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Der gelungene Einstieg in die Pflegepraxis

Die schlimmsten Situationen und wie man sie übersteht. Der Fach-Ratgeber für Azubis in der Pflege.

von Oksana Baitinger (Autor:in)
144 Seiten

Zusammenfassung

Auszubildende in der Pflege werden dringend gesucht. Umso wichtiger ist es, dass ihnen der Start in die Praxis gelingt! Sie müssen adäquat für schwierige Situationen gerüstet sein, etwa im Umgang mit übergriffigen Bewohnern, Ekel bei der Wundversorgung oder der Scheu vor sterbenden Patienten. Ohne eine gute Begleitung vor dem „Praxisschock“ geht das nicht.
Dieses praxisnahe Buch zeigt jene Situationen, die Auszubildende als besonders beängstigend empfinden. Es gibt wertvolle Tipps und Informationen, wie der Einstieg in die Pflegepraxis ohne Angst und Hemmungen gelingen kann.

Auf den Punkt gebracht:
Ohne Angst in die Pflegepraxis starten.
Gute Vorbereitung ist das A & O..
Lernen anhand von Praxisbeispielen.
Problematischen Situationen sicher und kompetent begegnen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Theorie und Praxis werden in der Pflegeausbildung häufig als zwei Pole betrachtet, die schwer oder fast gar nicht zu verzahnen sind, die gar in einem Widerspruch zueinander stünden. Allzu oft höre ich Auszubildende klagen »In der Theorie heißt es so …, aber in der Praxis sieht es ganz anders aus!« Nun steht eine angehende Pflegekraft vor der Schwierigkeit, mit diesem Widerspruch umzugehen. Wie soll sie bloß handeln?

Die große Verunsicherung und teilweise auch Überforderung seitens der Auszubildenden spüren nicht nur die Pflegeschulen und die Praxisanleiter vor Ort. Auch Ergebnisse großer bundesweiter Umfragen bestätigen diesen (traurigen) Trend.

So gaben im letzten ver.di-Ausbildungsreport (2015)1 rund 12,2 Prozent der Auszubildenden in der Gesundheits- und (Kinder-)Krankenpflege an, sich in der Pflegepraxis überfordert zu fühlen. Bei den Auszubildenden in der Altenpflege liegt dieser Wert sogar bei 22,2 Prozent – das ist nahezu jeder Vierte! Auszubildende beklagen sich über die fehlende Verknüpfung von Theorie und Praxis in ihrer Ausbildung. In den Zahlen des ver. di-Reports heißt das: 19,5 Prozent der Pflege-Azubis fühlen sich »überwiegend nicht gut angeleitet« und sogar 27,4 Prozent klagen darüber, »nicht gut angeleitet« worden zu sein.

Angesichts solcher Zahlen stellen sich mir folgende Fragen:

Womit beginnt eine »gute Praxisanleitung«?

Welche Rolle spielt das im Unterricht erworbene theoretische Wissen der Auszubildenden in der Praxis?

Können »Theorie« und »Praxis« überhaupt zueinanderfinden oder sind es Gegensätze, die grundsätzlich keine Verzahnung vertragen?

Würde eine »praxisnahe Vermittlung« des Grundlagenwissens aus dem Ausbildungsrahmenplan eine sinnvolle Anwendung in der Praxis finden?

Oder soll die Praxis den Versuch unternehmen, ein Stück Selbstverantwortung und kritische Auseinandersetzung mit eigenem pflegerischem Handeln einzuführen und zu praktizieren (nach dem Konzept der »kontrollierten Praxis«)?

»Nichts ist praktischer als eine gute Theorie«, sagte bereits der Psychologe Kurt Lewin, dem wir die Theorie über die Führungsstile zu verdanken haben. Diesen Leitspruch habe ich daher dem vorliegenden Buch vorangestellt.

In meiner Arbeit als Dozentin mit angehenden Fachkräften vertrete ich die Position, dass die Verzahnung von Theorie und Praxis nicht an einem konkreten »Ort« stattfindet, sondern in den Köpfen der Menschen, die den Anspruch haben, ihren Beruf fachlich fundiert auszuführen.

Eine fachlich fundierte Arbeit beginnt mit der wertneutralen Beobachtung der Patienten und Klienten sowie mit der Bewertung dieser Beobachtungen. Diese münden im nächsten Schritt in die Zielsetzungen der professionellen Handlungen. Die Schwerpunkte für die Beobachtung wie auch die Grundlagen für die fachlich richtigen Deutungen stammen nicht aus der »Praxis« oder dem »Bauchgefühl« der Pflegekräfte mit viel Berufserfahrung (nach dem Motto »So haben wir das immer gemacht«). Sie sind allein aus Theorien abgeleitet. Ich verwende bewusst den Begriff »Theorie« in der Mehrzahl, denn es gibt »die eine Theorie« genauso wenig wie »die Praxis«. Es existieren etwa vielzählige Theorien aus Pflegewissenschaft, Medizin, Psychologie, Sozialwissenschaft, Philosophie und Ethik, die für das professionelle Handeln von Pflegekräften in unterschiedlichen Arbeitsfeldern von Bedeutung sind.

Die Fähigkeit der Fachkräfte (übrigens der Fachkräfte aus allen sozialen Berufen), ihre Beobachtungen anhand von theoretischen Grundlagen zu bewerten, zu deuten und daraus Ziele für ihre Arbeit mit den Klienten/Patienten abzuleiten, nennt man Deutungskompetenz. Bei der Deutungskompetenz handelt es sich keinesfalls um eine »Erprobung« theoretischer Konzepte in der Praxis – theoretische Konzepte sind nicht dazu da, erprobt zu werden. Theorien sind schlicht und einfach Erklärungen unterschiedlicher Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven.

Wichtig

Dieses Buch ist aus meinen langjährigen Unterrichtserfahrungen entstanden. In meinen Seminaren kamen und kommen bei der Analyse von Praxissituationen häufig Fragen (»Warum macht er das?«) und Zweifel (»Was soll ich tun?«) der Auszubildenden zur Sprache. Viele Situationen bringen die Lernenden an ihre persönlichen Grenzen, da sie nicht wissen, was sie tun können oder sollen. Die gesamte Klasse sucht nach möglichen Erklärungen. Hierfür ist es erforderlich, einen Abstand zur geschilderten Situation zu gewinnen, um die Perspektiven aller Beteiligten zu rekonstruieren und Lösungen zu finden.

Diese Lösungen in schwierigen pflegepraktischen Situationen durch theoretische Überlegungen zu finden, ist die Grundlage des vorliegenden Buches. Ich lade Sie ein, mit auf die spannende Entdeckungsreise zu gehen, um eine wunderbare Welt des professionellen »Wissens und Könnens« zu entdecken.

An dieser Stelle bedanke ich mich bei der Leitung, den Dozentinnen und Dozenten sowie den Schülerinnen und Schülern der Pflegeschule der AWO Akademie Potsdam. Sie haben ihre Praxiserfahrungen mit mir geteilt und somit zur Auswahl der im Buch analysierten Situationen beigetragen.

Mein besonderer Dank geht an die Schlütersche Verlagsgesellschaft, insbesondere an Frau Petra Heyde, für ihre Unterstützung bei der Konzeptentwicklung und Umsetzung des Projekts.


Berlin, im Juni 2016Dr. Oksana Baitinger

 

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1 https://www.verdi.de/++fMe++56e682de6f68441f5300004c/download/AusbMdungsreport0/o20Pflege%202015.pdf, abgerufen am 12.04.2016

ZUM KONZEPT DES BUCHES

Das Buch ist als eine Reihenfolge von Situationen konzipiert, die die Pflegeschülerin Anna während ihrer ersten Praxisphasen in einer Pflegeeinrichtung erlebt. Anna steht stellvertretend für die Erfahrungen der Auszubildenden am Anfang ihrer Pflegeausbildung. Auch die Beobachtungen aus der Pflegepraxis (Arens 2005; Knobling 1988; Sachweh 1999; Stöhr 2007) finden ihren Platz in den schwierigen Praxissituationen, die Anna nun meistern muss. Annas Erlebnisse verwirren und verunsichern sie, teilweise ist Anna sogar fassungslos und fühlt sich überfordert. Sie möchte sich aber in ihrem Beruf als Pflegerin etablieren und sich darin sicher fühlen. Der Situationsbeschreibung folgen vier Lösungsschritte, die Anna jeweils helfen, den »Praxisschock« zu verstehen und für sich zu lösen.

Der jeweilige Lösungsweg von der jeweiligen Situationen zur professionellen Deutung und der nachfolgenden Erarbeitung von Handlungsoptionen gibt einen Denkprozess wieder:

Nach der Beschreibung der Situation (Praxisbeispiel) erfolgen vier Schritte:

1. Die analytische Herausarbeitung eines Problems. Damit die Darstellung überschaubar bleibt, wird in jeder Praxissituation nur ein Analyseschwerpunkt behandelt.

2. Die Darstellung des für die Erklärung notwendigen Fachwissens.

3. Das Erarbeiten von Deutungen/Erklärungen der beschriebenen Situation, die mit notwendigen Handlungsmöglichkeiten in Verbindung gebracht werden.

4. Das Erproben und Auswerten dieser Handlungsmöglichkeiten: Welche Strategien haben zu einer Verhaltensänderung geführt und welche nicht?

Die geschilderten Situationen spielen in einer stationären Pflegeeinrichtung, sind aber inhaltlich auch auf die stationäre Gesundheits- und Krankenpflege sowie in großen Anteilen auf eine ambulante Pflege übertragbar. Die »Schocks« sind – egal in welcher Richtung der Pflegeausbildung Sie sich befinden – die gleichen. Inzwischen ist im Übrigen auch in der allgemeinen Gesundheits- und Krankenpflege rund ein Viertel der Patienten über 75 Jahre alt.

Alle Situationsanalysen gehen von einer menschenzentrierten Pflege aus, die das Wohlbefinden und die gute Lebensqualität aller Beteiligten (Bewohner, Patienten, aber auch der Pflegekräfte!) zum Ziel hat.

»Nichts ist praktischer als eine gute Theorie«, sagte bereits Kurt Lewin, dem wir die Theorie über die Führungsstile zu verdanken haben. Dieser Leitspruch wurde daher auch dem vorliegenden Buch vorangestellt.

Lernen Sie zusammen mit Anna, keine Angst vor »der Theorie« zu haben und entdecken Sie die Welt des lebendigen Fachwissens für sich! So können Sie Ihre Arbeit auf der Grundlage dieses »Vermögens« deuten und finden Spaß und Zufriedenheit bei Ihrer sinnvollen Tätigkeit.

Hinweis

EIN GELUNGENER START?

Praxisbeispiel: Der erste Tag auf Station

Anna freut sich sehr auf den ersten Tag ihrer Praxisphase, obwohl sie auch etwas unsicher ist. »Wie wird es morgen in der Praxis – wie werde ich mich anstellen?« Am Sonntagabend verabschiedet sie sich früher als sonst von ihren Facebook-Freunden und geht zeitig ins Bett. »Schließlich muss ich morgen früh aufstehen und fit sein.« Das ist allerdings gewöhnungsbedürftig und löst auch Bedenken bei ihr aus: »Muss ich nun immer so früh zu Bett gehen und verpasse ich dann nicht zu viel?« Doch Aufregung und Freude auf den ersten Praxiseinsatz sind größer und überdecken ihre Sorgen.

Montag, 06:15 Uhr

Am Montag ist Anna pünktlich um 06:15 Uhr auf der Station. Die Wohnbereichsleiterin Monika begrüßt sie, fragt, ob sie Anna duzen darf. Dann zeigt sie ihr ihren Schrank, lässt sie schnell umziehen und führt sie auf die Station. »Deine Aufgabe!«, sagt sie und deutet auf die weißen Türen der Etage. »Zuerst Körperpflege und danach Frühstück um acht Uhr. Alle Utensilien findest du auf diesem Wagen. Wir sind heute unterbesetzt, so wie leider fast immer. Du hast ja alles Notwendige für den Anfang in der Schule gelernt, somit kommst du bestimmt alleine klar. Beeile dich ein bisschen!«

Dann verschwindet Monika schnell. Anna steht da und hat sieben weiße Türen vor sich. »Was kommt auf mich zu? Werde ich klarkommen? Werde ich alles richtig machen?« Fragen über Fragen kreisen durch ihren Kopf. Aber sie ist ja nicht zum Denken, sondern zum Arbeiten hier. Anna öffnet die erste Tür …

Im Einbettzimmer ist es noch dunkel. Anna öffnet vorsichtig die Vorhänge, dreht sich um und begrüßt die alte Dame, die sie freundlich aus dem Bett heraus anguckt. »Guten Morgen, ich bin Pflegeschülerin Anna! Heute ist mein erster Tag.« Die Frau nickt, lächelt Anna an und stellt sich vor. Frau Müller heißt sie und ist 78 Jahre alt. Anna hilft Frau Müller beim Aufstehen, begleitet sie ins Bad. Die Morgenpflege mit der Bewohnerin klappt wie im Lehrbuch. Anna wird immer sicherer und fühlt sich wohl.

Am Ende bekommt sie dankbare Blicke und ein Lob von Frau Müller. Stolz verlässt Anna das Zimmer und ist mit ihrer ersten »Amtshandlung« zufrieden. Die nette Frau Müller hat sie gleich bei ihrer ersten Pflegehandlung gut kennengelernt.

07:00 Uhr

Im Flur trifft Monika auf Anna: »Wie viele hast du geschafft?« Als Monika hört, dass Anna nur bei Frau Müller war, ist ihre Empörung groß. »Eine professionelle Pflegekraft muss schnell sein – sonst ist das alles nicht zu schaffen!« Jetzt müssen Annas Kollegen wegen ihrer Trödelei noch mehr schuften.

Analyseschwerpunkt: Selbstverständnis des Pflegeberufs

Um die Situation professionell zu lösen, muss die Pflegekraft …

das Problem erkennen, benennen sowie

Lösungswege entwickeln, die dann

umgesetzt und erprobt sowie schließlich

hinsichtlich ihrer Ergebnisse reflektiert und ggf. korrigiert werden.

Schritt 1 – Das Problem erkennen: Was ist Professionalität in der Pflege?

»Eigentlich habe ich alles richtig gemacht«, denkt Anna. »Ich habe mich an die Pflegeabläufe im Lehrbuch gehalten und mir Zeit für Frau Müller genommen.« Auf der anderen Seite stehen aber die Anforderungen des Pflegealltags, die Monika unmissverständlich geäußert hat: Eine professionelle Pflegekraft muss die Grundpflege bei mehr als einem Patienten in einer Stunde »schaffen«. Diese Anforderung steht jedoch im Konflikt zu Annas Vorstellungen aus dem Theorieunterricht. Deshalb fragt sich Anna nun: »Können gute Pflege und schnelles Arbeiten miteinander vereinbart werden? Ist das dann professionell?«

Anna vermutet das Problem in einem Widerspruch zwischen »Theorie und Praxis«: Quasi dem Gegensatz der professionellen Rolle und der professionellen Arbeit (Theorie) wie sie gelehrt und gelernt wird und deren Umsetzung unter den realen Bedingungen im Alltag einer Einrichtung (Praxis). Was verbirgt sich unter dem Wort »Professionalität« und wie setzt man Professionalität im Alltag um?

Pflegekräfte erfüllen vielfältige Aufgaben. Anna erinnert sich an eine Mind-Map, die sie im Unterricht anhand eines Lehrbuches gemacht hat (vgl. Bohnes et al. 2012).

 

Das besondere Profil des Berufes wird neben den medizinisch-pflegerischen Aufgaben auch durch die sozialpflegerischen Aufgaben bestimmt. Der Aufbau einer Beziehung zum älteren Menschen bleibt elementarer Bestandteil des Berufsbildes. Aus diesem Grund hat sich Anna nichts vorzuwerfen – sie nahm sich Zeit für Frau Müller, ging auf die Bedürfnisse der alten Dame ein und unterstützte sie bei der Morgenpflege. Dabei gab sie zwar Hilfestellungen, unterstützte aber auch die Selbstständigkeit der alten Dame, indem sich diese in ihrem eigenen langsamen Tempo zum Teil selbst waschen konnte.

Jedoch ist auch die Sichtweise der Wohnbereichsleitung nachvollziehbar: Heute müssen in Krankenhäusern und Heimen zunehmend schwerstpflegebedürftige sowie demenzkranke Personen betreut werden, die etwa bei der Grundpflege, der Nahrungsaufnahme, der Inkontinenzversorgung sowie der Schmerzbehandlung zum Teil intensive pflegerische Versorgungen brauchen.

Die Aktivierung vorhandener Ressourcen von Frau Müller während der Morgenpflege und die Beziehungsarbeit haben Zeit »gekostet«, die weder im Leistungspaket der Pflegeversicherung noch im straffen Dienstplan der Einrichtung vorgesehen war.

Problemerläuterung: Berufliche Rollenkonflikte durch unterschiedliche Erwartungen

Anna ist mit ihrem ersten beruflichen Rollenkonflikt konfrontiert: Führt sie die Grundpflege patientenorientiert durch und fördert dabei deren Selbstständigkeit? Oder passt sie sich den ökonomischen Gepflogenheiten an? Sie befindet sich in einer Zwickmühle – dem Rollenkonflikt.

Rollenkonflikte im Beruf entstehen, wenn eine Person als Träger der beruflichen Rolle widersprüchlichen, oft nicht miteinander vereinbaren Erwartungen ausgesetzt ist.

Der Pflegealltag ist durch …

fachspezifische, pflegerische Anforderungen,

Erwartungen und Bewertungen der Kunden und der Gesellschaft sowie

gesetzliche und finanzielle Rahmenbedingungen beeinflusst.

Neben der Leistungsverpflichtung der jeweiligen Einrichtung zur umfassenden Pflege besteht also eine hohe Erwartung der Kunden an eine grenzenlose ganzheitliche Versorgung – eine Art »Rundum-glücklich-Paket«. Dies kann im Widerspruch zu den Anforderungen der Pflegeversicherung stehen, wonach die Leistungen wirtschaftlich sein müssen und das »Maß des Notwendigen« nicht übersteigen dürfen.

Auch Anna ist in ihrer beruflichen Tätigkeit mit mehreren unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert, hierzu zählen:

1. Gesellschaftliche Erwartungen, die an die Qualität der Pflege und die Professionalität der Pflegekräfte gestellt werden und sich in den wissenschaftlich erarbeiteten Standards und Anforderungen wiederfinden: Eine professionelle Kraft ist zuständig für das körperliche, gesundheitliche und emotionale Wohlbefinden der Bewohner. Diese Erwartungen hat Anna durch den Schulunterricht und durch die Lektüre von Lehrbüchern und Fachliteratur verinnerlicht.

2. Erwartungen der pflegebedürftigen alten Menschen (oder ihrer Angehörigen) an die Qualität der Pflege und die Professionalität der Pflegekräfte, die sich aus der Lebenssituation dieser Menschen ergeben. Pflegebedürftigkeit wird durch die gesetzliche Pflegeversicherung definiert: Wer durch ein körperliches, geistiges und seelisches Leiden voraussichtlich für mindestens sechs Monate oder länger Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, gilt als pflegebedürftig.

Ein Teil der alten Menschen ist in den letzten Lebensjahren auf intensive Unterstützung durch andere Menschen angewiesen. Wer zu Hause nicht (mehr) gepflegt werden kann, muss eine institutionelle Betreuung in Anspruch nehmen. Heimbewohner sind alte Menschen, die ihr Lebensende in einer Institution verbringen (müssen). Sie haben jedoch ihre eigenen Bedürfnisse, die nicht nur durch ihre Pflegebedürftigkeit entstehen. Sie sind Menschen, die ein Recht auf Lebensqualität haben – dazu zählen auch Beziehungen zu anderen Menschen und sinnvolle Beschäftigungen. Kein Mensch darf auf seine Diagnose bzw. seinen Pflegebedarf reduziert werden! Anna versteht, dass Heimbewohner das Lebensende in einer Institution verbringen und dabei Menschen mit eigener Biografie sowie eigenen Bedürfnissen und Gefühlen bleiben. Sie erwarten von ihren Pflegekräften Halt und Unterstützung, wollen ernst genommen und keinesfalls bevormundet oder werden.

3. Erwartungen der Einrichtungsleitung und der Mitarbeiter an die Qualität der Pflege und die Professionalität der einzelnen Pflegekraft. Das Personal in den Einrichtungen steht unter enormen Leistungsdruck: Täglich müssen die Mitarbeiter mit wenig personellen Ressourcen ein großes Aufgabenpensum bewältigen. Hierfür muss zum einen jeder einzelne von ihnen seine eigenen Abläufe schnell und effizient durchführen, zum anderen sind alle darauf angewiesen, dass dies auch die Kolleginnen und Kollegen tun. Keiner möchte zusätzliche Aufgaben erledigen, nur weil ein anderer »zu langsam« war.

Aus diesem Grund kann es dazu kommen, dass die Pflegekräfte in den Einrichtungen eigene Routinen entwickeln, wie zum Beispiel beim Waschen. In der jahrelangen Praxis entstehen Waschabläufe, die nicht unbedingt mit der Reihenfolge aus dem Lehrbuch konform sind: »Wenn du das Waschen wie im Lehrbuch machst, wirst du nie fertig! Machs so, wie wir das seit Jahren tun«, sagen sie den neuen Kollegen und erwarten, dass sich die »Neuen« an diese Routine halten.

Die Welt jeder Einrichtung setzt sich aus konkret benennbaren einzelnen und miteinander verflochtenen Praktiken zusammen. Dies sind Praktiken der Verwaltung, des Managements, der Personalplanung, des Umgangs im Team, der Durchführung von Pflegemaßnahmen, der Kommunikation mit Patienten und Patientinnen, Bewohnern und Bewohnerinnen sowie Angehörigen usw. → All diese Praktiken stellen ein routiniertes Bündel von Aktivitäten dar, die in der Einrichtung zu einem kollektiven, also gemeinschaftlichen, »Normalfall« werden. Einfach formuliert: Nur weil alle mitmachen, werden bestimmte Aktivitäten und Praktiken als »normal« wahrgenommen. Dadurch, dass alle mitmachen, bekommt jede/r Einzelne eine Bestätigung dafür, dass er/sie »richtig« handelt. Für einen Außenstehenden müssen die Praktiken jedoch nicht immer nachvollziehbar oder gar »richtig« sein.

So hat auch Anna die Erwartungen der Kollegen an diesem Montagmorgen erlebt: Von der neuen Auszubildenden wird vor allem Schnelligkeit bei der Arbeit erwartet.

4. Erwartungen der Auszubildenden an die Qualität der Pflege, die sie selbst leisten, und an ihre eigene Professionalität. Auszubildende erlernen ihren Beruf sowohl in der Fachschule als auch in der Praxis. In der Schule werden neben dem theoretischen Wissen über die Pflege (z. B. Pflegetheorien, Kommunikationstheorien, medizinische Grundlagen) auch die Techniken und typisierten praktischen Abläufe wie die Lagerung, das Waschen oder das Anreichen von Essen vermittelt.

Durch die richtige Anwendung der Techniken wird gewährleistet, dass die Pflegekräfte und die zu Pflegenden nicht zu Schaden kommen, da beispielsweise die Gesundheit der Patienten/Bewohner nicht gefährdet wird, keine gefährliche Erreger verbreitet werden und auch die Pflegekräfte somit geschützt sind. Natürlich kann es in der Praxis zu Abweichungen kommen. Solange diese Variationen aber im Großen und Ganzen nicht vom fachlich definierten »Standardablauf« abweichen, kann deren Anwendung auch als »richtig/nicht falsch« angesehen werden, was die Qualität der Pflege gewährleistet.

Um diese praktische Umsetzung von Aufgaben zu erlernen, die Anna als Pflegekraft erfüllen muss, ist sie auf die Hilfe der Praxisanleiter und die anderer Kollegen angewiesen. Im Laufe der Zeit will sie ihre eigenen Routinen entwickeln, die beides in sich vereinen: die Qualität der Pflege und die Effizienz in der Ausführung.

Schritt 2 – Lösungsweg: Rollendistanz entwickeln

Um die Rollenkonflikte zu bewältigen, ist eine Rollendistanz notwendig. Anna löst ihren ersten »Praxisschock« dadurch, dass sie versucht, ihre eigene Rolle als angehende Pflegekraft flexibel zu handhaben und ihre Möglichkeiten realistisch einzuschätzen und zu bewerten.

Zuerst muss sie sich als lernende Pflegekraft definieren und dies auch so kommunizieren. Natürlich hat sie viel in der Schule gelernt, aber auch in der Praxis benötigt sie gute Anleitung und Übungsphasen, um sich unter Aufsicht alle Abläufe anzueignen. So wird sie sich sicher fühlen und an ihrem eigenen Selbstverständnis als Pflegekraft nicht zweifeln.

Zweitens muss sie für sich entscheiden, wie sie ihr Handeln generell ausrichten möchte und in welcher Weise sie die unterschiedlichen Erwartungen erfüllen kann. In ihrer generellen Ausrichtung möchte sie die eigene Professionalisierung betonen, indem sie eine eigene Routine entwickelt, die in sich folgende Erwartungen vereint:

Sie möchte auf die Bedürfnisse der alten Menschen eingehen, ihnen das Gefühl geben, dass sie in der Einrichtung »zu Hause« sind,

sie möchte als Mitglied des Teams anerkannt sein – für ihre gute Leistungen und Effizienz – und

sie möchte mit sich selbst darüber im Reinen sein, aus welchem Grund sie jeden Tag zur Arbeit in die Einrichtung fährt.

Drittens muss sie entscheiden, wie sie sich in einzelnen konkreten Situationen verhalten will. Dies sind etwa die Situationen, in denen sie die Pflegemaßnahmen durchführt, für die Bewohnerinnen und Bewohner die Beschäftigungen vorbereitet, mit Kollegen unterschiedlicher Professionen oder mit der Wohnbereichsleitung an der Planung zusammenarbeitet.

Schritt 3 – Handlungsoptionen: Lösungen finden und umsetzen

Anna sucht die Wohnbereichsleitung Monika auf und bittet sie um ein kurzes Gespräch. Anna ist etwas aufgeregt, dennoch überwindet sie ihre Scheu und sagt: »Ich verstehe, dass die Station heute unterbesetzt ist und Sie andere Erwartungen an mich hatten – allerdings fühle ich mich etwas ins kalte Wasser geworfen. und deshalb fühle ich mich unwohl. Dies ist aber kein Ausdruck einer schlechten Motivation, sondern meines Wunsches, den Beruf richtig zu erlernen.«

→ Anna geht auf ihre Position als Auszubildende ein und fordert eine Praxisanleitung, an deren Seite sie die ersten Schritte in der praktischen Pflege machen möchte. (Dies steht ihr übrigens laut Ausbildungsverordnung zu.)

Monika erwidert, dass es aktuell keine Möglichkeit gibt, mit Annas Praxisanleiterin zusammenzuarbeiten, da diese in der Spätschicht auf einer anderen Station arbeitet. Doch sie stellt die Lösung in Aussicht, die Dienstpläne von Anna und ihrer Praxisanleiterin so zu überarbeiten, dass die beiden mindestens zwei- bis dreimal wöchentlich gemeinsam in derselben Schicht tätig sind. Für den heutigen Tag wird sie, Monika, Anna begleiten und ihre Fragen beantworten.

Anna ist mit dieser Lösung sehr zufrieden. Nun plant sie ihre zukünftige Vorgehensweise mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Natürlich möchte sie alle kennenlernen und eine gute Beziehung zu ihnen aufbauen. Allerdings ist ihr Anspruch, dies sofort und ausführlich zu tun, tatsächlich unrealistisch. Während der Morgenpflege, wenn sie beispielsweise unter Zeitdruck steht, sollte sie sich in erster Linie auf die Pflegemaßnahmen konzentrieren. Dafür kann sie sich während des Frühstücks zu den Bewohnern an den Tisch gesellen und ein Gespräch ohne Stress führen.

Anna gibt sich hierfür einen Zeitraum vor: Innerhalb eines Monats möchte sie alle Bewohner, deren Vorlieben (Was machen sie gern?), Ressourcen (Was können sie noch?) und auch Abneigungen (Was ist ihnen zuwider?) kennengelernt haben.

Anna ist bewusst, dass konkrete einzelne Situationen nicht sämtliche Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner befriedigen werden, sondern dass ihr Wohlbefinden und die gefühlte Lebensqualität durch die Summe der Bemühungen aller Berufsgruppen, die in der Einrichtung tätig sind, entstehen. Deswegen nimmt sich Anna vor, nachdem sie in ihren pflegerischen Handlungen sicher ist, auch andere Berufe in der Einrichtung kennenzulernen. Wenn sie zum Beispiel weiß, dass am Nachmittag Betreuungsangebote stattfinden, kann sie die Bewohner darüber informieren. So muss sie kein schlechtes Gewissen haben, dass sie selbst keine Zeit für eine längere Aktivierungsübung hat.

Schritt 4 – Reflexion: Was wurde erreicht?

Anna reflektiert über die Ergebnisse ihres Rollenkonflikts:

Die Dienstpläne wurden angepasst.

Sie wurde in ihrer Rolle als Auszubildende bestätigt und konnte ihre Position festigen.

Sie hat einen Plan für sich entwickelt, wie und wann sie die Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Kolleginnen und Kollegen kennenlernt.

Somit ist sie ist nun bereit und motiviert, in ihrem Wunschberuf durchzustarten!

WAS IST GUTES ALTERN, WAS IST SCHLECHTES ALTERN?

Praxisbeispiel: Der alte Herr Meyer

Hinter der zweiten Tür wohnt Herr Meyer, 83 Jahre alt. Als Anna in sein Zimmer kommt, begrüßt er sie freundlich: »Gut, dass Sie gekommen sind, Schwester! Ich bin schon lange wach und kann kaum erwarten, aus dem Bett rauszukommen. Wer rastet, der rostet. Kennen Sie den Spruch? Das ist mein Lebensmotto! Geben Sie mir bitte mein Hörgerät, es liegt auf dem Beistelltisch. So kann ich Sie besser hören. Ich würde mich gern selbst im Bad waschen. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben. Ihre Kolleginnen bevorzugen es, mich im Bett auf den Tag vorzubereiten. Aber für mich gibt es nichts Schöneres, als mich selbst im Bad zu waschen.« Seine Augen strahlen, er lächelt Anna an.

Die Lebensfreude des alten Mannes ist einfach ansteckend. Anna verspürt selbst Energie, so eine »Wasch-Expedition« mit ihm zu starten. Die Morgenroutine im Bad scheint für Herrn Meyer ein Abenteuer zu sein – ein aufregendes, aber wahrscheinlich ein seltenes.

Anna schaut Herrn Meyer an und danach auf ihre Uhr: Anna empfindet Bewunderung, Mitleid und Zeitdruck zugleich. Mitleid, dass der alte Mann so gebrechlich und hilflos ist, nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Bett herauszukommen und ins Bad zu gehen. Bewunderung über seine Lebensfreude, die in einem krassen Widerspruch zu seinem körperlichen Zustand steht – ein alter Mensch, der selbstständig sein möchte und es nicht mehr sein kann. Wiederum macht er nicht den Eindruck, unter seinem Zustand zu leiden. Er ist gut gelaunt und froh, jemanden zu haben, der ihn unterstützt. Da ist aber noch der Zeitdruck – die selbstständige Morgentoilette kostet sicherlich mehr Zeit als das Waschen im Bett …

Anna kann ihre Gefühle und Gedanken nicht zuordnen. Ihr ist bewusst geworden, dass sie »die Alten« gar nicht richtig kennt. Was bedeutet es überhaupt, alt zu sein?

Sie entschließt sich schließlich, länger bei Herrn Meyer zu bleiben und ihm eine selbstständige Morgenpflege zu ermöglichen. Schließlich hat ihr Monika für die ersten Tage einen Spielraum zur Orientierung eingeräumt.

Analyseschwerpunkt: Das Bild des Alters

»Was ist das Problem«, denkt Anna, »was stört mich an dieser Situation?« Der (scheinbare) Widerspruch zwischen hilfebedürftigen Körperzustand von Herrn Meyer und seiner freudig guten Laune lassen sie nicht los.

Um die Situation professionell zu lösen, muss die Pflegekraft …

das Problem erkennen, benennen und

Lösungswege entwickeln, die dann

umgesetzt und erprobt sowie schließlich

hinsichtlich ihrer Ergebnisse reflektiert und ggf. korrigiert werden.

Schritt 1 – Das Problem erkennen: Das Verständnis vom Alter und Altern

Anna weiß, dass Herr Meyer mit 83 Jahren schon sehr alt ist. Er wird seit ungefähr 15 bis 20 Jahren in Rente sein. Darüber, was er in dieser Zeit gemacht hat, besitzt sie keine rechte Vorstellung. Sie fragt sich, wie das mit dem Ruhestand überhaupt geregelt ist und wie alt man im Durchschnitt so wird.

In den Jahren 2008/2010 konnte ein 60-jähriger Mann damit rechnen, im Durchschnitt noch etwa 21 Jahre zu leben. Dies wird als »fernere Lebenserwartung« bezeichnet. Zum Vergleich: In den Jahren 1970/1972 bestand die fernere Lebenserwartung eines 60-jährigen Mannes aus nur durchschnittlich 15 Lebensjahren. Bei den gleichaltrigen Frauen liegt die fernere Lebenserwartung heutzutage bei 25 weiteren Lebensjahren. Nach Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes wird sich die fernere Lebenserwartung auch in Zukunft erhöhen: Im Jahr 2060 können Männer im Alter von 60 Jahren durchschnittlich noch 26,6 und Frauen 30,1 weitere Lebensjahre erwarten.

Eine derart hohe Lebenserwartung ist nicht selbstverständlich. Im Jahr 1895 war das Erreichen des 60. Lebensjahres kein Grund, sich aus dem Erwerbsleben zurückzuziehen. Eine Rente wurde erst ab dem 70. Lebensjahr ausgezahlt (die gesetzliche Rentenversicherung wurde 1889 unter Reichskanzler Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm II. eingeführt).

Der Soziologe Martin Kohli fasst die historischen Daten über das Alter, die Lebenserwartungen und das Renteneintrittsalter folgendermaßen zusammen:

 

In der heutigen Zeit prägen die steigende Lebenserwartung und der Zeitpunkt des Übergangs in den Ruhestand unsere Vorstellungen über das Alter: Das Alter wird »länger, jünger und älter«. Wie ist das zu verstehen?

Der Lebenslauf eines Menschen in einer modernen industriellen Gesellschaft war lange Zeit »dreiteilig«, da er aus drei großen Lebensabschnitten bestand:

1. Kindheit und Jugend als Vorbereitung auf die Erwerbstätigkeit

2. Erwachsenenalter als Erwerbsphase

3. Ruhestand als eine Phase nach der Erwerbstätigkeit.

Der dreigliedrige Lebenslauf wird in der heutigen Gesellschaft von einem »viergliedrigen« Lebenslauf abgelöst, bei dem Kindheit und Jugend unverändert bleiben, während sich das Erwachsenenalter und der Ruhestand in drei Bereiche aufteilen: Es wird zwischen dem »jungen«, dem dritten Lebensalter, und dem »alten«, dem vierten Lebensalter, unterschieden.

Das »dritte Alter«, zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr, bekommt neue Merkmale: die selbstständige Lebensführung, die Festlegung neuer Ziele, das positive Selbstgefühl und die Lebenszufriedenheit. In diesem Alter sind die Menschen aktiv und suchen für sich neue Herausforderungen und Beschäftigungen.

Das »vierte Alter« beginnt ab dem 80. Lebensjahr. Es nimmt die Merkmale des früheren Alters an: Rückzug, zunehmende Hinfälligkeit, Verluste in praktisch allen Lebensbereichen. Das Lebensgefühl, das subjektive Wohlbefinden sind anfälliger – die Ältesten der Alten sind weniger zufrieden, berichten häufiger von Einsamkeit und beklagen, dass sie ihr Leben weniger als früher unter Kontrolle haben, es selbst nicht mehr so steuern können.

Statistische Daten belegen, dass das Eintrittsalter in Pflegeeinrichtungen kontinuierlich ansteigt. Es liegt heute bei 85 Jahren. Dabei sinkt die durchschnittliche Verweildauer – derzeit beträgt sie knapp über zwei Jahre.

Die Verlängerung der Lebenszeit führt jedoch dazu, dass das »Alter« seine traditionellen Rollen verloren hat. In früheren Zeiten hatten ältere Menschen einen besonderen Stellenwert, sie wurden geehrt und geachtet. Gerade den Älteren wurden richterliche, lehrende und heilende Funktionen zugeschrieben. Sie genossen als Ratgeber, als Übermittler der Traditionen und als Erfahrene eine ganz besondere Achtung. Das gilt in unserer Zeit schon lange nicht mehr: Wissen und Informationen werden durch moderne Technologien weitergegeben und gespeichert. Individuelle Erfahrungen werden hoch gepriesen und Traditionen spielen so gut wie keine Rolle mehr. Wir brauchen keinen »Dorfältesten« mehr.

Welche Rolle spielen also alte Menschen heutzutage in der Gesellschaft? Welche eigenen Ziele haben sie?

Problemerläuterung: Veränderungen im Alter – Theorien

Auf die Frage, welches Ziel das Alter hat, bekommen wir nur dann eine klare Antwort, wenn wir uns mit den Alterstheorien auseinandersetzen. Die Alterstheorien sind zu unterschiedlichen Zeiten entstanden und vermitteln unterschiedliche Zugangsweisen zum Thema Alter. Wir nutzen diese Theorien, um über eigene Vorstellungen bezüglich Alter, Altern und Ziele des Alters zu reflektieren.

Eine Theorie ist demnach als ein Gedankengerüst verstehbar, das die Einstellungen zum Alter »speichert« und somit unser Handeln steuert. Die Sichtweisen, die wir als selbstverständlich betrachten und nicht infrage stellen, spiegeln sich in den Theorien wider. Es geht deswegen nicht darum, mit einer Theorie einverstanden zu sein oder nicht. → Es geht darum, eine Theorie als Grundlage für das eigene Nachdenken über die Situationen und der an diesen Situationen beteiligten Menschen zu nutzen.

Dies verdeutliche ich an einem Beispiel: In früheren Zeiten war es selbstverständlich, dass der Mensch seiner (Erwerbs-)Arbeit so lange nachging, bis er dies aufgrund von Krankheit oder körperlicher Schwäche nicht mehr konnte. Das theoretische Konzept dieses Alters wäre »lebenslange Arbeit«. Wenn diese Theorie des Alters als selbstverständlich gilt, sind die Fragen nach dem »Ruhestand« gar nicht möglich, da es gar keinen Ruhestand gäbe!

Die Vorstellungen über die Kompetenzen, die Rollen und die Lebensqualität im Alter sind in der Moderne also in den unterschiedlichen »Theorien des Alters« zusammengefasst (vgl. Cölle 2012). Jede Theorie beschreibt eine besondere Sichtweise auf das Alter und das Altern. Man könnte nun meinen, die Aussagen der Theorien würden sich widersprechen – doch tatsächlich ergänzen sie sich, da nur eine Perspektive im Zentrum jeder Theorie steht. Möchte eine Pflegekraft die Besonderheiten des Alterns reflektieren, muss sie in jedem konkreten Fall die Aussagen aller Theorien zusammenfügen. Nur dann werden die Theorien auch einen Sinn ergeben. Eine pauschale Übertragung einer bestimmten Meinung auf alle alten Menschen (sogenannte Altersstereotype) kann zu falschen Schlussfolgerungen und Fehlentscheidungen führen. Vielmehr gilt es, die unterschiedlichen Perspektiven zusammen zu betrachten. Hierzu nachfolgend einige interessante theoretische Ansätze:

Biologische Perspektive auf das Alter: Altern als Abbau

Aus der biologischen Perspektive handelt es sich beim Altern um komplexe, nicht rückgängig zu machende (irreversible) Prozesse, die man als Biomorphose bezeichnet. Die Biomorphose zwischen dem Erwachsenenalter und dem Alter verläuft fließend: Die Rückbildung der Organe beginnt schon im dritten Lebensjahrzehnt!

Ein alternder Organismus wird in seiner Funktionsfähigkeit mehr und mehr gestört und weist zunehmend »Defekte« auf. So lassen alle fünf Sinne und die körperliche Stärke nach, die Lungenkapazität nimmt ab, die Reaktionszeit wird langsamer. Wegen des Abbaus körperlicher und geistiger Funktionen nimmt die Anpassungsfähigkeit an die Umwelt ab. So brauchen alte Menschen für gewöhnlich länger, etwas Neues zu lernen.

Anhand dieser Theorie ist es schwer, das Ziel des Alters zu bestimmen, allerdings sind die Aspekte der biologischen Alterstheorie grundsätzlich bei der Arbeit mit alten Menschen zu berücksichtigen: Alle Aktivitäten, die in einer Einrichtung angeboten werden, müssen an die kognitiven, sensorischen und motorischen Möglichkeiten der älteren Person adaptiert, also angepasst werden!

Soziologische Perspektive auf das Alter: Altern als Rückzug (Disengagement-Theorie)

Die soziologische Perspektive auf das Alter betont den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben und den Verlust der gesellschaftlichen Rollen. Die Theorie geht davon aus, dass dieser Rückzug gewollt ist und daher nicht als Verlust, sondern als Gewinn zu sehen ist. Der alte Mensch kann sich mehr auf sich selbst konzentrieren. Die Fokussierung auf das Private und der Rückzug aus dem öffentlichen gesellschaftlichen Leben sind demzufolge das Ziel des Alters.

Die Rückzugs-Theorie hilft den Pflegekräften, die Lebens- und Handlungsweisen von alten Menschen besser zu verstehen – nicht immer möchten sie in die Aktivitäten eingebunden sein, die sie früher gerne gemacht haben. Auch eine Teilnahme an Beschäftigungsangeboten, die ein Betreuer für gut und richtig hält, muss nicht zwangsläufig von alten Menschen gewünscht sein. Und das muss erkannt und akzeptiert werden.

Praxisbeispiel: das gemeinsame Mittagessen

Psychologische Perspektive auf das Alter: Aktivitätstheorie

Die psychologische Aktivitätstheorie kann als Gegenpol zur soziologischen Rückzugstheorie betrachtet werden: Sie betont den Zusammenhang zwischen der Aktivität eines alten Menschen und seiner Zufriedenheit. Durch die aktive Teilnahme am Umweltgeschehen entsteht das Gefühl des »Gebrauchtwerdens«. Dieses Gefühl erzeugt die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben.

Im Jahr 2010 wurde in Hamburg eine Au-pair-Agentur gegründet, die sich auf die Vermittlung von Frauen spezialisiert hat, die über 50 Jahr alt sind. Auf ihrer Internetseite wirbt die »Granny Aupair« mit Möglichkeiten für Frauen im Rentenalter neue Erfahrungen im Ausland zu machen. Dabei geht es darum, sich nicht nur um die fremden Kinder und den Haushalt zu kümmern, sondern auch die eigene Persönlichkeit weiter zu entwickeln.

Die Aktivitätstheorie betont nicht die Abbauprozesse, sondern die Strategien des Umbaus – in anderen Worten: den Umgang der alten Menschen mit den Veränderungen. Um die Aktivität der alten Menschen zu verstehen, müssen wir uns den Unterschied zwischen einer Außensicht und einer Innensicht auf die Veränderungen im Alter bewusst machen (Kruse 2002: 986).

Die Außensicht auf das Altern: Für einen jungen Menschen »steht« eine 75-Jährige mit einer Gehhilfe bereits mit einem Bein »im Grab«. Die Außensicht, d. h., wie die jüngeren Menschen das Alter sehen, besteht demnach aus der Wahrnehmung von Verlusten. Es handelt sich um physiologische Verluste, wie eine abnehmende körperliche Leistungsfähigkeit und eine Anfälligkeit für Erkrankungen, sowie um neurobiologische und neuropsychologische Verluste, wie eine verringerte Kapazität zur Vernetzung von Neuronenverbänden – eine verringerte Geschwindigkeit und Präzision der Erregungsübertragung in bestehenden neuronalen Netzwerken –, die sich in einer verringerten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses äußert.

Die innere Sicht auf das Altern: Eine 85-Jährige weigert sich, ins Heim zu gehen, »weil da so viele Alte sind«. Die Innensicht beschreibt das subjektive Erleben des eigenen Alters, sowohl die Wahrnehmung von Veränderungen (Was hat sich bei mir verändert?) als auch deren emotionale und kognitive Bewertung (Wie gehe ich damit um?).

Jede Abnahme von körperlichen oder psychischen Leistungen wird vom alten Menschen in einem langen Prozess verarbeitet. Zuerst erlebt der alte Mensch, dass die Veränderungen nicht mehr heilbar sind, dann muss er eine »Trauerarbeit« leisten, um sich an den neuen Zustand anzupassen und neue Kompetenzen zu entwickeln. Gelingt dies nicht, kann er z. B. in Wut gegen seinen Körper oder gegen seine Umwelt geraten, darin verharren und vereinsamen. Einen Aggressionsausbruch dieses alten Menschen können wir nur dann richtig als Zeichen einer Krisenbewältigung interpretieren, wenn wir seine Innensicht verstehen: Wegen seiner Lähmung kann er nicht mehr so gehen, wie er möchte.

Der Zuwachs an (gesundheitlichen) Verlusten schließt die Entwicklungszugewinne nicht aus: Die Wachstumsprozesse im Alter sind vor allem in der Entwicklung der Identität zu sehen, der Art der Auseinandersetzung mit Belastungen und Krisen sowie in der Weisheit.

Und das haben schon vor lange Zeit einige Tiere bewiesen: Ein Esel, der keine Säcke mehr zur Mühle tragen konnte, ein Hund, der als Hilfe bei der Jagd nicht mehr zu gebrauchen war, eine Katze, die nur noch stumpfe Zähne hatte und lieber hinter dem Ofen saß, als nach Mäusen zu jagen, und schließlich ein Hahn, der infolge seines Alters häufiger das Morgengrauen verschlief und dessen Stimme nicht mehr reichte, um weithin in der Umgebung gehört zu werden. Wir alle wissen, wie die Geschichte zu Ende ging: Das Märchen beschreibt nicht nur die Abbauprozesse im Alter, die die Tiere quasi »nutzlos« machten, sondern auch die Strategien für einen Neuanfang und eine neue, sinnvolle Lebensführung.

Die Aktivitätstheorie betrachtet das Altern nicht mehr als Schicksal, sondern als beeinflussbar durch eigene Aktivitäten. Dies hat eine direkte Auswirkung auf die Gestaltung der Arbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in einer Pflegeeinrichtung.

Mit dem Eintritt ins Heim verliert ein alter Mensch (fast) alle seine Rollen: Er hat vielfach keine Aufgaben mehr und trägt keine Verantwortung (einkaufen und kochen, Tag gestalten, reduziertes Wohnumfeld). Nur sinnvolle Beschäftigungen und ein Eingebundensein in das Gemeinschaftsleben können Aktivitäten ermöglichen und somit zur Lebenszufriedenheit beitragen. Was jedoch eine sinnvolle Aktivität darstellt, liegt im eigenen Ermessen eines jeden alten Menschen und kann nicht pauschal von außen bestimmt werden.

Schritt 2 – Lösungsweg: Die eigenen Einstellungen zum Alter reflektieren

Anna denkt über ihre Reaktion auf Herrn Meyers Bitte, ihm das Waschen selbst zu überlassen, und somit über ihre Sichtweise auf das Alter und das Altern nach. Auf den ersten Blick hat sie nur die Verluste bei Herrn Meyer wahrgenommen, vor allem die körperliche Gebrechlichkeit und Hilflosigkeit. Ihre Sicht als Außenstehende auf seinen körperlichen Zustand hat bei ihr Mitleid und damit den unbewussten Impuls ausgelöst, bei ihm die notwendigen Pflegemaßnahmen zu übernehmen, zu »helfen«.

Herr Meyer allerdings hat eine ganz andere (nämlich seine eigene!) Perspektive auf diese Verluste und Einschränkungen. Er betrachtet sie als altersbedingte Veränderungen. Mit diesen hat er sich auseinandergesetzt und entwickelte eine konstruktive Strategie: Mit Humor und Weisheit startet er in jeden neuen Tag.

Schritt 3 – Handlungsoptionen: Strategien umsetzen, erfolgreiches Altern (mit-)gestalten

Anna erarbeitet folgende Strategien, um als Pflegekraft mit den Einschränkungen und Verlusten der alten Menschen umzugehen:

1. Sie macht sich bewusst, dass sie zwischen der Außensicht und der Innensicht auf das Altern unterscheiden muss. Annas Wahrnehmung von der Gebrechlichkeit und Hilfebedürftigkeit der betroffenen alten Menschen und deren Selbstwahrnehmung ihrer Gebrechlichkeit und Hilfebedürftigkeit sind nicht deckungsgleich.

2. Anna konzentriert ihre Aufmerksamkeit weder auf die verringerte Mobilität von Herrn Meyer noch auf seine beschränkte Leistungsfähigkeit. Sie lernt, hinter diesen äußeren Altersmerkmalen einen aktiven und produktiven Menschen zu sehen, der es schafft, sich täglich den Herausforderungen zu stellen und in kleinen Schritten alles für ihn Notwendige zu erledigen.

3. Anna versteht, dass Produktivität im Alter nicht mit der Produktivität im Erwachsenenalter gleichzusetzen ist. In der öffentlichen Diskussion stehen nach wie vor die körperliche Gebrechlichkeit, die durch die Pflegebedürftigkeit entstehenden Kosten und die nachlassende ökonomische Produktivität älterer Arbeitgeber im Vordergrund. Anna trennt sich von diesen Vorstellungen und lernt, das Hauptmerkmal des »erfolgreichen Alterns« wahrzunehmen: ein inneres Gefühl der Zufriedenheit mit dem vergangenen und dem gegenwärtigen Leben, das immer ein Ausdruck der persönlich gelungenen Bewältigung der altersbedingten Verluste ist.

Anna ist sich nun sicher, dass ihre Entscheidung absolut richtig war, Herrn Meyer eine selbstständige Morgentoilette im Bad zu ermöglichen. So konnte er sich als selbstwirksame Person erleben und sein Selbstwertgefühl gestärkt werden. Auch Annas Gefühle haben sich ins Positive gekehrt: Mitleid und Angst vor dem Alter wichen Anerkennung und Stolz auf die selbsterbrachten Leistungen, was ihr einen unerwarteten Motivationsschub bescherte.

Schritt 4 – Reflexion: Motivation durch Erfolg

Anna hat die Ergebnisse ihrer Arbeit bei Herrn Meyer und sich selbst erlebt. Die Freude am Leben kann richtig ansteckend sein. Sie hat nun Lust, so richtig durchzustarten! Alte Menschen können durchaus Vorbilder sein.

DIE UNFREUNDLICHE UND UNKOOPERATIVE BEWOHNERIN

Praxisbeispiel: Frau Blum mag nicht

Anna betritt nach einem Klopfen und einem angemessenen kurzen Abwarten das Zimmer von Frau Blum. Frau Blum ist 87 Jahre alt und nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt, was sie in ihrer Beweglichkeit einschränkt. Darüber ist sie häufig traurig. Kognitive Einschränkungen hat sie nicht.

Anna möchte besonders freundlich zu Frau Blum sein, um sie aufzuheitern. Sie möchte ihr vermitteln, dass Pflegekräfte und alte Menschen »zusammengehören«. Sie möchte eine Nähe zur alten Dame herstellen. »Das kann man sicherlich am besten erreichen, wenn ich ihr ein Wir-Gefühl vermittle«, denkt Anna. »Ich werde mich einfach ganz ungezwungen geben und sie fröhlich für mich gewinnen.«

Sie begrüßt Frau Blum folgendermaßen: »Hallo Blümchen, gut geschlafen? Na, dann mal raus aus den Federn und ab ins Bad mit uns!« Dazu lächelt sie und knufft Frau Blum freundschaftlich in die Seite.

Frau Blum presst nach dieser Begrüßung die Lippen zusammen und wendet den Kopf ab. Widerwillig lässt sie sich von Anna beim Aufsetzen helfen und brummelt abwehrend vor sich hin: »Lassen Sie mich in Ruhe! Ich möchte später aufstehen.« Dann dreht sie sich zur Wand um und lässt sich wieder in die Kissen sinken.

Anna ist verwirrt. Einige Sekunden lang steht sie ratlos im Zimmer und verlässt es dann niedergeschlagen. »Was habe ich falsch gemacht, was hat Frau Blum gegen mich?«, fragt sie sich. »Und wie erkläre ich Monika, dass Frau Blum nicht pünktlich fertig ist?«

Analyseschwerpunkt: Kommunikation in der Pflege

»Ich habe doch eigentlich nichts falsch gemacht«, denkt Anna. Nach einigem Überlegen vermutet sie, dass die Gründe für die Probleme mit Frau Blum im Bereich der Kommunikation liegen, denn auch diese gehört zum pflegerischen Tun. Anna fragt sich, ob sie die alte Dame richtig und passend angesprochen hat.

Um die Situation professionell zu lösen, muss die Pflegekraft …

das Problem erkennen, benennen und

Lösungswege entwickeln, die dann

umgesetzt und erprobt sowie schließlich

hinsichtlich ihrer Ergebnisse reflektiert und ggf. korrigiert werden.

Schritt 1 – Das Problem erkennen: Angemessene Kommunikation in der Pflege

Was bedeutet es, eine Bewohnerin angemessen anzusprechen? Kommunikation in der Pflege, insbesondere in der Altenhilfe, ist eine intergenerationelle Kommunikation, d. h. eine Kommunikation zwischen den Generationen. Da in unserer Kultur das Altsein immer noch mit »Krankheit«, »wenig Ansehen« assoziiert ist, spricht man häufig von der Disqualifikation Älterer. Dies wiederum führt zur Diskriminierung älterer Menschen in der alltäglichen Kommunikation (vgl. Fiehler & Thimm 1998).

Besonders unsere Sprache spiegelt die soziale Abwertung der Älteren wider. Neue Wörter werden geschaffen, um die Bedrohung durch das Alter oder die Unfähigkeit der alten Menschen auszudrücken. So spricht oder schreibt man beispielsweise von:

der Überalterung der Gesellschaft oder einer Seniorenlawine – in Bezug auf die demografische Entwicklung,

der Altenlastquote und Restlebenserwartung – in Bezug auf die Rentenentwicklung,

den pflegenahen Jahrgängen – in Bezug auf die Kostenanteile der Älteren im Gesundheitswesen,

im Kontext einer Werbung für ein neues Computerprogramm wirbt der Anbieter mit dem Begriff »greiseneinfach«. Suggeriert wird damit, dass selbst »senile Alte« das Programm verstünden.

Auch in privaten Gesprächen wird »das Altern« ungern thematisiert. Kaum jemand jenseits des vierzigsten Lebensjahres gibt sein Alter gerne preis. »Der Fünfzigste« ist für viele gar ein Schreckensereignis, dem es am besten zu entfliehen gilt. Nicht selten ist Altern ein wahres Tabuthema. TV-Sender strahlen Programme aus, die nur eines betonen: »so lang wie möglich jung« zu bleiben. Und auch die Werbung zieht mit: Cremes und Behandlungen aller Art werden angeboten und gekauft, damit das Alter bloß nicht sichtbar wird.

All das hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Kommunikation zwischen den Generationen. So passen jüngere Sprecher ihr Sprachverhalten (WAS sie sagen und WIE sie es sagen) stereotyper/diskriminierender Annahmen bzw. Erwartungen an. Sie halten zum Beispiel alte Menschen für uralt, verkalkt, senil, altmodisch, hinfällig, abgelebt, verbittert oder verrückt. Dementsprechend reden Jüngere alte Menschen dann an.

Genau das macht auch Anna, als sie Frau Blum morgens beim Aufstehen unterstützen will. Sie sieht in Frau Blum eine physisch eingeschränkte Person, die auf ihre Hilfe angewiesen ist. Anna passt ihre Aussagen den eigenen Annahmen über Frau Blum an und nennt sie einfach »Blümchen«. Die Hilfebedürftigkeit von Frau Blum betont sie durch das in der Pflege noch verbreitete »Wir« und dadurch, dass sie die alte Dame »freundschaftlich« knufft –, was zudem noch ein körperlich übergriffiges Verhalten ist.

Solches Betragen nimmt Frau Blum als Entwürdigung ihrer Person wahr und bricht als Reaktion darauf die Kommunikation mit Anna ab. Fakt ist: Eine effektive Kommunikation auf Augenhöhe fand im Zimmer von Frau Blum nicht statt. Die Folge sind Unzufriedenheit auf beiden Seiten und eine nicht durchgeführte Morgenpflege.

Problemerläuterung I: Der Teufelskreis gescheiterter Kommunikation

Im Zimmer von Frau Blum findet ein Teufelskreis statt, denn als Anna Frau Blum begegnet, folgt sie ihren unbewussten und unausgesprochenen Vorstellungen (Stereotypen) über die Bewohnerin: Frau Blum ist krank, hilflos, wahrscheinlich senil und »nicht mehr ganz da«.

Diese Überzeugungen leiten zum nächsten Schritt des Teufelskreises über: Anna passt ihr Kommunikationsverhalten ihren Vorstellungen über die Fähigkeiten und den Zustand von Frau Blum an. Sie geht mit ihr um wie mit einem kleinen Kind (verwendet einen Kosenamen, »Blümchen«, der zudem noch eine nicht altersgemäße Verniedlichung darstellt), spricht ihr den eigenen Willen ab, indem sie in der Wir-Form über sie bestimmt (»ab ins Bad mit uns«), und dringt durch das Knuffen sogar in die Privatsphäre der Bewohnerin ein.

Die alte Frau reagiert auf Annas Verhalten mit Rückzug und macht »dicht«. Frau Blum verringert ihre Aktivitäten – sie stellt keine Fragen und äußert keine Wünsche. Dadurch verstärkt sie (ungewollt) die Stereotypen von Anna (z. B. »Alte Menschen haben kein Interesse an Gesprächen«, »Die Heimbewohnerin kann sich selbst nicht versorgen«, »Frau Blum muss gehätschelt werden«).

Durch diesen Teufelskreises verliert Frau Blum schließlich ein Stückchen ihres Selbstbewusstseins und resigniert zunehmend: »Keiner nimmt mich ernst. Ich bin alt und deswegen nichts wert« und »Was soll ich mich wehren, es hat ja eh keinen Sinn«. Diese Ansicht führt bei ihr wiederum zu weniger Aktivität. Treten solche Situationen wiederholt auf, ist davon auszugehen, dass sich bei ihr Altersmerkmale wie Antriebslosigkeit oder depressive Verstimmungen verstärken. Somit schließt sich der Teufelskreis. Bei der nächsten Begegnung mit Frau Blum wird Anna wahrscheinlich noch mehr Merkmale erkennen, die ihre Stereotypen über das Alter und den alten Menschen »bestätigen«.

 

Der Teufelskreis zeigt den Ablauf der intergenerationalen Kommunikation, wenn Jüngere sich von ihren eigenen Stereotypen über das Alter leiten lassen. Anna hat im Zimmer von Frau Blum eine extreme Form der intergenerationalen Kommunikation betrieben: die patronisierende Kommunikation.

Problemerörterung II: Patronisierende Kommunikation/»Secondary Baby Talk«

Patronisierende Kommunikation, auch »Secondary Baby Talk« (Sprechen mit einem Kind) genannt, bezeichnet den Umgang mit alten Menschen, bei dem sie wie kleine Kinder behandelt werden. Die patronisierende Kommunikation weist folgende Merkmale auf (vgl. Sachweh 1999):

Vokabular:

einfache, überwiegend einsilbige Wörter

kindliche Begriffe

Verkleinerungen (z. B. bisschen, wenig)

Grammatik:

einfache Konstruktionen und Sätze

Wiederholungen

Imperative (Befehls- und Aufforderungsformen)

Fragen zielen auf simple Ja-Nein-Antworten

Themensteuerung:

eingeschränkte Themenwahl

oberflächliche Inhalte

Nichtbeachtung der Themen anderer

übertriebenes Loben

Anredeformen:

übertriebene, familiäre Anreden (z. B. Vornamen, Koseformen wie »meine Süße«, Kinderbezeichnungen wie »gutes Mädchen«, »böses Mädchen«)

Über jemanden sprechen statt mit jemandem (z. B. Unterhaltung von Pflegekräften über einen Bewohner in seiner Anwesenheit)

Vokale (lautliche) Merkmale:

hohe Stimmlage und unangemessen lautes Sprechen

übertriebene Intonation (Sprache)

übertriebene Betonung

Anna reflektiert darüber, wie sie Frau Blum angesprochen hat … – Ja, man könnte wirklich denken, dass sie mit einem kleinen Kind geredet habe. Obwohl mit Kindern eigentlich kaum noch so geredet wird!

Durch die Art ihrer Kommunikation hat sie Frau Blum die Souveränität des Erwachsenseins abgesprochen. Nun kann Anna die schroffe Abkehr und Unfreundlichkeit der alten Frau besser verstehen und nachvollziehen.

Schritt 2 – Lösungsweg: Erfolgreich kommunizieren

Wie unterbricht eine Pflegekraft den Teufelskreis der intergenerationalen Kommunikation? Anna erarbeitet für sich die Grundsätze der Kommunikation mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in fünf Schritten:

1. Schritt: Sie überdenkt ihre Vorstellungen über die Bewohnerin. Auf der einen Seite ist Frau Blum mit ihren 87 Jahren betagt und nach einem Schlaganfall in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Auf der anderen Seite verfügt sie über viele Ressourcen, zum Beispiel ist sie geistig fit und kann bestimmte Bewegungen noch selbst durchführen. Aber vor allem ist sie eine erwachsene Person mit einem Anspruch auf respektvollen Umgang.

2. Schritt: Anna denkt daran, dass Kommunikation ein Regelkreis ist, in dem ihr Verhalten bestimmte Reaktionen beim Gegenüber auslöst. Anna macht sich dieses Ursache-Wirkung-Folge-Prinzip bewusst: Frau Blum ist nicht an sich »unfreundlich« und »unkooperativ«, ihr Verhalten ist eine Reaktion auf Annas unangemessene Ansprachen.

3. Kindliche Streitereien darüber, wer »angefangen« hat, haben im professionellen Kontext nichts zu suchen. Als Fachkraft ist Anna für das Gelingen der Kommunikation verantwortlich. Sie übernimmt also die Verantwortung für das Geschehen im Zimmer und beschuldigt nicht Frau Blum, für das Scheitern der Kommunikation verantwortlich zu sein.

4. Schritt: Anna formuliert ihre Aussagen in der »Ich-Form« (sogenannte Ich-Botschaften). Die Ich-Botschaften sind wirksam, weil sie keine Bedrohung für den Empfänger darstellen und somit keinen Widerstand provozieren. Dafür muss Anna ihre eigenen Ziele und Handlungen benennen, zum Beispiel: »Ich möchte Ihnen beim Aufstehen helfen.« Mit so einer Aussage lässt sie Frau Blum genug Raum, um die Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen.

5. Schritt: Anna meidet generell alle Aussagen, die aus dem Bereich der patronisierenden Kommunikation stammen, d. h., sie verwendet keine kindlichen Begriffe und Verkleinerungen, spricht die Bewohnerin mit »Frau Blum« an, redet in vollständigen Sätzen und vermeidet übertriebenes Lob für Handlungen, die Frau Blum ausübt.

6. Schritt: Annas Ziel ist es, eine gute und tragfähige Beziehung zu Frau Blum aufzubauen. Dies wird gelingen, wenn sie der alten Dame signalisiert, dass Anna sie wertschätzt und ernst nimmt. Eine gut funktionierende Beziehung ist der Schlüssel zum Erfolg. Anna wird jede Pflegesituation dazu nutzen, um Frau Blum besser kennenzulernen, deren Ressourcen besser einzuschätzen und somit mit ihr gemeinsam eine angemessene Routine für die Morgenpflege entwickeln.

Schritt 3 – Handlungsoptionen: Konstruktive Kommunikation erproben

Anna kehrt ins Zimmer von Frau Blum zurück. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, sagt sie und sucht dabei den Augenkontakt zur alten Dame. »Ich habe gerade hier angefangen und wollte alles richtig machen. Dabei habe ich wohl die falschen Worte gewählt und Sie verletzt. Das tut mir leid. Wären Sie bereit, es noch einmal mit mir zu versuchen?« »Natürlich«, lächelt Frau Blum. »Schließlich möchte ich ja aufstehen und mich zum Frühstück fertig machen! Helfen Sie mir bitte beim Aufstehen – und beim Waschen können Sie mir nur den Lappen nass machen. Vieles kann ich ja noch selbst.

Schritt 4 – Reflexion: Professionelle Kommunikation ist wertvoll

Anna reflektiert: Aus einer »unfreundlichen« und »unkooperativen« Bewohnerin ist eine freundliche, kooperative Frau Blum geworden. Alles dank der konstruktiven professionellen Kommunikation. Anna kann stolz auf sich sein!

»WAS VERSTEHT SIE ÜBERHAUPT?«

Praxisbeispiel: Frau Ahrens ist stumm

Dieses Mal hat Anna Glück, eine Kollegin hat ihr eine klare Anweisung gegeben: »Frau Ahrens kann nicht mehr sprechen. Deswegen brauchst du bei ihr im Zimmer auch keine Zeit für Plaudereien verschwenden. Du musst nur eben waschen.« »Okay«, denkt Anna, »dann werde ich mich hier sputen und ein bisschen Zeit aufholen.«

Ohne anzuklopfen betritt sie den Raum und schaltet sofort das Licht an. Frau Ahrens ist bereits wach und schaut Anna neugierig an. Sie lächelt sogar und folgt Annas Bewegungen sehr aufmerksam. Anna eilt zum Bett und hebt die Decke an, dabei kommentiert sie ihre Handlungen nicht. »Wozu auch?«, denkt Anna, »Frau Ahrens kann ja nicht sprechen und es soll nicht geplaudert werden!«

Während Anna die Decke zur Seite legt, zuckt die alte Dame zusammen. Sie lächelt nun nicht mehr, dreht sich zu Anna um und sieht sie mit großen Augen an. Anna denkt: »Oh, sie hat sich erschreckt.«

Anna sagt: »Jetzt auf die Seite drehen«, nur spricht sie nicht mit Frau Ahrens, sondern kommentiert vielmehr laut ihre eigenen Handlungen. Frau Ahrens versucht, Anna mit den Händen abzuwehren. Anna dreht sie dennoch auf die rechte Seite. Daraufhin versteift sich Frau Ahrens, kauert sich zusammen und blickt traurig aus dem Fenster. »Nun kann ich die Morgentoilette mit ihr knicken!«, denkt Anna irritiert. »Wie soll ich sie in diesem Zustand waschen, wenn sie sich so sperrt?«

Analyseschwerpunkt: Verständigung durch nonverbale Kommunikation

Die Situation im Zimmer von Frau Ahrens ist leider nicht so einfach, wie Anna sich das gedacht hat. Von wegen »nur eben waschen«! Da hätte die Kollegin sie ruhig vorwarnen können. Dabei wirkte Frau Ahrens anfangs doch ganz kooperativ. Was war nur falsch gelaufen? Hätte sie doch mit ihr reden sollen?

Um die Situation professionell zu lösen, muss die Pflegekraft …

das Problem erkennen, benennen und

Lösungswege entwickeln, die dann

umgesetzt und erprobt sowie schließlich

hinsichtlich ihrer Ergebnisse reflektiert und ggf. korrigiert werden.

Schritt 1 – Das Problem erkennen: Jedes Verhalten ist Kommunikation

Frau Ahrens kann nicht mehr sprechen. Aber bedeutet das, dass sie nicht kommunizieren kann? Anna hat erkannt, dass sie Frau Ahrens allgemein die Fähigkeit zur Kommunikation abgesprochen hat, nur weil diese nicht verbal kommunizieren kann.

Im Zimmer von Frau Ahrens haben jedoch komplexe kommunikative Prozesse stattgefunden: Auch wenn Anna nichts gesagt hat, hat sie trotzdem mit Frau Ahrens kommuniziert.

Wie funktioniert Kommunikation?

Unter Kommunikation versteht man im Allgemeinen den Austausch von Informationen zwischen Personen. Dieser Austausch besteht aus einer Abfolge von Nachrichten (auch Botschaften genannt) zwischen einem Sender und einem Empfänger.

Der Sender codiert seine Absicht (das, was er mitteilen möchte) mithilfe von verbalen und nonverbalen Zeichen und »schickt« die Botschaft an den Empfänger (→ Aktion). Dieser wiederum decodiert (quasi »übersetzt«) die Botschaft anhand seines Verständnisses für die Zeichen, die er wahrgenommen hat. Der Empfänger reagiert mit einer Rückmeldung (→ Reaktion), wodurch er selbst zum Sender wird. So schließt sich der Kreis der Kommunikation.

 

Anna stellt ihre Kommunikation mit Frau Ahrens an diesem Montagmorgen als Reihenfolge von Botschaften dar.

Tabelle 2: Kommunikation zwischen Anna und Frau Ahrens – die »falschen« Botschaften
Anna Frau Ahrens

… klopft nicht an die Zimmertür, betritt einfach das Zimmer und schaltet das Licht an.

Ihre Botschaft: »Ich allein bestimme die Situation.«

… schaut Anna neugierig an, lächelt und folgt Annas Bewegungen sehr aufmerksam.

Ihre Botschaft: »Ich freue mich, Sie zu sehen und bin neugierig, wer Sie sind«

Autor

  • Oksana Baitinger (Autor:in)

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Titel: Der gelungene Einstieg in die Pflegepraxis