem Überschreiten von persönlich-territorialen Grenzen einhergeht, und das nicht nur bei instrumentell-technischen Verrichtungen, die auch ein Arzt in dieser oder ähnlicher Weise durchführt, sondern während der Durchführung von körperbetonten persönlichen Alltagsaktivitäten wie Waschen, Kleiden oder Essen.85 Pflege als potenziell übergriffiges Handeln erfordert ethische Reflexion.

Das ausgewogene Zusammenspiel von Wirksamkeit, Sicherheit, Wirtschaftlichkeit und Interaktion sowie Pflegeethik macht die Güte von Pflege aus. Wenn wir über »gute« Pflege nachdenken, merken wir, dass alle genannten Komponenten der Pflegequalität letztlich ethisch legitimiert sind. Pflegeethik sollte in der Frage nach Pflegequalität eine zentrale Stellung einnehmen. Sie ist die zentrale Komponente von Pflegequalität und ein unverzichtbares Element professioneller Pflege.

Pflegequalität und ethische Dimension

Eine Definition von Pflegequalität, welche die ethische Dimension bewusst einbezieht, lautet:

»Pflegequalität gibt den Grad der Verwirklichung von pflegerischen Zielen an, die sich auf die Förderung bzw. Erhaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden der gepflegten Menschen beziehen und mit verantwortlichem zwischenmenschlichen Umgang und vertretbarem Einsatz von Mitteln angestrebt werden« (Lay 2001: 20).

Die Definition macht deutlich, wie wichtig es für Pflegende ist, unterschiedliche Anforderungen zu kennen und sie situativ auszubalancieren. Im Alltag geben zwei grundsätzlich verschiedene Auffassungen vom Wesen der Pflegebeziehung immer wieder Anlass zu Konflikten. Sie werden im folgenden Kapitel kontrastiert und in ihren Eigentümlichkeiten beschrieben.

3.1.5 Die Pflegebeziehung – Bündnis oder Vertragsbeziehung?

Von 2008 bis 2012 führten das Bundesfamilienministerium und die deutsche Hochschule der Polizei das Aktionsprogramm »Sicher leben im Alter« durch. Zur Prävention von Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen in der häuslichen Pflege wurden Materialien für die Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ambulanter Pflegedienste entwickelt; sie sind als Handreichung im Internet86 verfügbar.

Die Handreichung geht auf das Wesen der Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten ein und betont die Gleichzeitigkeit zweier Beziehungsarten im Pflegeprozess. »Zu Beginn einer professionellen Pflegebeziehung wird zwischen dem Pflegeanbieter und der pflegebedürftigen Person bzw. ihrem gesetzlichen Vertreter ein verbindlicher Pflegevertrag abgeschlossen. Dieser regelt die Geschäftsbedingungen, u. a. den Beginn der Pflegeaufnahme, die vereinbarten Pflegehandlungen, die finanziellen Bedingungen und auch die Möglichkeiten der Vertragskündigung.«87

Darüber hinaus werde im ethischen Verständnis der helfenden Berufe ein Bündnis wirksam, das in seiner Verbindlichkeit für die Pflegebeziehung über das vertraglich Vereinbarte hinausgehe: das therapeutische Bündnis. Die Handreichung betont (S. 22 f.): »Gerade in der Begleitung und Pflege von Menschen mit hohem Hilfe- und Pflegebedarf und mit Demenz erhält das Konzept des therapeutischen Bündnisses zwischen professioneller Pflegeperson und Patient große Bedeutung. Die auf Elemente wie Fachkompetenz, Sorge und Verbindlichkeit gegründete Bündnisethik garantiert Bürgerinnen und Bürgern einen verantwortungsvollen Umgang, wenn sie die Hilfe heilender Berufe benötigen.88 Das therapeutische Bündnis enthält drei zentrale Elemente:

das Geschenk des Vertrauens des Patienten/Hilfebedürftigen,

das Versprechen, dieses Vertrauen durch Einsatz zu rechtfertigen und

die Verpflichtung, die eigene Expertise im besten Interesse des Patienten zu nutzen.«89

Das therapeutische Bündnis leite sich, so die Autoren der Handreichung, aus der Verpflichtung von Medizin und Pflege auf das Gemeinwohl ab. Dazu gehöre, dass der in seiner Hilfebedürftigkeit abhängige, alte und kranke Mensch eine besondere Anteilnahme und Sorge auch dann mit Sicherheit erwarten könne, wenn er unbequem, undankbar, schlecht versichert oder auch – z. B. durch Abwehrverhalten – gefährlich sei. »Das Bündnis ist vor allem dort von Bedeutung, wo ein Beistand erforderlich ist, der über die vertraglich geregelten Leistungen hinausgeht.«90

Dieses Statement birgt wesentlich mehr Zündstoff, als es auf den ersten Blick scheint. Jahrzehntelang kämpften Pflegende gegen überhöhte Ansprüche – wird nun in Gestalt einer Bündnisethik erneut ein Arbeitsethos eingefordert, das Pflegende zu überfordern droht und ausbeuterischen Arbeitsbedingungen Tor und Tür öffnet?

Worum geht es in der Diskussion um eine pflegerische Bündnisethik? Die Schweizer Pflegewissenschaftlerin Silvia Käppeli führte den Begriff in die Pflege ein. Sie beklagt, die Ökonomisierung und die damit verbundene Verrechtlichung des Pflegewesens stellten einen tiefen Eingriff in die Lebenswelt von Kranken und Pflegenden dar. Es werde der Eindruck vermittelt, Pflege sei ein Geschäft, das sich allein um einen Güter oder Dienstleistungsaustausch drehe, der in einem Vertrag geregelt werden könne. Ein Vertrag regle aber lediglich das Minimum der Leistungen und verpflichte darüber hinaus zu nichts; zusätzliche Dienstleistungen gebe es nur gegen zusätzliche Bezahlung.91

Gegen alle Kommerzialisierungstendenzen betrachtet Käppeli die traditionelle Beziehung zwischen Pflegeperson und Leidendem nicht als Geschäftsverhältnis, sondern als Bündnis. Anders als ein Vertrag erlaube ein Bündnis dem Leistungserbringer, seiner mitmenschlichen Verantwortung über das vertraglich geregelte Minimum hinaus nachzukommen. Laut Käppeli impliziere die Bündnisvereinbarung, dass die sorgende Bündnispartnerin ihr bedürftiges Gegenüber solange und so intensiv wie nötig pflege. Das gebe den Gepflegten die Gewissheit, in ihrem Interesse gepflegt zu werden.92

Worin liegt das Fundament des pflegerischen Bündnisses? Das Bündnis erwachse aus dem Mit-Leiden der Pflegeperson mit dem Leidenden; das Mit-Leiden wiederum ahme die barmherzige Liebe Gottes zu den Menschen nach: Aus christlich-jüdischer Vorstellung leidet Gott aus Liebe zu den Menschen mit ihnen. Er verbündet sich aus diesem Mit-Leiden heraus mit leidenden Menschen, um ihnen bedingungslos beizustehen. Gott hilft seinen leidenden Geschöpfen, schweres, unerträgliches und unverständliches Leid besser ertragen und deuten zu können. Der Beistand des Schöpfers ist Ausdruck seines Bundes mit den Menschen; Gottes Auftrag an die Menschen ist es, seine mitleidende tätige Liebe nachzuahmen (imitatio Dei93). »In dieser Beauftragung liegt die Begründung des Bündnisses zwischen Pflegenden und Kranken«, erklärt Käppeli94 als Pflegewissenschaftlerin und Theologin.

Liegt in dieser Haltung nicht eine große Gefahr? Will Käppeli die längst überwunden geglaubte pflegerische Tradition der Unterwürfigkeit und der unreflektierten Selbstaufopferung wiederbeleben?

Nein! Käppeli95 möchte keineswegs, dass die Pflegenden in eine Opferrolle verfallen und in eine Position beruflicher Schwäche geraten. Sie plädiert vielmehr für eine Balance: »Es wäre wünschenswert, wenn der Pflegeberuf eine beruflich-wissenschaftliche Identität entwickelte, die zwischen (Mit)Leidensverherrlichung und (Mit)Leidensvermeidung steht und in welcher der Dienst an den Kranken mit beruflicher Autonomie eine Synthese eingeht« (ebd.). Wenn die Schweizer Pflegewissenschaftlerin für das Bündnisparadigma als Grundlage der pflegenden Beziehung und der Pflege insgesamt plädiert, geht es ihr nicht um Nostalgie oder um eine sentimental-heldenhafte Überhöhung der Pflegetätigkeit. Die sich im Dienen und Erdulden erschöpfende Opferrolle habe bekanntlich zu einer schwachen beruflichen Position der Pflege geführt, so Käppeli. Die Gepflegten wollten sich unter allen Umständen darauf verlassen können, dass sich Pflegende auch unter der Bündnisethik entgegenwirkenden Umständen möglichst kompromisslos für die Linderung ihrer Leiden einsetzten. Daraus ergebe sich eine Qualität der Pflege, welche eines gesellschaftlichen Auftrages würdig sei und die gesellschaftliche Relevanz habe.96

Käppeli97 vermutet hinter der Tendenz, das Bündnis zwischen Pflegeperson und Patient durch einen Vertrag zu ersetzen, den Versuch, sich der Berührung mit dem Leiden zu entziehen. Das herrschende medizinische Verständnis von Professionalität sei vom Prinzip der Unparteilichkeit und der Affektneutralität geleitet98, hingegen sei eine Bündnisbeziehung von persönlicher Anteilnahme am Leiden eines Menschen getragen. Die Bündnisbeziehung erlaube keine Neutralität99.

Käppeli fasst zusammen: Während ein Vertrag ausschließlich rechtliche Aspekte einer Beziehung berücksichtigt, ist das pflegerische Bündnis keine juristische, sondern eine ethische Vereinbarung; ein Bündnis berücksichtigt moralisch-ethische Aspekte.100

Monteverde101 nimmt eine pragmatische Unterscheidung vor. Das Bündnisparadigma sei geeignet, um moralische Orientierung zu geben, wenn Gepflegte beispielsweise dement, urteilsunfähig oder unmündig seien, d. h. in Situationen der Nicht-Reziprozität (des fehlenden ausgeglichenen gegenseitigen Gebens und Nehmens, R. L.). Das Vertragsparadigma hingegen eigne sich für reziproke (wechselseitige) Beziehungen, in denen ärztliches und pflegerisches Handeln aufgrund einer informierten Zustimmung der Gepflegten (»informed consent«) ermöglicht sei.

Monteverde sieht bei beiden Ansätzen Risiken: Das Bündnisdenken berge die Gefahr, dass sich Pflegende über den aktuellen Wertekontext des Patienten hinwegsetzen könnten (Paternalismus). Das Vertragsparadigma hingegen könne dazu führen, dass der Klient als Dienstleistungsnehmer unter dem Vorwand der Eigenverantwortung in der Entscheidungsfindung allein gelassen werde.102

Damit sind die beiden Extreme benannt: Im Rahmen einer Bündnisethik liegt das Risiko eher in einer paternalistischen Bevormundung durch die Pflegenden. Sie stehen in der Gefahr, eine »überfürsorgende und paternalistische Haltung gegenüber den Betroffenen« einzunehmen.103

Im anderen Extrem droht die Gefahr, die Pflegebeziehung auf eine »Vertragsbeziehung ohne emotionale Beteiligung und Anteilnahme«104, also auf ein nüchtern-sachliches Dienstleistungsverhältnis zu reduzieren und Patientenautonomie in gleichgültiger Akzeptanz im Sinne eines »kalten« Respekts zu praktizieren105.

Das Risiko des Burn-out besteht für beruflich Pflegende bei beiden Extremen: Weder ist es gesund, sich völlig mit den Gepflegten zu identifizieren und gleichsam mit ihrem Leiden zu »verschmelzen«, noch ist es psychohygienisch hilfreich, sich ständig mit immenser Kraftanstrengung sachlich-kühl zu distanzieren.

Als Hauptvertreterin der Bündnis-Ethik lehnt Käppeli106 das Vertragsparadigma als Grundlage der pflegenden Beziehung kategorisch ab. Allerdings räumt die bekannte Schweizer Pionierin der Pflegewissenschaft ein, der Geschäftsbeziehung könne zu Gute gehalten werden, dass sie dem Paternalismus und der Gönnerhaftigkeit vorbeuge. Eine weitere Stärke des Vertragsparadigmas sei, dass es in der Regel zu fokussierteren und spezifischeren Interaktionen führe als das Bündnisparadigma.107

Hilfreicher als die leidenschaftliche Zurückweisung einer Vertragsbeziehung scheint der Versuch, beiden fundamentalen Sichtweisen zugleich Geltung zuzusprechen: Bündnis und Vertragsbeziehung sind grundlegende Elemente professioneller Pflegebeziehungen, die einander in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen. Ich schlage vor, die beiden Ansätze als ebenbürtige Denkweisen zu respektieren. Dass professionelle Pflege auf beide Beziehungsarten angewiesen ist, lässt sich mit Hilfe eines »Werte- und Entwicklungsquadrates«108 verdeutlichen:

 

Bündnis und Vertragsbeziehung sind nach diesem integrierten Verständnis gleichberechtigte »Schwestern«, zwischen denen ein konstruktives Spannungsverhältnis besteht. Jede von beiden Seiten braucht die Anziehungskraft der anderen, um zu verhindern, dass die eigene Stärke sich ins Extrem und damit zum Negativen entwickelt (Schutz vor entwertender Übertreibung).

Mit dem Instrument des Werte- und Entwicklungsquadrates lässt sich erklären, weshalb der Ruf nach einer pflegerischen Bündnisethik immer lauter wird: Da sich die Folgeprobleme einer zunehmenden Kommerzialisierung der Pflege zuspitzen (Entsolidarisierung als entwertende Übertreibung des Vertragsdenkens), stellt das Bündnisdenken ein notwendiges Gegengewicht dar (empfohlene Entwicklungsrichtung). Es ist zu hoffen, dass sich berufliche Pflege als gesellschaftlich relevante Institution in eine Balance zwischen beiden Ansätzen einpendelt.

Nach Auffassung Käppelis wurde das ursprünglich praktizierte Bündnisdenken im Kommerzialisierungsprozess durch ein Vertragsparadigma verdrängt; aus ihrer Sicht ist es notwendig, dass nun das Bündnisparadigma wiederum das Vertragsparadigma ersetzt. Sieht man hingegen Bündnisdenken und Vertragsdenken als einander ergänzende, gleichzeitig notwendige Aspekte der professionellen Pflegebeziehung an, dann eignet sich m. E. der Begriff Paradigma nicht. Die Bezeichnungen Bündnisparadigma und Vertragsparadigma passen nicht zu der vorgestellten integrierten Sichtweise, denn der Begriff »Paradigma« impliziert, dass eine grundlegende theoretische Vorstellung im Laufe der Zeit durch eine neueres, differierendes Theoriegebäude vollständig abgelöst wird (Paradigmenwechsel, vgl. Kuhn 2003).

Ohnehin sind Bündnis und Vertragsbeziehung Idealtypen, die sich in der Pflegepraxis kaum in ihrer Reinform zeigen, sondern eher als Trends109. Bei Pflegebeziehungen haben wir es in der Regel mit Mischformen zu tun. »Gerade wenn Patienten eingeschränkt urteilsfähig sind, ist es möglich, dass sie hinsichtlich bestimmter Fragen klar Auskunft geben können (z. B. bezüglich der Ernährung) und deshalb das Vertragsparadigma punktuell zur Geltung kommen kann, auch wenn dies für komplexere Zusammenhänge nicht mehr möglich ist.«110 Ebenso kann eine Pflegebeziehung als Dienstleistungsverhältnis zwischen weitgehend selbstständigen Partnern beginnen und im Pflegeverlauf in ein Bündnis zwischen unterschiedlich autonomen Beteiligten übergehen, etwa in der Langzeitpflege oder in der Pflege unheilbar kranker Menschen.

Ethisch vertretbare Pflege erfordert von den Pflegekräften, in ihrer Arbeit zwei gegensätzliche Bereiche zu integrieren. Selbstverständlich sollen sie auf Wirtschaftlichkeit achten und sich der Wichtigkeit rechtlicher und vertraglicher Grundlagen bewusst sein. Gleichzeitig haben sie eine Pflegebeziehung anzubieten, die sich als Bündnis versteht. Der Pflegevertrag garantiert beispielsweise, dass die gekauften Dienstleistungen in vereinbarter Weise erbracht werden. Das Bündnis hingegen soll den Gepflegten die Sicherheit geben, dass sie im Bedarfsfall einen zwischenmenschlichen Beistand erhalten werden, der über den Vertragstext hinausgeht.

Dieses Spannungsverhältnis auszuhalten und konstruktiv zu gestalten ist unbestritten eine große Herausforderung nicht nur für praktisch Pflegende, sondern auch für Pflegeleitungen.

3.1.6 Ethik im Pflegemanagement

Ethik im Pflegemanagement haben wir als die Reflexion moralischer Aspekte im Pflegemanagement definiert.111 Einerseits ist Ethik im Pflegemanagement auf das Handlungsfeld des Pflegemanagements selbst bezogen, z. B. auf moralische Fragen des Umgangs mit Mitarbeitenden. Andererseits reflektieren für Ethik sensibilisierte Pflegemanager(innen) zugleich moralische Fragen der Pflegepraxis (Pflegeethik), denn sie wissen sich für die Gewährleistung einer ethisch verantwortbaren Pflege in ihrer Einrichtung gesamtverantwortlich. Ihre Aufgabe ist es, inmitten von wirtschaftlichen Zwängen Strukturen zu schaffen, die eine menschenwürdige Pflege ermöglichen.

Hierzu zählen in erster Linie organisatorische Maßnahmen. Menschenwürdige Pflege ist nicht allein von individuellen Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensweisen der Pflegenden abhängig112, sondern in erheblichem Maße von den Rahmenbedingungen, in denen Pflegende sich um eine verantwortliche Arbeit bemühen. »Die Sicherung einer angemessenen Organisationsstruktur für die Pflege hat moralische Bedeutung.«113

Pflegemanager(innen) brauchen an dieser Stelle die Unterstützung der Einrichtungsträger. »Finanzielle, organisatorische und räumliche Rahmenbedingungen pflegerischer Arbeit sind zwingend zu beachten. Hier geht es um die Verantwortung der Träger, der Einrichtungsbetreiber, der Arbeitgeber im Gesundheitswesen. Wie können sie ihrer Verantwortung für menschenwürdige Pflege gerecht werden? Indem sie ausreichend Personal beschäftigen, indem sie Qualifikation, Fortbildung und Supervision der Mitarbeitenden unterstützen, indem sie Rahmenbedingungen schaffen, in denen menschenwürdige Pflege institutionell unterstützt und als Norm akzeptiert wird.«114

Den Trägern von Pflegeeinrichtungen sind finanziell die Hände gebunden. Bauliche Verbesserungen und personelle Verstärkungen erfordern finanzielle Mittel, die oft nicht in ausreichendem Maße vorhanden sind. Aus diesem Dilemma kann nur politische Einflussnahme heraushelfen. Pflegekräfte – insbesondere Pflegemanager(innen) – sind gefordert, politisch aktiv zu werden, wie Steppe forderte: »Pflege hat eine wichtige gesellschaftspolitische Bedeutung. Damit ist gemeint, daß wir Abschied nehmen sollten vom Mythos der wertfreien Pflege, die immer gut ist, egal welche Bedingungen sie umgeben. Wie die Geschichte beweist, haben immer schon gesellschaftliche Bedingungen Grenzen gesetzt und Möglichkeiten geschaffen, und nur die Pflegenden selbst haben dies lange negiert. Für heute heißt das, daß die Pflege sich einmischen soll und muß auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens …«115

Sich politisch einzumischen erscheint gerade im Hinblick auf die Folgen der Einführung von diagnosis related groups (DRG) in Deutschland dringend erforderlich. Ist es moralisch vertretbar, dass Heimbewohner(innen), z. B. nach Operationen »blutig« aus dem Krankenhaus entlassen, d. h. mit relativ frischen Operationswunden zurück in das Pflegeheim geschickt werden, wenn dort an vielen Stellen der Engpass an Fachkräften eine sichere medizinische und pflegerische Betreuung zunehmend einschränkt? Wie steht es hier mit der Pflicht der Professionellen im Gesundheits- und Sozialwesen, Schaden von gefährdeten Menschen abzuwehren? Wie sollen sich Pflegemanager(innen) in solchen Situationen verhalten?

Wichtig scheint mir zuvorderst eine Klärung der eigenen Ziele und Werthaltungen. Wofür stehe ich als Pflegemanager(in) (ein)? Was ist mir wichtig und weshalb? Welche Entwicklungen strebe ich an? Wettreck116 empfiehlt dem Pflegemanagement, eine Wertanalyse zu erstellen, und meint damit eine Analyse der Wertehierarchie des bestehenden, tatsächlichen Managementhandelns im Sinne eines Ist-Zustandes. Dieser sei am Horizont einer grundsätzlichen »Pflege-Orientierung« des eigenen Handelns zu messen. »Diese Selbstreflexion könnte sich insbesondere – neben Fragen der Orientierung des operativen Alltagsgeschäfts – auseinandersetzen mit grundsätzlichen ökonomischen und wirtschaftsethischen Fragen und der Leitlinie des ›Pflegerischen‹ darin.« (ebd.)

Zur Selbstreflexion gehört im nächsten Schritt eine realistische Einschätzung der Pflegeeinrichtung, um Passungen und Brüche zu identifizieren. Bei Diskrepanzen zwischen den Zielen des Pflegemanagements und der Orientierung der Einrichtung sind Anpassungen oder Veränderungen vorzunehmen. Unter Umständen ergibt sich aus der Selbst- und Unternehmensanalyse aber auch, dass sich der/die Pflegemanager(in) einen anderen Betrieb suchen wird.

Wert(e)klärung

»Pflegekräfte müssen erfahren, dass sie ernst genommen werden, dass ihre Probleme gehört werden, dass ihre Arbeit von der Organisation hinreichend anerkannt und unterstützt wird, dass sie sich in einer positiven Arbeitsumgebung befinden und eine Zukunftsperspektive haben.«117 Ethische Prinzipien und moralische Regeln in der Mitarbeiterführung können als gelehrtes (und gelebtes!) Ethos die Organisationskultur verbessern und dazu beitragen, dass die geführten Mitarbeitenden sich wohl fühlen und ihrerseits achtungsvoll und unter Berücksichtigung der Autonomie mit Klienten umgehen.

Übergeordnete Ziele der Personalentwicklung sind das Wohlbefinden der Mitarbeiter(gruppen) in der Einrichtung sowie das selbstständige Beherrschen der benötigten Kenntnisse und Fähigkeiten (Selbstständigkeit) für die jeweiligen Arbeitsanforderungen in der Pflege.

Das Begriffspaar Selbstständigkeit und Wohlbefinden findet sich in der Managementliteratur beispielsweise in der Unterscheidung zwischen aufgaben- oder beziehungsorientierten Führungsstilen.118 Selbstständigkeit und Wohlbefinden der Mitarbeitenden sind die wichtigsten Ziele der Mitarbeiterführung. Sie lassen sich nicht nur betriebswirtschaftlich rechtfertigen, sondern auch unter Rückgriff auf ethische Prinzipien begründen. So steht hinter der Forderung nach Selbstständigkeit unverkennbar das Respektieren der Autonomie von Menschen. Wohlbefinden ist das Ziel ethischer Prinzipien wie Fürsorge und Benefizienz (Gutes tun, wohltun).

Verantwortliches Führungshandeln wird nicht erst in der Mitarbeiterführung, sondern bereits bei der Personalauswahl gefordert. Gastmans plädiert dafür, bereits in Bewerbungsgesprächen mit neuen Mitarbeitenden einen Wertedialog zu beginnen. »In einem offenen Gespräch über eine Reihe von ethischen Problemsituationen in der Gesundheitspflege können das Management und der Bewerber einander über ihre Werte informieren. Nur wenn das Management und die Mitarbeitenden voneinander wissen, welche Werte sie wichtig finden, kann von der Offenheit, die die Grundlage für weitere Gespräche über wertebesetzte Auffassungen und Überzeugungen sowohl in Bezug auf die technischen, zwischenmenschlichen als auch auf die spezifischen ethischen Komponenten der Gesundheitspflege darstellt, die Rede sein.«119

Der belgische Gesundheitsethiker empfiehlt ein strategisches Vorgehen: »Das ausdrückliche Thematisieren ethischer Fragen während des Bewerbungsgesprächs kann ein erster Schritt sein, um ethisch motivierte und autonom denkende Pflegekräfte aufzuspüren. Damit sind Pflegekräfte gemeint, die ihre Routine verlassen, ihre eigene Arbeit kritisch und kreativ betrachten und ihre fachlichen Kenntnisse wissenschaftlich untermauern können. Die heutige Knappheit an motivierten und autonom denkenden Pflegekräften unterstreicht die Wichtigkeit, dieses kleine Kapital so gut wie möglich aufzuspüren und dann so strategisch wie möglich in der Organisation zu positionieren.«120

Um die Pflegeeinrichtung ethisch zu »durchdringen«, können ethische Leitgedanken in Unternehmensphilosophien, Pflegeleitbildern oder Stationspflegekonzeptionen, also im gelehrten Ethos, verankert werden121.

Für Pflegemanager(innen) ist ein verantwortlicher Umgang mit Macht und Wahrheit ethisch besonders relevant. Durch ihre hervorgehobene Stellung stehen Führungskräfte stets in der Gefahr, ihre Macht zu missbrauchen, indem sie beispielsweise Informationen zum Nachteil anderer Menschen verwenden, zurückhalten, nur verzerrt preisgeben oder gar verfälschen. Insbesondere wenn sie über Nachrichten verfügen, die ihre Mitarbeitenden (noch) nicht erfahren sollen, oder wenn sie unangenehme Maßnahmen durchsetzen müssen, kommen Führungskräfte in Gewissensnot.

Mitarbeitenden kündigen zu müssen, ist nach einer qualitativen Untersuchung von Bauer et al.122 mit Leitungspersonen aus der ambulanten und stationären Pflege für Manager besonders belastend. Ein Geschäftsführer einer ambulanten Pflegestation berichtete beispielsweise: »Ich muss auch Mitarbeitenden kündigen und Arbeitsverträge reduzieren. Das ist etwas, was ich nicht sehr gern mache, weil ich den Mitarbeitenden gesagt habe, dass wir versuchen, alles zu erhalten. Genau das kann ich im Einzelfall nicht einhalten und das geht mir gegen den Strich. Aber letztlich sind es 350 Mitarbeitende, ich habe die Verantwortung für alle und da muss ich schwierige Entscheidungen treffen – gegen meinen Willen und gegen meine Überzeugung.«123 Einige der befragten Führungskräfte klagten über schlaflose Nächte vor der Kündigung eines Mitarbeitenden und waren schließlich erleichtert, wenn sie dank guter Beziehungen Mitarbeitende in anderen Einrichtungen »unterbringen« konnten.124

Im Pflegemanagement sind vielfältige ethische Konflikte zu bewältigen. Dibelius (2001; 2003) legte Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung in acht stationären und drei teilstationären Einrichtungen der Altenhilfe in Berlin vor. Sie führte mit den jeweiligen Pflegedienstleitungen problemzentrierte Interviews, um das Ethos und die Reflexion von Problemkonstellationen der Leitungskräfte zu erforschen. Den befragten Pflegedienstleitungen war Folgendes besonders wichtig:

Prinzip der Unantastbarkeit der menschlichen Würde (z. B. entstehen Situationen von gefährlicher Pflege, die auch mit Gewalt einhergehen können, meistens bei lang anhaltender Überforderung der Mitarbeitenden)

Balance zwischen Fürsorge und Respekt gegenüber dem selbstbestimmten Handeln (z. B. bei der Pflege demenzkranker Menschen)

Sicherung der wirtschaftlichen Rechte der Bewohner(innen) (z. B. müssen Pflegemanager(innen) häufig die wirtschaftlichen Rechte der Bewohner(innen) vor Gericht erstreiten),

Prinzip der Gerechtigkeit, Offenheit und Transparenz (sowohl gegenüber Mitarbeitenden als auch gegenüber Bewohner(inne)n.

Die genannte Untersuchung legte tief greifende ethische Konflikte offen. So beschrieb eine der befragten Pflegedienstleitungen ihren inneren Konflikt aufgrund der ungünstigen Rahmenbedingungen in drastischen Worten: »Andere zu veranlassen, würdelos pflegen zu müssen, erlebe ich wie einen Angriff auf meine eigene Person.«125 In vier Themenbereichen wurden ethische Konflikte und Dilemmata identifiziert:

1. Kooperation mit der geschäftsführenden Leitung (z. B. fehlende Transparenz des Finanzierungsrahmens, Rationierungsdruck, Schwächung der Stellung des Pflegemanagements gegenüber der Heimleitung)

2. Belastungsgrad der Mitarbeitenden im Umgang mit dementen Bewohnern und deren Angehörigen (z. B. Kollision der Rationierungswünsche seitens des Trägers mit dem Fürsorgeprinzip für Mitarbeitende und Bewohner(innen)

3. Kampf um Einstufung, Sachleistungen und Pflegehilfsmittel (Reklamationen und der häufige Gang zum Gericht bringen erhebliche Mehrarbeit mit sich)

4. Konflikthafte Zusammenarbeit mit Ärzten (z. B. mangelnde Absprachen, Unzuverlässigkeit, Verschreibungspraxis von Medikamenten, geringe Besuchsfrequenz gerade bei Sterbenden)126

Insgesamt belegen die Ergebnisse eine hohe Sensibilität der Pflegemanager im Umgang mit ethischen Fragen127 und zeigen auf, wie vielgestaltig die ethischen Konflikte im Pflegemanagement der Altenhilfe sind. Sich im Pflegemanagement eingehend mit Ethik zu befassen, erweist sich als unabdingbare Voraussetzung, um schwierige Berufssituationen professionell bewältigen zu können128.

Wie Dibelius’ Untersuchungsergebnisse zeigen, gibt es zwischen Pflegemanagement und Pflegepraxis viele Überschneidungen, besonders auf der unteren und mittleren Führungsebene, wo Pflegemanager teilweise noch selbst in der praktischen Pflege mitarbeiten oder über Besprechungen und Pflegevisiten den Kontakt zum Arbeitsalltag der Pflegepraxis halten. Oft werden sie von ihren Pflegemitarbeitenden als Berater in ethischen Fragen angefordert.

In der Pflegepraxis treten ethische Herausforderungen auf, die nach reflektierten Antworten auf Grundlage fundierter pflegeethischer Bildung der Pflegemanager verlangen. Weil Führungskräfte in der Vermittlung von ethischen Kompetenzen eine Multiplikatorenfunktion wahrnehmen, benötigen sie nach Großklaus-Seidel129 in besonderem Maße gezielte Fort- und Weiterbildung bzw. ein Studium. Führungskräfte können ihren Mitarbeitenden in der Pflegepraxis dann helfen, Probleme zu benennen, Ordnung in die Gedanken und Befürchtungen zu bringen und über weitere Handlungsschritte nachzudenken130.

Auf ein interessantes Phänomen soll an dieser Stelle intensiver eingegangen werden: Pflegeleitungen stellen fest, dass die Zahl neuer Vorgaben jedes Jahr zunimmt. Zahllose Gesetze, Verordnungen, Grundsatzstellungnahmen, Prüfrichtlinien, Vorschriften und Expertenstandards werden veröffentlicht und erheben den Anspruch, berücksichtigt, implementiert und in der täglichen Arbeit umgesetzt zu werden. Hinzu kommen immer wieder neue Leitlinien, fachliche Empfehlungen und Handreichungen zu vielfältigen Themen. Einrichtungen fühlen sich häufig überfordert – lediglich im Verbund, in Konzernen, mit Hilfe von Netzwerken, Verbänden oder Beratungsunternehmen mag es Einrichtungsleitungen inzwischen noch gelingen, die Flut an Normen und Ansprüchen zu überschauen und ihnen gerecht zu werden.

Manche dieser Vorgaben mögen zu Recht in der Kritik stehen, andere hingegen sind als wertvolle Orientierungshilfen sehr zu begrüßen. Zwei praxisorientierte Dokumente sollen als Beispiele für sinnvolle Vorgaben und Handlungsempfehlungen abschließend näher betrachtet werden:

die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen und

die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland.

3.1.7 Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen

Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung erarbeiteten in den Jahren 2003 bis 2005 knapp 200 Expertinnen und Experten Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der häuslichen und stationären Pflege und zum Bürokratieabbau. Als zentrale Maßnahme schufen Sie eine »Charta der Rechte hilfe und pflegebedürftiger Menschen«131.

Die acht Artikel der Charta

Die acht Artikel der Charta greifen zentrale rechtliche Aspekte auf (S. 8):

»Artikel 1: Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Hilfe zur Selbsthilfe sowie auf Unterstützung, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben führen zu können.

Artikel 2: Körperliche und seelische Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden.

Artikel 3: Privatheit

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Wahrung und Schutz seiner Privat- und Intimsphäre.

Artikel 4: Pflege, Betreuung und Behandlung

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf eine an seinem persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und Behandlung.

Artikel 5: Information, Beratung und Aufklärung

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf umfassende Informationen über Möglichkeiten und Angebote der Beratung, der Hilfe, der Pflege sowie der Behandlung.

Artikel 6: Kommunikation, Wertschätzung und Teilhabe an der Gesellschaft

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf Wertschätzung, Austausch mit anderen Menschen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Artikel 7: Religion, Kultur und Weltanschauung

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und seine Religion auszuüben.

Artikel 8: Palliative Begleitung, Sterben und Tod

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, in Würde zu sterben.«

Zu den kurz und prägnant gefassten Artikeln gibt es jeweils eine konkretisierende Kommentierung. Als Beispiel wird der Kommentar zu Artikel 8 vorgestellt:

»Individuelle Sterbebegleitung

Es soll alles getan werden, um den Sterbeprozess für Sie so würdevoll und erträglich wie möglich zu gestalten. Personen, die Sie in der letzten Phase Ihres Lebens behandeln und begleiten, sollen Ihre Wünsche beachten und so weit wie möglich berücksichtigen. Dazu gehört, dass wirkungsvolle Maßnahmen und Mittel gegen Schmerzen und andere belastende Symptome angewendet werden. Wenn Sie es wünschen, soll Ihnen psychologische oder seelsorgerliche Sterbebegleitung vermittelt werden. Unabhängig davon, ob Sie zu Hause, im Krankenhaus, in einem Hospiz, Pflege oder Seniorenwohnheim sterben, sollen seitens der Institutionen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, damit dies in einer Umgebung geschieht, die Ihren Vorstellungen von einem würdevollen Sterben am ehesten entspricht. (Individuelle Sterbebegleitung bieten beispielsweise ambulante oder stationäre Hospizdienste an.)

Zusammenarbeit mit Angehörigen

Ärztinnen, Ärzte und Pflegende sollen – Ihrem Wunsch entsprechend – Ihre Angehörigen oder sonstige Vertrauenspersonen in die Sterbebegleitung einbeziehen und diese professionell unterstützen. Ihrem Wunsch, bestimmte Personen nicht einzubeziehen, muss ebenso entsprochen werden.

Selbstbestimmung am Lebensende

Solange Sie einwilligungsfähig sind, können Sie selbst darüber bestimmen, ob und in welchem Ausmaß eine Behandlung auch angesichts des möglicherweise nahenden Todes begonnen oder fortgeführt wird bzw. ob lebensverlängernde Maßnahmen durchgeführt oder unterlassen werden sollen. Allerdings dürfen Ärztinnen und Ärzte und andere Personen keine Maßnahmen ergreifen, die gezielt Ihren Tod herbeiführen würden, auch wenn Sie danach ausdrücklich verlangen.

Vorausverfügungen

In einer Vorsorgevollmacht können Sie vorab festlegen, wer im Falle Ihrer Einwilligungsunfähigkeit für Sie entscheiden soll. So können Sie Personen Ihres Vertrauens das Recht einräumen, in Ihrem Namen zu entscheiden und zu handeln, wenn Sie dazu selbst nicht mehr in der Lage sind. Am besten ist es, schon beim Verfassen des Dokuments die gewünschten Bevollmächtigten, zum Beispiel Angehörige oder Freunde, miteinzubeziehen. Grundsätzlich sollte die Vollmacht möglichst genau festlegen, wozu sie im Einzelnen ermächtigt.

In einer Patientenverfügung können Sie festlegen, wer für Sie in eine ärztliche Behandlung einwilligen oder Ihren zuvor niedergelegten Patientenwillen durchsetzen soll, wenn Sie die nötige Einwilligungsfähigkeit nicht mehr besitzen. Ihre Festlegungen binden Behandlungsteam, Bevollmächtigte und Betreuerinnen sowie Betreuer, wenn diese für die konkrete Entscheidungssituation zutreffen und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Ihr früher niedergelegter Wille nicht mehr Ihrem aktuellen Willen entspricht. Daher ist zu prüfen, ob Ihr vorab geäußerter Wille der konkret vorliegenden Situation entspricht und ob von der Fortgeltung der schriftlichen Verfügung ausgegangen werden kann. Liegt im Fall Ihrer Einwilligungsunfähigkeit keine solche fortwirkende frühere Willensbekundung von Ihnen vor oder ist sie nicht eindeutig, beurteilt sich die Zulässigkeit der ärztlichen Behandlung, falls unaufschiebbar, nach Ihrem mutmaßlichen Willen, der dann aus früher geäußerten Wünschen und der Befragung von Angehörigen, nahestehenden Personen bzw. denjenigen, die Sie bisher betreut haben, erforscht werden muss. Seit September 2009 ist die Wirksamkeit und Reichweite von Patientenverfügungen erstmals gesetzlich geregelt. Danach müssen Patientenverfügungen in schriftlicher Form vorliegen und ihre Verbindlichkeit bezieht sich auf alle Stadien einer Erkrankung. Informationen zu Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten erhalten Sie z. B. beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, bei den Gesundheitsbehörden, den Verbraucherorganisationen, den Ärztekammern, Kirchen, Patientenorganisationen oder Wohlfahrtsverbänden.

Abschiednahme, Bestattung

Auch als Verstorbene bzw. als Verstorbener haben Sie das Recht, mit Sensibilität und Respekt behandelt zu werden. Ihre zu Lebzeiten geäußerten Wünsche sollen auch nach Ihrem Tode Berücksichtigung finden. Ihren Angehörigen, nahestehenden Personen und gegebenenfalls Ihren Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern soll ausreichend Zeit zur Abschiednahme gegeben werden. Sie haben die Möglichkeit, vorauszubestimmen, wie Sie als Verstorbene bzw. als Verstorbener behandelt werden wollen bzw. wie über Ihren Leichnam verfügt werden soll. Das betrifft beispielsweise die Aufbahrung und die Art der Bestattung.

Verfügung über den Körper

Auch über die Frage einer Organentnahme und der Verfügbarkeit Ihres Körpers zu wissenschaftlichen Zwecken können Sie vorausverfügen. Eine Organentnahme ist nur dann erlaubt, wenn Ihrerseits eine ausdrückliche Erklärung zur Organspende, z. B. in einem Organspendeausweis, vorliegt. Ist dies nicht der Fall, dürfen Organe nicht ohne die Zustimmung Ihrer Angehörigen entnommen werden.«132

Die Kommentare erleichtern den Transfer der einzelnen Artikel in den Pflegealltag. Eine weitere Anwendungshilfe stammt aus einem Praxisprojekt, in dem von 2007 bis 2008 die Umsetzung der »Pflege-Charta« von neun stationären Pflegeeinrichtungen systematisch erprobt wurde. Als praktische Handlungshilfe entstand ein »Leitfaden zur Selbstbewertung«, der die acht Artikel in konkrete Fragen an stationäre Pflegeeinrichtungen übersetzt. Zu Artikel 8 (»Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, in Würde zu sterben«) schlägt der Leitfaden Fragen vor, die Sie in Tabelle 1 finden.

 

Tabelle 1: Fragen aus dem Leitfaden der Pflege-Charta

Was wird in der Einrichtung getan, … Konzepte, Methoden und Maßnahmen in der Einrichtung

Was halten wir vor?

Wie gehen wir vor?

Verbesserungsbereiche/-maßnahmen

Was müssen wir verbessern?

Wie gehen wir vor?

… damit die Wünsche sterbender Bewohner/innen hinsichtlich der Umgebung, der Pflege und Begleitung umgesetzt werden können?
… damit Vorausverfügungen und Handlungsanweisungen adäquate Berücksichtigung finden?
… damit wirkungsvolle Maßnahmen und Mittel gegen Schmerzen und andere belastende Symptome angewendet werden?
… damit Angehörige, Ärzt/innen, Seelsorger/innen, ehrenamtliche Mitarbeiter/innen und andere beteiligte Dienste in die Begleitung eingebunden werden –sofern dies von den Bewohner/innen gewünscht ist?
… damit – sofern es von Bewohner/innen gewünscht wird – psychologische oder seelsorgerliche Sterbebegleitung vermittelt wird?
… damit bei ethischen Entscheidungskonflikten ein begründetes Verfahren angewandt wird?

Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen liegt in vielfältiger Form vor, inzwischen sogar als Hörbuch sowie in Gebärdensprache.133

3.1.8 Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender
Menschen in Deutschland

Ein zweites Beispiel für eine hilfreiche Handlungsempfehlung ist die »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland«. Während sich die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen allgemein mit der Situation hilfe- und pflegebedürftiger Menschen befasst, nimmt die im Herbst 2010 veröffentlichte »Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland«134 speziell die palliativer Betreuung in den Blick. An ihrer Entstehung waren ebenfalls nahezu 200 Expertinnen und Experten aus einigen Dutzend gesellschaftlichen Institutionen beteiligt.

Im Entwicklungsprozess wurde zunächst der Stand der Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland festgestellt. Die im Konsensprinzip erarbeitete Charta stellt in fünf Leitsätzen die Aufgaben, Ziele und Handlungsbedarfe in Deutschland dar. Träger der Charta sind die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, der Deutsche Hospiz- und Palliativ-Verband und die Bundesärztekammer.

 

Tabelle 2: Die fünf Leitsätze der Charta

Leitsatz Titel Inhalt
1 Gesellschaftliche Herausforderungen – Ethik, Recht und öffentliche Kommunikation

Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen. Er muss darauf vertrauen können, dass er in seiner letzten Lebensphase mit seinen Vorstellungen, Wünschen und Werten respektiert wird und dass Entscheidungen unter Achtung seines Willens getroffen werden. Familiäre und professionelle Hilfe sowie die ehrenamtliche Tätigkeit unterstützen dieses Anliegen. Ein Sterben in Würde hängt wesentlich von den Rahmenbedingungen ab, unter denen Menschen miteinander leben. Einen entscheidenden Einfluss haben gesellschaftliche Wertvorstellungen und soziale Gegebenheiten, die sich auch in juristischen Regelungen widerspiegeln.

Wir werden uns dafür einsetzen, ein Sterben unter würdigen Bedingungen zu ermöglichen und insbesondere den Bestrebungen nach einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen durch eine Perspektive der Fürsorge und des menschlichen Miteinanders entgegenzuwirken. Dem Sterben als Teil des Lebens ist gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

2 Bedürfnisse der Betroffenen –Anforderungen an die Versorgungsstruktur Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine umfassende medizinische, pflegerische, psychosoziale und spirituelle Betreuung und Begleitung, die seiner individuellen Lebenssituation und seinem hospizlich-palliativen Versorgungsbedarf Rechnung trägt. Die Angehörigen und die ihm Nahestehenden sind einzubeziehen und zu unterstützen. Die Betreuung erfolgt durch haupt- und ehrenamtlich Tätige soweit wie möglich in dem vertrauten bzw. selbst gewählten Umfeld. Dazu müssen alle an der Versorgung Beteiligten eng zusammenarbeiten. Wir werden uns dafür einsetzen, dass Versorgungsstrukturen vernetzt und bedarfsgerecht für Menschen jeden Alters und mit den verschiedensten Erkrankungen mit hoher Qualität so weiterentwickelt werden, dass alle Betroffenen Zugang dazu erhalten. Die Angebote, in denen schwerstkranke und sterbende Menschen versorgt werden, sind untereinander so zu vernetzen, dass die Versorgungskontinuität gewährleistet ist.
3 Anforderungen an Aus-, Weiter- und Fortbildung Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht auf eine angemessene, qualifizierte und bei Bedarf multiprofessionelle Behandlung und Begleitung. Um diesem gerecht zu werden, müssen die in der Palliativversorgung Tätigen die Möglichkeit haben, sich weiter zu qualifizieren, um so über das erforderliche Fachwissen, notwendige Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie eine reflektierte Haltung zu verfügen. Für diese Haltung bedarf es der Bereitschaft, sich mit der eigenen Sterblichkeit sowie mit spirituellen und ethischen Fragen auseinanderzusetzen.

Der jeweils aktuelle Erkenntnisstand muss in die Curricula der Aus-, Weiter- und Fortbildung einfließen. Dies erfordert in regelmäßigen Zeitabständen eine Anpassung der Inhalte.

Wir werden uns dafür einsetzen, dass der Umgang mit schwerstkranken und sterbenden Menschen thematisch differenziert und spezifiziert in die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Beteiligten in den verschiedensten Bereichen integriert wird.

4 Entwicklungsperspektiven und Forschung

Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht darauf, nach dem allgemein anerkannten Stand der Erkenntnisse behandelt und betreut zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, werden kontinuierlich neue Erkenntnisse zur Palliativversorgung aus Forschung und Praxis gewonnen, transparent gemacht und im Versorgungsalltag umgesetzt. Dabei sind die bestehenden ethischen und rechtlichen Regularien zu berücksichtigen. Zum einen bedarf es der Verbesserung der Rahmenbedingungen der Forschung, insbesondere der Weiterentwicklung von Forschungsstrukturen sowie der Förderung von Forschungsvorhaben und innovativen Praxisprojekten. Zum anderen sind Forschungsfelder und -strategien mit Relevanz für die Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen zu identifizieren.

Wir werden uns dafür einsetzen, auf dieser Basis interdisziplinäre Forschung weiterzuentwickeln und den Wissenstransfer in die Praxis zu gewährleisten, um die Versorgungssituation schwerstkranker und sterbender Menschen sowie ihrer Angehörigen und Nahestehenden kontinuierlich zu verbessern.

5 Die europäische und internationale Dimension

Jeder schwerstkranke und sterbende Mensch hat ein Recht darauf, dass etablierte und anerkannte internationale Empfehlungen und Standards zur Palliativversorgung zu seinem Wohl angemessen berücksichtigt werden. In diesem Kontext ist eine nationale Rahmenpolitik anzustreben, die von allen Verantwortlichen gemeinsam formuliert und umgesetzt wird.

Wir werden uns für die internationale Vernetzung von Organisationen, Forschungsinstitutionen und anderen im Bereich der Palliativversorgung Tätigen einsetzen und uns um einen kontinuierlichen und systematischen Austausch mit anderen Ländern bemühen. Wir lernen aus deren Erfahrungen und geben gleichzeitig eigene Anregungen und Impulse.

Konkretisiert werden die fünf Leitsätze durch umfangreiche, jeweils mehrseitige Erläuterungen. So heißt es beispielsweise in den Erläuterungen zu Leitsatz 2 (Bedürfnisse der Betroffenen – Anforderungen an die Versorgungsstruktur) u. a.: »Menschen in hohem Lebensalter benötigen geeignete Versorgungsangebote, die auch palliative Gesichtspunkte ausreichend berücksichtigen. Besonders in den stationären Pflegeeinrichtungen bedarf es der systematischen Weiterentwicklung von Palliativkompetenz und Hospizkultur.

Schwerstkranke und sterbende alte und hochbetagte Menschen und ihre Angehörigen bedürfen einer hospizlichen und palliativen Versorgung und Begleitung, die ihren individuellen Bedürfnissen und ihrer Lebenssituation entspricht und die bestmögliche Lebensqualität am Ende des Lebens sicherstellt. Dies gilt zuhause, in besonderen Wohnformen und in stationären Pflegeeinrichtungen.

Das hohe bzw. sehr hohe Lebensalter und die hier häufig vorhandene Multimorbidität stellen spezifische Anforderungen an die Versorgungsformen. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf alte Menschen mit Demenzerkrankungen und deren Bedürfnisse zu richten. Immer mehr Träger unterstützen die notwendige Implementierung von Palliativkompetenz und Hospizkultur in stationäre Pflegeeinrichtungen (Organisationsentwicklung, Qualifikation, Vernetzung)…«135

Zum Leitsatz 1 (Gesellschaftliche Herausforderungen – Ethik, Recht und öffentliche Kommunikation) ist u. a. zu lesen: »Der sterbende Mensch muss sicher sein können, mit seinen Vorstellungen, Wünschen und Werten respektiert zu werden. Ein würdevolles Sterben verlangt Zeit, Raum und kompetenten Beistand. […] Ein Sterben in Würde hängt ganz wesentlich von Rahmenbedingungen ab, unter denen Menschen miteinander leben. Ein Sterben unter würdigen Bedingungen zu ermöglichen bedeutet auch, den Bestrebungen nach einer Legalisierung der Tötung auf Verlangen oder der Beihilfe zum Suizid durch eine Perspektive der Fürsorge und des Miteinanders entgegenzuwirken.« (S. 9)

Die in der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland formulierten Ziele konnten deutschlandweit in zahlreichen Projekten erprobt werden. Mittlerweile haben annähernd 900 Institutionen sowie über 10.000 Menschen durch Unterschrift ihre Unterstützung dokumentiert. Von 2014–2016 wollen die Expertinnen und Experten die Charta nun zu einer nationalen Strategie weiterentwickeln und die Verantwortung von Gesellschaft, Politik und allen Beteiligten im Gesundheitssystem für die letzte Lebensphase und das Sterben öffentlich herausstellen136.

Fazit

Beide Chartas zeigen, dass kurze Schlagworte und Leitsätze nicht ausreichen, um in der Praxis sinnvolle Veränderungen herbeizuführen; ergänzend notwendig sind u. a. erläuternde Kommentare mit Anwendungsbeispielen wie auch praxisnahe Fortbildungen..

3.1.9 Fazit

Betagte Menschen würdevoll zu pflegen ist eine hohe Kunst. Routine kann die komplizierten Abläufe in der Pflege vereinfachen, bewahrt aber nicht vor ethischen Konflikten. Bei genauerer Betrachtung ist der Alltag in der Altenhilfe voller ethischer Herausforderungen. Altenpflegekräfte sind dazu aufrufen, Position zu beziehen, um eine menschenwürdige, »gute« Pflege alter Menschen zu sichern. Hierbei kann es von großer Hilfe sein, unterschiedliche (pflege)ethische Prinzipien und Traditionen zu kennen und für die eigene Entscheidungsfindung zu nutzen.

Eine Pflege, die das Prädikat »gut« verdient, muss sich sowohl aus ethischer Sicht wie auch aus der Perspektive des Qualitätsmanagements rechtfertigen lassen. Gute Pflege ist nicht an einem einzigen Merkmal zu erkennen, sondern entsteht im Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Welche dieser Faktoren heute als grundlegend angesehen werden können, zeigt die Abbildung »Komponenten der Pflegequalität«137: Wirksamkeit (Selbstständigkeit und Wohlbefinden), Sicherheit (Hygiene und Sicherheitsbestimmungen), Wirtschaftlichkeit (Zeit und Material) sowie Interaktion und Pflegeethik.

Vorgeschlagen wird eine Definition von Pflegequalität, die diese Komponenten zusammenfasst und insbesondere auch die ethische Dimension einschließt: Pflegequalität gibt den Grad der Verwirklichung von pflegerischen Zielen an, die sich auf die Förderung bzw. Erhaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden der gepflegten Menschen beziehen und mit verantwortlichem zwischenmenschlichen Umgang und vertretbarem Einsatz von Mitteln angestrebt werden.138

Pflegeethik ist die Reflexion moralischer Aspekte in der praktischen Pflege. Pflege geschieht heute im Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen Pflegeverständnissen. Pflegekräfte stehen insbesondere im Konflikt zwischen der Forderung nach einem pflegerisch-therapeutischen Bündnis auf der einen und juristischen/ökonomischen Vorgaben (z. B. Verträge) auf der anderen Seite.

Ethik im Pflegemanagement wurde als die Reflexion moralischer Aspekte im Pflegemanagement definiert. Eine Altenpflegeeinrichtung zu leiten, bringt zahlreiche ethische Herausforderungen mit sich – ist es doch die Aufgabe des Pflegemanagements, trotz wirtschaftlicher Zwänge einerseits Strukturen zu schaffen, die eine menschenwürdige Pflege ermöglichen und andererseits zugleich selbst im moralischen Handeln Vorbild zu sein.

Zur Unterstützung der Umsetzung ethischer Prinzipien in Einrichtungen der Altenhilfe wurden zwei Dokumente als praktische Beispiele für hilfreiche Handlungsempfehlungen vorgestellt: die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen sowie die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland.

Der Kern der Altenpflege – die pflegerische Sorge für alte Menschen – fordert zur ständigen Reflexion und Weiterentwicklung pflegerischer Arbeit und ihrer Organisation heraus139. Sich auf verschiedenen Ebenen für eine hohe Pflegequalität zu engagieren bleibt eine permanente, ethisch begründete Aufgabe für Pflegemanager(innen) und ihre Mitarbeitenden.

Buchempfehlung

Lay, R. (2012). Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. 2., aktualisierte Auflage. Hannover: Schlütersche

3.2 Schattentage – Ethisch reflektierte Qualitätsentwicklung in der Pflegepraxis

Karla Kämmer

2011 ging der »ALTENHEIM Zukunftspreis« an das Seniorenzentrum »Herz Jesu« in der Kölner Südstadt. Prämiert wurde das Projekt »Schattenmann®« unter Leitung von Wolfgang Dyck. Im Kern geht es bei der Methode Schattenmann/Schattenfrau darum, dass Mitarbeitende in der Pflege vorübergehend selbst in die Rolle eines Heimbewohners schlüpfen, um zu erfahren, wie es sich mit einer Rundumbetreuung lebt. Das Vorgehen entstand als Initiative zur Umsetzung der Pflege-Charta (2008) in die Praxis. Wolfgang Dyck erarbeitete das Projekt im Zuge der Umsetzung des Charta-Prozesses zunächst im Rudolf-Schloer-Stift in Moers und entwickelte das Verfahren dann im Seniorenpflegeheim Herz Jesu in Köln weiter.

Das Ziel ist der Aufbau einer achtsamen Pflege- und Begleitungskultur und die Reduzierung von Elementen der »totalen Institution« nach Goffman. Die Regeln der Pflege-Charta sind die Grundlage, die jeder einzuhalten hat. Um die Voraussetzungen für eine gute Lebensqualität in den Institutionen zu schaffen, müssen Alltagsroutinen hinterfragt und die Perspektive der Bewohnerinnen und Bewohner mehr als bisher in den Mittelpunkt der Qualitätsentwicklung gestellt werden.

Die Mitarbeitenden sollen vor allem in ihrer Haltung im Berufsalltag, primär zu den Bewohnern, sensibilisiert werden. Das Projekt soll die Werteerfahrung und Wertebildung in der Pflegepraxis und eine achtsame Haltung gegenüber den Bewohnern fördern.

Die Methoden sind Rollentausch, Selbsterfahrung und Beobachtung, d. h., unabhängig von ihren zahlreichen professionellen Vor- und Aufgaben sollen sich Mitarbeitende ausnahmsweise nur fallen lassen können, um den Pflegeberuf von der anderen Seite, nämlich von der der betreuten Menschen zu beurteilen.

Schattentage

Ein Evaluationsbogen sammelt und strukturiert nach dem Einsatz die (Selbst-) Beobachtungen. Ebenso werden mit einem speziellen Fragebogen alle Eindrücke erfasst und in anschließenden Workshops gemeinsam mit Mitarbeitern vertiefend bearbeitet.

Die »Schattenmänner und -frauen« in dem preisgekrönten Projekt von W. Dyck machten bemerkenswerte Erfahrungen:

Das Geschobenwerden im Rollstuhl wurde meist als zu schnell empfunden. Logische Reaktion: Sie schieben künftig langsamer.

Selbst wenn sich zwei Pflegepersonen um einen Bewohner kümmern, heißt das noch nicht, dass ein Bewohner sich wirklich einbezogen fühlt. Sie sind nur bei, aber nicht mit ihm. Eine sensiblere Kommunikation, auch nonverbal durch Berühren/Drücken seiner Hand, wäre in diesem Falle hilfreich.

Im Selbstversuch fallen technische Mängel wie zu hoch angebrachte Spiegel, Informationstafeln, Fahrstuhlknöpfe und zu steile Rollstuhlrampen sofort auf.

Subjektiv empfanden die Tester Zeiten ohne konkrete Beschäftigung als langweilig/negativ. Gleichzeitig fragten sie sich aber, ob nicht ein älterer Mensch so einen Leerlauf als Ruhe und Entspannung genießt.

Schattentage fördern das Hinterfragen des eigenen Handelns. Sie öffnen durch den implizierten Fokuswechsel die Augen für die blinden Flecken in Organisation und Berufsalltag. Sie helfen, die Lebenssituation der Nutzer besser zu verstehen und sich an ihre Gefühls-, Erlebnis- und Lebenswelt anzunähern.

Voraussetzung für eine sinnvolle Durchführung ist Vertrauenskultur und partizipative, fehler-freundliche Führung. Nur so können Organisations- und Pflegeroutinen, Einstellungen und Haltungen in förderlicher Weise hinterfragt und optimiert werden.

Fragen zur Reflexion

_____________________

63 Vgl. Milhahn, H.-J. & Zegelin, A. (1993). Ethische Bildung in der Pflege – ein Problemaufriß, in: Deutsche Krankenpflege-Zeitschrift, Heft 5/1993, S. 323

64 Lay, R. (2001): Ethik und Pflegequalität. In: Bergener, M., Fischer, H., Heimann, M., Thiele, G. (Hrsg.) (2001). Management Handbuch Alteneinrichtungen (MHA). Heidelberg: R. v. Decker’s Verlag, S. 7; vgl. Eid, V. (1994). Grundverständnis von »Ethik« und »Moral«, in: Kruse, T., Wagner, H. (1994). Ethik und Berufsverständnis der Pflegeberufe. Berlin, Heidelberg: Springer, S. 157

65 Lay, R. (2004). Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Hannover: Schlütersche, S. 76

66 Vgl. Lay, R. (2002): Professionalisierung der Pflege – aber wie? In: Bergener, M., Fischer, H., Heimann, M., Thiele, G. (Hrsg.): Management Handbuch Alteneinrichtungen (MHA). Heidelberg: R. v. Decker›s Verlag; Lay, R. (2006). Beruf oder Profession? Pflege auf dem Weg in die Zukunft. In: Dieffenbach, S. et al. (Hrsg.): Management Handbuch Pflege (MHPfl). Heidelberg: Economica Verlag

67 Vgl. Lay 2004:155

68 Rabe, M. (2003). Übergriffe, Zwang und Gewalt in der Pflege – Eine Betrachtung aus ethischer und professioneller Perspektive. In: Wiesemann, C. et al. (Hrsg.) (2003). Pflege und Ethik. Leitfaden für Wissenschaft und Praxis. Stuttgart: Kohlhammer, S. 116

69 Ebd.

70 Pieper, A. (2000). Einführung in die Ethik. 4. Aufl. 2000. Tübingen, Basel: Francke, S. 23

71 Lay 2004:102

72 ICN (International Council of Nurses) (2010). ICN-Ethikkodex für Pflegende. Österreichischer Gesundheits- und Krankenpflegeverband (ÖGKV), Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK). Berlin

73 Informationen im Internet: pflegewiki.de/wiki/Modell_der_Gesundheitspflege; zur pflegewissenschaftlichen Grundlegung und Beschreibung des Modells siehe Lay 2004, Lay, R. (2012a). Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Zweite, aktualisierte Auflage. Hannover: Schlütersche; Lay, R. (2012b). Eine »pflegefremde« Einteilung? Kritische Anmerkungen zu einer gängigen Unterscheidung von Pflegekompetenzen. In: PADUA, Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung. Heft 5/2012b, S. 281–286

74 Vgl. hierzu Lay, R. (2005). Qualität und Pflegeethik. In: Dieffenbach, S. et al. (Hrsg.) (2005). Management Handbuch Pflege (MHPfl), Heidelberg: Economica Verlag, 5. Aktualisierung, A 2500, S. 1–27

75 Arndt, M. (2000). Zwischen Macht und Hilflosigkeit. Moralische Ansprüche und berufliche Praxis in der Pflege. Teil 2. In: Heilberufe 1/2000, S. 31

76 Lay 2001:17

77 Vgl. Hofmann, I. (2001). Wenn die Pflege nicht »den Regeln der Kunst« entspricht. In: Pflegezeitschrift 1/2001, S. 56

78 Lay 2001:17

79 Arend, A. van der & Gastmans, C. (1996). Ethik für Pflegende, Bern: Huber, S. 181

80 Fry, S. T. (1995). Ethik in der Pflegepraxis. Anleitung für ethische Entscheidungsfindungen. Eschborn: DBfK e.V., S. 27

81 Kuhlmey, J. (1994). Was ist qualitative Altenpflege? Teil 1. In: Heim und Pflege 2/1994, S. 76

82 Lay 2005:21

83 ICN 2010:3

84 Klie, T. (1998). Menschenwürde als ethischer Leitbegriff für die Altenhilfe. In: Blonski, H. (Hrsg.) (1998). Ethik in Gerontologie und Altenpflege. Leitfaden für die Praxis. Hagen: Kunz, S. 130

85 Lay 2004:90

86 www.dhpol.de/de/medien/downloads/hochschule/13/A6_Kap.3.2_Schulungshandreichung_Pflegedienste.pdf

87 Görgen, T. et al., Deutsche Hochschule der Polizei (Hrsg.) (2012). Sicher leben im Alter. Prävention von Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen in der häuslichen Pflege. Materialien für die Schulung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ambulanter Pflegedienste; entwickelt im Rahmen des durch das BMFSFJ geförderten Aktionsprogramms Sicher leben im Alter (SiliA); o. O. Im Internet://www.dhpol.de/de/medien/downloads/hochschule/13/A6_Kap.3.2_Schulungshandreichung_Pflegedienste.pdf [Zugriff am 19.8.2014], S. 22

88 Vgl. Käppeli, S. (2006). Das therapeutische Bündnis in Medizin und Pflege – wie lange noch? In: Schweizerische Ärztezeitung. Nr. 26/2006, S. 1221–1225

89 Vgl. z. B. Käppeli 2006:1221

90 Görgen et al. 2012:23

91 Käppeli, S. (2005). Bündnis oder Vertrag? In: Pflege, Heft 3/2005, S. 191

92 Ebd., S. 192

93 Käppeli, S. (2001): Mit-Leiden – eine vergessene Tradition der Pflege? In: Pflege, Heft 5/2001, S. 304; Käppeli, S. (2004a). Vom Glaubenswerk zur Pflegewissenschaft. Geschichte des Mit-Leidens in der christlichen, jüdischen und freiberuflichen Krankenpflege. Bern: Huber; Käppeli, S. (2004b). Bündnis oder Vertrag? Eine Reflexion über zwei Paradigmen der pflegenden Beziehung. Universitätsspital Zürich, Juli 2004, S. 1–18. Im Internet: www.zag-blog.ch/wp-content/uploads/2011/10/buendnis_vertrag.pdf [Zugriff am 19.8.2014]; 2005; 2006:1221

94 Käppelo 2005:188

95 Käppeli, S. (2009). Das Ethos der Pflege – Gedankenspiel oder Verpflichtung? In: Stemmer, R. (Hrsg.): Qualität in der Pflege – trotz knapper Ressourcen. Hannover: Schlütersche, S. 116

96 Käppeli 2005:193

97 Käppeli 2001:304

98 Käppeli 2009:116

99 Käppeli 2005:191

100 Käppeli 2005:192; 2009:115

101 Monteverde, S. (2006). Bündnis und Vertrag: zwei Grundmetaphern für die Ethik therapeutischer Berufe. In: Schweizerische Ärztezeitung. Nr. 26/2006

102 Monteverde 2006:1228

103 Friesacher, H (2009). Ethik und Ökonomie. Zur kritisch-normativen Grundlegung des Pflegemanagements und der Qualitätsentwicklung. In: Pflege & Gesellschaft, Heft 1/2009, S. 10

104 Vgl. Friesacher 2009:10

105 Bobbert, M. (2002). Patientenautonomie und Pflege. Begründung und Anwendung eines moralischen Rechts. Frankfurt/Main: Campus, S. 352; Bobbert, M. (2012). Entscheidungen Pflegender zwischen Expertise, Patientenselbstbestimmung und Fürsorge In: Monteverde, S. (Hrsg.): Handbuch Pflegeethik. Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern der Pflege. Stuttgart. Kohlhammer, S. 66 f.

106 Käppeli 2004b:1

107 Ebd.:12

108 Vgl. Schulz von Thun, F. (1989). Miteinander reden, Band 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

109 Käppeli 2004b:3; 2005:187

110 Monteverde, S. (2006). Bündnis und Vertrag: zwei Grundmetaphern für die Ethik therapeutischer Berufe. In: Schweizerische Ärztezeitung. Nr. 26/2006, S. 1229

111 Vgl. Lay 2012a:52 ff.

112 Brandenburg, H. (2000). Was heißt menschenwürdige Pflege? In: Krankendienst, Heft 6/2000, S. 174

113 Arndt, M. (1999). Zwischen Macht und Hilflosigkeit. Moralische Ansprüche und berufliche Praxis in der Pflege. Teil 1. In: Heilberufe, Heft 12/1999, S. 45

114 Brandenburg 2000:174

115 Steppe, H. (2000). Das Selbstverständnis der Krankenpflege in ihrer historischen Entwicklung, in: Pflege, Heft 2/2000, S. 82

116 Wettreck, R. (2001). »Am Bett ist alles anders« – Perspektiven professioneller Pflegeethik. Münster: LIT Verlag, S. 282

117 Gastmans, C. (2003). Der soziale, interprofessionelle und institutionelle Kontext der Pflegepraxis: Hemmender Widerstand oder Beschleunigungskraft? In: Dibelius, O., Arndt, M. (Sr. M. Benedicta) (Hrsg.): Pflegemanagement zwischen Ethik und Ökonomie. Eine europäische Perspektive. Hannover: Schlütersche, S. 107

118 Vgl. Rosenstiel, L. von (1992). Grundlagen der Organisationspsychologie. 3. Auflage Stuttgart: Schäffer-Pöschel, S. 309

119 Gastmans 2003:108 f.

120 Ebd.

121 Vgl. Lay, R. & Ziemer, A. (1999). Entwicklung einer Stationspflegekonzeption. In: Pflegezeitschrift 7/1999, Anlage Pflegedokumentation

122 Bauer, N. et al. (2003). »Management-by-heartbeat mache ich hier nicht!« Ethisches Handeln im Pflegemanagement. Eine qualitative Untersuchung. In: Dibelius, O., Arndt, M. (Hrsg.). Pflegemanagement zwischen Ethik und Ökonomie: Eine europäische Perspektive. Hannover: Schlütersche

123 Bauer 2003:43

124 Ebd.:42

125 Dibelius, O. (2003). Altersrationierung: Gerechtigkeit und Fairness im Gesundheitswesen? Eine Studie zum ethischen Führungshandeln von Pflegemanager/innen in der stationären und teilstationären Altenpflege. In: Dibelius, O., Arndt, M. (Sr. M. Benedicta) (Hrsg.): Pflegemanagement zwischen Ethik und Ökonomie. Eine europäische Perspektive. Hannover: Schlütersche, S. 25

126 Dibelius, O. (2001). Pflegemanagement im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomie. In Pflege, Heft 6/2001, S. 411 f.; 2003:25

127 Dibelius 2001:413

128 Bauer et al. 2003:49 f.

129 Großklaus-Seidel, M. (2002). Ethik im Pflegealltag. Wie Pflegende ihr Handeln reflektieren und begründen können. Stuttgart: Kohlhammer, S. 208

130 Ebd.

131 www.pflege-charta.de; BMFSFJ 2014

132 BMFSFJ, BMG (2014). Charta der Rechte hilfe-- und pflegebedürftiger Menschen. 11. Aufl., Mai 2014. Im Internet:/www.pflege-charta.de/fileadmin/charta/pdf/140603_-_Aktive_PDF_-_Charta.pdf [Zugriff am 18.8.2014], S. 20 f.

133 Videos auf www.pflege-charta.de

134 www.charta-zur-betreuung-sterbender.de

135 DGP (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin), Deutscher Hospiz- und PalliativVerband (DHPV), Bundesärztekammer (BÄK) (2010): Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland. Oktober 2010. Im Internet: www.charta-zur-betreuung-sterbender.de/konsentierung-rueckblick.xhtml?file=tl_files/dokumente/Charta_Broschuere.pdf [Zugriff am 18.8.2014], S. 13

136 www.charta-zur-betreuung-sterbender.de

137 Vgl. Lay 2001:15

138 Lay 2001:20

139 Vgl. Wettreck 2001:287

4 PFLEGESYSTEME UND -ORGANISATIONSFORMEN

Karla Kämmer

Die grundsätzliche Annahme lautet: Entscheidend ist das Prinzip der Ausrichtung von Pflege – für Qualität, Haltung, Stil und Arbeitszufriedenheit. Es spielt eine große Rolle für die Arbeitssituation des Pflegepersonals, welches grundsätzliche Arbeitsprinzip (Pflegesystem/Pflegeprinzip) hinterlegt ist. Es kann funktional oder ganzheitlich orientiert sein.140

Die beiden klassischen Pflegesysteme »Funktionale Pflege« und »Ganzheitliche Pflege« werden hier mit ihren unterschiedlichen Folgen für die Arbeitsorganisation und Personzentrierung einander gegenübergestellt.

So wichtig und wertvoll das Ganzheitsprinzip mit der Umsetzung der personzentrierten Haltung auch ist – bei der praktischen Umsetzung gilt es für Sie im Pflegemanagement genau hinzuschauen. Es geht bei der Auseinandersetzung mit dem Gegensatzpaar »ganzheitlich ↔ funktional« um das Entwickeln einer Haltung und Denkweise, die konsequent vom Nutzer ausgeht, auch dann, wenn das einfache Wegarbeiten von Tätigkeiten rund um den Nutzer dem Mitarbeiter möglicherweise leichter fallen würde. Der langfristige Benefit entscheidet.

Wichtig: Fehlentwicklungen durch Hybris ist vorzubeugen. Es geht darum, dass Pflege nicht in einen Alleinvertretungsanspruch für den Nutzer vom Alles-wissen-Wollen über das Alles-wissen-Müssen zum Alles-entscheiden-Können verfällt. Der Weg zur Allmacht und Deutungshoheit über das, was für den Klienten gut sei, wäre dann nicht weit und das Ziel von Ganzheitlichkeit pervertiert.

Hinweis

In diesem Kapitel geht es darum, dass Sie Ihren passenden Umsetzungsweg mit dem Ziel einer bestmöglichen Personorientierung für die Nutzer und einer möglichst befriedigenden, sinnstiftenden und als vollständig und wertvoll erlebten Arbeitsweise für die Mitarbeiter finden. Abgestimmt auf die Bedingungen Ihrer Einrichtung.

Es geht um einen Mix aus dem Nützlichen beider Varianten mit einer klaren personzentrierten Ausrichtung. Eine zukunftsfähige Perspektive – auch unter dem Aspekt der Zunahme des Fachkräftemangels – zeichnet sich ab: Die beziehungsbasierte Pflege mit potenzialorientierter Organisation.

4.1 Merkmale des ganzheitlichen Pflegesystems

Das ganzheitliche Pflegesystem beinhaltet die Arbeitsteilung nach dem Ganzheitsprinzip, insbesondere die Zuordnung von Pflegenden und Bewohnern. Die einzelnen pflegerischen, therapeutischen und sozialen Angebote werden dabei zusammenhängend und aufeinander abgestimmt verrichtet. Ein ganzheitliches Organisations- und Leistungsverständnis überwindet traditionelle Berufsgrenzen. Eine ganzheitliche Dienstleistung wird im Zusammenspiel unterschiedlicher Menschen und Berufe erbracht.

Der Austausch über unterschiedliche Sichtweisen, Einschätzungen und Ziele bietet die Chance, den pflegebedürftigen Menschen umfassender wahrzunehmen und gezielt auf die individuelle Situation einzugehen.

Vorteile und Voraussetzungen

Für dieses »persönlich-verantwortliche« Arbeiten sind immer wieder folgende Voraussetzungen herzustellen:

Fördern von Selbstmanagement- und Abgrenzungskompetenzen

Die übertragene Verantwortung zwingt die einzelne Pflegeperson zur eigenständigen Prioritätensetzung in Leistung und Zeitmanagement.

Wer diese Entscheidungssituationen zufriedenstellend bewältigen will, braucht Fachkompetenz, Übersicht, Zeitplanung, Selbstsicherheit und Humor. Viele Pflegende sind auf diese Anforderungen nicht vorbereitet worden. Hier sind entsprechende Bildungs- und Fördermaßnahmen sinnvoll.

Bereitstellen der erforderlichen Arbeitsmittel

Planungshilfen (z. B. Plantafeln, Tourenpläne) helfen, das Einhalten der flexiblen gemeinsamen Zeitplanung einzuüben. Um flexibel planen zu können, benötigt das Pflegeteam eine ausreichende Anzahl einsetzbarer Hilfsmittel, z. B. mehrere Pflegewagen zum Materialtransport, praktische Pflegematerialdepots in den Zimmern der Bewohner(innen) sowie Pflegedokumentationssysteme, in denen kleinere Einheiten von Bewohnerdaten zusammengestellt werden können.

Nachteile und Risiken

Es gibt kein System ohne Risiken in der Umsetzung. Sie müssen bedacht und abgewogen werden. In der ganzheitlichen Ausrichtung sind das erfahrungsgemäß die Folgenden.

Schwierigkeit: Überblick über den gesamten Verantwortungsbereich behalten

Lösung: Übergreifende Tätigkeiten funktional organisieren

Es ist aus zeitökonomischen Gründen sinnvoll, verschiedene Tätigkeiten, die alle Bewohner betreffen, übergreifend für den gesamten Wohnbereich zu organisieren. Dazu zählen beispielsweise das Stellen der Medikamente, küchen- und bewohnerferne Reinigungsarbeiten, allgemeine Verwaltungsarbeiten und Bestellungen. Am einfachsten ist es, wenn dafür rotierende Zuständigkeitspläne erstellt werden.

Ergänzend: Arbeiten mit der tagesgenauen Tourenplanung (vgl. Kapitel 4.11)

 

Sensibler Punkt: Überforderung schwächerer Fachkräfte

Lösung: Unterschiedliche Stärken von Mitarbeitern in Teams geschickt kombinieren

Nutzen Sie den Kompass (vgl. Kapitel 9.4), um Potenziale zu finden und zu nutzen. Geschickte Kombinationen und gute Potenzialmixe in den Schichten.

 

Sensibler Punkt: »Meine Bewohner-deine Bewohner«-Denken

Lösung: Arbeiten an der Teamentwicklung (vgl. Kapitel 7.4)

4.2 Die Merkmale des funktionalen Pflegesystems

Der Begriff funktionale (bzw. funktionelle) Pflege beschreibt nach Elkeles141 ein Pflegesystem, bei dem die Tätigkeiten der direkten und indirekten Pflege sowie die sonstigen anfallenden Arbeiten nach aufgaben- und verrichtungsorientierten Gesichtspunkten zusammengestellt und einzelnen Pflegekräften jeweils zur Durchführung an mehreren oder allen pflegebedürftigen Menschen zugewiesen werden.

Funktionspflege beinhaltet eine Arbeitsverteilung nach dem Teilungsprinzip, insbesondere die Verteilung von pflegerischen Funktionen. Vom Ursprung her stellt die funktionale Pflege eine Übertragung von Strukturen industrieller Fertigung, z. B. der Fließbandarbeit, in die Pflege dar.

Neben der Arbeitszerlegung erfolgt eine Zuordnung nach hierarchischen Prinzipien, wobei die »patientenfernen« Tätigkeiten als höherwertig erachtet werden. Alle Informationen über alle Bewohner laufen bei der Leitung des Bereichs zusammen und werden von ihr an die ausführenden Pflegekräfte weitergegeben.

»Das bedeutet, dass jede Pflegeperson die Verantwortung für eine Anzahl von Tätigkeiten übernimmt. Die umfassende Rechenschaftspflicht für die Qualität der Pflege, die ein/eine Bewohner/-in erfährt, und die damit einhergehende Autorität und Autonomie bei Entscheidungen liegen bei der Wohnbereichsleitung. Rechenschaftspflicht und Autorität hat die einzelne Pflegende hauptsächlich für die ihr zugeteilten Aufgaben. Die Kontinuität der Pflege ist nur in dem Sinne vorhanden, dass eine Pflegende mehrere verschiedene Tätigkeiten für den gleichen Bewohner übernimmt. Ansonsten steht die Funktionspflege für ein hohes Maß an Fragmentierung und Diskontinuität.«142

Mittel- und langfristige Vorteile funktionaler Pflege sind nicht nachgewiesen. Im kurzfristigen Bereich wird von Effekten der Zeiteinsparung durch spezialisierte Routinebildung berichtet. Diese beschränken sich jedoch nur auf die Arbeit mit orientierten Bewohnern.

Nachgewiesen sind folgende Nachteile:

Der Koordinationsaufwand ist außerordentlich hoch und der Informationsfluss störanfällig.143

Die verwendeten Daten beziehen sich in der Regel auf Defizite und nicht auf alltagsrelevante, lebensweltliche und biografische Informationen, weil sie in der funktionalen Pflege keine Bedeutung haben.

Funktionale Organisation konzentriert Tätigkeiten und Aufgaben auf einen bestimmten regelmäßig wiederkehrenden Zeitpunkt, ohne dass dabei die Interessen der betroffenen älteren Menschen im Vordergrund stehen, z. B. Bettenbeziehtage, Abführtage oder Badetage. Die zusammengefassten Tätigkeiten werden rasch aufeinander folgend durchgeführt.

Wenn man die beiden wesentlichen Defizite des Systems funktionaler Pflege, die fehlende Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Heimbewohner und die fehlende Personenorientierung in Arbeitsabläufen, soziologisch auf den Punkt bringt, so zeigt sich, dass die theoretische wie praktische Perspektive der funktionalen Pflege daran krankt, dass in ihr die zu betreuende Person allein als Objekt der Pflege zur Geltung kommt.

4.3 Das klassische Gegensatzpaar und seine Konsequenzen

Wenn es um die Beschreibung von Organisation und Ausrichtung der Pflege geht, wird mit einer Vielzahl von Begriffen operiert, um die sich eine Reihe von Missverständnissen und Fehlinterpretationen rankt. Die differenziertesten Untersuchungen stammen von den Arbeitswissenschaftlern Glaser und Büssing144. Sie betonen, dass der Begriff der ganzheitlichen Pflege unzulänglich definiert ist. Er umfasst:

1. verstärkte Personzentriertheit

2. zusammenhängende Arbeitsabläufe

3. Umsetzung eines theoriegeleiteten Pflegeprozessmodells

4. eine bestimmte Art, pflegebedürftige Menschen oder die Pflege selbst zu betrachten

Um eine Klärung herbeizuführen, definieren sie den Begriff Pflegesystem als grundsätzliche Form der Ausrichtung der Organisation im Hinblick auf Funktion oder Person. Dabei differenzieren sie innerhalb des Pflegesystems zwei Dimensionen:

die inhaltliche Orientierung (hier: Grad der Funktions- bzw. Personorientierung unter dem Begriff »Pflegeprinzip«) und

die organisatorische Zuständigkeit (hier: Zimmer, Pflegegruppe, Bereich) als Pflegeorganisationsform145.

Der »ganzheitliche« Blick auf den Menschen (Menschenbild) kann also in zwei Richtungen erfolgen:

»Erstens im Sinne einer anthroposophischen Einheit aus Körper, Seele und Geist und zweitens im Sinne einer entwicklungspsychologischen Berücksichtigung der Lebensbiographie und der sozialen Bezüge der Person. Ganzheitlichkeit und Patientenorientierung gemeinsam implizieren eine Vollständigkeit pflegerischer Aufgaben, bei der Patienten in den Pflegeprozeß einbezogen und ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden.«146

Eine Tätigkeit wird als vollständig bezeichnet, wenn sie gesundheits- und persönlichkeitsförderndes Potenzial erfüllt, d. h., wenn folgende Voraussetzungen gegeben sind:

Anforderungsvielfalt

Möglichkeiten zur sozialen Interaktion

Autonomie bzw. Handlungsspielräume

Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten

Sinnhaftigkeit

Glaser und Büssing147 gehen davon aus, dass diese Kriterien grundsätzlich auf die Pflege zutreffen, insbesondere dann, wenn sie ganzheitlich gedacht, organisiert und erbracht wird. Von ganzheitlicher Pflege kann dann gesprochen werden, wenn drei einander wechselseitig bedingende Merkmale erfüllt sind:

vollständige Pflegeaufgaben

hinreichende Personzentriertheit

Umsetzung des Pflegeprozesses

Die Autoren unterscheiden entlang der Gegensatzpaare Klienten- vs. Funktionszentriertheit (Pflegeprinzip) und Stations- vs. Patientenbezogenheit (Organisationsform).

Viele glauben, schon durch organisatorische Veränderungen im stationären Bereich (z. B. Aufteilung von Pflegestationen in kleine Wohneinheiten) dem ganzheitlichen Aspekt zu entsprechen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass ein zentrales Element der Bezugspflege die Pflege der Beziehung ist.148 Viele solcher Projekte, die das Pflegeprinzip und die entsprechende Organisationsform nicht genügend im Blick hatten, sind gescheitert. Ihre Ergebnisse sind wenig überzeugend.149

4.4 Effizienz und Effektivität der Systeme in der Umsetzung bei Senioren

Definition

Mit dem Begriff »Effizienz« ist das Verhältnis von Nutzen zum Aufwand beschrieben, mit »Effektivität« die Wirksamkeit einer Maßnahme oder eines Prozesses.

* Vgl. QM-Lexikon, www.wikipedia 2008

Auch im Zusammenhang mit der Notwendigkeit von Kostenreduzierungen werden die Pflegesysteme kritisch reflektiert. Es herrscht immer noch die Ansicht vor, dass zweckrationales und funktionales Arbeiten Zeit und Geld spart. Fritz Böhle, Michael Brater und Anna Maurus kommen dagegen im Rahmen ihrer explorativen Studie zum Ergebnis, »daß in der direkten [d. h. in der unmittelbaren; Anm. d. Verf.] Pflegeleistung nicht das zweckrationale, sondern ein Handeln, das als ›subjektivierendes‹ oder situatives Handeln bezeichnet werden kann, ökonomischer und erfolgreicher ist.«150

Die Autoren begründen ihre Ergebnisse wie folgt: »Zweckrationales [hier auch: funktionales; Anm. der Verfasserin] Handeln, das sich an Standardisierungen und Formalisierungen der Arbeitsabläufe im Sinne von größtmöglicher Rationalisierung orientiert, erhöht den Aufwand, da es in der direkten Begleitung und Pflege von alten Menschen zu ›Widerstand‹ führt, z. B., weil der Eigenwille und das Gesprächsbedürfnis der Person nicht aufgegriffen werden.

Zweckrationales [hier auch: funktionales; Anm. der Verfasserin] Handeln erhöht den Druck und die Belastung für die Pflegeperson, da eine Haltung des ›Durchziehen-Müssens‹ von Pflege entsteht, die den eigentlichen Anliegen der Berufsangehörigen nicht entspricht.

Zweckrationales [hier auch: funktionales; Anm. der Verfasserin] Handeln führt zu Zeit fressendem Entstehen von Störungen im Tagesablauf, zu eskalierenden Situationen und herausforderndem Verhalten, weil »ständig Ereignisse und Bedürfnisse übergangen werden müssen, die später dafür umso mehr Arbeit machen (etwa das wegen ›Unplanmäßigkeit‹ ignorierte Gesprächsbedürfnis, das sich später als laufendes Klingeln, als Unruhe bemerkbar macht). Nach eigenen Erfahrungen der Pflegenden ist das Argument, wegen der ›fehlenden Zeit‹ nicht auf die individuellen Bedürfnisse und Belange eingehen zu können […] falsch. Im Gegenteil, wenn man nicht auf die Bewohner eingeht, sich keine Gedanken macht, kostet es letztlich mehr Zeit und Energie.«151

Gerade ältere, multimorbide Menschen könnten sich nur eingeschränkt auf zeitnah vorgegebene Anforderungen einstellen, da sich ihr Anpassungs- und Kompensationspotenzial verringert, so die Autoren. Jede Anforderung, die das nicht berücksichtigt, führe zu einer Blockade der Selbstpflegekompetenzen der betroffenen Person und damit zu einer zeitlichen Verzögerung.

Die Ergebnisse geben Hinweise darauf, auf welche Weise nicht nur die Organisation, sondern auch das inhaltliche und prozesshafte Vorgehen in der ganzheitlichen lebensweltlichen Pflege sowohl effizient als auch effektiv sein kann:

effizient, weil das Verhältnis Aufwand zum Nutzen in einer spezifischen, personenbezogenen Dienstleistung dann auch optimal ist, wenn die Bedürfnisse der Nutzer und ihre Kompetenzen optimal in der Erbringung berücksichtigt sind.

effektiv, weil unter den gegebenen Rahmenbedingungen mit ganzheitlicher lebensweltorientierter Pflege und Begleitung – insbesondere unter Einbezug des Aspektes der Biografieorientierung – eine optimale Auswahl der Leistungen und Angebote getroffen werden kann, die den Interessen der hilfe- und unterstützungsbedürftigen Menschen entspricht. Somit können Über- und Unterversorgung, Ersatzaufwände, Nachbesserungen und Beschwerden vermieden werden.

4.5 Die Vielfalt der Moderne nutzen:
Das eigene Handlungsprinzip definieren

Nach allem, was wir wissen, ist es klar: Je schwächer die zu begleitende Person ist, umso stärker ist sie auf den ganzheitlichen Blick angewiesen. Und: Je herausfordernder der Alltag der Pflegenden, umso mehr profitieren sie von dem Bewusstsein, etwas Sinnvolles zu tun, dass ihnen Bezug zu den Bewohnern, Sicherheit, Überblick und Gestaltungsräume bietet – also ganzheitlich zu arbeiten.

Sie als Pflegemanagerin sollten nun einige Gedanken darauf verwenden, wie Sie den fachlich- ethischen Fokus setzen, welchen Akzent Sie in der Dienstleistungserbringung und im Wording (der Sprachgebung) in Ihre Einrichtung einbringen bzw. dort in der Praxis realisieren möchten. Sie haben die Wahl:

1. Die klassische Variante: Sie operieren mit dem Begriff »Ganzheitliche Pflege«

Bleiben Sie bei dem klassischen Begriff »ganzheitlich«? Das ist grundsätzlich richtig. Bitte denken Sie dabei daran, dass Sie die Missverständnisse, die sich über Jahre in diesen Begriff eingeschlichen haben, durch Bildung und Coaching aus der Welt räumen. Und achten Sie darauf, dass Sie der Gefahr des Alles-wissen-Wollens, des Alles-wissen-Müssens und Alles-für-die-Person-entscheiden-Könnens durch gute interdisziplinäre Teamarbeit, (ethische) Fallbesprechungen, Pflegevisiten und optimale Arbeit mit Angehörigen und Ehrenamtlichen entgegenzuwirken.

2. Die Variante: Sie wählen für die Zukunft den Begriff »Lebensweltorientierte Pflege«

Die Umsetzung lebensweltorientierter Pflege betont die gerontologisch-gerontopsychiatrischen Schwerpunkte der Arbeit (Autonomie, Vertrautheit, Partizipation) und bindet den Aspekt der Mitarbeiterzufriedenheit stark ein. Eine Fülle von Hinweisen und Anregungen zur Reflexion haben Sie in Kapitel 2 dazu kennengelernt.

3. Die Variante: Sie sprechen von »Personzentrierter Pflege«

Dieser Begriff wird seit dem Bekanntwerden des Kitwood-Konzeptes stärker benutzt. Er bezieht sich ausschließlich auf die Haltung gegenüber dem Klienten und ist der am wenigsten umfassende. Hier legen Sie sich organisatorisch und mitarbeiterbezogen am wenigsten fest.

4.6 Pflegeorganisationsformen

In der Pflegeorganisation gibt es vielfältige Formen und Möglichkeiten. Schauen Sie sich die folgenden Tabellen an.

 

Tabelle 3: Formen und Möglichkeiten in der Bereichspflege

Bereichspflege Gruppenzuordnung Pflege/Bewohner(innen)
Kennzeichen

Einteilung der Bewohner(innen) in Gruppen von 10–15 Personen und eine entsprechende Aufteilung des Personals. Bereichspflege kann im ganzheitlichen und im funktionalen Pflegesystem durchgeführt werden.

Bei der Durchführung auf Basis eines ganzheitlichen Pflegeverständnisses übernimmt das zuständige Pflegeteam sowohl die direkte als auch die indirekte Pflege der jeweiligen Bewohner.

Ist es nach Stellenplan nicht möglich, jedem Bereich kontinuierlich eine examinierte Pflegeperson (Fachpflegeperson nach SGB XI) zuzuordnen, werden gefahrengeneigte Tätigkeiten bzw. Fachkraftaufgaben in die Verantwortung (Anleitung, Durchführung und Kontrolle) einer Fachpflegeperson eines anderen Bereiches übergeben. Dieses Vorgehen muss schriftlich in einem Konzept fixiert sein und es muss nachvollziehbar sein, wann es zu dieser Verantwortungsübernahme gekommen ist (Dienstplan, ggf. auch Kurzbericht – je nach Vorgabe des Qualitätsmanagements).

Einschätzung Bereichspflege wird in vielen Einrichtungen schon erfolgreich durchgeführt.
Beachten Achten Sie konsequent auf die Umstellung der Organisation, da in der ersten Zeit ein Rückfall in die funktionale Pflege möglich ist.

 

Tabelle 4: Formen und Möglichkeiten beim Primary Nursing

Primary Nursing Gesteigerte persönliche Zuordnung in der Steuerung
Kennzeichen

Entwicklerin: Marie Manthey in den 60er-Jahren, klinischer Bereich, in den USA. Renate Tewes (2008:55): Kombination des ganzheitlichen Pflegeprinzips mit personzentrierter Organisationsform. Verantwortung für das Treffen von Entscheidungen inkl. Pflegeprozessplanung persönlich auf eine Fachkraft übertragen (die Primary Nurse), tägliche Arbeitszuweisung erfolgt nach der Fallmethode, direkte Kommunikation aller am individuellen Pflegeprozess beteiligten Berufsgruppen; Verantwortung für Qualität der Pflege- und Begleitungsleistung durch die Pflegefachkraft gesichert (vgl. Deutsches Netzwerk für Primary Nursing 2008: 4).

Der hilfe- und pflegebedürftigen Person und ihren Angehörigen ist »ihre« Primary Nurse bekannt und Zuordnung ist erkennbar. Zuordnung ist für alle befugten und beteiligten Personen erkennbar. Jeder Primary Nurse sind Pflegefachkräfte, Assistent(innen) sowie ggf. Auszubildende beigeordnet, die ebenfalls über ein genau definiertes Tätigkeitsfeld verfügen. Reflexionsgespräche und Controlling durch Bereichsleitung, um definierte Qualität abzusichern (Pflegevisiten, Fallbesprechungen, Pflegebegleitungen und fachliche Supervisionen. Die Primary Nurse führt mit möglichst hoher Kontinuität in ihrem Zuständigkeitsbereich auch die direkte Pflege durch.

Einschätzung Die Umsetzung des Primary Nursing führt zu einer Stärkung der Pflegenden (vgl. Tewes 2008:55).Entscheidungsstärke und der Verantwortungsübernahme steigen.
Beachten 4 Gütekriterien des Primary Nursing:

1. Dezentrale Verantwortung (care giver as care planner)

Die Entscheidung über die pflegerische Versorgung wird von der Primary Nurse getroffen, sie erstellt die Pflegeprozessplanung. Die Führungskräfte stellen die erforderlichen Rahmenbedingungen bereit (Organisation und Wissen). Der Zuwachs an Autonomie führt – so Tewes – zu erhöhter Berufszufriedenheit ebenso der wachsende Handlungsspielraum und die damit verbundene Freiheit, die eigene Tätigkeit selbst zu kontrollieren. Sie definiert diesen Autonomiezuwachs als »Antistressor«, denn »oft ist es nicht die viele Arbeit, die müde macht, sondern die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer. Diese so genannte Selbstwirksamkeit beeinflusst positiv die eigene (psychische) Gesundheit (Kupper et al. 2008). Schließlich ist Selbstkontrolle das Gegenteil von Machtlosigkeit« (Tewes 2008:56).

2. Kontinuität

Kontinuität der pflegerisch-begleitenden Beziehung der Bewohner und ihrer Angehörigen in Planung und Alltag ist eine wesentliche Voraussetzung für lebensweltliche und gute Pflege, wie Leibold sie unter den Aspekten personenbezogener Dienstleistung, Stärkung der Autonomie in sozialen Beziehungen und der wechselseitigen Anerkennung in der Pflegebeziehung beschreibt (vgl. Leibold 2005:273 ff.). Diese Pflege verwirklicht in professioneller Weise persönliche Anteilnahme, Mitgefühl und Empathie im Sinne von »Fürsorglichkeit« (care). Care ist auf die Situation und ihren Kontext bezogene Achtsamkeit, die als Einsicht in die Angewiesenheit der Menschen auf ihr »Aufeinander-bezogen-Sein« entstanden ist (vgl. Leibold 2005: 301). Bei Menschen mit Demenz ermöglicht die Kontinuität der Beziehung oftmals erst die Durchführung von Pflege (Schäufele, Köhler & Weyerer 2008:17). Kontinuität »vermindert Versorgungsabbrüche, Doppelungen in den Arbeitsabläufen und erhöht damit eine effektive und auf den Patienten abgestimmte Versorgung sowie Pflegequalität« (Tewes 2008:56).

3. Gesteigerte kommunikative Kompetenz

Die Primary Nurse führt die Fäden der Kommunikation zusammen. Je mehr Personen an der Pflege beteiligt sind, desto größer ist die Gefahr des »Datenverlustes«. Dies betrifft insbesondere sowohl das Gelingen einer fördernden Kommunikation im Face-to-Face-Kontakt mit der betroffenen Person, bei der z. B. die entscheidenden Weichen in Richtung Unselbstständigkeit oder Selbstständigkeit gestellt werden (vgl. Wahl 1989:18), als auch die Kommunikation mit Professionellen, Freiwilligen und Angehörigen.

4. Zuwachs an Verantwortung und Selbstbewusstsein

Die Übernahme der Verantwortung für eine Person im gesamten Versorgungszeitraum unterscheidet sich grundsätzlich von der während einer Schicht oder als Mitglied eines Teams, wo es leicht zur Verantwortungsdiffusion kommen kann. Die kollektive Verantwortung ist nach Tewes (2002) nicht gewinnbringend.

 

Tabelle 5: Formen und Möglichkeiten bei der Bezugspflege

Bezugspflege Höchstmögliche personale Kontinuität
Kennzeichen Im deutschen Sprachraum hat sich – speziell in der Altenpflege – die Bezeichnung »Bezugspflege« für die verantwortliche Zuordnung von pflege- und hilfebedürftige Menschen zu Pflege(fach)kräften etabliert. In der Praxis ist diese Begrifflichkeit nicht eindeutig definiert. Die Gütekriterien des Primary Nursing gelten auch für die Bezugspflege, weil hier über eine persönliche Zuordnung von Pflegefachkräften und Assistenten zu Bewohner(inne)n ein noch größerer Wert auf die Beziehungskontinuität gelegt wird (die tagesgenaue Zuordnung der Pflegepersonen entfällt). Die Pflegefachperson steuert den Prozess und eine fest zugeordnetes überschaubares Kleinteam von Assistenten ist kontinuierlich verantwortlich für die Realisierung des Pflegeplans und den Aufbau einer förderlichen Beziehung. Da niemand eine 24-Stunden-Verantwortung übernehmen kann, wird die Bezugsperson in Abwesenheit von einer anderen Pflegeperson vertreten. Auch bei den Vertretungen ist auf Kontinuität der Personen zu achten.
Einschätzung Sie stellt die idealtypische Form des ganzheitlichen Pflegesystems in der Praxis dar, wenn die Bezugspersonen fest zugeordnet sind und der Dienstplan entsprechend aufgebaut wird.
Beachten Die Organisationsstrukturen sowie die Aufgaben der Bezugspflegepersonen und der anderen Pflegepersonen müssen klar beschrieben sein.
Hilfsmittel/Bedingungen Alle Pflegepersonen sollten mit der Organisationsform Bezugspflege vertraut gemacht werden. Aufgabenkataloge und Organisationsplantafel zur besseren Überschaubarkeit sind notwendig (vgl. Kämmer 2008:120). Dass Bezugspflege die dem Primary Nursing zugeschriebenen Wirkungen zeigt, bestätigt Josefine Heusinger (2008:20) in ihrem Bericht über die Ergebnisse von MuG IV.

4.7 Den geeigneten Weg für die eigene Praxis finden

Gerade wenn Sie als Leitung neu in eine Einrichtung kommen, ist es wichtig, einen geeigneten Entwicklungsweg einzuschlagen, dem möglichst viele Mitarbeitende folgen können.

Oftmals treffen Sie auf Teams, die wenig oder keine Erfahrung damit haben, sich mit ihrer Haltung zu den Bewohnern und ihrer Aufgabenerledigung auseinanderzusetzen. Oder Sie haben mit sehr reflektierte Teams, die sich selbst mit ihrem hohen Anspruch unter Druck setzen, zu tun. Seltener lernen Sie Teams kennen, die das Gefühl haben, eine gute Arbeit zu machen, mit der zur Verfügung stehenden Zeit auszukommen und ein hohes Maß an Zufriedenheit bei den Bewohnern zu erzielen. Eins ist klar: Überwiegend lernen Sie Mitarbeiter kennen, die zutiefst davon überzeugt sind, dass ihre Art der Organisation genau die einzig mögliche ist, um »durch den Tag zu kommen«. Und noch etwas ist leider nicht selten: Mitarbeitende, die blockieren und einfach Angst haben: Angst vor Veränderung, Angst davor, angegriffen zu werden, Angst davor, dass alles, was sie bisher gemacht haben, falsch war. Denken Sie daran: Veränderungen in den gewohnten Abläufen und Routinen sind Operationen am offenen Herzen der Pflege! Nichts muss so achtsam und mit Fingerspitzengefühl angegangen werden wie dieser Prozess.

Wenn Sie also Veränderungen einleiten wollen, z. B. in Richtung von mehr Personenzentrierung/Lebenswelt, brauchen Sie gute, lösungsorientierte Argumente, die die Interessen, Ziele und Wünsche der Mitarbeitenden aufgreifen (vgl. Kapitel 7.4) und eine klare Strategie (vgl. Kapitel 12.3).

Vorher und immer wieder begleitend empfiehlt es sich, einige Tage und Schichten in der Praxis geplant teilzunehmen (zu hospitieren) und ergänzend auch stundenweise spontan mitzuarbeiten, um ein Gespür für den Geist und den Entwicklungsgrad von Teams und Mitarbeitenden zu erhalten.

Dieses Mitlaufen ist deshalb so wichtig, weil es Ihnen die Möglichkeit gibt, direkte praxisbegleitende Beobachtungen zu machen, ohne direkt korrigierend einzugreifen.

4.8 Die passende Organisationsform umsetzen

Es gibt ihn nicht, den Königsweg in die bewohnerzentrierte, effektive und stimmige Ablauforganisation, die überall passt und gelingt. Je nach Entwicklungsstand Ihrer Teams entscheiden Sie sich für den kleinsten und für alle beteiligten Verantwortlichen realisierbaren Schritt nach vorne.

4.8.1 Basics: Bereichspflege einführen

Die Unterteilung von Wohnbereichen in überschaubare Gruppen oder Wohnbereiche ist für viele der erste Schritt weg von der Funktionspflege hin zum Normalitätsprinzip der Lebenswelt. In der heutigen Altenpflege ist dieser Schritt oft mit der Umsetzung des Wohngruppenkonzeptes mit entsprechenden Wohnküchen als Lebensmittelpunkt kombiniert.

Wichtig ist, dass Sie von Anfang an Wert auf vier Aspekte in der Aufteilung legen:

1. Obwohl die Rechenbasis für die Wohnküchenstruktur die Anzahl der Bewohner ist, (z. B. 12 bis 18 Personen) sind Sie als Pflegemanagerin gehalten, die Personalverteilung und den Personaleinsatz nach den Pflegestufen zu konzipieren.

2. Der Qualitätsunterschied liegt in der personzentrierten Zuordnung und in der Kontinuität der Pflegebeziehung, das heißt, jeder Bewohner und jede Bewohnerin verfügt über eine persönliche Bezugsperson, die sich für ihn/sie verantwortlich fühlt, vor allem sich für sein/ihr Wohlbefinden und Interessen einsetzt. Je nach Pflegebedürftigkeit kann das eine Alltagsbegleiterin, eine Pflegeassistentin oder eine Pflegefachperson sein. Der Austausch über die relevanten Aspekte für Wohlbefinden und Interessenwahrnehmung erfolgt in Dienst- und Fallbesprechungen.

3. Die Arbeitsverteilung im Pflegeteam ist gerecht, das heißt: Sie berücksichtigt den Pflegeaufwand und den Zeitbedarf der zu versorgenden pflegebedürftigen Personen sowie die fachliche Schwerpunktsetzung gemäß Verantwortungsbereich.

4. Die Pflegefachperson begleitet, reflektiert, koordiniert und unterstützt die Assistenten. Hierzu erhält sie angemessene Zeitkorridore.

4.8.2 Primary Nursing realisieren

Zur Einführung von Primary Nursing gibt es mittlerweile standardisierte Verfahren in Qualifizierung und Strukturaufbau. Sie erhalten hierzu Informationen über das Netzwerk Primary Nursing152 des DBfK. Um sich einen praktischen Eindruck vom Aufbau von Primary Nursing zu verschaffen, empfehlen wir Ihnen, sich mit Volker Klug, Verwaltungsdirektor der Vereinten Martin Luther und Althanauer Hospital Stiftung Hanau in Verbindung zu setzen: volker.klug@mls-hanau.de

4.8.3 Bezugspflege als Grundmodell wählen

Mit dem Festlegen auf Bezugspersonenpflege werden überschaubare, bewohnerorientierte Bezugsteams aufgebaut, in denen Fachpflegepersonen und Pflegeassistent(inn)en die konstanten Bezugspersonen für Bewohner und Angehörige bilden.

 

image

Abb. 7: Bezugspflege.

4.8.3.1 Mit 10 Schritten zur Bezugspflege
1. Ermittlung von Pflegepunkten

Zur systematischen und strukturierten Bildung von Bezugsteams werden Pflegepunkte erarbeitet. Pflegepunkte beschreiben den Hilfebedarf der Bewohner(innen) in Relation zur Pflegestufe. Ermitteln Sie für den gesamten Wohnbereich die Pflegepunkte. Dafür wird die Pflegestufe eines Bewohners/einer Bewohnerin mit dem tatsächlichen Pflege- und Betreuungsaufwand verglichen und bewertet.

Beispiel

2. Ergänzung: Berechnung der Arbeitspunkte

Arbeitspunkte sind Zeiteinheiten von 15 Minuten. Ein Mitarbeiter mit 6 Stunden Arbeitszeit verfügt über 24 Arbeitspunkte. Arbeitspunkte sind unterschiedlich zu füllen:

Fachkräfte im Zeitverhältnis: 50 bis 55 Prozent pflegefachliche Aufgaben (Spezielle Pflege, Behandlungspflege, Fachaufsicht, ggf. Schichtleitung, Pflegeplanung und Dokumentation, Pflegevisiten, Arztkontakte), 20 bis 30 Prozent direkte Pflege (Unterstützung in den Lebensaktivitäten), 10 bis 15 Prozent psychosoziale Begleitung, Betreuung und Anleitung und ca. 5 bis 10 Prozent hauswirtschaftliche Tätigkeiten

Pflegeassistenten im Zeitverhältnis: 60 Prozent direkte pflegerische Unterstützung, 20 Prozent Hauswirtschaft, 10 bis 15 Prozent Begleitung und Kontaktpflege, Betreuung und 10 Prozent Koordination und Dokumentation.

Alltagsbegleiter im Zeitverhältnis: 60 Prozent personzentrierte Begleitung (Normalitätsprinzip), soziale Betreuung im Alltag, Tagesstrukturierung und Sinnesanregung, 20 Prozent allgemeine Unterstützungsleistungen und 20 Prozent bewohnerbezogene hauswirtschaftliche Assistenz.

Stellen Sie sich die Arbeitspunkte wie bunte Münzen vor und verteilen Sie die Aufgaben mit dem Team nach den o. g. Schwerpunkten und dem in der Ablaufanalyse ermittelten zeitlichen Bedarf der Bewohner. So erhalten Sie eine gerechte und kompetenzorientierte Verteilung, bei der niemand sich ungerecht behandelt fühlen muss.

3. Festlegen der Steuerungsverantwortung

Die Anzahl der Bewohner wird durch die vorhandenen Stellen der Fachkräfte geteilt. Dies ergibt die Verantwortlichkeit der Fachpflegepersonen für die Prozesssteuerung der Bewohner. Auch hier muss der reale Pflegebedarf (Pflegepunkte) mit einfließen, denn es macht einen Unterschied, ob ich die planerische Verantwortung für eine Anzahl aufwendiger oder weniger aufwendiger Bewohner habe. Die Zuordnung der Verantwortlichkeit für den Pflegeprozess zu den einzelnen Fachkräften orientiert sich am Stellenumfang und am Kompetenzprofil. Dabei gilt, dass Pflegefachkräfte mit Planungsverantwortung entsprechende Zeitkorridore in den Arbeitspunkten erhalten (Berechnung pro Woche).

4. Festlegen der Anzahl der Mitarbeiter der Bezugsteams

Die Anzahl der Bezugsteams ergibt sich aus der Anzahl der Mitarbeitenden im Spätdienst.

5. Festlegen der Pflegepunkte pro Bezugspflegeteam in der Alltagsverantwortung

Die Größe der Bezugspflegeteams richtet sich nach dem pflegerischen Aufwand (Punkte). Die Größe kann sich im Laufe der Zeit immer mal wieder etwas verändern. Hier sind praktikable Lösungen unter Berücksichtigung der Bewohnerbedürfnisse zu finden.

6. Prinzip: Gleiche Belastung für alle

Die Teams sollen eine gleiche Arbeitsbelastung und ähnliche Laufstrecken haben. Die Tagesabläufe der Bewohner sollen in sinnvoller Weise Berücksichtigung erfahren.

Fachpflegeperson und Pflegeassistent(in) sind so auf die Teams verteilt, dass sie sich in ihren Stärken ergänzen (vgl. Kapitel 9.4).

7. Personaleinsatzplanung

Bezugsteams werden im Dienstplan kenntlich gemacht und entsprechend geplant. Jedes Bezugsteam deckt für die von ihm verantworteten Bewohner(innen) den Früh- und Spätdienst ab. Auch der Wochenenddienst berücksichtigt, dass aus jedem Bezugsteam möglichst jeweils eine Person anwesend sein sollte. Eine Kontinuität von 75 Prozent wird angestrebt. Berücksichtigen Sie auch bei der Urlaubsplanung die Zugehörigkeit zu einem Bezugsteam.

8. Steuerung des Pflegeprozesses

Die Bezugsteams übernehmen einerseits die Verantwortung, die Begleitung und Pflege für eine bestimmte Anzahl von Bewohnern, andererseits versorgen sie bei Bedarf auch Bewohner anderer Bezugsteams. Dies setzt Kontinuität und gleichzeitig Flexibilität voraus. Eine starre Trennung wird damit vermieden. Zum Beispiel können bestimmte Zimmer festgelegt werden, die – je nach Besetzung – von unterschiedlichen Mitarbeitenden betreut werden. Oder es werden Bewohner, die gerne mal »ein anderes Gesicht« sehen, auch von Mitarbeitenden anderer Bezugsteams begleitet. Die Alltagsgestaltung erfolgt durch die Fachkraft und den/die Pflegehelfer(in). Hierzu gehören die direkte Pflege, die Mahlzeitengestaltung und tagesstrukturierende Maßnahmen.

9. Zeitkorridore planen

Die benötigten Zeitkorridore für die Pflegefachpersonen werden pro Woche/Monat berechnet, mit der Pflegedienstleitung abgestimmt und in der Einsatzplanung berücksichtigt.

10. Systematische Bearbeitung risikogeneigter Pflegesituationen und Phänomene

Jeder Mitarbeitende ist sensibel für das Erkennen von Risikosituationen und kritischer Phänomene in der Pflege. Die Fachkräfte tragen hierfür die Verantwortung, auch für die Einleitung, Umsetzung und Überwachung der geeigneten fachlichen Maßnahmen. Die Assistenten unterstützen durch Beobachtung und Übernahme von Leistungen im Rahmen des Delegationsschemas.

Die prozessverantwortlichen Fachpflegepersonen erfassen die Risikopotenziale bei allen Bewohnern der Bereiche im Rahmen des Pflegecontrollings (hier: Fachaufsicht).

Mit gezielten Unterstützungsmaßnahmen aus der Fachaufsicht, z. B. mit Pflegevisiten und Fallbesprechungen, wird strategisch und unterstützend durch das Pflegemanagement gehandelt.

4.9 Die Zukunft hat begonnen: Beziehungsbasierte Pflege
und potenzialorientierte Organisation

In kurzer Zeit hat der wachsende Fachpersonalmangel die Altenhilfe in das »postganzheitliche Zeitalter« katapultiert. Im klassischen Sinne bedeutet ganzheitliche Pflege:

Orientierung der Leistungserbringung an den Bedürfnissen der einzelnen hilfebedürftigen Person

geringe Zergliederung der Leistungen

Steuerung des Pflegeprozesses und weitgehende Durchführung durch eine kontinuierlich persönlich zuständige Pflegefachperson (Bezugspflegefachkraft)

Angebot in Pflege und Begleitung wird durch die Bezugspflegefachkraft eigenverantwortlich evaluiert

Die Pflegefachperson steht als Bezugspflegeperson mit hoher Verantwortung und persönlicher Zuständigkeit im Mittelpunkt. Aus dieser Philosophie hat sich gerade in der deutschen Altenpflege ein »Alles-aus-einer-Hand«-Anspruch entwickelt, der viele Fachkräfte überfordert. Die Pflegeassistenten rutschten ungewollt in die Rolle der rein ausführenden Umsetzer im Bereich direkter Pflege und Hauswirtschaft.

Der strukturelle Wandel zwingt zum Überdenken dieses Ansatzes. Es geht darum, praktikable Steuerungskonzepte zu entwickeln. Dabei soll die größtmögliche Kontinuität in der Beziehung zum Bewohner bewahrt werden.

4.9.1 Beziehungsbasierte Pflege

Mit dem im Jahr 2011 von Mary Koloroutis veröffentlichten Modell der »Beziehungsbasierten Pflege« (RBC = Relationship Based Care) liegt eine intelligente Kombinationsmöglichkeit von Anforderungen, Ressourcen und Rahmenbedingungen vor, die eine Differenzierung des personorientierten Pflegesystems in sinnvoller arbeitsteiliger Kooperation zwischen Pflegefachpersonen und Assistenten darstellt. Die Aufgabenverteilung erfolgt kompetenzorientiert und setzt bei den Potenzialen und Stärken der handelnden Personen an.

Während Primary Nursing (PN) sich nur auf die Pflege bezieht, ist RBC eine Organisationsform, die den gesamten Dienstleistungsprozess einer Einrichtung einbezieht. Alle Prozesse sämtlicher Bereiche werden aus der Perspektive der hilfebedürftigen Person betrachtet und entsprechend neu gedacht. RBC erfordert ein Umdenken aller, damit sind auch der Soziale Dienst, Küche und Hauswirtschaft Teil des Modells. Das schafft Synergieeffekte und Entlastung.

Beziehungsbasierte Pflege misst der Gestaltung der Beziehung und dem Einlassen auf die Lebenswelt der individuellen Person und ihrer Umwelt/Mitwelt einen hohen Wert bei.

Definition

Autor

  • Karla Kämmer (Herausgeber:in)

Karla Kämmer ist Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Diplom-Organisationsberaterin, Erwachsenenbildnerin, Lösungsorientierter Coach, Gesundheits- und Krankenpflegerin und Altenpflegerin. Sie ist seit vielen Jahren aktiv im nationalen und internationalen Gesundheits-, Sozial- und Pflegewesen. Zu ihren Schwerpunkten gehört auch das Veränderungsmanagement in Einrichtungen.
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Titel: Pflegemanagement in Altenpflegeeinrichtungen