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Die neue Pflegedokumentation

Das Management-Handbuch für den optimalen Umstieg. Herausforderungen meistern, kompetent führen

von Karla Kämmer (Herausgeber:in)
192 Seiten

Zusammenfassung

xx

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Dieses Buch soll Ihnen die Freude am Pflegeprozess und seiner Dokumentation wieder zurückbringen. Denn die neue Pflegedokumentation bringt Vorteile für alle: Für den Klienten »steht mehr Zeit zur Verfügung, die Mitarbeiter werden entlastet und die Einrichtung baut Bürokratie ab. Eine Win-Win-Win-Situation. Es sieht so aus, als stehe der Altenpflege wirklich eine Erfolgsstory ins Haus. Seien Sie ein Teil davon!«1

Entdecken Sie den Prozess und seine Planung ganz praktisch wieder neu und als (wieder) brauchbares Arbeitsmittel und Ausdruck Ihrer Profession.

Das Buch liefert Ihnen eine umfassende Darstellung der entbürokratisierten Pflegedokumentation, die neben der Struktur und dem Prozedere relevante Zusammenhänge und Konsequenzen deutlich macht, ja sogar Alternativen aufzeigt.

Sie werden viele Anregungen zur Entwicklung von Potenzialen und Kompetenzen auch in anstrengenden Situationen des Führungsalltags entdecken sowie Ideen, die Ihnen den Alltag etwas leichter und stimmiger machen.

Der Pflegeprozess und seine Dokumentation in der neuen Form sind – professionell angewendet – nicht Ballast, sondern im Kontext des Pflegemanagements eine gute Ausgangsbasis für Ihr Organisations- und Führungshandeln: schlank, logisch, wirksam und transparent. Ein fein gearbeitetes Werkzeug, um Lebensqualität, Zufriedenheit, Sicherheit und auch Glück (!) in den Alltag der Menschen zu tragen – ob sie der Pflege bedürfen oder Pflege leisten und verantworten.

»Hauptanliegen der professionellen Pflege ist es, Menschen zu helfen, ihren individuellen Alltag (wieder) zu bewältigen: sich zu bewegen, Körper und Seele zu pflegen, sich zu ernähren, mit Schmerzen und anderen Beeinträchtigungen umzugehen, sich zu freuen, zu beschäftigen. Therapien einzuhalten, Sinn zu finden, mit anderen Menschen zu kommunizieren.««2

Der absolute Vorrang der Klientenorientierung und der Sinnhaftigkeit im neuen Pflegeprozess ermöglicht es ihnen nun, wieder Frieden zu schließen mit ihrer Profession und stolz auf ihren Beruf zu sein.

Wir als Autoren freuen uns, wenn wir mit diesem Buch dazu beitragen, dass Sie wieder mit Lust an die Arbeit gehen und mit Freude und Erfolg den Pflegeprozess in seiner modernen Form umsetzen.

Essen, im September 2016Karla Kämmer

 

 

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1 Nolte, K. (2015): Sie sind am Zug. In: Altenpflege. Vorsprung durch Wissen. Dossier 04. Dokumentation: Das neue Strukturmodell: Wie es funktioniert und wie Sie es richtig umsetzen. S. 2. https://www.altenpflege-online.net/silver.econtent/catalog/vincentz/altenpflege/buecher_und_ebooks/themendossiers/altenpflege_dossier_04_dokumentation

2 Zegelin, A. (2015): Alltag leben trotz Krankheit – pflegerische Unterstützung umfasst Informationen,Beraten und Schulen. In: Tanja Segmüller (Hg.): Beraten, Informieren und Schulen in der Pflege. Ein Rückblick auf 20 Jahre Entwicklung. Frankfurt: Mabuse Verlag, S. 15

1 DIE PROFESSIONELLEN WURZELN
DES PFLEGEPROZESSES UND SEINER
DOKUMENTATION

Karla Kämmer & Reinhard Lay

»Pflege ist eine einzigartige Mischung von Kunst und Wissenschaft, angewandt im Kontext zwischen menschlichen Beziehungen, um Wohlbefinden zu fördern, Krankheit zu verhindern und Gesundheit beim Individuum, in Familien und in Gemeinden wiederherzustellen.«3

Pflege ist nicht darauf beschränkt, Probleme zu lösen. Sie beinhaltet auch die Gesundheitsförderung. Pflege integriert subjektive Sichtweisen betroffener Menschen und objektive Daten. Pflege wendet wissenschaftliche Erkenntnisse auf Diagnose- und Behandlungsprozesse an. Pflege bietet eine fürsorgliche professionelle Beziehung, die Gesundheit und Heilung fördert.4

Der Pflegeprozess liefert einen Rahmen, in dem Pflegende diese Kombination anwenden. Er ist eine spezielle Form des Denkens und Handelns. Ein systematischer Problemlösungsprozess wird durchgeführt.

Gerade während wir weiter ins Informationszeitalter fortschreiten, in dem es immer mehr um wissenschaftlich abgesicherte (evidenzbasierte) Pflege und die Anwendung neuer Technologien geht, gibt es viele gute Gründe, neben der eigenen professionellen Planungslogik (Gestaltung des Pflegeprozesses) die professionelle Empfindungsfähigkeit und Empathie weiterzuentwickeln. Die auf Expertise und reflektierter Erfahrung gründenden Denkprozesse werden wichtiger denn je:

Mit dem demografischen Wandel wird die gesellschaftliche Verantwortung der professionell Pflegenden für die Gesundheit der Bevölkerung weiter stark zunehmen. Diese Verantwortung verpflichtet ethisch zu einem planvollen und transparenten Handeln.

Es werden sich die wirtschaftlichen Ressourcen im Gesundheits- und Sozialwesen nicht wesentlich verbessern: Effektives und effizientes Handeln sichert das Wohlergehen aller und beugt Risiken und Schäden vor.

Last but not least: Pflege soll Freude machen – nicht nur denen, die ihre Leistungen nutzen, und denen, die diese Kultur tragen und finanzieren, sondern auch uns, die wir Pflege erbringen. Handeln aus eigener Wissensbasis heraus, mit selbstbestimmten Prozessen und Abläufen macht zufrieden und ist durch kein noch so gutes PC-Programm zu ersetzen.5

1.1 Grundsätzliche Überlegungen

Der Pflegeprozess gliedert sich in eine Abfolge von Schritten; die Anzahl der Schritte ist unterschiedlich. Es gibt Modelle mit vier, fünf und sechs Schritten. Die Schritte verlaufen eher dynamisch und zyklisch als linear. Den Pflegeprozess als Geschehen zu erlernen und mit ihm fachlich umzugehen ist für die Entwicklung der professionellen Pflege zentral. Es ist das erste Instrument, das ein Lernender benötigt, um »wie eine Pflegeperson zu denken«6. Mit dem Pflegeprozess zu arbeiten hat viele Vorteile. Er

stützt die Ausbildung einer eigenen, professionellen Logik;

fördert das gemeinschaftliche Arbeiten, indem er eine verbindende Basis schafft;

verbessert die Kommunikation;

macht Pflegehandeln nachvollziehbar;

unterstützt die Teilnahme der Betroffenen am Gesundheitsprozess;

ermöglicht individualisierte Pflege;

fördert Kontinuität und Koordination;

kann die Arbeitszufriedenheit wirksam stärken.

Pflegeplanung ist ein Steuerungsinstrument in diesem Prozess – und seit ihrer offiziellen Einführung in Deutschland (Krankenpflegegesetz von 1985) ein nicht enden wollendes Reizthema zwischen Pflegepraktikern und Pflegewissenschaft.

Eigentlich ist der Sinn des Pflegeprozesses auch bei Praktikern unumstritten. Im Theorie-Praxis-Konflikt geht es primär um Fragen der Theorieanbindung von Prozess und Dokumentation (Zentrale Frage: Braucht es sie? Und: Ist ein gemeinsames Pflegemodell für eine Einrichtung sinnvoll, benötigt man mehrere Pflegemodelle je nach Klientenbedarf/Pflegesituation – oder kein spezifisches Pflegemodell?

Im Weiteren geht es um den Umfang des notwendigen Nachweises pflegerelevanter Entscheidungen: Bringen schriftlich formulierte (Nah-)Ziele eine Qualitätsverbesserung? Muss aus Absicherungsgründen schriftlich durch das Ausfüllen eines Assessmentformulars festgehalten werden, warum eine Person nicht dekubitus-, sturz-, inkontinenzgefährdet ist? Letztlich geht es um den notwendigen Umfang der Schriftlichkeit überhaupt.

Überdies sind durch eine zum Teil fehlgeleitete externe Prüfpraxis und den überangepassten Umgang unserer Berufsgruppe damit die Aufwände so ins Kraut geschossen, dass sich die Frage nach der Angemessenheit, der ethischen Vertretbarkeit der Dokumentation und des Umfangs der Belastung für die Pflegenden stellt.

Zurück zu den Wurzeln …

Die Wirksamkeit des Pflegeprozesses hängt von den Anwendern ab. Folgende grundlegende Fähigkeiten sind nach Wilkinson7 erforderlich:

Intellektuelle Fähigkeiten (systematisches Denken, Entscheidungsfindung als Auswahl bestmöglicher Handlungsweise inklusive reiflicher Überlegung und Entschlusskraft) sowie kritisches Denken

Emotionale Intelligenz im Sinne von hermeneutischem Sinnverstehen, Erkennen von Gefühlszuständen, Empathie

Kreativität und Forscherdrang (Vorstellungsvermögen, ein kritischer Blick für das Auffinden neuer und besserer Wege, um Dinge zu tun. Die Sinnfrage lautet stets: Wozu tun wir dies und wozu auf diese Weise?)

Zwischenmenschliche Fähigkeiten (verbale/nonverbale Kommunikation, Wissen um menschliches Verhalten, wichtig für Vertrauensaufbau)

Kulturelle Kompetenz: Respekt vor kulturellen Verhaltensweisen anderer und deren Würdigung

Psychomotorische Fähigkeiten (Geschicklichkeit, Sicherheit und Achtsamkeit im praktischen Tun)

Technische Fähigkeiten (Auswerten von Assessments, Umgang mit EDV, Internet)

Ethische Werte

Sprache in Wort und Schrift

1.1.1 Pflegeprozess, kritisches Denken und emotionale Intelligenz

Viele Situationen bei der Ausübung unseres Berufes sind gekennzeichnet durch Komplexität, Wandelbarkeit, Ungewissheit, Einzigartigkeit und das Vorliegen von Wertekonflikten.

Beispiel:

Wie geht man mit dem Verhalten von Herrn Meier, einem 89-jährigen Herrn, um, der mitten in der Nacht darauf besteht, zur Genossenschaft zu fahren, um Dünger zu holen? Schon das Erkennen der Situation und das Erfassen der Ursachen sind schwierig:

Hat Herr Meier gestern zu wenig getrunken, neue Medikamente bekommen, hat ein Traum seine Erinnerung an früher aktiviert?

Handelt es sich um eine erstmalige Desorientierung oder ist er chronisch betroffen, etwa aufgrund einer Demenz?

Was ist zu tun?

Hilft validierende Gesprächsführung, mit welchen hilfreichen Begriffen, beruhigenden Schlüsselreizen, wie genau? Ihn auf andere Gedanken bringen, einen Kaffee anbieten oder besser Trinkbrühe? Es scheint leicht zu gehen, weil er sich erst einmal aus dem Flurbereich ins Wohnzimmer führen lässt, aber dort baut er sich vor dem Ausgang auf und beginnt ärgerlich zu gestikulieren.

In dieser Situation zeigt sich, was die Nachtdienstmitarbeiterin »drauf« hat: Ist sie in der Lage, all diese Fragen so zu beantworten, dass sie eine reflektierte Haltung einnimmt, die Situation richtig erfasst und eine angemessene Reaktion zeigt, eine passende Strategie anwendet, den Bewohner beruhigt und zufriedenstellt sowie die Mitbewohner und sich selbst vor Schaden schützt?

In unserem Beispiel beherrscht die Mitarbeiterin ihren Beruf und handelt professionell: Sie geht lächelnd zur Seite, tritt ihm aus dem Weg, bestätigt, dass es genau der richtige Zeitpunkt im Jahr ist, um den Garten zu düngen und schlägt vor, das weitere Vorgehen bei einer Tasse Kaffee zu besprechen. Sie hakt sich bei Herrn Meier ein, er führt sie zur Wohnküche, nimmt am kleinen Tisch im Sessel Platz, findet dort sein Gartenmagazin vor, beginnt zu blättern und als sie mit dem Kaffee kommt, ist er schon friedlich eingenickt.

Dieses Beispiel einer reflektierenden Pflegekraft macht deutlich, dass Pflege geschulte Wahrnehmung und Emotion sowie Denken, Fühlen und Handeln bedeutet.8 Lernen, eine Pflegekraft zu sein, erfordert mehr als das bloße Verinnerlichen von Fakten. Pflegende bedienen sich gespeicherter Informationen zusammen mit neuen, ihrer Intuition und ihrer Erfahrung, um Entscheidungen zu treffen, neue Ideen hervorzubringen und Probleme zu lösen.

Weit entwickelte, kompetente Pflegende sind in hohem Maße fähig, Situationen zu deuten, sich selbst und ihr Verhalten zu reflektieren und vorausschauend an die Situation anzupassen, ja sogar aktiv moralisch zu handeln.9

Eine zentrale Voraussetzung, um Pflegewissen in die Praxis umzusetzen, ist kritisches Denken, eine zielgerichtete Aktivität, bei der Ideen produziert und evaluiert und bei der Urteile gefällt werden. Wilkinson10 beschreibt Pflege als eine angewandte Disziplin. In jeder neuen Situation bringt sie Basiswissen zur Anwendung. Im Gegensatz zu anderen Disziplinen, z. B. der Mathematik, wo ein Gesetz zum Tragen kommt und ggf. eine Formel angewendet und damit die Fragestellung gelöst wird, trifft Pflege auf ungeordnete und verwirrende Situationen. Es liegen oft ungenügende und widersprüchliche Daten oder eine unbekannte Ursache vor und es gibt nicht die in jeder Situation gültige beste Antwort oder Lösung.

Tritt die im Beispiel geschilderte Situation am Vormittag auf, hat es sich z. B. bewährt, mit dem gartenbegeisterten Herrn Meier ein paar Schritte in den Garten zu gehen und die Beete zu betrachten, über den Stand der Entwicklung zu fachsimpeln. Am Nachmittag ist eher das Auspacken von Gartengerätschaften aus dem Korb und das begleitende Gespräch mit den Tischnachbarn hilfreich, nachts das Herumgehen zum Lieblingssessel.

Um mit solchen Problemen zurechtzukommen, muss die Pflegeperson nicht nur wissen, wo Daten- und Wissenslücken bestehen können (Medikamentenänderung, Flüssigkeitsmangel, Angehörigenbesuch, die latent bestehende Unruhezustände auslösen oder verstärken), wie sie neue Informationen findet (Pflegedokumentation, Übergabeprotokoll), diese einsetzt, Veränderungen vornimmt und mit ihnen umgeht.

Alle diese Fertigkeiten erfordern u. a. kritisches Denken und geschulte Emotionalität. Pflege nutzt Wissen aus anderen Bereichen. Da sie menschliche Reaktionen und Lebensäußerungen betrachtet, muss sie Wissen aus der Physiologie, der Psychologie, der Medizin und dem Recht verstehen, verfügbar haben, deuten und alles miteinander im Alltag aktiv verbinden können. Ohne kritisches Denken gelingt das nicht.

Pflegende arbeiten unter erheblichem Zeitdiktat und in unüberschaubaren Kontexten. Oft passieren überraschende Veränderungen der Bedarfe und Bedürfnisse. Verschlechterungen und Krisen führen zu unvorhergesehenen Wendungen im Tagesablauf. Beim gedanklichen Vorwegnehmen von Veränderungen oder beim Reagieren darauf hilft es, gut zu planen, Stress zu minimieren und einen klaren Blick zu behalten. Pflegende fällen sehr unterschiedliche und wichtige Entscheidungen. Oft hängen das Wohlbefinden, die Schmerzfreiheit oder sogar das Leben der Klienten davon ab.

Sie entscheiden – gerade in der Langzeitpflege – welche Informationen so wichtig sind, dass sie dem Arzt weitergegeben werden müssen, wann sie welche Bedarfsmedikation für angemessen halten, wie sie mit einem Menschen mit Unruhezuständen umgehen. Kurzum: Pflegende brauchen kritisches Denken.

Was ist kritisches Denken?

Nach Wilkinson* ist kritisches Denken sowohl eine Geisteshaltung als auch ein Denkprozess, der auf eine Reihe intellektueller Fähigkeiten zurückgreift. Es ist die Kunst, beim Denken über das eigene Denken nachzudenken, es deutlicher, präziser und relevanter, konsequenter und weniger vorurteilsbeladen zu machen – im Interesse der Klienten.

* Wilkinson 2012, S. 63

1.1.1.1 Kritisches Denken braucht ethische Erdung

Gerade in der Begleitung und Pflege von Menschen mit hohem Hilfe- und Pflegebedarf und mit Demenz erhält das Paradigma des therapeutischen Bündnisses, das der Beziehung zwischen Arzt und Patient oder Pflegeperson und Patient zugrunde liegt, eine hohe Bedeutung. Das Bündnis in der Medizin fußt u. a. auf dem hippokratischen Eid, das der Krankenpflege überwiegend auf christlichen Traditionen, humanistischen Grundhaltungen sowie auf ethischen Kodizes. Letztere wurden 1930 international harmonisiert und 1953 erstmalig unter dem Dach des International Council of Nurses als »Ethics in Nursing Practice« abgestimmt. Im Jahr 2012 erfuhren sie ihre letzte Aktualisierung.11

Hilfe- und pflegebedürftige Menschen sind in besonderer Weise auf die moralische Vereinbarung zwischen Medizin, Pflege und den Mitgliedern der Gesellschaft angewiesen. Diese Vereinbarung – Bund genannt – garantiert einen verantwortungsvollen Umgang, wenn Menschen die Hilfe der heilenden Berufe benötigen.12

Der Bund enthält drei zentrale Elemente:

1. das Geschenk des Vertrauens des Patienten/Hilfebedürftigen

2. das Versprechen, dieses Vertrauen durch den Einsatz zu rechtfertigen

3. die Verpflichtung, die eigene Expertise im besten Interesse des Patienten zu nutzen

Medizin und Pflege begründen die Notwendigkeit des therapeutischen Bündnisses mit der transzendenten Konnotation, die ihrer Tätigkeit anhaftet. Dazu gehört, dass der in seiner Hilfebedürftigkeit abhängige, alte und kranke Mensch eine besondere Anteilnahme und Sorge auch dann mit Sicherheit erwarten kann, wenn er unbequem, undankbar, schlecht versichert oder auch gefährlich ist.

Nur wenn sich ein Betroffener auf die moralische Integrität von Arzt und Pflegeperson verlassen kann, kann er ertragen, dass diese an ihm Dinge tun, die infolge der Intimität in keiner anderen Beziehung zwischen Fremden möglich, unangenehm oder gar schmerzhaft sind.

Das Bündnis soll vor Missbrauch schützen. Es erfordert die persönliche und nicht transferierbare Verantwortung jedes Betreuers, dem Wohl der Patienten Priorität zu geben und die Würde und Heiligkeit des Lebens – des Kranken und des eigenen – zu wahren (das heißt auch, die Grenzen des Wirkens anzuerkennen).

Das Bündnis ist vor allem dort von Bedeutung, wo der benötigte Beistand über das vertraglich geregelte Leistungsminimum hinaus erforderlich ist, wenn z. B. infolge einer Demenz oder einer anderen unheilbaren Krankheit keine Heilung mehr stattfinden kann. Hier gewährleistet das Bündnis, dass für die betroffenen Personen trotzdem alles getan wird, um ihnen das Leben erträglich zu gestalten.

Kritisches Denken ist eine fragende und kreative Haltung, die auch Gefühle einschließt. Es ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: unabhängiges Denken, intellektuelle Bescheidenheit, intellektueller Mut, Empathie, Integrität, Ausdauer, Neugier, Glaube an die Vernunft, Unvoreingenommenheit, Interesse am Erforschen von Gedanken und Gefühlen.

Menschen, die kritisch denken, zeichnen sich aus durch eine präzise Sprache und die Fähigkeit,

Fakten und Interpretationen zu unterscheiden,

Zusammenhänge zu klären,

Ähnlichkeiten und Unterschiede zu erkennen und zu vergleichen sowie

folgern zu können (insbesondere Wichtiges von Unwichtigem trennen, Vor- und Nachteile abwägen, evaluieren).

Kritisches Denken und der Pflegeprozess haben vieles gemeinsam. Sie sind aber nicht identisch. Pflegende handeln einen Teil ihres Tages effektiv, ohne kritisch zu denken. Viele Entscheidungen beruhen auf bewährten Routinen und Gewohnheiten.

Fazit

1.1.1.2 Der Pflegeprozess braucht kritisches Denken und emotionale Schwingungsfähigkeit

»Hauptanliegen der professionellen Pflege ist es, Menschen zu helfen, ihren individuellen Alltag (wieder) zu bewältigen: sich zu bewegen, Körper und Seele zu pflegen, sich zu ernähren, mit Schmerzen und anderen Beeinträchtigungen umzugehen, sich zu freuen, zu beschäftigen. Therapien einzuhalten, Sinn zu finden, mit anderen Menschen zu kommunizieren.«13

Um Menschen in ihren Bewältigungsstrategien und in ihrer Hoffnung zu unterstützen, benötigen professionell Pflegende Verstand (kritisches Denken) und Gefühl (emotionale Intelligenz). Gerade im Pflegeprozess kommt es darauf an, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und ein gutes Empfinden dafür zu haben, wie sich der andere fühlen mag. Um Klienten zu unterstützen, sind folgende Grundhaltungen hilfreich:

1. Respekt vor der Autonomie und Vertrauen in den Patienten und Vertrauen darin, dass er eine gute Wahl trifft

2. Radikale Zukunftsorientierung und das Entwickeln einer konkret angestrebten Zukunft mit Zielen und Handlungssträngen

3. Orientierung an der Stärke der betroffenen Menschen und Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven

4. Die Betroffenen als nutznießenden Hauptakteur des Prozesses sehen

1.1.1.3 Pflegeprozess und emotionale Intelligenz

Intelligenz ganz allgemein beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, mit den Anforderungen der Welt zurechtzukommen. Es werden heute zwei Intelligenzformen unterschieden:

1. Der Intelligenzquotient (IQ), wie wir ihn aus Schule und Wissenschaft kennen. Darunter fallen: Nachdenken, prüfen, überprüfen, Fakten sammeln, Sinn erkennen und nach Logik entscheiden.

2. Emotionale Intelligenz (EQ) ist ein Begriff, der im deutschsprachigen Raum durch Daniel Goleman14 bekannt geworden ist.

Im vorangegangenen Text ist viel über die Bedeutung des kritischen Denkens für den Pflegeprozess berichtet worden, der Schwerpunkt liegt auf Analyse und Logik. An dieser Stelle soll dieser Aspekt um den der emotionalen Intelligenz erweitert werden. Sie ist erforderlich, um mit Menschen zu befriedigenden Lösungen zu kommen, z. B. in der Pflegebeziehung, indem wir beispielsweise bei einem Menschen mit Demenz Verhalten sinnverstehend deuten, in Personalentwicklung und Führung, wenn wir Menschen für Aufgaben begeistern und auswählen wollen.

Unter emotionaler Intelligenz versteht man nach Bradberry und Greaves das Vermögen, folgende vier Fähigkeiten gezielt einzusetzen:15

1. Selbstwahrnehmung (eigene Emotionen genau wahrnehmen und eigene Reaktionen verstehen können)

2. Selbstmanagement (mit eigenen emotionalen Reaktionen auf Menschen und Situationen angemessen umgehen können)

3. Soziales Bewusstsein (Emotionen anderer Menschen genau erfassen und verstehen, was in ihnen vorgehen könnte)

4. Beziehungsmanagement (Bindungen zu anderen Menschen aufbauen) Tabelle 1 verdeutlicht in der Gegenüberstellung den Unterschied.

Tabelle 1: IQ-Intelligenz – Emotionale Intelligenz

IQ-IntelligenzEmotionale Intelligenz
Nachdenken, GrübelnAssoziieren
LogikVersuch/Intuition
VerstandGefühl
AnalyseGanzheitlichkeit
Harte FaktenWeiche Informationen/Zwischentöne
Prüfen/überprüfenIm Kontext betrachten

Beide Intelligenzformen ergänzen sich.

Fazit

Der EQ ist entscheidend für die Bewältigung einer Fülle von Anforderungen im Alltag der Pflege/in der Begleitung der Unterstützung des Pflegeprozesses, u. a.:

in der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen

in Form von Empathie

bei der Entscheidungsfindung

als Fähigkeit, Veränderungen zu akzeptieren

beim Zeitmanagement

als Durchsetzungsvermögen

Emotionale Intelligenz arbeitet schnell. Sie erfasst das Wesentliche, ist dabei aber nicht so genau wie ihre Schwester, die klassische Intelligenz. Jedoch: In vielen alltäglichen (Gefahren-)Situationen ist »schnell« oft intelligenter als »hundertprozentig richtig«! Denken Sie an das Zusammensacken eines Klienten, der stürzt: Sie greifen zu, ohne zu überlegen und das ist gut so.

Und noch etwas, das als Führungsperson für Sie wichtig ist: Emotionale Intelligenz ist erlernbar und kann immer weiter verfeinert werden. Es lohnt sich, selbst den neuen Test »Emotional Intelligence Appraisal®« online (www.talentsmart.com/test) zu absolvieren und die eigenen Fähigkeiten für die anspruchsvolle neue Führungskultur im Rahmen des Supportive Leadership (s. Kapitel 11.1) zu steigern.

Fazit

1.1.2 Die noch junge Geschichte der Pflegeprozessplanung

»Der Pflegeprozess ist mehr als nur das Schreiben eines Pflegeplans!«16

Werfen wir einen Blick auf die Anfänge der Pflegeprozessplanung, auf ihre Entwicklung, auf die unterschiedlichen Ansprüche und Erwartungen, denen sie unterworfen war und die sie zu einem branchenspezifischen und in den letzten Jahren gesundheitspolitischen Zankapfel machten.

Die Idee einer allgemein gültigen Planbarkeit von Pflege nahm Mitte des letzten Jahrhunderts in den USA ihren Lauf (ist also noch gar nicht lange her). Im Zeitalter der unbedingten Technikgläubigkeit lag es nahe, die organisatorischen Abläufe in der Pflege und die gesundheitliche Entwicklung der Gepflegten analog zu den Steuerungsmodellen in Wirtschaft und Technik als »Regelkreis« zu betrachten (nursing process)17. Gleichzeitig gab es aber auch eine Gegenbewegung, die Pflege in erster Linie als Beziehungsprozess, der interaktionales Handeln erfordert, betrachtete.18 Diese Bewegung hatte ihren Ursprung in der psychiatrischen Pflege.

Beide Sichtweisen zu berücksichtigen versuchen Verena Fiechter und Martha Meier in ihrem Modell der Pflegeplanung, das sie 1981 veröffentlichten.19

1. Informationssammlung = Erhebung des IST-Zustandes des Bewohners

2. Probleme und Ressourcen beschreiben und möglichst nach Prioritäten ordnen

3. Pflegeziele festlegen = erreichbare Nah- und Fernziele überprüfbar formulieren. Spätestens hier Prioritäten festlegen bzw. überprüfen

4. Maßnahmenplanung = genaue Festlegung, wie das Pflegeziel erreicht werden soll

5. Pflege durchführen = Abweichungen/Besonderheiten im Pflegebericht dokumentieren

6. Evaluation der Pflege = Erfolgskontrolle der Maßnahme

Nach der Evaluation beginnt der Prozess von neuem bei Phase 1 mit dem Ziel, die Pflegeziele und die Maßnahmen einer eventuell neuen Gegebenheit anzupassen.21

1988 wurde der Pflegeprozess Bestandteil des Sozialgesetzbuchs (§113 SGB XI) und 2001 des Altenpflegegesetzes. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist er Unterrichtsinhalt in der Altenpflegeausbildung.

Das seit Mitte der 1970er-Jahre existierende Pflegeprozessmodell der WHO mit seinen vier Phasen war richtungsweisend für die Entwicklung des zurzeit aktuellen Entbürokratisierungsprojekts »Strukturmodell zur Modifizierung des Pflegeprozesses und der Pflegedokumentation«22:

1. Assessment

2. Planung

3. Implementation/Intervention

4. Evaluation

Profession, Prozess, Planung

Mein Plädoyer für die Pflegeprozessplanung

Meine persönliche Beziehung zum Thema Pflegeplanung begann 1980 am Berufsfortbildungswerk des DGB (bfw) in Hamburg in meiner Weiterbildung zur Lehrerin für Pflegeberufe. Damals erlebte ich Pflege in der Praxis noch vielerorts als ein Anhängsel der Medizin. Die naturwissenschaftliche Sicht auf Krankheit und Gesundheit dominierte und die Lehrbücher der Krankenpflege waren nach Organsystemen und ihren Störungen geordnet, nach entsprechenden Krankheiten und nach medizinischen Spezialgebieten eingeteilt.

In erster Linie konzentrierte sich die Krankenpflegeperson auf die sorgfältige Beobachtung der Patienten, das Ausführen von Pflegeverrichtungen bzw. auf das Umsetzen ärztlicher Anordnungen. Pflege erschien eher erfahrungsgeleitet und zuarbeitend als selbstbestimmt und konzeptionell.

Mein Bild von Pflege war anders geprägt!

Ich selbst hatte in den 70er-Jahren eine hervorragende Ausbildung zur Krankenschwester in der Schwester-Maria-Ridder-Schule in Köln unter Leitung von Elisabeth Unkelbach und Elisabeth Drerup genießen dürfen, mit viel mehr Theorie als damals üblich, einer tollen Praxisanleitung und einer umfassenden Bildung in Haltung, Verantwortung, Selbstführung und Kompetenz.

Krankenpflege wurde dort zu der Zeit bereits als Beziehungsprozess gelehrt und gelernt. Es wurde die Auffassung vertreten, dass die Krankenpflegeperson, ihr Wissen und ihr Können einen maßgeblichen Einfluss auf Wohlergehen und Heilungsprozess habe.

Dies unter anderem, indem die Krankenpflegeperson durch mitmenschliche Zuwendung und Beratung ein Umfeld und Klima schafft, in dem die erkrankte Person sich verstanden fühlt, heil werden und wachsen kann.

Von Anfang an wurde ich beruflich in der Auffassung sozialisiert, dass die Pflegeperson vor dem Hintergrund eigenen Wissens den Grad der Hilfebedürftigkeit abklärt, Ressourcen nutzt, Bedürfnisse und Probleme erkennt sowie die sich bedingenden Zusammenhänge untereinander. Sie ist verantwortlich für wirksame, geplante systematische und reflektierte Pflegemaßnahmen.

So war ich auf ein selbstreflektiertes, bewusstes und verantwortliches Wahrnehmen meiner professionellen Rolle vorbereitet (ohne dass wir diese Begriffe damals so benutzt hätten).

Als ich dann im Berufsfortbildungswerk des DGB in Hamburg (bfw) auf die ersten Modelle des Pflegeprozesses traf – zuerst das reine, vierstufige WHO-Modell – war ich sofort begeistert. Ich wusste: Die eigenständige Planung des fachlichen Vorgehens in Form eines geplanten Prozesses – das ist ein wichtiger Schlüssel zur Selbstbestimmung der Pflege!

Für mich war und ist die Anwendung des Pflegeprozesses ein zentraler Aspekt der Selbstbestimmung der Pflege, eine Säule zur Selbstbestimmung unseres Berufes. Und da war ich von Anfang an ganz vorne mit dabei. Die Entwicklung eigener Theorien und Konzepte, eine eigenständige Handlungssystematik, eigene Zielsetzungen für ein systematisches, nachvollziehbares und fachliches Vorgehen mit eigenständigen Maßnahmen und Prüfkriterien für Erfolg, das war es, was ich suchte.

Schon 1981 begannen wir in der Altenpflegeausbildung damit, von Anfang an Pflege auf Basis des Prozessmodells zu unterrichten und diesen Ansatz in den Altenpflege-einrichtungen umzusetzen.

Bald setzte sich im pädagogischen Herangehen das sechsstufige Modell nach Verena Fiechter und Martha Meier durch. Wir waren fasziniert von unserem Anliegen, mit der Planung des Pflegeprozesses eine praktische Anleitung für die Gestaltung personzentrierter Pflege zu schaffen. Im kybernetischen Regelkreis sahen wir eine Möglichkeit, das eigene Denken und Handeln systematisch zu ordnen und in professionellen Abstimmungsprozessen fachliche Entscheidungen (mit-) zu fällen, als kompetentes Mitglied des interdisziplinären Teams zu agieren und die fachliche Verantwortung in der direkten Pflege eigenständig und selbstbestimmt zu tragen.

Für mich wurden die Pflegeprozessplanung und die Pflegedokumentation zur Last, als sie zum Kontroll- und Misstrauensinstrument missbraucht wurden, in dem es als erforderlich angesehen wurde zu definieren, warum man etwas nicht tut.

Diese pervertierte Absicherungsrhetorik hat bei vielen Pflegenden die Freude am fachlichen Denken und Handeln getötet, es wurden vielerorts sinnfrei Assessments und Checklisten ausgefüllt. Alle Ideen, die eigenständige Gestaltungsfähigkeit gerade in kritischen und risikogeneigten Prozessen mit Arbeitshilfen zu unterstützen, z. B. über unser RiP®-Managementsystem, haben diesen Trend nicht aufhalten können.

Umso mehr unterstütze und befürworte ich den Prozess der Entbürokratisierung.

Karla Kämmer

1.1.3 Pflegeprozess und Professionalität

Für ihre Verfechter steht die systematisierte Pflegeprozessplanung für Professionalität. Wichtige Kennzeichen:

Die Planung des Pflegeprozesses ist ohne fachliche Kompetenz nicht möglich.

Die Kriterien für die Planung beruhen auf wissenschaftlichen Grundlagen.

Der Pflegeprozess ist Ausbildungsbestandteil.

Systematisches und dokumentiertes Vorgehen erleichtert mit seiner Nachvollziehbarkeit nicht nur das klientenorientierte Qualitäts- und Risikomanagement, sondern liefert auch wertvolle betriebswirtschaftliche Kennziffern.

Die damit geschaffene Transparenz der Aufgaben und Abläufe dient darüber hinaus als aussagekräftige Basis für Verhandlungen mit Kostenträgern und Politik (auch in berufsständischen Fragen).

Trotz dieser unschlagbaren Vorteile – unumstritten ist die Pflegeplanung nicht! Und das liegt, wie so oft, an der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis.

1.1.3.1 Anspruch und Wirklichkeit

»Die traditionelle Pflegeplanung kann als logisch, rational und linear beschrieben werden und täuscht damit vor, dass das Geschehen zwischen Patient und Pflegenden in hohem Ausmaß kontrollierbar und steuerbar sei.«23 Mit diesen Worten beschreibt der Sozialwissenschaftler, Pflegeprofessor und Gerontologe Hermann Brandenburg die Krux bei der Anwendung entsprechender Modelle in einem interaktionalen Prozess, der sich nicht an die vorgegebene Reihenfolge hält, sondern situationsorientiertes, variables Handeln erfordert.

Doch nicht nur in der Chronologie, sondern auch in der Handhabung der einzelnen Schritte zeigt sich der Unterschied zwischen Theorie und Praxis: So ist die Evaluation »ein bewusster Schritt am Ende des ersten Durchlaufs des so genannten Pflegeprozesses; in der Pflegepraxis läuft die Reflexion jedoch meist weder bewusst noch schriftlich ab. Besonders die Gruppe der sehr berufserfahrenen Pflegekräfte scheint die Reflexion im Prozess intuitiv leisten zu können«24.

Gerade systematisierte Vorgänge bergen die Gefahr in sich, eine bestimmte Eigendynamik zu entwickeln. In der Pflegeplanung war das in den vergangenen 25 Jahren bei der Dokumentation der Fall. Der Zeitaufwand hierfür war über die letzten Jahre förmlich explodiert und nahm den Pflegebedürftigen zu viel direkte Pflegezeit weg. Die Pflegekräfte fühlten sich zu »Ausfüllgehilfen« degradiert. Die Masse der Kategorien und der zu erhebenden Daten erwies sich als kontraproduktiv. Hohe Unzufriedenheit und Ineffizienz ließen die Berufsverbände Sturm laufen. Reinhard Lay kritisierte die ausufernden Dokumentationsvorgaben und empfahl, sich auf die eigentlichen Zwecke von Pflegedokumentation zu besinnen. Hierzu formulierte er den vielzitierten Merksatz: »Informationen, die praxisrelevant, vergütungsrelevant, prüfungsrelevant und/oder juristisch erforderlich sind, werden vollständig, wahr und klar dokumentiert.«25

Er forderte: »Pflegedokumentation sollte wieder als das gesehen werden, was sie primär ist: eine berufliche Nebenpflicht von Pflegekräften im Interesse und zum Wohle der Klienten.«26

Schließlich hatte auch der Gesetzgeber ein Einsehen und beauftragte eine Expertenkommission damit, ein einheitliches Grundmodell eines schlanken Verfahrens zur Pflegedokumentation in der Langzeitpflege zu entwickeln. Ergebnis des Vorgehens ist ein einheitliches Konzept für die Prozessgestaltung in der Langzeitpflege: das Strukturmodell.

Mit der entbürokratisierten Pflegedokumentation ist nun ein Lösungsweg aufgezeigt, der die Arbeitsbedingungen, Arbeitsmotivation und Arbeitszeit der Pflegenden positiv beeinflusst und die Arbeitszufriedenheit verbessern kann.

Gesellschaft und Pflege unterliegen einem ständigen Wandel. Auch die Altenpflege durchlief in den letzten Jahrzehnten vielfältige Entwicklungen; Auffassungen, wie Pflege idealerweise zu sein hat, manifestieren sich in Strukturen, Methoden und Berufsbild. Der Pflegeprozess unterliegt ebenso dieser Dynamik. Zum Beispiel hat sich die Rollenverteilung in der Pflege stark verändert: Klienten und Angehörige sollen und wollen mitbestimmen, Positionen und Funktionen verändern sich, Aufgaben werden neu verteilt, die Kooperation mit nichtpflegerischen professionellen Helfern nimmt immer mehr zu.

Auch wenn der Glaube an die Steuerbarkeit des Pflegeprozesses einiger Ernüchterung gewichen ist, seien wir realistisch: Ohne Pflegeplanung sind die Herausforderungen erst recht nicht zu bewältigen. Diesmal hat uns der Gesetzgeber mit seinen Vorgaben zur Entbürokratisierung eine Steilvorlage geliefert. Nutzen wir die Chance, verwandeln wir sie!

 

 

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3 Wilkinson, J. M. (2012). Das Pflegeprozess-Lehrbuch. Bern: Huber, S. 27

4 ANA American Nurses Association (1995). Nursing policy statement. Washington DC, S. 6

5 vgl. Lay, R. (2012). Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Zweite Aufl., Hannover: Schlütersche

6 Vgl. Alfaro-LeFevre, R. (2010). Pflegeprozess und kritisches Denken. Praxishandbuch zum kritischen Denken, Lösen von Problemen und Fördern von Entwicklungsmöglichkeiten. Bern: Huber, S. 27

7 Vgl. Wilkinson 2012, S. 45 f.

8 Vgl. Olbrich, C. (2010). Pflegekompetenz. 2. Auflage. Bern: Huber, S. 62 f.

9 Vgl. ebd., S. 63

10 Wilkinson 2012, S. 61 ff.

11 Vgl. Fry, S. T. (2008). Ethics in nursing practice. A guide to ethical decision making. International Council of Nurses. Oxford: o.V., S. 53 f.

12 Vgl. Käppeli, S. (2006). Das therapeutische Bündnis in Medizin und Pflege – wie lange noch? Ethique Le Journal. In: Schweizerische Ärztezeitung, 87. Jahrgang 26/2006, S. 26 f.

13 Zegelin, A. (2015). Alltag leben trotz Krankheit – pflegerische Unterstützung umfasst Informationen, Beraten und Schulen. In: Segmüller, T. (Hrsg.): Beraten, Informieren und Schulen in der Pflege. Ein Rückblick auf 20 Jahre Entwicklung. Frankfurt: Mabuse, S. 15

14 Goleman, D. (1997). Emotionale Intelligenz. München: dtv

15 Vgl. Bradberry, T. & Greaves, J. (2016). Emotionale Intelligenz 2.0. München: mvg

16 Wilkinson 2012, S. 37

17 Vgl. Yura, H. & Walsh, M. B. (1978). The Nursing Process. Assessing, Planning, Implementing, Evaluating. New York: Appleton-Century-Crofts

18 Vgl. Peplau, H. (1952/1991). Interpersonal Relations in Nursing. 3rd ed. New York: Springer Publishing Co.

19 Vgl. Fiechter, V. & Meier, M. (1981). Pflegeplanung. Eine Anleitung für die Praxis. Basel: RECOM

20 http://www.pflegewiki.de/wiki/Pflegeregelkreis [Zugriff am 02.03.2016]

21 Ebd.

22 Ebd.

23 Brandenburg, H. (1998). Kooperative Qualitätssicherung aus der Perspektive der Pflegewissenschaft. In: Klie, T. (Hrsg.). Kooperative Qualitätssicherung in der geriatrischen Rehabilitation. Forschungs- und Projektbericht Nr. 15. Freiburg: Kontaktstelle für praxisorientierte Forschung e. V. an der Evang. Fachhochschule Freiburg, S. 52–77

24 Lay, R. & Brandenburg, H. (2002). Pflegeplanung – eine kritische Bestandsaufnahme. In: Psych Pflege 2002; 8:

25 Lay, R. (2004). Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Erste Aufl., Hannover: Schlütersche, S.157 149–152

26 Lay, R. (2012). Ethik in der Pflege. Ein Lehrbuch für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Zweite Aufl., Hannover: Schlütersche, S. 217f

2 WAS IST NEU AN DER ENTBÜRÜKRATISIERTEN DOKUMENTATION?

Karla Kämmer, Andreas Kutschke

»Es geht nicht um die Veränderung einiger Formulare, sondern um die Neuausrichtung des Pflegeprozesses.«27

Die »entbürokratisierte Pflegedokumentation« ist ein verschlanktes Konzept für die Prozessgestaltung und deren Dokumentation in der Langzeitpflege. Sie ist das vom Bundesministerium für Gesundheit favorisierte Modell. Daneben gibt es viele andere Alternativen, u. a. den Ansatz von Jutta König (s. Kapitel 7).

Die Grundprinzipien des Strukturmodells28:

Stärkung der fachlichen Kompetenz der Pflegefachkräfte

Konzentration auf die Wünsche, Bedürfnisse und Perspektive der pflegebedürftigen Person

Stärkung und konsequente Beachtung von Individualität und Selbstbestimmung der pflegebedürftigen Person (personzentrierter Ansatz)

Erfassung pflege- und betreuungsrelevanter biografischer Aspekte im Rahmen der Themenfelder der SIS

Übersichtliche Darstellung zur Einschätzung pflegerischer Risiken und Phänomene in einem eigens dafür entwickelten Instrument als Bestandteil der SIS

Verständigung zu individuellen Leistungen und Wünschen sowie die Dokumentation dieses Konsenses

Beschränkung im Pflegebericht auf Abweichungen von regelmäßig wiederkehrenden Maßnahmen der Grundpflege und Betreuung

2.1 Die vier Elemente des Strukturmodells

NEU: Vier statt sechs

Im Strukturmodell werden die ersten drei Schritte des bisher meist angewandten sechsstufigen Pflegeprozesses (Informationssammlung, Probleme/Ressourcen, Ziele) zusammengefasst in der Strukturierten Informationssammlung (Element 1) (s. auch Kapitel 3.1). Es geht vor allem darum, wesentliche Facetten zu der pflegebedürftigen Person zu erkennen und zu dokumentieren und weniger darum, möglichst viele Aspekte »abzuarbeiten«.

Tabelle 2: Gegenüberstellung Pflegeprozess nach Fiechter und Meier und das Strukturmodell

image

Aus der Sicht des Praktikers

Vielleicht ist der Begriff »Strukturierte Informationssammlung« irreführend im Vergleich mit den bisher genutzten Informationssammlungen, die in bestimmter Weise auch strukturiert sind. Der Unterschied besteht darin, dass sich die neue Informationssammlung relativ grob an Handlungsfeldern strukturiert (was viel Raum für Individualität lässt), während die bisherigen sich kleinteilig an Strukturelementen des entsprechenden Pflegemodells ausrichten (z. B. ATL-Struktur im Modell der Lebensaktivitäten von Roper, Logan und Tierney* oder AEBDL-Aktivitäten).

Nachteil dieser feinteiligen Unterteilung war, dass viele Informationen fragmentiert oder doppelt verarbeitet wurden. Auch gab es in den bisherigen Informationssammlungen viele einzelne Punkte, die im Multiple-Choice-Verfahren angekreuzt wurden. Dieses kleinschrittige Verfahren wird in der SIS nicht mehr angewandt. Wenn man so will, wird nur Zutreffendes beschrieben.

Beispiel:

Wenn bei dem Pflegebedürftigen weder PEG noch Blasenkatheter vorhanden sind, muss dies auch nicht erfasst werden.

* Roper, N.; Logan, W. & Tierney, A. J. (Hrsg.) (1983). Die Elemente der Krankenpflege. Ein Pflegemodell, das auf einem Lebensmodell beruht. Basel: Recom

2.1.1 Aufbau des Strukturmodells

NEU: Handlungsleitendes Verfahren

»Neu ist, dass die Pflegedokumentation jetzt wieder gerne in die Hand genommen wird, weil sie einen geplanten Pflegeprozess abbildet, der das konkrete praktische Vorgehen ohne Schnörkel kurz und knapp beschreibt.« So oder so ähnlich berichteten Pflegepraktiker mit Steuerungsfunktion erstaunt nach einigen Monaten der Anwendung.

Das Strukturmodell besteht aus vier Elementen. Schauen wir sie uns im Einzelnen an.

2.1.1.1 Element 1: Die strukturierte Informationssammlung (SIS)

NEU: Fokus auf Selbstbestimmung

Die Sicht der betroffenen Person erhält einen hohen Stellenwert im neuen Pflegeprozess – und damit auch der Ansatz der professionellen und wertschätzenden Pflege als Beziehungsarbeit im pflegerischen Alltag.

Die SIS bildet den Einstieg in den Pflegeprozess. Als Informationssammlung ist sie so angelegt, dass sie mit der Sichtweise der pflegebedürftigen Person zu ihrer Lebensund Pflegesituation und ihren Wünschen und Bedarfen an Hilfe und Unterstützung beginnt. Die Person kommt selbst zu Wort und ihre Gedanken, Wünsche und Empfindungen werden möglichst in wörtlicher Rede aufgenommen. Aktiv zuhören ist hier die Hauptaufgabe der Pflegeperson, der fachliche Filter wird in dieser Phase ausgeschaltet.

NEU: Planen in sechs kompakten Themenfeldern

Um der individuellen Situation der Person optimal gerecht zu werden, wird auf Textbausteine verzichtet. Die Reihenfolge der Bearbeitung der Themenfelder ist frei. Wichtig ist, dass jedes Themenfeld genutzt wird.

Als Vorgehen hat es sich bewährt, dass die hilfebedürftige Person ihre Sicht, Wünsche und Erfordernisse zur Situation schildert. Im zweiten Schritt nimmt die Pflegefachkraft ihre pflegefachliche Einschätzung vor und schlägt Interventionen vor.

Auf dieser Basis erfolgt eine Abstimmung, die im Themenfeld festgehalten wird. Die SIS bildet kurz und präzise den Verständigungsprozess ab, der zwischen der pflegebedürftigen Person und der Pflegefachkraft – bezogen auf die Schwerpunkte der sechs Themenfelder – erfolgt. Er beachtet und berücksichtigt beide Sichtweisen und bildet den Ausgangspunkt für die Maßnahmenplanung.

Die Themenfelder lauten:

1. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten

2. Mobilität und Beweglichkeit

3. Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen

4. Selbstversorgung

5. Leben in sozialen Beziehungen

6. Wohnen/Häuslichkeit

Die Ablösung ist da

Zur SIS gehört die Risikomatrix, das von Prof. Dr. Martina Roes (Universität Witten-Herdecke) entwickelte kriteriengeleitete Initialassessment für die fünf am häufigsten in der Langzeitpflege vorkommenden pflegesensitiven Phänomene und Risiken:

Dekubitus

Inkontinenz

Sturz

Schmerz

Ernährung

Und:

Sonstiges

Das Feld »Sonstiges« steht dafür, dass diese Risiken und Phänomene im Einzelfall durch weitere ergänzt werden müssen.

Risiken und Phänomene werden aus den in den Themenfeldern erfassten Informationen herauspräpariert und in der Systematik der Matrix eingeschätzt. Es ist zunächst einmal die Frage zu klären, ob ein potenzielles Risiko vorliegt bzw. ob ein bestehendes Risiko durch die pflegebedürftige Person erfolgreich kompensiert wird. In diesem Fall erfolgt die Einschätzung des Risikos mit »nein« und ist abgeschlossen. Ist die einschätzende Person sich nicht sicher bei der Beurteilung des Risikos, erfolgt weitere Beobachtung (Eintragung: »Weitere Einschätzung notwendig«) über ein kurzes Zeitintervall plus Hinzuziehen eines Experten oder eine Fallbesprechung. Bei der Beurteilung dienen die Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) als pflegerisches Grundwissen.

Das Ergebnis wird mit dem Themenfeld vernetzt und in die Maßnahmenplanung werden entsprechende Maßnahmen aufgenommen. Die Risikoeinschätzung muss immer mit den Inhalten der Themenfelder übereinstimmen. In der ambulanten Pflege wird zusätzlich die Beratung des Klienten erfasst.

2.1.1.2 Element 2: Die individuelle Maßnahmenplanung

NEU: Gemeinsame Maßnahmenplanung

Stationär

Voranstellen der individuellen Wünsche (Grundbotschaft) mit ausführlicher Beschreibung der 24-Stunden-Versorgung, wobei regelhaft wiederkehrende pflegerische Handlungen im Tageslauf nur einmal beschrieben und im Folgenden durch ein Kürzel im Tagesverlauf gekennzeichnet werden.

Individuelles Festlegen der Leistungserbringung zu gewünschten Zeitpunkten und Maßnahmen, die aus Risiken (z. B. Sturz) und pflegesensitiven Phänomenen (z. B. herausforderndes Verhalten) abgeleitet werden.

Ambulant

Die Maßnahmen sind ambulant durch den abgeschlossenen Pflegevertrag vorgegeben, deshalb hat sich hier die Variante der Maßnahmenplanung unter Berücksichtigung der Leistungskomplexe bewährt. Sie dient der detaillierten Beschreibung des pflegerischen Vorgehens beim Klienten mit zeitlicher Festlegung.

2.1.1.3 Element 3: Das Berichteblatt mit Fokus auf Abweichungen

NEU: Fokus des Berichts liegt auf Abweichungen

2.1.1.4 Element 4: Die Evaluation mit individuell festgelegten Daten

NEU: Individuell festgelegte Evaluationsintervalle

2.2 Der »Immer so«-Grundsatz

NEU: Grundpflege nicht mehr einzeln abzeichnen

Unter bestimmten Bedingungen ist es möglich, auf die Dokumentation grundpflegerischer Routinen zu verzichten. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist der Nachweis entsprechender Verfahrensanleitungen, Leitlinien oder Standards, die belegen, dass die jeweiligen Elemente der Grundpflege der ständigen Übung entsprechen, also »immer so« gehandhabt werden (s. auch Kapitel 5).

2.3 Praktikabel, nachvollziehbar, zeitsparend

Die Umstellung der Dokumentation auf das Strukturmodell zur entbürokratisierten Pflegedokumentation ist eine strategische Unternehmensentscheidung von grundsätzlicher Bedeutung. Eine Entscheidung, die sich in vielen Fällen wirklich lohnt. Es geht um eine prinzipielle Neuausrichtung des Pflegeprozesses in Richtung Praktikabilität.

Umsteigen oder nicht?

Wann Sie besser nicht auf die neue Dokumentation umsteigen sollten, lesen Sie in Kapitel 6.5.

2.3.1 Was macht den Pflegeprozess im Strukturmodell
praktikabel?

Das Prozedere des Strukturmodells setzt an den realen Bedürfnissen und Bedarfen an, sowohl an denen der Pflegebedürftigen, die sich durch seine Anwendung in die Gestaltung ihrer Pflegesituation praktisch eingebunden fühlen, als auch an denen der Pflegepersonen, die Schreibaufwand und Bürokratie auf das Wesentliche reduziert sehen. Die Anzahl der Dokumente ist übersichtlich, die schriftliche Erfassung ist auf das Ergebnissichernde und Handlungsleitende konzentriert.

Planungsschritte wie Beschreibung von Problemen und Ressourcen sowie Ätiologie (ehemaliges PESR-Modell) werden in den intrinsischen Denkprozess der Pflegeperson zurückverlagert, das heißt, sie fallen nicht weg, sondern werden als implizite Voraussetzung der Maßnahmenplanung angesehen. Das Gleiche gilt für die Begründung der pflegerischen Entscheidungen in der Risikomatrix.

Vorrang geben

Mit anderen Worten:

Es muss nicht bei jedem neu aufgenommenen Klienten routinemäßig eine Anzahl von Assessments durchgeführt werden, um nachzuweisen, dass alle irgendwie möglichen Risiken in den Blick genommen und ausgeschlossen wurden. Oder: Es muss nicht jeder Bewohner eines Wohnbereichs einmal im Monat routinemäßig gewogen und sein Gewicht erfasst werden.

Ambulant käme niemand auf die Idee, Kontrollzwang in dieser Form auszuüben. Dieses Vorgehen ist heute allgemein als angstgeleitete Fehlentwicklung anerkannt.

2.3.2 Wie wird Nachvollziehbarkeit erleichtert?

Der Effekt stellt sich schon optisch ein: Die wichtigsten Informationen befinden sich in sechs übersichtliche Portionen logisch unterteilt auf einem DIN-A3-Bogen, die wesentlichen Risiken passend dazu geordnet.

Durch die Kompaktheit der Darstellung ist der »rote Faden«/die innere Logik des geplanten Pflegeprozesses leicht zu erfassen bzw. zu überprüfen. Die Maßnahmenplanung ist Handlungsgrundlage für das gesamte Team. Doppeldokumentationen und Informationslücken wird vorgebeugt.

2.3.3 Wie viel Zeit sparen Sie?

Spitzenreiter in der Zeitersparnis sind die stationären Pflegebereiche mit nahezu 50 % des zeitlichen Aufwands im Vergleich zur herkömmlichen Dokumentation. Ulrich Rommel und Stefan Vittek29 haben es minutengenau recherchiert und kommen auf Werte, die deutlich darüber liegen. Sie werden ihre Messungen (Vergleich Zahlen Statistisches Bundesamt zum Bürokratieabbau/Expertenbefragung/Einsparpotenzial Praxistest) regelmäßig wiederholen und ihre Ergebnisse veröffentlichen – auch wenn sich das Einsparpotenzial erst im Jahr nach dem Projektabschluss vollständig realisieren lässt. Ihre Empfehlung lautet: Starten Sie. Jetzt! Die Einführung des Strukturmodells lohnt sich zeitlich und inhaltlich schon aufgrund des Aufwandes zur Neuausrichtung an den Themenmodulen des Neuen Begutachtungsainstruments (NBI).

2.4 Anerkennung der Kompetenz in der Pflege

NEU: Pflegekompetenz zählt

Ein wesentliches Ziel der Umsetzung des Strukturmodells ist die Rückbesinnung auf die pflegefachliche Grundkompetenz, von der der Eindruck besteht, dass sie in der jüngeren Vergangenheit unter der Absicherungsrhetorik der angstgeleiteten Planung und Dokumentation gegenüber externen Prüfinstanzen verschüttet wurde.

Die Substanz dieser pflegefachlichen Grundkompetenz sind Berufserfahrung, Qualifikation, die Fähigkeit kritisch zu denken und eigenverantwortliche Entscheidungen am allgemein anerkannten Stand des Wissens zu treffen.

2.4.1 Erste positive Auswirkungen

Remotivation des Personals

Dieser Prozess beflügelt die Mitarbeiter! Vor allem die Praktiker an der Basis. Skeptisch ist eher die Entscheiderebene.

Rückbesinnung auf die eigene Kompetenz

Viele Pflegefachkräfte finden wieder zu ihrer professionellen Deutungs-, Analyse- und Planungsfähigkeit zurück. Gerade die ambulanten Kolleginnen und Kollegen empfinden diese Anerkennung ihrer Kernkompetenz so bedeutsam, dass sie sich zu begeisterten Aktivisten der entbürokratisierten Dokumentation entwickelt haben, obwohl ihre Zeitersparnis in Folge der Nachweispflicht für die Abrechnung längst nicht so stark ausfällt wie die in der stationären Pflege.

Nicht jede Pflegefachkraft wird ihre primäre Leidenschaft in der Steuerung des Pflegeprozesses entdecken. Das ist auch gar nicht erforderlich: Die professionellen Anforderungsprofile (QN-Levels, Olbrich-Kriterien) bieten eine Vielzahl von Kompetenzfeldern, die in der Pflege besetzt werden können. Sie reichen von „pflegefachlicher Hands-on-Pflege“ über den „pflegefachlichen Generalisten“, den „professionellen Beziehungs- und Lebensweltgestalter“ bis hin zur managementaffinen (aktiv-ethischen) Nachwuchs-Führungskraft in der Schichtleitung.

Für jeden Begabungstyp ist mit Sicherheit etwas dabei: Ob in der direkten Prozesssteuerung als Experte oder im unterstützenden Kontext-Netzwerk aus unterschiedlichen Schlüsselqualifikationen (vgl. Kapitel 11.4). Bei entsprechender Personalentwicklung hat der Frust nachhaltig keine Chance.

Rückgewinnung von Zeitressourcen

Eines ist klar: Die Zeitersparnis steht fest – ambulant und stationär. Die direkte Begleitung der Nutzer profitiert davon. Der Erfolg ist messbar.

 

 

_______________

27 Rommel, U. & Endreß, M. (2015). Einschneidender Prozess. In: Altenpflege. Vorsprung durch Wissen. Dossier 04. Dokumentation: Das neue Strukturmodell: Wie es funktioniert und wie Sie es richtig umsetzen. S. 6. Im Internet: https://www.altenpflege-online.net/silver.econtent/catalog/vincentz/altenpflege/buecher_und_ebooks/themen-dossiers/altenpflege_dossier_04_dokumentation

28 Beikirch E. et al., Projektbüro Ein-STEP (Hrsg.) (2015). Informations- und Schulungsunterlagen für Pflegeeinrichtungen und Multiplikatoren/innen, Version 1.0. Berlin

29 Rommel, U. & Vittek, S. (2015). Erhebliches Potenzial. In: Altenpflege. Vorsprung durch Wissen. Dossier 04. Dokumentation: Das neue Strukturmodell: Wie es funktioniert und wie Sie es richtig umsetzen. S. 29 ff. Im Internet: https://www.altenpflegeonline.net/silver.econtent/catalog/vincentz/altenpflege/buecher_und_ebooks/themen-dossiers/altenpflege_dossier_04_dokumentation

3 AUFBAU UND ANWENDUNG DES STRUKTURMODELLS

Karla Kämmer, Andreas Kutschke

»Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher.«

(ALBERT EINSTEIN)

Friedhelm Rink, der ehemalige Projektkoordinator BMG stationär/Projektverantwortlicher NRW, betont in seinen Vorträgen und Publikationen, dass die SIS keinen Absolutheitsanspruch erhebe. Sie stellt vielmehr eine veränderte Grundlage für die Pflegedokumentation dar. Es handelt sich um ein Modell, das sich in seiner weiteren Nutzung gemeinsam von Anwendern, Prüfdiensten und Wissenschaft nach und nach zu einer neuen Methode entwickeln wird. Die SIS soll helfen, unnötige Aufwände im Pflegeprozess, die durch permanente Absicherungs- und Bearbeitungsimpulse entstehen, sog. Tamagochi-Effekte, zu vermindern.

Hinweis in eigener Sache

Sie werden im Folgenden sehr oft die Wörter »selbständig« bzw. »Selbständigkeit« finden. Da in den Begutachtungs-Richtlinien (die wir Ihnen ab Kapitel 10 vorstellen) lediglich die Schreibweise mit einem »st« vorkommt, haben wir uns entschieden, diese Schreibweise konsequent zu übernehmen. Auch wenn sie nicht der Empfehlung des Dudens (selbstständig bzw. Selbstständigkeit) entspricht.

3.1 Element 1: Die strukturierte Informationssammlung (SIS)

Die Idee der strukturierten Informationssammlung ist eine kompakte und zielgenaue Darstellung fachlicher Aspekte für die in Pflege und Betreuung Arbeitenden. Die besondere Anforderung an diese Struktur besteht auf mehreren Ebenen:

Es sollen Informationen aus den Bereichen Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft abgebildet werden.

Diese sollen individuelle psychische, medizinische, aber auch soziale Aspekte widerspiegeln.

Darüber hinaus sollen den Themenfeldern auch biografische Informationen zugeordnet werden, die dann wieder von den verschiedenen Berufsgruppen genutzt werden können.

Eine Risikobewertung soll aus den bisher gesammelten Informationen strukturiert ableitbar sein.

Last but not least sind alle diese Informationen idealerweise auf einer DIN-A3-Seite erfasst.

Die Grundbotschaft lautet: Eine knappe Darstellung der pflege- und betreuungsrelevanten Aspekte der pflegebedürftigen Person.

Die SIS wird vor allem im Erstgespräch eingesetzt, bei der Übernahme der Pflegesituation. Im weiteren Verlauf werden ihre Inhalte in Dokumentationsüberprüfungen, Pflegevisiten und Fallbesprechungen aufgegriffen. Bei grundlegenden Veränderungen der Pflegesituation hat es sich bewährt, eine neue SIS (Folgerhebung) anzulegen.

Aufbau der SIS:

Allgemeine Daten wie der Name, Datum und Unterschriften der Betroffenen und der Bezugspflegepersonen

Perspektive des Pflegebedürftigen

(B-Feld)

Die fachliche Perspektive mit den Themenfeldern

(C 1-Feld)

Die Matrix zur Risikoeinschätzung

(C 2-Feld)

Die SIS versteht sich als eine Informationssammlung, die verschiedene Aspekte der Pflege und Betreuung zusammenbringt, wie:

Ist-Zustand

Pflegerische Anamnese

Biografische Informationen

Mögliche Aushandlungsprozesse durch die Akteure

Aus der Sicht des Praktikers

Die Bedürfnisperspektive des Pflegebedürftigen soll mit der fachlichen Pflegeperspektive abgeglichen werden. Dieser Abgleich mündet im besten Fall in einen Aushandlungsprozess und dieser in einer gezielten pflegerisch-betreuerischen Maßnahme. Diese Maßnahme basiert dann quasi auf einem Konsens. In diesem Zusammenhang wird dann deutlich, dass die Einschätzung von Ressourcen und Problemen sehr unterschiedlich sein kann und nicht selten in der Wahrnehmung des Betrachters liegt. Ähnliches gilt für die Beschreibung von Zielen.

Selbstverständlich ist es ein Ziel professionell Pflegender, Körperfunktionen zu erhalten, Wohlbefinden weitestgehend herzustellen oder zu erhalten. In dem vorgestellten Strukturmodell wird davon ausgegangen, dass diese Ziele fachpflegeimmanent sind. In der neuen Struktur wird der Pflegebedürftige angeregt und motiviert, persönliche Ziele zu benennen. Wenn ein Konsens aus fachlichen und persönlichen Vorstellungen erzielt ist, wird dieser in der SIS dargestellt.

Beispiel 1

Die Pflegekraft erkennt eine deutliche Sturzgefahr bei einem Klienten und möchte dieser mittels Kraft- und Balance-Training und dem Anlegen von Hüftprotektoren entgegenwirken. Der Klient möchte aber weder am Kraft-Balance-Training teilnehmen noch die Hüftprotektoren bezahlen und anziehen. Der Aushandlungsprozess ergibt eine Einigung auf täglich festes Schuhwerk und kurze Spaziergänge. Diese Aktionen zur Reduktion des Sturzrisikos werden in die Maßnahmenplanung aufgenommen. Der Aushandlungsprozess wird in der SIS unter dem entsprechenden Themenfeld skizziert.

Beispiel 2

Werden in dem Aushandlungsprozess besondere Ziele beschrieben, werden diese in dem entsprechenden Themenfeld oder direkt in der Sichtweise des Hilfebedürftigen erläutert. Äußert dieser beispielsweise: »Ich möchte möglichst alles alleine machen, um meine Selbständigkeit zu erhalten«, so wird dies entsprechend wörtlich zitiert und dann im besten Fall handlungsleitend sein.

Über die pflegerischen Aspekte hinaus ist es ein professionelles Anliegen, soziale Beziehungen möglich zu machen, vor allem bei Hilfebedürftigen, die dies nicht mehr aus eigener Kraft können. Hier wird ein weiteres Anliegen der neuen Struktur deutlich, nämlich die Informationen und Handlungsweisen der verschiedenen am Prozess beteiligten Berufsgruppen zusammenzuführen und abzustimmen.

3.1.1 Häufiges Missverständnis: Arbeitet die neue Dokumentation ohne Biografie?

 

Merke

Die erforderlichen biografischen Informationen sind direkt an die Themenfelder der SIS gekoppelt:

1. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten

2. Mobilität und Beweglichkeit

3. Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen

4. Selbstversorgung

5. Leben in sozialen Beziehungen

6. Haushaltsführung (ambulant); Wohnen/Häuslichkeit (stationär)

Die Themenfelder bilden eine kompakte Grundlage für die Maßnahmenplanung ab. Ein besonders wichtiger Aspekt kommt hinzu: Die erste Risikoeinschätzung, die zu Beginn des Prozesses erhoben wird.

3.1.2 Die Perspektive der pflegebedürftigen Person/Eingangsfragen an die pflegebedürftige Person (B-Feld)

Die SIS startet mit der Einschätzung der Situation durch die pflegebedürftige Person. Im Verständnis der personzentrierten Pflege/der Pflegecharta gehört ihr das erste und das letzte entscheidende Wort. Um ihre Gefühle und Gedanken zu erfahren und optimal aufnehmen zu können, hat sich die Form des narrativen Interviews bewährt.

Das heißt, die Pflegefachperson stellt einige (wenige) Impulsfragen, die die betroffene Person zum Erzählen (lat.: narrare) anregen. Sie soll durch ihre verbale und nonverbale Kommunikation eine möglichst entspannte und freie Gesprächsatmosphäre erzeugen.

Zeit zum Erzählen

Beginnen Sie ein offenes Gespräch, in dem es um die Sorgen und Wünsche der pflegebedürftigen Person und um wesentliche biografische Informationen geht.

Wichtig ist, dem pflegebedürftigen Menschen Zeit zum Erzählen zu geben, ihm offene Fragen zu stellen, ihm Mut zu machen, seine Sorgen, Wünsche und Befürchtungen zu äußern. Der Erzählfluss soll so wenig wie möglich durch fachliche Fragen unterbrochen werden.

Dieses Gespräch wird als narratives Interview bezeichnet.

Die drei Leitfragen, die direkt in der SIS vermerkt sind, lauten:

1. Was bewegt Sie im Augenblick?

2. Was brauchen Sie?

3. Was können wir für Sie tun?

Denken Sie daran: Stellen Sie eher nicht die Frage nach dem Warum (das führt zu rückwärtsgerichteten, häufig wenig hilfreichen Denkinhalten), sondern fragen Sie nach dem Wozu. Diese Fragestellung führt zu veränderungsoffenen und zukunftsgerichteten Antworten.

Wozu kommen Sie zu uns? Was soll hier jetzt besser oder anders werden?

Wie können wir Sie unterstützen?

Mit diesen Fragen kann das Gespräch eröffnet oder auch zusammenführend geschlossen werden. Fachlich gesehen dienen die Leitfragen der Erfassung der Angaben der pflegebedürftigen Person zu ihren Gewohnheiten, Fähigkeiten, Wünschen, ihrer Hilfe-und Pflegebeschreibung sowie zur Eigenwahrnehmung ihres individuellen Unterstützungsbedarfs. Entscheidend für den Gesprächsverlauf ist immer das aktive Zuhören der Pflegefachkraft. Die Angaben der pflegebedürftigen Person zu ihren Hauptproble men, Wünschen und zu ihrem Unterstützungsbedarf werden als Zitat, d. h. im Wortlaut, niedergeschrieben, um eine ungewollte Interpretation durch die Pflegefachkraft zu vermeiden.

3.1.2.1 Das B-Feld bei Menschen mit gerontopsychiatrischem Hilfebedarf

Gerade bei gerontopsychiatrisch veränderten Menschen gilt es, sensibel, situations- und bedarfsgerecht bedeutsame Lebensthemen, u. a.:

Lebensstolz (Lebensleistung, Bedeutung, Stärke, Kompetenz),

Lebensnot (Trauer, Krieg, Schuld, Tod von Angehörigen),

Bewältigungsstrategien (Glaube, prägende Leitsätze, Werte und Prinzipien) und

Krisenhelfer (»Kleine Tröster« – Was hat Ihnen in schwierigen Lebenssituationen geholfen/gut getan?) sowie

betreuungsrelevante Aspekte (Interessen)

zu erfassen, zu erspüren, zu ermitteln, ohne in den Stil einer plumpen Abfrage zu verfallen.

Was ist Ihnen wichtig?

Wie ist es Ihnen gelungen, trotz der vielen Anforderungen des Lebens immer weiterzumachen?

Wie war es früher?

Kenntnisse zu diesen Aspekten helfen – gerade in den kritischen Verunsicherungssituationen des Übergangs in die Pflegebedürftigkeit bzw. in eine Pflegeeinrichtung – die betroffene Person in ihrer Weltsicht zu verstehen und entsprechend zu intervenieren.

In diesen Gesprächssituationen hat es sich bewährt, die Erfahrungen und Einschätzungen von Angehörigen und Betreuern hinzuzuziehen, falls die pflegebedürftige Person aufgrund ihres Zustandes keine Aussagen treffen kann.

Sowohl die pflegebedürftige Person, als auch ihre Angehörigen und die Pflegefachperson haben hier die Chance, in einen werteorientierten Dialog einzutreten, der durch gegenseitige intensive Wahrnehmung/Auseinandersetzung bzgl. Selbstbestimmung, Assistenz in der Lebensweltgestaltung, Lebensqualität gekennzeichnet ist und im positiven Falle zu einer Verständigung und zu Vereinbarungen im Interesse der betroffenen Person führt.

3.1.3 Die sechs Themenfelder: Klasse statt Masse

Die fachliche Einschätzung der Situation durch die Pflegefachkraft bildet sich auf Basis von fünf wissenschaftsbasierten Themenfeldern ab. Das sechste Feld ergänzt die Situationseinschätzung mit den Themenbereichen Haushaltsführung (ambulant) und Wohnen/Häuslichkeit (stationär). Diese sechs Themenfelder bearbeiten Sie, nachdem Sie die Darstellung des Bewohners/Patienten gehört und niedergeschrieben haben. Die Reihenfolge ist beliebig. Ergänzend zu den Informationen durch die pflegebedürftige Person können Sie Ihre Expertise und Ihre Empathie einbringen – u. U. durch sinnverstehendes Deuten von Symptomen und Äußerungen bei Menschen mit Demenz und eingeschränkter Ausdrucksfähigkeit30. Hier sollen Sie ganz Pflegefachkraft sein, also den »fachlichen Filter« ansetzen. Das heißt: Handeln Sie das Vorgehen miteinander aus, verständigen Sie sich und beraten Sie, wo dies angezeigt ist.

Wichtig ist, dass Sie in den Themenfeldern frei formulieren und möglichst mit dem vorgegebenen Platz auskommen. Nutzen Sie daher knappe und präzise Aussagen mit pflegefachlichen Begrifflichkeiten und notieren Sie relevante biografische Erkenntnisse.

Dringend geboten: dreiteilige Struktur

In allen Themenfeldern sollte die folgende dreiteilige Struktur erkennbar sein:

1. Sicht des Pflegebedürftigen

2. Pflegefachliche Einschätzung

3. Vereinbarung

Inhaltlich gibt es in den sechs Themenbereichen Überschneidungen, da vieles ineinander fließt. Betrachten Sie daher die Bereiche als Orientierungshilfe, um Situationen umfassend wahrnehmen zu können. Durch die Kürze und Übersichtlichkeit der SIS erhalten Sie auf jeden Fall ein gutes Gesamtbild zur Lebens- und Gesundheitssituation.

3.1.3.1 Themenfeld 1: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten

Hier bearbeiten Sie den Ist-Zustand der pflegebedürftigen Person mit Ressourcen und Beeinträchtigungen in Bezug auf:

Sinneswahrnehmungen

Orientierung

Gedächtnis und Verstehen

Herausforderndes Verhalten

Möglichkeit, sich verbal oder nonverbal zu äußern

Im Hinterkopf haben Sie die Leitfrage/den Leitgedanken des Themenfeldes (bitte nutzen Sie diese nicht zum schematischen Ausfüllen):

Inwieweit ist die pflegebedürftige Person in der Lage, sich zeitlich, persönlich und örtlich zu orientieren und zu interagieren sowie Risiken und Gefahren, auch unter Beachtung von Aspekten des herausfordernden Verhaltens, zu erkennen?

Sie als Pflegefachperson sollten möglichst prägnant die Situation mit Handlungs- und Gestaltungsräumen der pflegebedürftigen Person, ihre Kompetenzen, Gewohnheiten und Risiken beschreiben.

Wichtige Aspekte u. a.: Bewusstsein, Orientierung, Schlaf, Antrieb, Stimmung, Gedächtnis, Denken und Wahrnehmen (Wahn, Halluzinationen?), Störungen im Erkennen (Agnosie), Störungen in Koordination (Apraxie). Kann sich die pflegebedürftige Person bemerkbar machen und Hilfe holen (Bewusstseinslage)? Schlaf/Tag-Nacht-Umkehr? Wie sieht es aus mit Hörgeräten und Brille: Sind sie vorhanden, erforderlich und o.k.?

In diesem Themenfeld ist auch das Auftreten von herausforderndem (Unruhe, Wanderungstendenz) oder abwehrendem Verhalten zu beschreiben.

3.1.3.2 Themenfeld 2: Mobilität und Beweglichkeit

Hier bearbeiten Sie den Ist-Zustand der pflegebedürftigen Person mit Ressourcen und Beeinträchtigungen in Bezug auf:

Fortbewegung

Veränderung der Körperposition

Nutzung von Gehhilfen oder Rollstuhl

Abhängigkeit von personeller Unterstützung bei Transfer, Bewegung oder Lagerung

Beweglichkeit von Gelenken

Im Hinterkopf haben Sie die Leitfrage/den Leitgedanken des Themenfeldes (bitte nutzen Sie diese nicht zum schematischen Ausfüllen):

Inwieweit ist die pflegebedürftige Person in der Lage, sich frei und selbständig innerhalb und außerhalb der Wohnung bzw. des Wohnbereichs zu bewegen? Beachten Sie bitte hier auch den Aspekt Wanderungstendenz/herausforderndes Verhalten. Wichtig ist dabei die Einschätzung der Möglichkeiten der Person, sich durch Bewegung angemessene Anregung zu verschaffen und an der Alltagswelt teilzuhaben.

Wichtige Aspekte u. a.: Mobilität jetzt und früher, Positionswechsel im Liegen/im Stuhl selbständig? Ortsfixierung? Gehen möglich? Treppensteigen? Hilfsmittel? Individuelle Beeinträchtigungen (körperlich, kognitiv, psychisch)? Vorhandene Erkrankungen/Bezug Themenfeld 3 beachten: Dekubitus? Kontrakturen? Spastik? Paresen? Diabetes- oder Parkinsonfolgen? Stürze und Maßnahmen, FEM?

3.1.3.3 Themenfeld 3: Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen

Hier bearbeiten Sie den Ist-Zustand der pflegebedürftigen Person mit Ressourcen und Beeinträchtigungen in Bezug auf:

Erkrankungen

Behandlungen und Therapien

Medikamente

Pflegerisch notwendige Maßnahmen

Im Hinterkopf haben Sie die Leitfrage/den Leitgedanken des Themenfeldes (bitte nutzen Sie diese nicht zum schematischen Ausfüllen):

Inwieweit benötigt die pflegebedürftige Person aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation, ihrer Behinderungen, Einschränkungen oder Belastungen und deren Folge pflegerische Unterstützung. Vermeiden Sie das reine Aufzählen von Diagnosen und ärztlichen Therapien, die an anderer Stelle erfasst sind.

Beachten Sie individuelle Belastungsfaktoren, therapeutische Settings, Compliance, Unterstützungsbedarf bzgl. Risiken und Phänomenen

Wichtige Aspekte u. a.: Pneumonierisiko? Schluckstörungen? Ausscheidungen selbständig, Inkontinenzform, -profil? Sensorische Deprivation? Suizidalität? Abhängigkeit? Urinableitung (welche, seit wann?) Hilfsmittel? Schlafen (bisherige Maßnahmen, Wünsche)? Diabetes? Chronische Wunden? Schmerzen (inkl. differenzierte Beschreibung)? Ernährungs- und Trinkeinschränkungen und -probleme, Vitalwerte.

3.1.3.4 Themenfeld 4: Selbstversorgung

Hier bearbeiten Sie den Ist-Zustand der pflegebedürftigen Person mit Ressourcen und Beeinträchtigungen bezüglich:

Körperpflege

An- und Auskleiden

Ernährung

Ausscheidung

Im Hinterkopf haben Sie die Leitfrage/den Leitgedanken des Themenfeldes (bitte nutzen Sie diese nicht zum schematischen Ausfüllen):

Inwieweit ist die Fähigkeit der pflegebedürftigen Person hierzu selbständig oder eingeschränkt?

Ziel der pflegerischen Intervention ist die Unterstützung größtmöglicher Autonomie, Selbstverwirklichung und Kompetenz. Bitte beschreiben Sie eventuelle Konflikte zwischen fachlichen oder ethischen Werten sowie die Verständigungsprozesse nachvollziehbar.

Wichtige Aspekte u. a.: Essen und Trinken (Vorlieben und Abneigungen), Verdauung, Mundstatus, Magensonde, Kleiden oder Körperpflege selbständig? Hautzustand? Besondere Rituale? Vorlieben, Wünsche zu Haar- oder Nagelpflege, zu Kleidung. Schuhen oder zur Rasur? Spezielle Körperpflegemittel, Kosmetikartikel?

3.1.3.5 Themenfeld 5: Leben in sozialen Beziehungen

Hier bearbeiten Sie den Ist-Zustand der pflegebedürftigen Person mit Ressourcen und Beeinträchtigungen in Bezug auf:

Persönliche Kontakte

Beziehungen

Interaktionen

Kontaktpflege

Aktivitäten im Umfeld

Im Hinterkopf haben Sie die Leitfrage/den Leitgedanken des Themenfeldes (bitte nutzen Sie diese nicht zum schematischen Ausfüllen):

Inwieweit kann die pflegebedürftige Person Aktivitäten im näheren Umfeld oder außerhäuslich selbst gestalten? Wer unterstützt sie dabei? Wen benötigt sie zur Unterstützung?

Wichtige Aspekte u. a.: Kontaktfreude? Bevorzugte Kontakte? Gruppentyp, eher zu zweit, oder alleine? Frühere Berufstätigkeit? Lebensstolz? Lieblingsthemen? Lieblingsbeschäftigungen? Kontakt zu sozialem Umfeld, z. B. Familie, Verein, Partei, Gemeinde? Praktizierter Glaube, Kirche. Wünsche bzgl. Schwächerwerden und Sterben?

3.1.3.6 Themenfeld 6: Ambulant → Haushaltsführung

Hier bearbeiten Sie den Ist-Zustand der pflegebedürftigen Person mit Ressourcen und Beeinträchtigungen in Bezug auf:

Reinigung und Aufräumen der Wohnung

Zubereitung von Mahlzeiten

Einkäufe

Finanzielle und Behördenangelegenheiten

Im Hinterkopf haben Sie die Leitfrage/den Leitgedanken des Themenfeldes (bitte nutzen Sie diese nicht zum schematischen Ausfüllen):

Es geht um die Erfassung und Beschreibung, inwieweit die pflegebedürftige Person ihren eigenen Haushalt noch selbst/mit Unterstützung organisieren und bewältigen kann.

Es erfolgen Hinweise zur Abstimmung mit Nachbarn/Familie über arbeitsteiliges oder aufgabenorientiertes Vorgehen in der Versorgung der betroffenen Person. Hierbei geht es auch um die Beschreibung der Konflikt-, Risiko- und Aushandlungssituationen, die sich infolge psychosozialer Wohn-, Pflege- und Lebenssituationen ergeben.

Wichtige Aspekte u. a.: Was kann die Person noch selbständig leisten? Wer hilft? Welche Wünsche zur Haushaltsführung bestehen? Gibt es Haustiere?

3.1.3.7 Themenfeld 6: Stationär → Wohnen und Häuslichkeit

Hier bearbeiten Sie den Ist-Zustand der pflegebedürftigen Person mit Ressourcen und Beeinträchtigungen in Bezug auf:

Wohnen

Gestaltung des Wohnumfelds

Gewöhnung an die neue Wohnumgebung

Im Hinterkopf haben Sie die Leitfrage/den Leitgedanken des Themenfeldes (bitte nutzen Sie diese nicht zum schematischen Ausfüllen):

Es geht um die Erfassung und Beschreibung, in wieweit die pflegebedürftige Person ihre Bedürfnisse und Bedarfe in Hinblick auf Wohnen, Lebensweltgestaltung und Häuslichkeit in der stationären Einrichtung umsetzen kann.

Die Realisierung des Bedürfnisses Wohnen (Beheimatung) ist zentral, um Wohlbefinden, Gesundheit, Sicherheit und Vertrautheit zu erlangen. Wichtig in der unmittelbaren Lebensumwelt. Einzelzimmer, Apartment mit Küchenzeile für bestehende Selbstversorgungspotenziale, Biografie, Doppelzimmerthematik.

Wichtige Aspekte u. a.: Wunsch nach Zimmergestaltung, Interesse an Mitwirkung? Eigene Möbel? Wichtige Erinnerungsstücke? Bilder (Bedeutung)? Haustiere erwünscht? Eigene Tisch- und Bettwäsche? Was möchte die Person selbst in ihrem Wohnumfeld tun, z. B. Bettmachen, Staubwischen oder Blumenpflege?

3.1.4 Die Matrix zur Risikoeinschätzung

Für die Risikoeinschätzung hat Martina Roes eine Matrix entwickelt, jeweils in etwas unterschiedlicher, bedarfsgerechter Form für die ambulante und die stationäre Pflege. Im Risikomanagement der neuen Pflegedokumentation erfolgt die Besinnung auf die fachliche Kompetenz von Pflegefachkräften. Zunächst wird aus dem Blickwinkel von Fachlichkeit und beruflichem Erfahrungswissen die Situation der pflegebedürftigen Person beurteilt, bevor eine Entscheidung zur Notwendigkeit einer vertieften Einschätzung (z. B. Differentialassessment, intensive Beobachtungsphase) eingeleitet oder eine Skala ausgefüllt wird.31 Es wurden die international am häufigsten vorkommenden pflegerischen Risiken (Dekubitus, Schmerz, Sturz, Inkontinenz, Ernährung) ausgewählt und für weitere Risiken bzw. pflegesensitiven (kritischen) Phänomene die Kategorie »Sonstiges« eingeführt, um deutlich zu machen, dass es sich nicht um eine abschließende Aufzählung handelt, sondern dass es in der Praxis weitere gibt, die bedacht beobachtet und sorgfältig bearbeitet werden müssen.32

3.1.4.1 Wann und wie kommt die Matrix grundsätzlich zum Einsatz?

Bei Übernahme der Pflegesituation ist immer unverzüglich eine prägnante fachliche Einschätzung dazu notwendig, wie sich die Risikosituation aus Sicht der Pflegefachperson darstellt und ob ein Risiko sofort erkennbar ist. Dies muss mit »ja« oder »nein« über alle Themenfelder festgehalten werden.

Wenn »ja« angekreuzt wurde, ist immer fachlich zu entscheiden, ob die Einschätzung zur Risikosituation für die Folgerungen in der Maßnahmenplanung eindeutig ist oder ob es zunächst weiterer Einschätzung bedarf (z. B. durch ein Differentialassessment mit Hilfe eines Standardinstruments oder einer speziellen Expertise).

Diese Entscheidung muss immer in der Spalte »weitere Einschätzung notwendig« entsprechend mit »ja« oder »nein« dokumentiert werden.

In der Matrix geht es darum, die Risiken und Phänomene vernetzt zu betrachten, viele haben eine gemeinsame Wurzel, z. B. eingeschränkte Mobilität, und benötigen gemeinsame Strategien, z. B. Bewegungsförderung. Von daher ist es auch wichtig, im Blick zu haben, dass es sich weitgehend um die Bereiche der deutschen Expertenstandards (DNQP) handelt. Jedoch ist es von großer Bedeutung, sie nicht wie früher »nebeneinander« abzuarbeiten, sondern vernetzt miteinander planerisch und maßnahmentechnisch anzugehen. Legen Sie in Ihrem QM eindeutig fest, wo Sie die Beschreibung der Pflegesituation und des Bedarfs festhalten möchten und wie Sie die Schnittstelle zur Behandlungspflege in der Maßnahmenplanung lösen:

Die präzise Beschreibung der Pflegebeobachtung im Rahmen der Pflegesituation findet sich in den Handlungsfeldern, vor allem Themenfeld 3, Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen (Schmerz und chronische Wunden, Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme) oder auch Themenfeld 4, Selbstversorgung (Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme gesondert) bzw. Themenfeld 2, Mobilität und Beweglichkeit (Dekubitus und Sturz).

Die pflegerische Behandlung von chronischen Wunden ist Thema eines Expertenstandards, zählt jedoch durch ihre eindeutige Zuordnung zum Behandlungspflegebereich nicht zu den pflegerischen Risiken. Sie ist deshalb auch nicht Teil der Matrix und wird daher unter Themenfeld 3 in der SIS erfasst

3.1.4.2 Das praktische Vorgehen in der Matrix

Mittels eines Ankreuzverfahrens (hier gezielt zur klaren Entscheidungsfindung eingesetzt) nimmt die Pflegefachkraft eine erste fachliche Einschätzung zu möglichen pflegesensitiven Risiken und Phänomenen vor.

Die Matrix macht Zusammenhänge bewusst zwischen den Risiken und Phänomenen und den Inhalten der Themenfelder. Das heißt, sie stellt Zusammenhänge her zwischen Risiken und Phänomenen und den Kontextkategorien in den Themenfeldern.

Dies soll »vom ersten Angang her« = initial (deshalb: Initialassessment) aus der pflegefachlichen Einschätzung heraus geschehen. Diese Art von inneren Abwägungsprozessen gehört in den Bereich des fachlich-kritischen Denkens33, das durch Bildung und Erfahrung erworben und wie automatisch vollzogen wird34.

Beispiel:

Die Pflegefachkraft reflektiert das mögliche Vorhandensein eines Dekubitusrisikos aus der Perspektive des Fokus »Kognitive und kommunikative Fähigkeiten«, indem sie sich vor dem Hintergrund ihrer Fachlichkeit beispielsweise folgende Fragen stellt: Wird Druckschmerz wahrgenommen? Hat Herr X. Angst vor Bewegung? Sind Sinnesorgane beeinträchtigt? Verwendet er Hilfsmittel, die Dekubitalulzera verursachen könnten (Brille, Hörgerät)?

In der Matrix entscheidet sie dann spontan: Besteht ein Zusammenhang/ergibt sich ein potenzielles Risiko zwischen Inhalten aus Themenfeld 1, 2, 3, 4 oder 5?

Sie kreuzt entsprechend »ja« oder »nein« in der Matrix an und (wichtig!) vermerkt diesen Zusammenhang bei bestehendem Risiko im Themenfeld, da von dort die Maßnahmenplanung ausgeht.

Oder: Sie ist sich in ihrer fachlichen Einschätzung nicht sicher und kreuzt an: »Weitere Einschätzung notwendig!« (Immer in der Spalte vermerken!) In diesem Fall startet das vertiefende Differentialassessment. Die Pflegefachkraft kommuniziert das fragliche Risiko z. B. in der nächsten Übergabe/im Übergabeprotokoll mit der Bitte einer weiteren intensiven Beobachtung. Im Laufe der nächsten 12 Stunden wird eine Expertin (Wunde, Schmerz, Inkontinenz, Ernährung) eingeschaltet. Sie setzt einen kurzfristigen Evaluationstermin.

Die Pflegefachkraft führt unverzüglich eine Fallbesprechung durch. Im QM wird ein auf Basis der Expertenstandards hinterlegtes Prozedere vollzogen. Die Pflegefachkraft vermerkt dieses Vorgehen bei bestehendem Risiko im Themenfeld, da von dort die Maßnahmenplanung ausgeht.

3.2 Element 2: Die Maßnahmenplanung

Wie die Maßnahmenplanung dargestellt und strukturiert wird, hängt nicht nur von eigenen Vorlieben ab, sondern auch von dem entsprechenden Pflegesetting. So werden die Strukturen variieren, je nachdem ob die Institution Planungen im ambulanten, stationären oder teilstationären Bereichen abbilden will.

Besonders interessante Gestaltungsmöglichkeiten der Maßnahmenplanung ergeben sich auch in Hospizen und in Einrichtungen, die ausschließlich Kurzzeit- und Verhinderungspflegen betreuen. Das Besondere in diesen Settings ist die möglicherweise sehr kurze Aufenthaltsdauer.

3.2.1 Stationäres Setting

Im stationären Setting werden Aspekte der »grundpflegerischen Versorgung« beschrieben. Grundsätzlich sollten in diesem System aber auch die Leistungen der anderen Berufsgruppen abgebildet werden. Behandlungspflegerische Leistungen werden nur dann beschrieben, wenn diese in besonderer Weise pflegerische/betreuerische Maßnahmen erfordern.

Für die Gestaltung der Maßnahmenplanung können verschiedene Strukturen gewählt werden, die in der Anleitung mit verschiedenen Vorschlägen dargestellt werden:

Tagesstruktur kompakt: Vor der Darstellung der individuellen Tagesstruktur können individuelle Wünsche und Vorlieben des Betroffenen vorausgestellt werden. Die Planung orientiert sich an den Themenfeldern und organisiert sich in deren Struktur.

Tagesstruktur ausführlich: In dieser Variante wird der komplette Tagesablauf kleinschrittig dargestellt und abgebildet.

Leistungsbezogene Maßnahmenplanung: Hier werden den Themenfeldern Angebote und Maßnahmen zugeordnet.

Tagestruktur kompakt mit individuellen Wünschen und Vorlieben: Hierbei gibt es eine kompakte Darstellung der Maßnahmen im Tagesverlauf, allgemeine Wünsche oder übergeordnete Leistungen für den Betroffenen werden vorangestellt (s. Kapitel 4).

3.2.2 Tagespflege

In der Tagespflege kann genauso vorgegangen werden. Es werden jedoch nur die betreuten Stunden abgebildet. Darüber hinaus sollten Angehörige für die Zeit zuhause beraten werden, vor allem in den identifizierten Risikobereichen.

Geplante Maßnahmen haben das Ziel, einen Zustand zu erhalten, zu verbessern oder dafür zu sorgen, dass er sich möglichst langsam verschlechtert. Ob dies jeweils gelingt, muss überprüft werden. Dies geschieht in der Regel im Prozessschritt »Evaluation«. Diese wird individuell festgelegt. In einer EDV-gestützten Dokumentation wird es für diese prospektiven Planungen einen Ort geben. In der »händisch« geführten Dokumentation sollte durch das Qualitätsmanagement ein Ort festgelegt werden, beispielsweise die Maßnahmenplanung.

3.2.3 Ambulante Pflege

Die Maßnahmenplanung in der ambulanten Pflege unterscheidet sich von den beschriebenen Möglichkeiten dadurch, dass der Umfang in der Regel deutlich geringer sein dürfte und sich die Beschreibungen vor allem auf die vereinbarten Leistungen beziehen. Es werden also vor allem die Module und ggf. Sondervereinbarungen beschrieben. Liegen bei den Kunden ein oder mehrere Risiken vor (Dekubitus, Sturz etc.), müssen sie entsprechend beraten und dies dokumentiert werden. Die Dokumentation der Beratung würde dann im Evaluationsblatt (wenn vorhanden) oder auf gesonderten Protokollen erfolgen.

Anders als in der stationären Pflege werden in der ambulanten Pflege auch die pflegerischen Leistungsnachweise erbracht. Dies ist notwendig, um die entsprechenden Leistungen abrechnen zu können. Also werden hier unverändert abrechenbare Leistungen abgezeichnet.

Aus der Sicht des Praktikers

3.2.4 Kurzzeitpflege, Tagespflege und Hospiz

Kurzzeitpflege, Tagespflege und Hospiz wurden in den Informationen von EinSTEP zum Zeitpunkt der Bearbeitung dieses Textes35 noch nicht besonders beschrieben. In der Praxis des Autors dieses Kapitels wird die gesamte Maßnahmenplanung jedoch auch für Kurzzeitpflege und Tagespflege genutzt.

In der Tagespflege wird wie oben beschrieben die SIS angewendet. Hierbei kristallisiert sich heraus, dass es einen größeren Anteil von Informationen im B-Feld gibt. Dies wird in diesem Fall gefördert, da die zusätzlichen Informationen durch den Gast für die Angebotsgestaltung in der Tagespflege gut genutzt werden können. Die etwas andere Gewichtung in der SIS erklärt sich wahrscheinlich durch größere Selbständigkeit der Betroffenen. Die Maßnahmenplanung bezieht sich in diesem Fall vor allem auf die Zeit in der Tagepflege und wird entsprechend chronologisch beschrieben. Es ist auch möglich, die Maßnahmenplanung der Struktur der Themenfelder zuzuordnen. Da der Gast nur tagsüber begleitet wird und den größeren Teil der Zeit zu Hause verbringt, ist bei möglichen ermittelten Risiken eine Beratung des Betroffenen oder seiner Angehörigen erforderlich, die dann auch entsprechend dokumentiert wird, so wie bereits im ambulanten Abschnitt beschrieben.

Aus der Sicht des Praktikers

In der Kurzzeitpflege wird die neue Dokumentation ebenfalls verwendet, jedoch eher wie in der stationären Versorgung. Ein Problem im alten und im neuen System ist, dass ein verhältnismäßig großer Aufwand für die Ersterfassung betrieben wird, obwohl der Gast vielleicht nur wenige Tage bleibt. Mein Tipp: Konzentrieren Sie sich bei Kurzzeitpflegegästen in der SIS und Maßnahmenplanung vor allem auf:

Risikoeinschätzung und ggf. deren Planung,

Ermittlung der Hilfebedarfe bezogen auf die Pflege/Betreuung,

die behandlungspflegerischen Aspekte (vor allem bei Gästen die zur »Nachbehandlung« aus Kliniken kommen) und

wichtige Rituale, die durch den Gast oder dessen Angehörige in die Erfassung und dann auch in die Planung integriert werden.

Halten Sie Aspekte wie Biografie, Vorlieben und genaue Recherchen zu persönlichen Hintergründen kürzer. Empfehlenswert ist eine Beratung der Betroffenen oder ihrer Angehörigen bei der Entlassung – bezogen auf mögliche beobachtete Risiken oder Phänomene.

Für Aufenthalte bei palliativen Pflegeprozessen oder der Sterbebegleitung wäre ein ähnliches Vorgehen möglich, nur eben mit der konkreten Ausrichtung.

Hinweis

Bitte schauen sie auf der Website von EinSTEP (www.ein-step.de) nach neuen Regelungen und Vorschlägen zu Kurzzeitpflege und Tagespflege.

3.3 Element 3: Das Berichteblatt (Verlaufsdokumentation)

Wie bisher beschrieben konzentriert sich die Pflege-/Betreuungsdokumentation auf die Absprachen und Beobachtungen aus der SIS und auf die daraus folgenden Maßnahmen – und das im Einverständnis mit dem Bewohner oder Kunden.

Durch die Immer-so-Regel (s. Kapitel 2 und 5) konzentriert sich die Dokumentation im Berichteblatt auf die Abweichungen von der Regel. Neben diesen Abweichungen werden wie bisher z. B. Angehörigenbesuche, pflegerische und medizinische Besonderheiten oder spezielle Besonderheiten beschrieben, wie z. B. »Herr M. hatte heute einen Schwächeanfall …« – »Fr. W. konnte heute nicht gewaschen werden, weil …« – »Frau I. hat heute ausnahmsweise an der Hausfeier teilgenommen« etc. Ebenfalls können Arztkontakte, wenn diese nicht an anderer Stelle dokumentiert sind (einige Einrichtungen führen ein ärztliches Kommunikationsblatt), eingetragen werden.

Das Berichteblatt liefert im besten Fall viele Einzelinformationen und ggf. auch Verläufe, die in der Evaluation gebündelt und ausgewertet werden. Nimmt beispielsweise ein Bewohner immer wieder an bestimmten Angeboten nicht teil, muss überlegt werden, warum das so ist und ob es Alternativen gibt.

Um eine überbordende Dokumentation zu vermeiden, sollte über das Berichteblatt, das in aller Regel von verschiedenen Professionen verwendet wird, im Team diskutiert werden. Ziel dieser Diskussion ist es, Vereinbarungen über Inhalte und deren Umfang zu treffen. Ebenfalls müssen Anweisungen aus der Vergangenheit überdacht werden, die die Mitarbeitenden aufforderten, täglich oder in jeder Schicht zu dokumentieren. Denn auf diese Weise sind umfängliche Dokumentationen entstanden, z. B. durch Wiederholungen von:

»Es war nichts Besonderes.«

»Der Bewohner war wie immer.«

»Pflege/Betreuung nach Plan.«

Dies soll in Zukunft verhindert werden, da der Gehalt dieser Aussagen zweifelhaft und wahrscheinlich eher Routine ist. Ebenfalls sollten ständige Wiederholungen wie »… geht es gut …« – »… war wieder unruhig …« unterbleiben. Besser ist es, wichtige Beobachtungen in eine Evaluation münden zu lassen.

Damit Berichtsblätter für die Evaluation nutzbar gemacht werden können, müssen sie überschaubar bleiben. Sollte eine Einrichtung in ihrem Qualitätsmanagement entschieden haben, dass alle drei Monate beispielsweise eine »Regel-Evaluation« durchgeführt werden soll, müssten dann die Berichtsblätter gesichtet werden. In manchen Einrichtungen können dabei in diesem Zeitraum mehrere DIN-A3-Seiten zweiseitig beschrieben zusammenkommen. Werden auf diesen Seiten häufig die gleichen Routinen beschrieben, ist die Evaluation nicht nur sehr zeitaufwendig, sondern es steht zu befürchten, dass wichtige Zusammenhänge verloren gehen können.

Verschiedene Einrichtungen/Settings verwenden für die pflegerische Evaluation nicht immer ein gesondertes Formular, sondern beschreiben die Inhalte im Verlauf des Berichteblattes. Das ist Sache des Trägers und des Qualitätsmanagements. Empfehlenswert ist bei dieser Art der Dokumentation aber, Evaluationen entsprechend zu markieren, damit die gewählte Struktur übersichtlicher wird.

Aus der Sicht des Praktikers

Berichtsblätter müssen natürlich so geführt werden, dass sie dokumentenecht, leserlich und mit Datum und Handzeichen versehen sind.

3.4 Element 4: Die Evaluation (4a und 4b)

Die Evaluation bezieht sich auf den gesamten dargestellten Prozess oder aber auf einzelne individuell festgelegte Aspekte, die einer fachlichen Einschätzung bedürfen.

Unter einer Evaluation versteht man die Bewertung oder Begutachtung eines Prozesses unter fachlichen Gesichtspunkten. In der Vergangenheit hat unter diesem Aspekt eine erneute Einschätzung verschiedener Assessments stattgefunden. Dies hat oft dazu geführt, dass Risikoeinschätzungsinstrumente monatlich oder einmal im Quartal in einer Art Routine verwendet wurden, obwohl bestehende Risiken lange erkannt waren und umfangreiche Maßnahmen bereits geplant und durchgeführt wurden. Dies soll nun in der neuen Dokumentation nicht mehr geschehen.

Ist in der SIS festgestellt worden, dass in einem Lebensbereich (Sturz, Ernährung etc.) eindeutig kein Risiko besteht, würde in der (Regel-)Evaluation überprüft, ob dieser Status quo noch zutreffend ist. Dies würde bedeuten, dass ein Risiko aktiv ausgeschlossen wird (aktiver Risikoausschluss). Dieser Ausschluss kann durch die Pflegefachkraft erfolgen, beispielsweise weil der Zustand des Bewohners sich seit Erstellen der SIS nicht verschlechtert, sondern vielleicht sogar verbessert hat. Ist die Einschätzung nicht eindeutig, müsste ein Verfahren durch das Qualitätsmanagement festgelegt werden, z. B. die Anwendung eines eingeführten Assessments.

Ist in der SIS bereits ein Risiko festgestellt und eingeschätzt worden, würde in der Evaluation überprüft, ob die ergriffenen Maßnahmen noch ausreichen und das Risiko reduzieren. Auch hierfür sollte es ein abgestimmtes Verfahren durch das Qualitätsmanagement geben. Da wahrscheinlich die meisten Einrichtungen und Dienste über solche Verfahren verfügen, werden diese ggf. an die neue Dokumentation angepasst. In der Handlungsanleitung 1.1 (2015) ist nicht vorgesehen, die Erstrisikoeinschätzung bei einer Evaluation erneut zu nutzen.

Insgesamt müssten bei einer routinemäßigen Evaluation alle wesentlichen Veränderungen, aber auch Stimmung und soziale Teilhabe des Betroffenen vermerkt sein. So, dass sich ein aktuelles Bild des Betroffenen abzeichnet und auf der Grundlage der SIS einen Verlauf abbildet. Werden in der Evaluation beispielsweise Risiken oder Verhaltensweisen des Betroffenen verändert eingeschätzt, sodass bisherige geplante Maßnahmen nicht mehr zutreffen, muss die Maßnahmenplanung entsprechend angepasst werden.

Inwieweit die SIS bei in der Evaluation festgestellten Änderungen angepasst werden muss, wird aus der Handlungsanleitung 1.1 (2015) nicht ganz deutlich. Änderungen in einzelnen Themenfeldern müssen in der SIS bei papiergestützter Dokumentation immer mit Datum und Mitarbeiterkürzel versehen sein.36

Wenn ein Pflegebedürftiger durch einen gesundheitlichen Einbruch (Schlaganfall, Oberschenkelfraktur mit Mobilitätsverlust etc.) eine deutlich veränderte Lebenssituation aufweist und dies in den meisten Themenfeldern der SIS, ist es sinnvoll, eine neue anzulegen. Empfehlenswert ist der Hinweis, dass statt einer Routine-Evaluation eine neue SIS erstellt wurde, in die dann die aktuelle Situation, aber auch die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen einfließen können. Ein möglicher neuer Aushandlungsprozess wird dann ebenfalls in den Themenfeldern hinterlegt. Dieses Verfahren ist bei der Nutzung von Software unproblematisch. Einrichtungen oder Dienste, die die SIS und die Maßnahmenplanung in den Vordruck37 eintragen, können mit »copy and paste« noch gültige Aussagen aus der ersten SIS einfach übertragen.

Aus der Sicht des Praktikers

Im Rahmen der SIS-Erstellung bitten wir die Pflegebedürftigen oder ggf. die Angehörigen, die SIS als Ausdruck einer gemeinsamen Verständigung mit zu unterschreiben. Wird die SIS erneuert, muss allerdings auch die Unterschrift erneuert werden.

Sollten einzelne Veränderungen in der SIS angepasst werden, müssten diese wie bisher mit Handzeichen und Datum kenntlich gemacht werden.38 Zu bedenken ist jedoch dabei, dass bei einer händisch geführten Dokumentation auch die Art und Weise unübersichtlich werden kann. Zu bedenken ist ebenfalls, dass in diesem Fall in der Evaluation ein Hinweis auf eine Änderung stehen würde. Wenn diese Änderung dann auch in der SIS steht, wäre dies eine doppelte Information. Empfehlenswert ist es, möglichst wenige Nachträge in der SIS vorzunehmen, sondern stattdessen aktuelle Informationen in der Evaluation zu belassen. Gegebenenfalls wird bei einer wesentlichen Zustandsänderung eine neue SIS erstellt.

Über eine weitere Rahmenbedingung sollte das Qualitätsmanagement nachdenken: über das bestmögliche und sicherste Verfahren in der Evaluation. Hier gibt es keinen Königsweg, nur unterschiedliche Möglichkeiten, die mehr oder weniger zu der eigenen Organisation passen. EinSTEP favorisiert ein Verfahren, in dem keine Regelintervalle verwendet werden, sondern die Pflegefachkraft (bezogen auf die einzelnen Handlungsfelder/Risiken von Bewohnern) selbst Evaluationsintervalle festlegt. In diesem Fall ist es Aufgabe des Qualitätsmanagements, intensiv an den Kriterien zu arbeiten, die zu einem sicheren, selbstbestimmten und selbstgesteuerten Vorgehen führen. Bei einem anderen Ansatz werden interne Evaluationsintervalle für Pflegesituationen festgelegt, z. B. dreimonatliche Regelevaluation bei stabilen Pflegesituationen. Kürzere Intervalle werden bei instabilen Pflegesituationen durch die Pflegefachkraft initiiert. Längere Intervalle werden ebenfalls von der Pflegefachkraft bestimmt und schriftlich begründet.

Ergänzt werden die Informationen für die Evaluation aus dem Pflegebericht mit den Inhalten der verschiedenen ergänzenden Dokumente, soweit diese für den entsprechenden pflegebedürftigen Menschen geführt wurden.

Aus der Sicht des Praktikers

Als Orientierungshilfe für die Evaluation sollten Merkpunkte im Qualitätsmanagement-Handbuch hinterlegt werden.

Beispiel*:

1. Gibt es eine grundsätzliche Veränderung im Zustand (AZ oder EZ) des Bewohners?

Gab es Besonderheiten wie Krankenhausaufenthalte oder akute Ereignisse, haben diese möglicherweise Einfluss auf die Planung?

Alle Maßnahmen/Module in der Maßnahmenplanung müssen auf ihre Aktualität hin überprüft und gegebenenfalls angepasst werden.

2. Medikamente werden auf Notwendigkeit überprüft, beispielsweise bei Polypharmazie oder bei Medikamenten, deren Einnahmedauer problematisch sein kann (z. B. Benzodiazepine).

3. Wenn freiheitsentziehende Maßnahmen vorgenommen werden, sind diese im Rahmen der Evaluation auf ihre Notwendigkeit hin zu überprüfen.

4. Mögliche Risiken werden durch die Pflegefachkraft ein- oder ausgeschlossen. Mögliche genutzte Assessments sind aktuell ausgewertet oder werden ggf. neu bewertet (Schmerz, Sturz oder andere). Gibt es in der Evaluation kein Risiko (also Risikoausschluss) auch bezogen auf die erste Einschätzung in der SIS, muss nichts gemacht werden und der Status wird bestätigt. Hat sich der Zustand verändert, findet eine fachliche Einschätzung wie im Qualitätsmanagement-Handbuch (QMH) vorgesehen durch die Pflegefachkraft statt.

5. Vor allem im ambulanten Kontext ist die Frage notwendiger Beratungen zu beantworten, ggf. müssen auch Pflegemodule angepasst werden.

6. Die psychische, geistige und körperliche Situation sowie das Befinden werden kurz beschrieben (z. B.: »Sie macht einen zufriedenen und ausgeglichenen Eindruck, vor allem das Essen in Gemeinschaft und die Kontakte mit den anderen Bewohnern machen ihr Freude«, «Kunde kommt noch mit der Hilfe der Tochter gut zurecht«).

7. Wenn Verfahren zur Einschätzung von Wohlbefinden verwendet werden, sollten erhobene Ergebnisse eingetragen werden (beispielsweise aus dem DCM, Qualidem, H.I.L.DE.).

8. Vermerken Sie auch Beratungen, Fallgespräche und andere Informationen.

Ziel ist es, ein für alle nachvollziehbares Update zum körperlichen, psychischen und sozialen Zustand herzustellen, um ggf. Maßnahmen anzupassen.

* Auszug aus dem QMH der Städtischen Seniorenheime Krefeld 2014, Handlungsanleitung Dokumentation

Damit entsteht in adäquatem zeitlichem Rhythmus eine Evaluation, die gemeinsam mit den pflegerischen Leistungen abgebildet wird – es sei denn, dass aktuelle Ereignisse eine direkte und schnellere Evaluation erforderlich machen. Alle Eintragungen werden mit Handzeichen und Datum durchgeführt. Die ursprüngliche SIS verbleibt in der Dokumentation. Der weitere Pflegeprozess findet im Wechselspiel von Evaluation (Beobachtungen, Veränderungen im Zustand usw.) und den angepassten Maßnahmen statt, die wiederum durch die Evaluation überprüft werden.

 

 

_______________

30 Vgl. Beikirch, E.; Kämmer, K. & Roes, M., BMG (Hrsg.) (2015). Handlungsanleitung (Version 1.1) zur praktischen Anwendung des Strukturmodells (ambulant/stationär), der integrierten Strukturierten Informationssammlung (SIS) mit der Matrix zur Risikoeinschätzung, der Maßnahmenplanung und der Evaluation sowie mit Hinweisen zum Handlungsbedarf auf der betrieblichen Ebene. Berlin, 2. März 2015, S. 11. Im Internet: https://www.ein-step.de/fileadmin/content/documents/Handlungsanleitung_zum_neuen_Strukturmodell.pdf

31 Ebd., S. 32

32 Ebd., S. 32 f.

33 Vgl. Alfaro-LeFevre 2010, S. 25 f.

34 Vgl. Benner, P.; Tanner, C. & Chesla, C. (2000). Pflegeexperten, Pflegekompetenz, klinisches Wissen und alltägliche Ethik. Bern: Huber, S. 107 ff.

35 Stand: August 2016

36 Vgl. MDK & MDS (Hrsg.) (2015). Ergänzende Erläuterungen für Qualitätsprüfungen in Pflegeeinrichtungen nach den Qualitätsprüfungsrichtlinien – QPR bei Umsetzung des Strukturmodells zur Effizienzsteigerung der Pflegedokumentation. Version 3, S. 26. Im Internet: https://www.mds-ev.de/uploads/me

37 Download unter: https://www.ein-step.de/fileadmin/content/documents/SIS_stationaer_So_E02_A3_T_fin4R.pdf und https://www.einstep.de/fileadmin/content/documents/SIS_ambulant_So_E02_A3_T_fin4R.pdf

38 Vgl. MDK & MDS 2015, S. 26

4 PRAKTISCHE UMSETZUNG VON SIS IM DAUERBETRIEB – ERFAHRUNGEN AUS EINEM PILOTOBJEKT

Andreas Kutschke

»Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.«

(JOHANN WOLFGANG VON GOETHE)

Die Erfahrungen und Ergebnisse aus dem Pilotprojekt (2013/2014), so wie sie im Abschlussbericht von Elisabeth Beikirch vorgestellt wurden, können grundsätzlich für die Praxis bestätigt werden. In den vier stationären Einrichtungen der Städtischen Seniorenheime Krefeld gGmbH wird das Strukturmodell seit 2013 umgesetzt. Da die Städtischen Seniorenheime im Rahmen eines Gesamtversorgungskonzeptes arbeiten, werden im Quartier auch ambulante, teilstationäre und Kurzzeitpflege-Kunden betreut. In diesen Bereichen wird ebenfalls das Strukturmodell angewendet. In den bisher vom MDK Nordrhein und der Heimaufsicht durchgeführten Prüfungen gibt es keine Anzeichen dafür, dass das Strukturmodell den Anforderungen nicht gerecht wird.

4.1 Allgemeines

4.1.1 Umgang mit der Datenmenge

Der Hintergrund für eine Begrenzung der Datenmenge liegt auf der Hand: Mehr Geschriebenes bringt oft nicht mehr Information und wird von vielen Kollegen weniger aufmerksam und weniger häufig gelesen. Die Quantität der Informationen formal auf eine DIN-A-3-Seite zu begrenzen ist in komplexen Pflegesituationen eine Herausforderung. In diesen Fällen müssen Informationen zusätzlich hinzufügbar sein. Für diese Situationen sollte das Qualitätsmanagement vorsorgen und ergänzende Möglichkeiten schaffen. In unserer Praxis wird die Seite (DIN A 3) nur sehr selten überschritten. Wenn es doch dazu kommt, sind die Gründe hierfür:

komplexe Pflegesituationen

viele Informationen in einem oder zwei Themenfeldern durch die pflegebedürftige Person oder z. B. in der Einstiegsfrage durch viele biografische Hinweise

Mitarbeiter, die mit prägnanter Sprache Schwierigkeiten haben

In jedem Fall muss verhindert werden, dass – wie in der Vergangenheit passiert – große Mengen an Informationen erfasst, jedoch zur Steigerung der Lebensqualität der pflegebedürftigen Person nicht verwendet werden. Ein häufig zu beobachtendes Beispiel sind die biografischen Erhebungen. In vielen stationären Einrichtungen werden vorstrukturierte Biografiebögen akribisch ausgefüllt. Leider finden diese Informationen nicht immer Eingang in die Maßnahmen- und Prozessplanung.

Und was ist mit der neuen Dokumentation anders?

4.1.2 Versionen für ambulant und stationär

Zurzeit liegen zwei Versionen der SIS vor (ambulant/stationär), die sich nur marginal voneinander unterscheiden. Die Unterscheidung befindet sich in Themenfeld 6, das für die stationäre Pflege »Wohnen, Häuslichkeit« heißt und in der ambulanten Pflege »Haushaltsführung«. Dies lässt sich mit den verschiedenen Anforderungen der beiden Settings erklären. Die weitere Unterscheidung bezieht sich auf die erste Risikoeinschätzung, die in der ambulanten Pflege eine Spalte für das Thema Beratung bereithält.

4.1.3 Je früher desto besser – SIS und erste Risikoeinschätzung

Die SIS soll direkt zu Beginn des Pflegeprozesses angelegt werden, sie soll dann ein aktuelles Bild des betroffenen Hilfebedürftigen zeichnen. Wie viel Zeit bis zum Abschluss des SIS-Bogens verstreichen soll, liegt in der Entscheidung des Managements. Die Handlungsanleitung 1.1 gibt hierzu einen Hinweis von 48 Stunden bis zu einer Woche. In jedem Fall sollten zur Entscheidungsfindung Einflussfaktoren für diese Zeitbestimmung einbezogen werden. Beispielsweise geben die Expertenstandards deutliche Hinweise für einen möglichen Zeitrahmen. So steht im Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen P 1a: »Die Pflegefachkraft erhebt zu Beginn des pflegerischen Auftrags mittels eines initialen Assessments …«39; so steht es auch in dem Expertenstandard »Mobilität fördern und erhalten«40. In dem überarbeiteten Expertenstandard Sturzprophylaxe von 2013 ist es noch etwas schärfer formuliert: »Die Pflegefachkraft P1 identifiziert unmittelbar zu Beginn des pflegerischen Auftrages systematisch die […] Risikofaktoren«41. Des Weiteren ist von regelmäßiger Überprüfung der Einschätzung in individuell festzulegenden Abständen die Rede.

Eine Möglichkeit wäre die Zeit der Risikoeinschätzung auf die ersten 48 Stunden zu beschränken, es sei denn, durch triftige Gründe kann eine Verzögerung der Einschätzung begründet werden. Ein vorstellbarer triftiger Grund kann eine genaue Betrachtung der Trinkmengen sein, die sich über mehrere Tage erstreckt. Die meisten anderen Informationen außerhalb einer Risikobewertung könnten dann beispielsweise in einer oder zwei Wochen erhoben werden. In jedem Fall ist es sinnvoll, den Prozess der Erhebung in der SIS im Groben zu beenden. Der Grund hierfür ist deutlich, denn die SIS soll auch zur Aushandlung zwischen Betreuten und Pflege genutzt werden und das daraus entstehende Ergebnis wird dann im besten Fall von beiden »unterschrieben«. Die Unterschrift beider Beteiligter demonstriert vor allem, dass die in der SIS festgestellten Informationen und Absprachen auf Augenhöhe getroffen werden. Würde jetzt die SIS immer und immer wieder grundlegend verändert, würde dieses Prinzip in Gefahr geraten. Werden nach dem vereinbarten Zeitraum noch Informationen in die SIS nachgetragen, müssen diese wie auch im alten System mit Datum und Handzeichen kenntlich gemacht werden.

Wie in Kapitel 3 bereits angedeutet, kann es gravierende Gesundheitseinbrüche bei der pflegebedürftigen Person geben, bei denen sich so grundsätzlich viele Aspekte ändern, dass diese nicht mehr in der Verlaufsevaluation übersichtlich dargestellt werden können (z. B. nach Schlaganfall, Oberschenkelbruch). In diesen Fällen wird empfohlen, eine neue SIS anzulegen. Die alte SIS wird abgelegt. Aspekte, die bleiben (Wünsche, Vorlieben etc.), können für die neue Einschätzung übernommen werden.

4.1.4 Strategie für die Einführung von SIS entwickeln

»Theorien müssen – ebenso wie Lebewesen – geeignete Vorbedingungen finden, um zu wachsen und zu gedeihen.«

(HERBERT SPENCER)

Bevor mit der Umsetzung begonnen wird, sollte unternehmensintern eine Strategie für das Vorgehen abgesprochen werden. So sind wir vorgegangen:

Einführung des Strukturmodells in den Städtischen Seniorenheimen Krefeld gGmbH

Geschäftsführung, Leitungskräfte wie Einrichtungsleitungen, Pflegedienstleitungen, Leitungen Sozialer Dienst sowie die Leitung der Hauswirtschaft stimmen das Vorgehen des Pflegeprozesses inhaltlich ab (Ende Mai 2014 auf der Basis der Erkenntnisse aus dem Pilotprojekt 2013/2014)

Abt. Qualitätsentwicklung erarbeitet ein Verfahren auf der Basis der Empfehlungen und Absprachen aus dem Projekt »EinSTEP« (Juli 2014)

Ein Leitfaden für die interne Schulung der Mitarbeiter wird erstellt (Juli 2014)

Die bearbeiteten neuen Leerdokumente werden in das Intranet eingestellt und bilden die Grundlage für die internen Prozesse, die Handlungsanleitung für die neue Dokumentation auf die SIS angepasst für stationäre und ambulante Pflege, alle weiteren Dokumente im QMH werden an das neue System inhaltlich angepasst und im Wording überarbeitet

Schulungen finden in den Häusern statt, jeweils eine kurze Veranstaltung zur Vermittlung des Prinzipien und des Systems und eine, in der Praxisbeispiele bearbeitet werden

Zur Flankierung des Umsetzungsprozesses richtet das QM eine telefonische und PC-gestützte Mitarbeiterhotline ein. Auf diese Weise kann mit einem Vieraugenprinzip ein großer Teil der neu erstellten Dokumentationen zeitnah bearbeitet und reflektiert werden. Die beiden Mitarbeiter aus dem Qualitätsmanagement bearbeiten ca. 40 Dokumentationen gemeinsam, dies soll dazu dienen die Beurteilungsqualität zu verbessern

Die vier Quartiere haben mit ihren verschiedenen Pflegesettings nacheinander begonnen, bei allen neu einziehenden/aufgenommenen Kunden das neue System umzusetzen (August/Januar 2014/15)

Nach den Schulungen wurden die Planungen primär bei Neuaufnahmen eingesetzt; dies bedeutet, die Umsetzung geschieht Zug um Zug; die Kolleginnen und Kollegen vor Ort können auch »alte« Dokumentationen nacharbeiten

Anfang 2016 sind bis auf wenige Ausnahmen alle Dokumentationen auf das neue System umgestellt

Jetzt werden neue Mitarbeiter, Zeitarbeitsmitarbeiter und Auszubildende primär von den Mitarbeitern geschult, die das System besonders gut verinnerlicht haben

Pflegedienstleitungen und das Qualitätsmanagement überprüfen stichprobenweise die Dokumentationen vor allem auf Genauigkeit bei der Risikoeinschätzung und der Einhaltung der Evaluationsdaten

Die neue Dokumentation wird nur von entsprechend qualifizierten (Bezugs-) Pflegefachkräften durchgeführt.

Die Dokumentation sollte in jedem Fall mit der Einstiegsfrage an den zu Betreuenden beginnen; Informationen, die während des Gesprächs aufgenommen werden und eine Relevanz für die anderen Themenfelder haben, sollten direkt diesen Bereichen zugeordnet werden. Wenn in Ihrer Einrichtung vor dem Einzug oder dem ersten Pflegeeinsatz Besuche bei den Betroffenen gemacht werden, bekommt man häufig dort schon viele Informationen, die entweder zu der Einstiegsfrage oder einem der Themenfelder passen. Diese können direkt in der SIS aufgenommen werden.

Hinweis

4.2 Unser Vorgehen im Detail – Felder A bis C2

4.2.1 Feld A

Diese Kopfzeile wird wie in vielen anderen Dokumentationsblättern zur Orientierung genutzt. Neben dem Namen der pflegebedürftigen Person wird das Geburtsdatum und das Datum, an dem das Gespräch (Gespräch am) mit der pflegebedürftigen Person geführt wurde, eingetragen. Dieses Datum ist auch notwendig, um die Zeit der Einschätzung nachvollziehen zu können, ab diesem Datum zählt die Zeit bis zur Einschätzung z. B. der Risiken.

Dann folgt das Handzeichen der Pflegefachkraft, die in gewisser Weise die Verantwortung für die Informationen übernimmt. In der Folge kann/sollte die pflegebedürftige Person unterschreiben. Wenn der Betroffene beispielsweise aus gesundheitlichen/kognitiven Gründen nicht mehr unterzeichnen kann, kann dies durch eine nahestehende angehörige Person oder den rechtlichen Betreuer erfolgen. Natürlich kann der Betroffene bzw. dessen Angehörige nicht zu einer Unterschrift verpflichtet werden, dennoch sollte es sehr ernsthaft angeboten werden. Im Grunde sind die beiden Unterschriften ein Ausdruck eines gemeinsamen Übereinkommens über die Inhalte der SIS. Im Praxistest 2013/2014 wurde nach Aussagen der Handlungsanleitung (Vers. 1.1) diese Funktion nur selten genutzt. Interessant wäre zu erfahren, warum. In unserer Praxis stellt sich heraus, dass in den meisten Fällen der Betroffene oder ein naher Angehöriger unterschreibt.

Bei genauem Nachfragen kristallisieren sich zwei Grundbotschaften heraus: 1) »Wir sind überrascht, dass wir beteiligt werden« und 2) »Ist unsere Meinung denn wichtig?« Partizipation der Betroffenen in dieser Form hat in der Pflege keine Routine und ist für beide Seiten gewöhnungs- und entwicklungsbedürftig.

Es ist aus den praktischen Erfahrungen nicht sinnvoll, direkt am ersten oder zweiten Tag die Betroffenen um eine Unterschrift zu bitten, sondern es ist eher eine Konsequenz nach einer gemeinsamen Informationserhebung.

Es muss deutlich kommuniziert werden, dass die Unterschrift nicht auf eine Rechtsfolge gerichtet ist. Sie ist eher das sichtbare Symbol gemeinsamer Absprachen.

In der ambulanten Pflege werden vor dem erste Pflegeeinsatz mit dem Pflegekunden Kostenvoranschläge vereinbart und im positiven Fall von dem Betroffenen als Pflegevertrag unterzeichnet. In diesem Fall hat die Unterschrift eine Rechtverbindlichkeit. Die Vereinbarung mit dem Kunden ist nicht vergleichbar mit der Erhebung in der SIS. In der SIS geht es um persönliche Informationen und fachliche Einschätzungen, wobei versucht wird einen Konsens herzustellen.

4.2.2 Feld B

4.2.2.1 Eingangsfrage an die pflegebedürftige Person (ungefilterte Aussage)

Die Einstiegsfrage ist eine der wesentlichen Innovationen der SIS. In den meisten bisherigen Pflegedokumentationen wurden konkrete Äußerungen der Betroffenen nicht aufgegriffen und in den Prozess eingebunden.

In der Eingangsfrage wird die pflegebedürftige Person gebeten, über »früher«, »jetzt« und ihre Zukunftswünsche zu sprechen. Die wesentlichen Aussagen werden wörtlich wiedergegeben. Den Bewohnern wird hierdurch die Möglichkeit gegeben, ihre Sichtweise, ihre Prioritäten, aber auch ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Offene Fragen nach Wichtigem (z. B. Sorgen und Ängste) aber auch weniger Wichtigem wie die Frage nach Musik, Zeitungen etc. können das primär offene Gespräch ergänzen. Das Gespräch soll narrativ/erzählend erfolgen und kann sowohl durch Pflegekräfte als auch durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozialen Dienstes erfolgen. Wichtig ist, dass das Gesagte so dokumentiert wird, wie es gesagt wurde, und die Inhalte nicht von der zuhörenden Kraft interpretiert werden. Zu befürchten ist, dass sonst Inhalte verfälscht werden und so für das weitere Vorgehen unbrauchbar werden.

Aus der praktischen Erfahrung wird in diesen ersten persönlichen Gesprächen oft schon deutlich, welche Prioritäten der Betroffene setzt, was aus seiner Sicht wichtig oder weniger wichtig ist.

Ausschnitte aus realen Beispielen der Einstiegsfrage:

Was brauchen Sie? Was können wir für Sie tun?

»Ich war schon immer ein Nachtmensch, manchmal kann ich nicht schlafen, dann gucke ich Fernsehen oder mache Kreuzworträtsel, ich will keine Schlaftabletten …« In diesem Beispiel gibt es bei aller Kürze bereits einige Hinweise, die für die Pflege vor allem in der Nacht richtungsweisend sind.

»Mein Mann verfolgt mich und will mich töten, deshalb heiße ich nicht mehr …, sondern bin für alle Frau …, verstehen Sie das? Mein Leben hängt davon ab.« In diesem Fall handelt es sich um eine Bewohnerin mit einer psychotischen Störung. Die fachliche Beschreibung würde in dem folgenden Themenfeld »Kognition Kommunikation« beschrieben. Eine wesentliche Priorität für diese Bewohnerin wird sehr deutlich. In diesem Fall hat es dazu geführt, den Wunschnamen der Bewohnerin an der Zimmertür aufzuhängen.

Autor

  • Karla Kämmer (Herausgeber:in)

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Titel: Die neue Pflegedokumentation