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Das Glück ist ein Schmetterling

Vorlesebuch für Senioren. Heiter-besinnliche Kurzgeschichten

von Irén Beer-Kuhner (Autor:in) Katrin Bendrich (Autor:in) Martina Rühl (Autor:in) Bernd Saal (Autor:in) Susann Winkler (Autor:in)
128 Seiten

Zusammenfassung

Heiter-besinnliche Kurzgeschichten für die Aktivierung und Erinnerungsarbeit.
Ideal für Gruppenstunden oder die kleine Aufmunterung zwischendurch.
Geschichten für die festlichen und alltäglichen Tage im Jahreskreis.

Augenblicke des Glücks ergeben sich ganz von selbst beim (Vor-)Lesen der Geschichten dieses Buches. Die Autoren schreiben von Momenten der Freude, der Liebe und der Hoffnung: mal heiter, mal besinnlich, mal nachdenklich oder aufmunternd.
Mit diesen Geschichten lassen sich Gespräche einleiten oder vergnügte Gruppenstunden veranstalten. Angeordnet im Jahreskreis illustrieren die kurzen Erzählungen Erinnerungen an Feiertage oder Erlebnisse, an die viele Senioren gern zurückdenken.
Ein ideales Taschenbuch für die Aktivierung und Erinnerungsarbeit mit Senioren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Im neuen Jahr

Die heiligen drei Könige

Bernd Saal

Es gibt böse Geschichten. Da werden Verdächtigungen ausgesprochen, die keinen Funken Wahrheit enthalten. Da wird hinter dem Rücken Schlechtes über einen Menschen geredet. Die bösen Worte eilen von Mensch zu Mensch, stets kommt etwas hinzu, aber niemand hat den Mut zu sagen: »Halt! Wir wollen gut über unsere Mitmenschen reden. Wir wollen uns das Leben nicht noch schwerer machen, als es ohnehin ist.«

Doch einmal war alles anders.

Er erwachte ganz früh morgens. Noch im Halbschlaf glaubte er eine Stimme zu hören, die ihm sagte. »Die Welt ist freundlich. Lebe auch Du freundlich.« Dieser Satz begleitete ihn den ganzen Tag.

Als er durch die Stadt ging, schienen die Menschen diesen Satz zu rufen. Die Verkäufer lächelten ihn an. Die Menschen grüßten ihn verwundert, aber höflich. Jedes Gespräch, das er führte oder dem er lauschte, schien ihm zu sagen: »Die Welt ist freundlich. Lebe auch Du freundlich.«

Er dachte darüber nach, ob er wohl am Vorabend zu viel getrunken hatte, aber das konnte es eigentlich nicht gewesen sein. Er hatte nur Tee getrunken – mit einem kleinen Schuss Rum, das musste er zugeben. Doch das konnte seinen Zustand nicht erklären. Er fühlte sich auch nicht überarbeitet, obwohl die vergangenen Wochen sehr schwer für ihn gewesen waren. Nein, er fand einfach keinen Grund dafür, warum ihm jetzt alles zuzulächeln schien. Als er die tiefen Töne der Kirchenglocken hörte, ging er in den großen stillen Raum, setzte sich auf eine Bank und kam zur Ruhe. Vorn, neben dem Altar, stand eine große Krippe. Er konnte die heiligen drei Könige sehen. Sie sahen richtig schmuck aus in ihren feinen Gewändern und mit ihrer hoheitsvollen Haltung. Er kannte ihre Geschichte.

Eigentlich waren es Sterndeuter, aus denen die Überlieferung im Laufe der Jahrhunderte drei Könige gemacht hatte. Doch, ob Sterndeuter oder König, ob drei oder mehr – diese Männer waren mit ihren Gaben einem Stern gefolgt. Sie waren aufgebrochen, als es Zeit war und suchten ihren König, dem sie ihre Gaben darboten. Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Er saß still auf seiner Kirchenbank und dachte nach. Der Tag war schon ein wenig sonderbar gewesen: die Stimme am frühen Morgen, die Erlebnisse mit den Menschen in seiner Stadt. Während er so nachdachte, fiel sein Blick wieder auf die Krippe und – das war doch nicht möglich! – die Figuren darin bewegten sich! Er sah, dass die heiligen drei Könige dem Jesuskind ihre Gaben brachten.

Der erste König reichte dem Jesuskind das Gold. Das kleine Kind in der Krippe nahm es in seine Hände, segnete es und gab es dem König zurück.

»Mit dem Gold kannst du Gutes und Böses tun. Du kannst den Armen und Kranken helfen oder Armeen bezahlen und Kriege führen. Nimm die Gabe, die du mir schenken wolltest und setze sie zum Segen ein für alle Menschen.«

Der König verbeugte sich tief und nahm das Gold wieder entgegen.

Der zweite König reichte dem Kind eine Schale mit Weihrauch. Auch diese Schale nahm das Kind entgegen, segnete sie und gab sie dem König zurück.

»Ihr Menschen zündet oft wohlriechende Kräuter an, wenn ihr betet. Der aufsteigende Rauch macht eure Gebete sichtbar.

Nimm die Gabe, die du mir schenken wolltest, wieder entgegen und denke daran, dass deine Gebete zu meinem Vater im Himmel dich zu deinen Mitmenschen führen sollen.«

Auch dieser König verbeugte sich tief und nahm sein Geschenk entgegen.

Der dritte König reichte dem Kind einen Korb mit Myrrhe. Das Kind in der Krippe nahm auch diese Gabe an, segnete sie und reichte sie dem König zurück.

»Myrrhe ist ein Zeichen für das Leid. In ihr spiegelt sich mein künftiges Leiden wider und auch dein zukünftiger Weg. Nimm die Gabe, die du mir schenken wolltest, zurück, und nimm deinen Weg an. Er wird dich verwandeln. Du wirst tief hinabsteigen in die Seelen der Menschen und du wirst ihnen helfen, ihre Seelen zu heilen.«

Auch der dritte König verbeugte sich tief und nahm sein Geschenk entgegen.

Dann war alles still. Unbeweglich verharrten die Figuren in der Krippe. Hatte das Licht ihn getäuscht? War er eingeschlafen und hatte geträumt? Er schüttelte den Kopf. Heute ist entschieden ein seltsamer Tag, dachte er.

Doch als er zur Tür hinausging und den Weg zum Marktplatz einschlug, da rief ihm ein Kind zu: »Alles Gute noch zum neuen Jahr!«

Und plötzlich ging ihm der Sinn all der seltsamen Geschehnisse auf, die ihm den ganzen Tag wiederfahren waren. Ja, das neue Jahr sollte gut werden. Es konnte gut werden – wenn er etwas dafür tat. »Die Welt ist freundlich«, dachte er. »Also will ich freundlich leben.«

So änderte er seine Haltung, seine Gedanken, seine Handlungen. Von nun war er freundlich zu allen Menschen und wie ein Samenkorn ging diese Freundlichkeit auf, spross und wuchs und gedieh. Später dachten die Menschen in der Stadt: »Was ist das doch für eine schöne Zeit! Wir reden freundlich miteinander, grüßen uns höflich, helfen uns – und wenn mal jemand etwas Böses sagt, dann rufen wir gleich »Halt – wir wollen uns das Leben doch nicht noch schwerer machen, als es ohnehin ist.«

Das Kind in dem goldenen Boot

Bernd Saal

Es war einmal ein ganz normaler Junge, der in einer ganz normalen Stadt aufwuchs. Dort gab es eine Schule und ein Rathaus, eine Kirche, einen Bäcker, einen Metzger und selbst einen Supermarkt. Der Junge wuchs auf, ging zur Schule, spielte am Nachmittag, machte seine Hausaufgaben – jeder Tag ging so vorüber und ein Tag glich dem anderen.

Doch eines Tages merkte der Junge, dass er seine Freunde verloren hatte. Sie hatten alle keine Zeit mehr für ihn. Sie waren mit so vielem anderen beschäftigt, dass niemand mehr mit ihm auf der Straße Fußball spielen wollte. Keiner hatte die Zeit, am Fluss entlang zu streifen oder im Herbst Drachen steigen zu lassen. Der Junge war immer öfter allein und saß mit seinem Ball auf der Bank im Park.

Seine Freunde hatten keine Zeit, weil sie nach der Schule ihre neuen Computerspiele ausprobierten. Jeder saß dann in seinem Zimmer und spielte gegen andere, die auch in ihrem Zimmer saßen, irgendwo auf der Welt.

Der Junge kam sich ganz sonderbar vor und dachte: »Ich gehöre sicher einer anderen Welt an.« Und weil er so dachte, stand er eines Tages von seiner Bank auf und ging davon. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, verließ die Stadt und suchte die Welt, zu der er wohl gehören würde. Dort hätten die Menschen Zeit für ihn – das wusste er.

Als seine Eltern abends nach Hause kamen, da vermissten sie ihren Sohn zwar. Aber sie dachten sich, er sei bei seinen Freunden und setzten sich erst einmal vor den Fernseher. Doch als es spät und später wurde, bekamen sie es mit der Angst zu tun und begannen, seine Freunde anzurufen. Aber die wussten von nichts, sie hatten den Jungen schon lange nicht mehr gesehen.

Der Junge aber ging fort, mit den Händen in der Hosentasche. Er ging durch Wälder, Dörfer und Städte. Er überquerte Flüsse und kam bis ans Meer. Dort wurde ihm seine Einsamkeit bewusst. Grau lag das Meer da, unüberwindlich und kalt. Der Junge weinte und suchte Schutz in den dürren Gräsern der Dünen. »Morgen gehe ich zurück«, sagte er sich. »Ich finde die Welt nicht, zu der ich gehöre.«

Doch als der Mond aufging und er übers Meer blickte, da sah er einen goldenen Schimmer auf den Wogen tanzen. Ein goldenes Boot kam auf ihn zu. Ein Kind saß darin und winkte ihm zu. Der Junge stieg ins goldene Boot und fuhr hinaus aufs Meer.

Dort draußen deutete das Kind aufs Meer und sagte zu dem Jungen: »Das ist deine Welt. Sie ist einsam und leer und voller Traurigkeit. Du kannst darin nicht leben. Niemand kann in einer solchen Welt leben. Deshalb bin ich zu dir gekommen. Ich möchte dir etwas zeigen. Doch damit ich das tun kann, musst du etwas tun. Du musst dich umdrehen und zurückschauen.«

Der Junge zögerte. Das Boot schwankte und er hatte Angst, dass er über Bord fallen würde, wenn er sich jetzt umdrehte. Aber das Kind nickte ihm freundlich zu und so stand er tapfer auf und blickte zurück. »Aber ich sehe ja nichts«, wollte er gerade ausrufen, als er einen hellen Lichtschein bemerkte. Immer heller wurde der und der Junge erkannte, dass der Strand direkt vor ihm lag: Warm war er und weiß glänzte – und er war voller Menschen!

Direkt vor ihm standen seine Eltern und winkten ihm zu. Sie waren noch in der Nacht aufgebrochen und hatten ihn gesucht. Auch seine Freunde waren da, mit ihren Eltern. Stundenlang hatten sie in der Kälte nach ihm Ausschau gehalten, bis sie ihn entdeckten – im Park, den Anorak über den Kopf gezogen, den Ball in der Hand. Der Junge hatte sein ganzes Abenteuer nur geträumt. Er war eingeschlafen, vor Kälte und vor Müdigkeit. Hätten seine Eltern, seine Freunde und deren Eltern ihn nicht gesucht – er wäre vor Kälte gestorben.

Diese Nacht veränderte die ganze Stadt, denn jeder nahm Anteil an der Geschichte des Jungen und an seiner Einsamkeit.

In dieser Nacht begannen die Menschen zu begreifen, was Glück wirklich bedeutet: dass niemand in dieser Welt einsam sein muss und dass man die Einsamkeit überwindet, indem man zurückschaut und wirklich sieht.

Es ist nicht immer wahr, dass Menschen nur an sich selbst denken. Sie können sehr wohl freundlich, hilfsbereit und liebevoll sein. Man muss ihnen nur manchmal die Gelegenheit dazu geben.

Frühjahrsputz

Susann Winkler

Vera hatte sich in diesem Jahr fest vorgenommen, neben dem normalen Frühjahrsputz auch endlich den Dachboden aufzuräumen. Dort sammelte sich seit Jahren alles, was eigentlich ausrangiert und unnütz war, aber irgendwie doch zu gut, um es wegzuwerfen. Vera war nicht übermäßig sparsam, allerdings vertrat sie die Ansicht, dass man alles irgendwann noch einmal brauchen konnte. Doch, selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte sie längst nicht mehr gewusst, was sie alles aufbewahrt hatte und noch viel weniger wo. Also stapelten sich, seit Ewigkeiten unberührt, Kleidungsstücke, die nicht mehr passten, Blumentöpfe, die einen Sprung hatten, Schallplatten aus ihrer Jugendzeit und, und, und.

Den meisten Raum aber nahmen alte Spiel- und Anziehsachen ihrer Kinder ein. Die waren mittlerweile selbst Eltern und hatten Veras Angebot nie angenommen, alles Brauchbare für die Enkel wiederzuverwenden. Aber die Sachen, die sie damals mit viel Liebe und Bedacht für ihre Kinder ausgesucht hatte, waren heute nicht mehr zeitgemäß. Trotzdem musste Vera einige Male schlucken, als sie die zahlreichen Häkeljäckchen und -kleidchen betrachtete, an denen sie als junge Mutter viele Abende bis in die Nacht hinein gearbeitet hatte. Die konnte sie jetzt nicht einfach so in den Müll werfen.

Doch von den meisten Dingen, die den Speicher füllten, würde Vera sich trennen müssen, da half alles Jammern nichts. Es gab Unmengen an Büchern und Zeitschriften, Töpfe, alte Backformen, Wollreste, löchrige Bettdecken und kaputten Weihnachtsschmuck – um nur Einiges zu nennen.

In einem alten Kinderwagen fand Vera die Trompete ihres Mannes. Sie erinnerte sich, dass Peter in jüngeren Jahren recht häufig gespielt hatte, sogar auf Festen war er mit Freunden aufgetreten. Und dann fiel ihr auch wieder der Grund ein, weshalb das Instrument schließlich auf dem Dachboden geendet war. In einem Streit hatte Vera ihrem Mann damals vorgeworfen, er vertrödle seine Zeit mit Trompete spielen, während sie vor Arbeit nicht wisse, wo sie zuerst hinlaufen solle. Außerdem könnten die Kinder bei dem Krach nicht schlafen.

Heute kam ihr das ziemlich ungerecht vor. Was musste Peter wohl damals von ihr gedacht haben? Dennoch hatte er kein einziges Widerwort gegeben und das Instrument seither nicht mehr angerührt. Vera würde ihm die Trompete am Abend geben und ihn um Verzeihung bitten.

Aber zunächst musste sie weiter Aussortieren, das Nützliche vom Unnützen trennen und das Wertvolle vom Wertlosen. Bei vielen Dingen grübelte Vera lange darüber nach, zu welcher Kategorie sie wohl gehörten.

Unschlüssig hielt sie ein Paar gelb und grün gestreifte Gummistiefel in der Hand. Sie waren ein Notkauf gewesen, in einem schrecklich verregneten, aber sehr glücklichen Ostseeurlaub. Später entdeckte Vera zwei Poesiealben aus ihrer Schulzeit, tütenweise Briefe und Fotografien sowie einige Pokale, die ihr Mann bei Schachmeisterschaften gewonnen hatte. Was in aller Welt sollte sie mit all diesen Dingen tun? Sie waren mit Sicherheit nicht nützlich, aber doch wertvoll. Vera beschloss, alle fraglichen Gegenstände in eine separate Kiste zu packen und später ihrem Mann zu zeigen. Die Kiste füllte sich rasch, bald kam eine zweite dazu, eine dritte und schließlich eine vierte.

Als Peter am späten Nachmittag von der Arbeit heimkehrte, hielt Vera ihm mit einem schuldbewussten Lächeln die Trompete hin. Die anderen Funde wollte sie ihm nach dem Abendessen zeigen.

Die beiden hatten es sich gerade am Esstisch gemütlich gemacht, als sich ihre Tochter Gabi dazugesellte. Sie wohnte in der Nachbarschaft und schaute häufig vorbei. Gabi begann sofort in den großen Kartons herumzustöbern. Besonders angetan hatte es ihr eine Reihe von Hochzeitsgeschenken ihrer Eltern. Vera hatte damals alle Geschenke, die ihr nicht gefielen, auf den Dachboden gestellt und erst heute wiedergefunden. Die meisten Dinge waren für ihre Aussteuer bestimmt gewesen: hässliches Geschirr, noch hässlichere Bettwäsche, Handtücher und Blumenvasen in allen Variationen.

Tante Brigitte hatte ihnen damals einen grauenhaften Kerzenleuchter geschenkt. Vera war ziemlich gekränkt gewesen. Nun, 34 Jahre später, nahm ihre Tochter den Leuchter aus der Verpackung und Vera konnte sich nicht helfen, sie fand ihn noch genauso unerträglich, wie damals. Als Gabi den Kerzenständer wieder verstauen wollte, meinte sie: »Hier ist noch etwas, Mama. Schau mal!«

Sie reichte ihrer Mutter ein Briefkuvert. Vera drehte den Umschlag ungläubig hin und her; sie war sich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Ungeduldig riss Vera das Kuvert auf.

Es kam eine Karte zum Vorschein und zwei Eintrittskarten. Eintrittskarten für eine Eisrevue, die damals über Monate ausverkauft gewesen war. Vera hatte sich sehnlichst gewünscht, unter den Zuschauern sein zu dürfen, aber die Eintrittspreise waren für eine junge Frau unbezahlbar gewesen. Gerührt betrachtete sie nun die verfallenen Billets und seufzte schließlich: »Oh, Tante Brigitte! Der scheußliche Leuchter ist dir ab sofort verziehen.«

Im Laufe des Abends zeigte Vera ihrem Mann und ihrer Tochter noch einige der Schätze, die sie an diesem Tag gefunden hatte. Als sie Peter fragte, wo sie denn all die Dinge nur aufbewahren sollten, meinte er lächelnd: »Weißt du, meine Liebe, wir sollten uns wirklich sehr glücklich schätzen, dass wir mehr schöne Erinnerungen haben, als wir in einem Haus unterbringen können.«

Kindermund tut Wahrheit kund!

Martina Rühl

Als mein kleiner Enkel Leon das Licht der Welt erblickte, hielt ich ihn stolz und glücklich in den Armen und betrachtete dieses kleine Wunder der Natur ausgiebig mit den Augen einer bedingungslos liebenden Oma.

Da ich nicht für seine Erziehung verantwortlich war, konnte ich meiner Zukunft als Oma ganz gelassen entgegen sehen.

Besonders amüsant wurde es, als Leon zu sprechen begann. Eine Zeit lang antwortete er auf jede Frage: »Nee, nee!« Das nutzten wir Erwachsenen spaßeshalber aus und fragten ihn: »Möchtest du ein schönes Geschenk zu Weihnachten haben?« Leon sagte: »Nee, nee!« – »Und zum Geburtstag? Möchtest du da eins haben?« Leon antwortete wieder: »Nee, nee!«, worauf wir meinten: »Na gut, aber sag nachher nicht, wir hätten dich nicht gefragt.«

Bis Leon ganze Sätze sprach, dauerte es ein Weilchen. Da die Kommunikation in seinem näheren Umfeld auch mit wenigen Worten klappte, bestand dazu auch keine Veranlassung. So sagte Leon zum Beispiel: »Müde bin!« oder »Alt bin!« Anschaulich verfiel er in einen schwerfälligen Gang und hielt sich eine Hand an den schmerzenden Rücken. »Guck mal«, sagte meine Tochter zu mir, »das hat er sich von dir abgeschaut.« Ich war kurzfristig etwas beleidigt.

Wenn Leon ein schweres Buch durch die Gegend schleppte, sagte er: »Stark bin«, fiel er beinahe hin, kommentierte er das mit einem lässigen: »Knapp ey!«

Als Leon zwei Jahre alt war, holte meine Tochter den Hund Sam in die Familie. Bei gemeinsamen Spaziergängen mischte Leon sich liebend gerne in dessen Erziehung ein. Er kommandierte wie ein Großer: »Hähäm, aus!« Der arme Hund, der ganz ruhig neben ihm gelaufen war, schaute ihn verdutzt an (die beiden befanden sich auf gleicher Augenhöhe) und fragte sich gerade, was er wohl falsch gemacht haben könnte, als schon die nächste Maßregelung kam, die wieder lautete: »Hähäm, aus!«

Die ersten Sätze sprach Leon, wenn sein Opa den Raum verließ. Er fragte enttäuscht: »Isser Opa bloß hin?« und brachte seine Freude über dessen Zurückkommen mit einem seligen: »Ach, da isser ja ja ja!« zum Ausdruck.

Als Leon wieder bei uns übernachtet hatte, sagte er morgens leidend zu mir: »Oma, mir dehts nich dut!« Auf mein mitfühlendes Nachfragen, was ihm denn fehle, meinte er: »Ich hab Durchfall und Abfall!« Von dieser unglücklichen Kombination hatte ich bis dahin auch noch nichts gehört, aber man lernt ja bekanntlich nie aus.

Als der wachsame Knabe einmal auf meinem Schoß saß, betrachtete er intensiv mein Gesicht und bemerkte: »Oma, deine Haare sehn aber nich dut aus… und deine Augengrauen auch nich!«

So, da wusste ich ja Bescheid! Wahrscheinlich bin ich ein einziges Augengrauen, dachte ich deprimiert. Es heißt ja nicht umsonst, Kindermund tut Wahrheit kund!

Dann wurde Leon wissbegieriger und die Fragerei ging los. Fuhr ein Auto vorbei, wollte er wissen: »Wo fährt der hin eigentlich?« Kannte er eine Verpackung nicht, hieß es: »Was ist da drin eigentlich?« Gefiel ihm jemand nicht, fragte er: »Wie sieht der aus eigentlich?«, stieg ihm ein Duft in die Nase: »Wo riecht das nach eigentlich?«

Der kleine Leon stellte so viele Fragen, dass wir ihn fortan nur noch den »Quizmaster« nannten. Gott sei Dank war mein Geduldsfaden als Oma so lang wie ein dickes Wollknäuel, was in jungen Jahren mit meinen eigenen Kindern leider nicht immer der Fall gewesen war.

Eines Tages wollte der Kleine mit Uroma und mir Ball spielen. Da er die Arme aber weit auseinander hielt und seine Reaktion noch nicht die schnellste war, konnte es mit dem Fangen nicht klappen. Nach einigen Fehlversuchen schaute er uns brummig an und sagte genervt: »Ihr müsst auch mal üben!«

Am Abend vor seinem dritten Geburtstag sagte seine Mama zu ihm: »Jetzt musst du nur noch einmal schlafen und dann bist du schon drei Jahre alt!« Leon schaute seine Mama einen Augenblick nachdenklich an und fing laut an zu heulen: »Ich will aber nich alt sein!« Meine Tochter war höchst erstaunt und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Denn das Wort »alt« brachte Leon wohl deshalb so aus der Fassung, weil er es von mir hörte, wenn ich nicht mit ihm durch den Garten springen oder unter einen Stuhl krabbeln wollte. Leon verstand schnell, dass man viele Dinge nicht mehr tun konnte, wenn man alt war. Kein Wunder, dass er keine drei Jahre alt werden wollte.

Was Leon aber ganz besonders auszeichnete, war sein großes Harmoniebedürfnis. Er mochte keine lauten Stimmen und keinen Streit. Nun kommt es im täglichen Eheleben ja manchmal vor, dass die Situation einen etwas raueren Ton verlangt und da stand Leon einmal vor mir, streckte mir die Hände entgegen und sagte beschwichtigend: »Oma, nich immer Opa anmeckern! Der tut doch nix! Der is doch lieb und der bringt dir immer Fleisch mit …«

Ja, da hatte er wohl recht. Aber nicht nur das. Opa war inzwischen zu seinem besten Kumpel geworden, mit dem er wunderbar Treckertreffen anschauen, über schnelle Autos philosophieren und Gummibärchen naschen konnte. Unsere beste Zeit war immer dann, wenn der kleine Leon müde neben mir auf dem Sofa lag, mir zärtlich über das Gesicht strich und sagte: »Ich hab dich so gemisst, Oma Tina!«

Dann ging mir das Herz auf und ich dankte Gott, dass er ausgerechnet mir dieses Glück zuteil werden ließ, die Oma dieses kleinen, munteren Menschenkindes zu sein!

Osterzeit

Königskinder

Katrin Bendrich

Es war kurz vor dem Osterfest, das in diesem Jahr sehr spät lag. Schon war der Frühling richtig eingezogen und hatte die Welt mit grünen Teppichen ausgelegt und mit einem blauen Himmel überspannt.

An diesem Tag stieg ein Forscher einen schmalen Bergpfad hinauf. Er kletterte am Ufer eines reißenden Flusses empor, fegte mit seinem Wanderstock verdorrte Äste an den Wegesrand und erfreute sich am Enzian, der zwischen Farnen und weißen Buschwindröschen leuchtete. Er lauschte in die Stille des Waldes und spürte, wie sie ihn gänzlich ausfüllte.

»Die Natur ist in ihrer ganzen Vielfalt ein so beeindruckendes Phänomen«, dachte er. Schon als kleiner Junge war er von der Natur ganz und gar gefesselt. Er studierte die Welt der Pflanzen und Tiere. Doch seine ganze Leidenschaft galt den Vögeln und unter ihnen einem ganz besonderen: Der Steinadler faszinierte ihn durch seine Erhabenheit und Kraft. Dieser »König der Lüfte« aber war bedroht.

Der Forscher war ein gefragter Spezialist und er hatte sein gesamtes Leben dem Schutz des Steinadlers gewidmet. Hinter ihm stand ein herausragendes Team von Kollegen, seine Familie und Freunde, die ihn all die Jahre bei dieser Aufgabe unterstützten.

Heute nun war er auf dem Weg zu einem einsam gelegenen Adlerhorst. Heute sollte sich zeigen, ob all die Anstrengungen in der Vergangenheit Früchte getragen hatten. Es war ein Wettlauf mit der Zeit gewesen.

Erst vor kurzem hatte er auf einer langen Wanderung entdeckt, dass der alte Adlerhorst offensichtlich wieder bewohnt wurde. Sogleich war der Forscher in Sorge gewesen, dass das Revier des Steinadlerpaares von Eindringlingen bedroht werden konnte. Von Menschen, um genau zu sein. Steinadler waren höchst empfindlich und vertrugen keine Störungen. Ihr Revier gegen Artgenossen zu verteidigen, mochte ihnen meist gelingen. Doch gegen den Menschen waren sie machtlos.

Leider hielten sich im Winter nicht alle Urlauber an die vorgegebenen Skipisten. Ehrgeizige Skifahrer oder Snowboarder suchten abseits der Pisten nach ihrem Kick – dass da etwa ein Steinadlerpaar zu Hause war, störte sie nicht. Die meisten wussten es nicht einmal. Genau deshalb hatte der Forscher mit seinem gesamten Team alle Hebel in Bewegung gesetzt: Er sprach vor Touristen und Schülern über die Steinadler, ließ Routen für Gleitschirmflieger ändern und Warnschilder aufstellen. Informationstafeln standen nun an den Wegen und Broschüren lagen in den Hotels und Pensionen.

Was den Forschern am meisten verwunderte: Niemand hatte auf die Steinadler geschimpft oder sich über die Warnschilder hinweggesetzt. Ganz im Gegenteil: Wen auch immer er sprach – jeder war froh, dass er nun mehr über seine Gegend wusste, und sei es nur für den Urlaub. »Wir alle wollen leben und wir alle wollen in Frieden leben. Danke, dass Sie uns aufgeklärt haben«, sagten die Leute zum Forscher.

An diesem Tag nun war er am Ziel. Sein Blick wanderte über das im Nebel liegende Tal hinweg und blieb an dem 300 Meter entfernten Felsvorsprung haften, auf dem das Steinadlerpaar nistete.

Die Sicht war ausreichend. Der Forscher stieß den Wanderstock in die Erde, packte Stativ und Fernrohr aus. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Wurden alle Bemühungen von Erfolg gekrönt? Konzentriert blickte er durch das Fernrohr. Auf dem windgeschützten Felsvorsprung der Gebirgswand zupfte die Königin der Lüfte an Zweigen herum. Der König saß wachsam im Steilhang. Sein goldgelber Nacken strahlte inmitten des braunen Federkleides.

Der Forscher hatte beide auf Revierverteidigungsflügen beobachtet. Seit einigen Wochen war der König allein unterwegs zur Jagd gewesen, ein sicheres Zeichen für die Brutzeit. Zwei Jungvögel waren geschlüpft. Erfahrungsgemäß überlebte oft nur eines der Küken. Nicht alle hungrigen Mäuler konnten gestopft werden.

Doch in diesem Moment sah der Forscher zu seiner Überraschung zwei lebhafte Jungvögel hinter ihrer Mutter auftauchen. »Königskinder«, entfuhr es ihm. Zwei junge Steinadler wuchsen da heran – ohne zu ahnen, dass ihr ganzes Leben mit diesem einsamen Menschen verwoben war, der Hunderte von Metern von ihnen entfernt stand und dennoch so leise atmete, als könnten sie ihn hören.

Der Forscher hob seinen Blick vom Horst und auf einmal erfüllte ihn wahre Freude – »Was für ein Osterfest das ist«, dachte er bei sich. »Eine wirkliche Freude.«

Eier vom Osterhasen

Susann Winkler

Die kleine Ella strich ihrem Hasen Bruno sanft über die Nase und erklärte ihm: »In vier Tagen ist Ostern, Bruno. Du musst jetzt wirklich so langsam anfangen mit dem Eierlegen.«

Bruno blieb ganz ungerührt sitzen und ließ sich weiter kraulen. Ella hatte ihn im letzten Sommer zu ihrem fünften Geburtstag geschenkt bekommen und freute sich seitdem auf ihr erstes gemeinsames Osterfest. Schon immer hatten sie die Geschichten von den Hasen fasziniert, die zu Ostern bunte Eier brachten. Es war ihr stets ein Rätsel gewesen, wie Hasen Eier legen konnten, aber in diesem Jahr wollte sie dem Geheimnis endlich auf den Grund gehen.

Vor ein paar Tagen hatte sie ihre Eltern beim Frühstück gefragt, wann die Osterhasen denn anfangen würden, Eier zu legen. Ihre Mutter hatte gemeint, das würden sie ganz heimlich machen, sodass es keiner merkt. Aber Bruno konnte ja aus seinem Stall nicht heraus und außerdem kontrollierte ihn Ella ständig. Der Vater hatte mit einem Lächeln vor sich hin gemurmelt: »Wenn der Bruno keine Eier legt, kommt er eben in die Pfanne. Wer braucht schon einen Hasen, der keine Eier legen kann.«

Ella konnte darüber gar nicht lachen und ihre Mutter offensichtlich auch nicht. Die hatte ihren Mann vorwurfsvoll angeschaut und ermahnt: »Nun mach doch dem Kind nicht solche Angst.«

Aber Ella traute ihrem Vater nicht. Er fand die seltsamsten Dinge lustig und machte immer wieder Späße, die Ella nur ärgerten oder sogar zum Weinen brachten. Also würde sie nun ständig auf der Hut sein müssen, dass der Vater ihrem Bruno nichts zu Leide tat. Sie hatte in den letzten Nächten kaum schlafen können und sich einige Male aus dem Haus geschlichen, um nach dem Hasen zu schauen. Am Morgen war sie dann müde und blass gewesen. Sie brauchte dringend einen guten Einfall, wie sie Bruno retten konnte, falls er keine Eier legte.

Am nächsten Tag ging sie mit ihrer Mutter einkaufen. Sie packten Brot, Bananen, Butter und Marmelade in den Einkaufswagen. Als Ellas Mutter nach einer Packung Eier griff, sah Ella ein Regal mit Tütchen, auf denen bunte Eier abgebildet waren. Sie fragte ihre Mama, was denn das sei. Die erwiderte: »Das sind Eierfarben. Damit färbt man Ostereier.«

Ella runzelte die Stirn und versuchte die Antwort zu verstehen. Dann ging ihr ein Licht auf und sie bat die Mutter, ein Tütchen zu kaufen. Mit den Worten: »Du hast recht, die brauchen wir ohnehin«, legte die Mutter zwei Päckchen in den Wagen.

Zu Hause schnappte sich Ella die Osterfarben und rannte damit zu Brunos Stall. Sie packte die Farben aus und hielt sie dem Hasen hin: »Schau mein Kleiner«, flüsterte sie, »die musst du fressen! Dann kannst du bunte Eier legen und Papa ist zufrieden!« Aber Bruno schnüffelte nur kurz an den bunten Blättern und drehte sich verächtlich um. Ella versuchte es noch einige Male, aber der Hase war mit nichts zu bewegen, die Farben zu fressen.

Ella wurde immer stiller und rührte zu den Mahlzeiten kaum etwas an, sodass sich ihre Mutter zunehmend Sorgen machte. Sie strich ihrer Tochter über das Haar und fragte sie, ob ihr nicht gut sei oder ob sie Schmerzen habe.

Da begann Ella zu schluchzen und wimmerte: »Mein Bruno … Papa will ihn braten, wenn er keine Eier legt! Und ich glaube nicht, dass er noch welche legt. In ein paar Tagen ist ja schon Ostern! Oh Mama, was können wir denn bloß tun, damit es doch noch klappt?«

Die Mutter nahm Ella in den Arm: »Mein armes Mädchen!«, sagte sie und nahm sich in Gedanken vor, ihrem Mann mal gehörig die Meinung zu sagen. »Mach dir keine Sorgen. Ich verspreche dir ganz fest, dass dein Bruno die schönsten Eier der Welt legen wird. Aber erst zu Ostern. Ein bisschen musst du dich noch gedulden. Und dein Papa hat sich nur einen Scherz erlaubt – keinen besonders lustigen allerdings, das muss ich schon sagen. Er würde den Hasen niemals schlachten. Das schwöre ich hoch und heilig.«

Ella hatte zwar weit weniger Vertrauen in ihren Vater, aber sie war zumindest froh, eine Verbündete zu haben, das beruhigte sie ein wenig.

Dann war endlich der Ostersonntag gekommen. Ella sprang nervös aus dem Bett und lief noch im Nachthemd zum Hasenstall. Tatsächlich! Ihre Mutter hatte Recht behalten. Neben ihrem besten Freund lagen wirklich drei farbige Eier: ein rotes, ein gelbes und ein grünes.

Ella lachte laut auf vor Glück und wollte gerade zu ihren Eltern rennen, als ihr diese schon entgegen kamen.

»Papa, guck – Bruno hat doch Eier gelegt!«, rief Ella schon von weitem. »Das mit der Pfanne kannst du vergessen!«

Das Rätsel der Eierfarben

Martina Rühl

Am Ostersonntag vor vielen, vielen Jahren standen meine Geschwister und ich gespannt vor dem kleinen Graben, der vor der Häuserreihe in unserer Straße entlanglief.

»Seht ihr, er war wieder da!«, flüsterte mein Bruder aufgeregt und deutete mit dem Zeigefinger in den Graben. Meine Schwester und ich schauten uns erwartungsvoll an und beugten unsere Köpfe ebenfalls neugierig über die geheimnisvolle Rinne.

Leuchtend bunte Farben schwammen auf dem Wasser, vermischten sich miteinander und verwandelten den eher trüben Graben in einen Malkasten. In genau diesem Rot, Gelb, Grün und Blau hatte der Osterhase uns im vergangenen Jahr Eier gebracht. Dass die Hennen keine so bunten Eier legten, war sogar schon bis zu uns durchgedrungen. Folglich musste der Osterhase sie ja wohl einfärben, bevor er sie für uns versteckte.

Nun schien er wieder da gewesen zu sein und wir hatten ihn schon wieder nicht bemerkt, was uns die Sache langsam ein wenig mysteriös erscheinen ließ.

Außerdem beschäftigte uns die Frage, warum der Osterhase ausgerechnet vor unserem Haus die übrig gebliebenen Eierfarben in den Straßengraben gekippt hatte und nicht bei den Nachbarn oder im Wald, wo er sich doch normalerweise aufhielt.

Betont lässig schlenderten wir die Straße entlang und ließen unsere detektivisch angehauchten Blicke schweifen. Hier und da schimmerte es bunt auf dem Wasser, doch es war ganz offensichtlich, dass die meiste Farbe direkt vor unserem Haus zu finden war.

Nach dem Frühstück fuhren unsere Eltern wie jedes Jahr mit uns zu einem nahe gelegenen Waldstück, um zu schauen, ob der Osterhase dort etwas für uns versteckt hatte. Während der Fahrt sprachen wir immer noch ganz aufgewühlt über die rätselhaften Eierfarben.

Das Schmunzeln unserer Eltern und das belustigte Glitzern in ihren Augen bemerkten wir nicht.

Dann ging die Eiersuche los. Jeder trug ein kleines Körbchen vor sich her. Konzentriert richteten wir unsere Blicke gen Boden und sprangen auf alles zu, was auch nur annähernd bunt schimmerte. Schließlich wollte jeder von uns die meisten Eier finden und am Ende nicht leer ausgehen.

Dass wir die Ostereier genau dort fanden, wo unsere Eltern noch gerade eben gewesen waren, bekamen wir gar nicht mit.

Nach und nach füllten sich unsere Körbchen mit bunten Leckereien. Hochzufrieden chauffierte uns unser Vater wieder nach Hause.

Glücklich mit unserer Ausbeute saßen meine Schwester, mein Bruder und ich anschließend auf der Treppe vor unserem Haus, aßen genüßlich unsere Ostereier und philosophierten weiterhin über das Rätsel der Eierfarben.

»Im nächsten Jahr«, sagte mein Bruder, »im nächsten Jahr stehe ich noch früher auf und dann entdecke ich schon, wie der Osterhase hier arbeitet.«

»Ja«, ergänzte meine Schwester, »und ich halte in der Nacht Wache, falls er ganz früh kommt.«

Im Fenster über uns lehnten unsere Eltern und ich sah aus den Augenwinkeln heraus, wie sie sich anlächelten und mein Vater irgendetwas murmelte, was so ähnlich klang wie »muss ich aber früh aufstehen«. Aber sicherlich meinte er, dass er morgen früh zur Arbeit musste.

Ein ganz besonderes Osterfest

Katrin Bendrich

In diesem Jahr hatten die Großeltern die ganze Familie zu einem ganz besonderen Osterfest eingeladen. Sie wollten ihren Lieben etwas mitteilen und um Zuspruch in einer wichtigen Angelegenheit bitten. So hatten sie das große Esszimmer in ihrem alten Haus noch einmal farbenprächtig geschmückt – die Familie saß inmitten einer österlichen Festtafel.

Die Stimmung war ausgelassen und die Freude sehr groß, als sich alle in trauter Runde wiedersahen. Keiner fehlte. Das freute die Großeltern ganz besonders. Ihre drei Töchter waren mit den Ehemännern und den nunmehr erwachsenen Enkelkindern erschienen und saßen gemütlich bei Kuchen und Kaffee beisammen.

In den letzten Jahren kam es immer öfter vor, dass bei Familientreffen jemand fehlte. Manche unter ihnen sahen sich monatelang nicht, denn es war schwieriger geworden, die ganze Familie zusammenzukriegen, die zwischen unterschiedlichsten Verpflichtungen und Interessen jonglierte. Hinzu kam: Zwei der Töchter waren mit ihren Familien aus beruflichen Gründen aus dieser Gegend weggezogen. Es war also nicht einfach.

Umso mehr genoss jeder nun das unbekümmerte Beisammensein. Auch die Großeltern freuten sich, wenn sie auch ein wenig bange waren. Für sie war dieses Osterfest ein ganz besonderes. Sie hatten ihrer Familie etwas zu erzählen, das für ihre Zukunft von großer Bedeutung war und sie hofften beide auf den ersehnten Zuspruch ihrer Familie, auch wenn das bedeutete, dass dies das letzte Osterfest in diesem großen alten Haus war.

Als alle Neuigkeiten ausgetauscht waren und jeder satt und zufrieden auf seinem Stuhl saß, schlug der Großvater sachte mit einem Löffel gegen sein Glas. Das funktionierte. Alle Blicke richteten sich auf die beiden Großeltern – jedoch nicht ganz ohne Sorge. Die Töchter hatten sich bereits telefonisch besprochen, um das Anliegen herum gerätselt und bangten bereits um die Gesundheit ihrer Eltern. Auch wenn momentan alles dagegen sprach, war es durchaus möglich, dass einer von beiden ernstzunehmend krank war. In dem Alter war alles denkbar, da waren sich die Geschwister einig. Desto aufmerksamer hörten sie zu.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842687912
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Aktivierung Senioren Biografie-Arbeit Vorlesebuch Altenheim Altenpflege Betreuung Beschäftigung Geschichten Demenz Alzheimer

Autoren

  • Irén Beer-Kuhner (Autor:in)

  • Katrin Bendrich (Autor:in)

  • Martina Rühl (Autor:in)

  • Bernd Saal (Autor:in)

  • Susann Winkler (Autor:in)

Irén Beer-Kuhner war Grund- und Hauptschullehrerin und arbeitet heute als Altentherapeutin in einem Seniorenzentrum. Katrin Bendrich ist Kauffrau im Gesundheitswesen und arbeitete zuvor mehrere Jahre in einer Wohngemeinschaft für Menschen mit Demenz. Martina Rühl arbeitet in einem Wohnbereich für Demenzkranke im stationären Bereich eines Pflegeheims. Sie ist Verfasserin des Buches „Ich muss in die Schule“ mit Geschichten „aus der Welt der Demenz“. Bernd Saal war lange Jahre Pfarrer in Coburg, wo er seine Gemeinde und umliegende Altenheime immer wieder mit selbstverfassten Erzählungen begeisterte. Von ihm ist auch das Buch „Der Apfelbaum im Schnee“ erschienen. Susann Winkler ist Diplom-Heilpädagogin und arbeitet im Bereich soziale Betreuung. Ihre Passion: Das Schreiben von Kurzgeschichten, die u. A. unter dem Titel „Bitte 3x täglich lachen“ erhältlich sind.
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Titel: Das Glück ist ein Schmetterling