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100 Tipps für die Validation

von Barbara Messer (Autor:in)
132 Seiten

Zusammenfassung

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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT ZUR 2., AKTUALISIERTEN AUFLAGE


Vor einiger Zeit stellte ich während eines Seminars fest, dass ich die Validation wesentlich einfacher und schlichter erklärte, als ich es ursprünglich einmal bei Naomi Feil und Vicki de Klerk-Rubin erlernt hatte.

Durch die viele Praxis und die zahlreichen Fallbeispiele, die in unseren Trainings bearbeitet werden, haben wir die Erklärung nahezu unbemerkt vereinfacht.

Aus diesem Grunde bat ich den Verlag, das Buch überarbeiten zu dürfen.

Seit der ersten Auflage hat sich viel verändert. So habe ich unter anderem eine Ausbildung in systemischer Strukturauftstellung gemacht und durfte dabei wieder einmal erleben, wie wesentlich uns die Themen des eigenen Lebens begleiten. Nur wir allein können gewünschte Veränderungen vornehmen. Diese Erkenntnis begleitete mich bei der Überarbeitung dieses Buches.


Wennigsen, im September 2009Barbara Messer

VORWORT ZUR 4., AKTUALISIERTEN AUFLAGE


Nun wieder eine Neuauflage – ein weiteres Überdenken und Schreiben dieses praktischen Buches, das Sie, liebe Leserinnen und Leser, so schätzen gelernt haben.

Die praktischen Pflegejahre liegen hinter mir. Es überwiegen mehr und mehr die Jahre, in denen ich alte und auch verwirrte alte Menschen im normalen Alltag erlebe. Eltern von Freunden und Kolleginnen altern. Dadurch weitet sich mein Blick noch einmal. Ich habe meine Mutter verabschiedet (sie ist vor einigen Jahren gestorben) und auch ich werde älter. Mein Wissen, meine Erfahrung weiten sich.

Und jetzt bekommt dieses Buch seine mittlerweile 4. Auflage. Dies freut mich, denn die nicht versiegende Nachfrage ist ein Hinweis darauf, wie sehr die Menschen nach Lösungen und Bereicherungen für den Kontakt und den Austausch mit Menschen suchen, die nicht immer orientiert sind oder an einer demenziellen Symptomatik leiden.

Es gilt, mit diesen 100 Tipps die Validation, wie ich sie einmal vor vielen Jahren von Naomi Feil und ihrer Tochter Vicki de Klerk-Rubin gelernt habe, weiter in die Welt zu tragen. Nur hat sich bei diesem »weiter in die Welt tragen« die Validation etwas verändert. Das ist für mich durchaus stimmig. Denn auf jeder dieser Seiten ist die Anerkennung für das Lebenswerk von Naomi Feil nachzuvollziehen. In meinen Augen hat sie einen grandiosen Meilenstein in der Pflege von alten, desorientierten Menschen gesetzt. Mit ihrem Modell, ihrer Validation hat sie die Pflege enorm verbessert. Sie hat vielen, vielen Menschen deutliches und hilfreiches Rüstzeug an die Hand gegeben, Menschen mit tiefer Empathie zu begleiten und für deren Wohlbefinden positiv mit zu beeinflussen. Sie hat nach meinem Verständnis mit ihrem Konzept der Validation einen Paradigmenwechsel eingeläutet.

Nach wie vor ist der Begriff »Validation« immer im Zusammenhang mit der Begründerin Naomi Feil zu betrachten. Sie und ihre Tochter sowie ein internationales Netzwerk an Validationsexperten achten darauf, dass die »Validation nach Feil« auch die Validation nach Feil bleibt. Diese Sorgfalt und Professionalität möchte ich sehr achten, auch mit diesem Buch.

Dennoch schreibe ich nicht mehr ausschließlich nach dem Verständnis nach Feil. Ich erlaube mir, nach meiner eigenen Erfahrung zu schreiben, andere Denkhaltungen und Erfahrungen einfließen zu lassen. Es wirkt nicht nur die »Methode«, sondern auch der Mensch, der sie anwendet. Zumindest gilt diese Erkenntnis in der Pädagogik.

Jeder und jedem, der eine Ausbildung in Validation nach Feil absolvieren möchte, sei die Ausbildung über die Ausbildungsstätten der o. g. Association empfohlen.

Ich möchte Ihnen dagegen die Gedanken der Validation sehr alltagsnah und praxisbezogen darstellen. Deshalb habe ich dieses Buch vor Jahren geschrieben. Deshalb arbeite ich noch einmal an einer Neuauflage.

Auch der systemische Ansatz, der mir wichtiger denn je geworden ist, blitzt zwischen den Zeilen durch.

Virginia Satir, die Grand Dame der Familientherapie sagt es deutlich, worum es mir in der Validation geht: »Ich glaube, das größte Geschenk, das ich von jemandem bekommen kann, ist, dass er mich sieht, mir zuhört, mich versteht und mich berührt. Das größte Geschenk, das ich einem anderen Menschen machen kann, ist, ihn zu sehen, ihm zuzuhören, ihn zu verstehen und ihn zu berühren. Wenn das gelingt, habe ich das Gefühl, dass wir uns wirklich begegnet sind.«

Wer validiert, verlässt den Pfad der Pflege, in der oft gedacht wird, dass Pflegende die Gebenden und Klienten die Nehmenden sind. Bei der systemischen Validation findet eine Begegnung von Mensch zu Mensch statt. Oft genug ist die Pflegekraft, die beschenkt wird. In diesem Sinne lade ich Sie herzlich ein, sich von den Möglichkeiten der systemischen Validation inspirieren zu lassen.


Berlin, im August 2016Barbara Messer

EINLEITUNG

DIE SONNE WECKEN

»In den alten Kulturen hatte jeder seine eigene Aufgabe, die ihm selbst Sinn und Bedeutung gab. So erhielt der Älteste des Stammes, wenn er zu alt und zu gebrechlich war, um noch andere Arbeiten zu verrichten, die verantwortungsvollste Aufgabe, nämlich jeden Morgen vor Sonnenaufgang die Sonne mit seinem Gesang und seiner Trommel zu veranlassen, auch tatsächlich aufzugehen. Ohne sein Ritual würde die Sonne verborgen bleiben und damit würde die Welt auch nicht weiter bestehen können …«

Diese Geschichte hörte ich 2002 von Dr. Henning Alberts, der sie wiederum von einem ihm bekannten Schamanen hatte, der sie von einem indianischen Freund aus dem Mittleren Westen der USA hörte, dessen Großvater dieses Ritual noch vollzogen hatte. So ist das eben bei der mündlichen Tradition. Ein bisschen stille Post.

Es ist aber eine Geschichte, die so ganz gegensätzlich ist zu dem, was ich vor meiner Begegnung mit der Validation in der Altenpflege erlebte.

Es ist eine Geschichte, die den alten Menschen in einen ganz anderen Rahmen setzt, als wir ihm gemeinhin in unserer Gesellschaft zubilligen. Diese Geschichte erzählt von der Achtung vor dem Alter, von der Bedeutung der Rolle und der Kompetenz alter Menschen.

Validation, für manche fast ein »Unwort«, passt in diesen Rahmen hinein. Für mich definiere ich Validation als Anerkennung dessen, was ist. »Ein Mensch kann vier Wochen lang ohne Nahrung überleben. Aber er verkümmert sofort, wenn er nicht täglich eine Dosis Aufmerksamkeit erhält.«1 Um diese Aufmerksamkeit geht es in der Validation und in diesem Buch. Menschen, vor allem Helferinnen und Pflegende, die mit Validation arbeiten, versuchen nicht, einen alten Menschen, der in seiner Orientierung eingeschränkt ist, zu ändern. Sie lassen ihn einfach so, wie er ist, und finden einen Weg, mit ihm in einen echten Kontakt zu kommen! Das ist ihr Können!

Hinweis

Validieren ist keine Arbeit, keine Methode im eigentlichen Sinne. Es ist vielmehr eine Grundhaltung, die spürbar beim anderen ankommt; eine Haltung der liebevollen und fokussierten Aufmerksamkeit, geprägt von tiefer Empathie und Toleranz, aber auch von bewusst eingesetzten Interventionen und Formen der Kommunikation.

Dieses Buch ist als ein kleiner Alltagsratgeber gedacht, der Sie in ihrem beruflichen Alltag inspirieren und begleiten soll. Für mich begann die Validation 1994, als ich zum ersten Mal Naomi Feil kennen lernte und tief berührt war von ihrer ganzen Art und ihrer großen Fähigkeit, Echtheit in Begegnungen zu leben.


WAS VALIDATION TUN KANN

Was Validation tun kann, möchte ich Ihnen an einem kurzen Beispiel erklären:

Berlin-Charlottenburg (für die Nichtberliner/innen: ein recht vornehmer Stadtteil von Berlin), Karfreitag: Eine 84-jährige Dame im Pflegeheim ruft uns Pflegekräfte laut und dringend herbei. Sie erzählt uns, dass sie nun ein Baby bekäme und die Geburt nunmehr kurz bevorstünde.

Wir Pflegekräfte sind vorerst verwirrt, entscheiden uns dann, einen Arzt zu rufen. Wir haben Glück, es kommt eine verständnisvolle Ärztin vom ärztlichen Notdienst.

Sie spricht allein mit der alten Dame und berichtet uns anschließend, dass die Bewohnerin seit ein paar Tagen nicht mehr abgeführt habe und sich nun im Bauchraum »voll« anfühle.

Erst nach Ostern ermöglicht mir die alte Frau ein Gespräch. Ich bin in ihrem Zimmer und räume nach der morgendlichen Körperpflege noch ein wenig auf, als sie auf einmal meine Hand fasst und zu erzählen beginnt: »Als ich 17 Jahre alt war, da gab es einen jungen Mann. Meine Eltern wussten nichts davon, auch nicht, dass ich schwanger wurde. Keinem konnte ich es erzählen, das tat man damals nicht. Mit der Schwangerschaft gab es Komplikationen, es war eine Eileiterschwangerschaft. Ich vertraute mich einem Krankenhaus an, danach konnte ich nie wieder schwanger werden.«

Ich sehe sie an, ihre Augen sind voller Tränen, sie atmet hastig und erzählt weiter: »Als mein damaliger Freund davon erfuhr, ließ er mich sitzen. Ich habe ihn schmerzlich vermisst und noch oft an damals gedacht. Auch als ich Jahre später verheiratet war. Meine Eltern haben es nie erfahren.«

Mittlerweile haben wir uns hingesetzt, mir sind die Beine schwer geworden, denn ich bin im sechsten Monat schwanger. Was bleibt uns anderes übrig, als gemeinsam zu weinen. Über ihr verlorenes Kind, die ersehnten und nie geborenen Kinder, die Scham, die womöglich erfahrene oder erinnerte Demütigung bei der Operation, den schmerzhaften Verlust, die vermisste Liebe, die fehlende Geborgenheit der Eltern.

Dieses Miteinander-Sitzen und -Weinen ist bereits Validation, ohne dass ich als Pflegende etwas Besonderes tue. Meine Aufgabe besteht schlicht und einfach darin, mich für den Schmerz und ihr Thema oder auch Anliegen zu öffnen. Ich spreche hier von einem Mitfühlen, ohne mitzuleiden. Dies geschieht nahezu automatisch, wenn ich eine professionelle empathische Grundhaltung einnehme.

In der Auseinsetzung mit dieser besonderen Haltung der systemischen Validation ist es auch von besonderer Bedeutung, nicht mehr zu werten. Eine Wertung, die uns Menschen doch recht zu eigen ist, unterteilt schnell in Aspekte wie gut oder schlecht, »Das tut man nicht!«, etc. Wir urteilen, vielleicht sogar um uns zu distanzieren und nicht zu sehr einlassen zu müssen. Stattdessen sollten wir in unserem Alltag, in der Pflege von Menschen und in unserem eigenen Leben, sensibel und achtsam sein. Ich weiß, der Begriff der Achtsamkeit beginnt derzeit gerade »auszuleiern«, inflationär zu werden. Für mich steht Achtsamkeit für: Wir sind sensibel, haben feine Antennen, wissen, was wir fühlen, was uns beschäftigt, was wir ausstrahlen; kurzum: Wir sind uns unserer selbst bewusst (soweit das überhaupt geht) und sind so auch gut für Andere. In diesem Falle für die alten Menschen, die manchmal verwirrt oder orientierungslos sind. Denn dann fällt uns die Annahme und Akzeptanz der Lebenswelt des Anderen, das Validieren, leicht.

Sind wir selber innerlich blockiert oder einfach mal schlechter Laune, kann es gut sein, dass wir die Bedürfnisse des Gegenübers, des alten Menschen, nicht spüren können oder wollen. Dann führt selbst eine gut ausgeführte klassische Validationstechnik nicht zum erwünschten Erfolg. Es fehlt das Gespür und die rechte innere Haltung. Wir sind dann mit uns selbst beschäftigt.

So ist es auch mit Humor. Zum Teil löst ein Lachen, ein auf den ersten Blick albern anmutendes Winken eines Patienten oder einer Bewohnerin, Verwirrung bei dem einen oder anderen Pflegenden aus. Mit einer entsprechenden inneren Haltung baut es aber eine Brücke zwischen zwei Menschen und genau darum geht es bei der Validation: Brücken bauen von Menschen zu Mensch.


WAS GENAU IST NUN VALIDATION?

Lassen Sie mich einige Aussagen zur Validation exemplarisch vorstellen, um Ihnen verschiedene Aspekte dieser Art zu arbeiten deutlich zu machen:

1. Validation ist eine Methode aus der Sozialen Arbeit

»Die Validation ist eine Methode aus der Sozialen Arbeit, mit alten, an einer Demenz erkrankten Menschen zu kommunizieren.«2 Auf der sehr aussagekräftigen Internetseite der European Validation Association heißt es weiter: »Validation bedeutet: Glauben schenken, anerkennen. Es ist eine Methode, die von Naomi Feil entwickelt worden ist und die Er-Lebensqualität von nicht-orientierten Menschen verbessern möchte.«

Eine weitere Definition, die mir sehr gut gefällt, besagt: »Validation – eine Methode, sich in die Realität Dementierender hineinzudenken und deren momentane Befindlichkeit zu akzeptieren.«3 Wobei ich den Begriff »Dementierender« nicht schätze. Nach wie vor plädiere ich für eine Bezeichnung wie »Der alte Mensch mit Demenz«. Es ist in erster Linie ein Mensch, in zweiter Linie ist er vielleicht nicht mehr orientiert.

2. Validation ist eine Methode der Kommunikation

»Validation ist eine Methode, um mit desorientierten, sehr alten Menschen zu kommunizieren. Diese Technik hilft Streß abzubauen und ermöglicht diesem Personenkreis, Würde und Glück wiederzuerlangen. Validation basiert auf einem empathischen Ansatz und einer ganzheitlichen Erfassung des Individuums. Indem man »in die Schuhe« eines anderen Menschen schlüpft und »mit seinen Augen sieht«, kann man in die Welt der sehr alten, desorientierten Menschen vordringen und die Gründe für ihr manchmal seltsames Verhalten enträtseln.«4

3. Validation erzeugt Verständnis

»Die Validations-Theorie hilft uns zu verstehen, daß viele sehr alte, desorientierte Menschen mit der Diagnose Demenz vom Typus Alzheimer sich im Endstadium ihres Lebens befinden und danach streben, unerledigte Aufgaben aufzuarbeiten, um in Frieden zu sterben. Diese letzten Anstrengungen sind von wesentlicher Bedeutung und wir Validations-Anwender können sie dabei unterstützen. Mittels der Validations-Techniken bieten wir ihnen die Möglichkeit, sich verbal oder nonverbal auszudrücken. Validations-Anwender sind fürsorglich, sie urteilen nicht und stehen den geäußerten Gefühlen offen gegenüber. Wenn Ältere, desorientierte Menschen Gefühle ausdrücken können, die sie oft jahrelang unterdrückt hatten, nimmt die Intensität dieser Gefühle ab, sie kommunizieren besser und werden weniger häufig in ein fortgeschrittenes Stadium der Desorientierung abgleiten.«5

4. Die integrative Validation nach Richard® (IVA)

Die Gerontologin Nicole Richard entwickelte einen eigenen Ansatz, die integrative Validation. Dabei geht sie nicht von der Theorie der unerledigten Aufgaben aus, sondern akzeptiert viel eher das Verhalten.

Auf der Internetseite www.integrative-validation.de findet sich die folgende Erklärung: »Die Integrative Validation nach Richard® ist eine ressourcenorientierte Methode für den Umgang und die Kommunikation mit Menschen mit Demenz, die als Basis und Haltungsbeschreibung für die im Wohnbereich, in Gruppenräumen, bei der Begleitung und Pflege stattfindenden Kontakte zu verstehen ist.

Die Integrative Validation nach Richard® (IVA) geht in der Begleitung von Menschen mit Demenz von den zugrundeliegenden hirnorganischen Abbauprozessen und den damit in Verbindung stehenden Verlusten und Einbußen aus.«6

Auch wenn ich bei Naomi Feil und ihrer Tochter gelernt habe, so gefallen mir auch die Gedanken und Ansätze von Nicole Richard. Meines Erachtens geht es darum, für sich als professionell Pflegende die geeigneten Tools, Haltungen, Gedanken und Möglichkeiten zu finden, die die eigene Kompetenz erweitern. In diesem Sinne ist dieses Buch kein Anti-Nicole-Richard-Buch.

5. Validation – der systemische Ansatz

Für mich bedeutet Validation, der Welt, in der mein Gegenüber gerade lebt, Glauben zu schenken und die Situation als wichtig und wesentlich zu erachten. Wie viel ich von einer Situation verstehe, ist dabei nicht immer wichtig. Es ist wichtig, was funktioniert!

Mein Verständnis der Validation, aus einer systemischen Haltung heraus agierend, lautet so:

Menschen, die miteinander in Verbindung stehen, werden als System betrachtet – also auch Heimbewohner und Pflegende.

In diesen Systemen beeinflussen wir uns gegenseitig. Damit das gelingt, gewöhnen wir uns bestimmte Verhaltensweisen an. Denken Sie beispielweise daran, was Sie in Ihrer Ursprungsfamilie an Verhalten erlernt haben. Vieles davon begleitet Sie auch noch in den aktuell relevanten Systemen. Je nachdem, ob die Prägung sich positiv oder negativ auswirkt, beeinflusst sie Ihre Beziehungen und Ihre Umgebung.

Verändert sich nun eine Person im System, hat dies Auswirkungen auf die anderen Systemmitglieder. Dieser Prozess läuft oft allerdings unsichtbar, fast unmerklich ab.

 

Fazit


1 So lässt sich ein Ausspruch von Luc de Clapiers, Marquis de Vauvenargues, sinngemäß übersetzen.

2 http://de.wikipedia.org/wiki/Validation_(Medizin) [Zugriff am 09.04.2012]

3 www.alzheimerforum.de [Zugriff am 09.04.2012]

4 http://www.validation-eva.com/index.php/de/validation de [Zugriff am 06.07.2016]

5 Ebd.

6 http://www.integrative-validation.de/[Zugriff am 06.07.2016]

1 GRUNDSÄTZLICHES ZUR VALIDATION

1. Tipp: Erkennen Sie die Gefühlswelt des alten Menschen an

Der alte Mensch vermischt in seinem Alltag oft frühere Erlebnisse und das Heute. Das tut er natürlich nicht immer! Ein Déjà-vu kennen wir selber aus unserem Leben, auch das Tagträumen ist eine kleine Reise in eine andere Welt. Wenn es uns »im Jetzt« jetzt nicht gefällt, dann träumen wir uns in eine andere Welt.

Wenn bei einem älteren Menschen, z. B. durch Überforderung, Flüssigkeitsdefizit oder sklerotische Veränderungen im Gehirn die Orientierung (zur Person, zur Situation oder zur Zeit) eingeschränkt ist, sind Übergänge zwischen Früher und Heute für ihn nicht immer erkennbar. Auch die Orientierung im Heute ist ihm nicht immer möglich.

Doch auch wenn Menschen Früher und Heute vermischen – ihre Emotionen sind in jedem Fall aktuell. Sie erinnern sich beispielsweise an ein Ereignis, das viele Jahre zurück liegt, ihre Gefühlswelt jedoch bezieht sich auf das Erleben der aktuellen Situation.

Was in solchen Momenten im Kopf, der Seele und dem Herzen passiert, geschieht unbewusst, unkontrolliert, automatisch. Unser Gehirn und unser Bewusstsein sind wahre Meister und präsentieren uns eine enorme Fülle an sinnlichen Eindrücken. Die Wechsel der Erinnerungen, die sprunghaft geschilderten Erlebnisse oder Emotionen begegnen uns im Kontakt mit alten Menschen recht häufig.

Hinweis

Für Sie als Begleitende und Pflegende bedeutet Validation, diese – ganz eigene – Erlebniswelt anzuerkennen und dem alten Menschen nicht Ihre Wahrnehmung der Welt »aufzudrücken«.

»Jemanden zu validieren bedeutet, seine Gefühle anzuerkennen, ihm zu sagen, dass seine Gefühle wahr sind. Das Ablehnen von Gefühlen verunsichert den anderen. In der Methode der Validation verwendet man u. a. Einfühlungsvermögen, um in die innere Erlebniswelt der sehr alten, desorientierten Person vorzudringen. Einfühlungsvermögen – »in den Schuhen des anderen gehen« schafft Vertrauen. Vertrauen schafft Sicherheit, Sicherheit schafft Stärke – Stärke stellt das Selbstwertgefühl wieder her, Selbstwertgefühl verringert Stress. Validations-Anwender haben die Signale ihres Patienten aufzufangen und in Worte zu kleiden. So validieren sie ihn und geben ihm seine Würde zurück.«7

Neben dem Einfühlungsvermögen braucht es auch Fantasie und eine gewisse mentale Offenheit, dass eben auch unsere aktuelle Welt und ihr Eindruck auf uns, nicht die des alten Menschen ist, der uns vielleicht gerade gegenüber steht. Wenn diese beiden Welten auseinander liegen, hilft auch eine Form der tiefen Akzeptanz.

Die Gefühle kommen unzensiert und unvermutet aus dem betroffenen Menschen heraus, quasi überraschend. Selten kann er sie erklären und begründen. Das ist aber auch gar nicht seine Aufgabe. Wichtig ist vielmehr, dass wir ihm seine Gefühle und seine Gefühlswelt glauben.

Aus diesem Grunde habe ich die Validation nach Feil immer als sehr emotionale Arbeit verstanden. Dieser Aspekt zieht einige Menschen sofort magisch an, andere wiederum verschreckt diese Form der Validation eher. Unter anderem weil Emotionen nicht primär rational sind und auch weil die Pflegekraft selber ein gesundes emotionales Fundament braucht, um so weit wie möglich gelassen und gekonnt in diese tiefen Momente der Begleitung zu gehen.

2. Tipp: Schaffen Sie Vertrauen durch Wertschätzung

»Manche desorientierte Menschen ziehen sich nicht mehr in die Vergangenheit zurück, wenn sie sich in der Gegenwart als stark, geliebt und nützlich erfahren. Andere bleiben lieber in der Vergangenheit. Es gibt keine Universalformel, aber alle fühlen sich glücklicher, wenn sie anerkannt werden.«8 Nicht nur Naomi Feil sagt dies. Auch andere, bekannte Therapeuten wie Virginia Satir gehen von diesem Phänomen aus. Selbst die Neurodidaktik kennt das Phänomen, dass aktuelle, positive Ereignisse, Dopamin ausschütten und sich damit über negative Emotionen legen können.

Ich lade Sie gleich zu Anfang ein, sich mit echter Wertschätzung diesen Menschen zuzuwenden. Vermutlich machen Sie das aber sowieso schon. Dennoch: In unserer Kultur stehen alte Menschen nicht im Rampenlicht. Vor allem die Pflegebedürftigen nicht. In anderen Kulturen stehen die alten Menschen ganz oben, weil sie die meiste Lebenserfahrung haben, am weisesten sind, am meisten erlebt haben. Als kleiner Kunstgriff, um diesen Gedanken wirklich folgen zu können, füge ich gerne das Beispiel mit dem Status ein.

»Status: (sozialer Status) Grad der sozialen Wertschätzung der Position eines Individuums oder einer Gruppe in der unter spezif. Wertgesichtspunkten entwickelten Rangordnung. (»Prestige«) eines sozialen Systems. Er wird durch persönliche Eigenschaften (Begabungen), v. a. jedoch durch Merkmale wie Einkommen, Herkunft, Bildung, Beruf sowie S.-Symbole (Besitzgegenstände, Titel) bestimmt.«9

»Erwin Goffman sagt, dass unser Handeln stets in sozialen Rollen erfolgt und dass die Selbstdarstellung des Einzelnen nach vorgegebenen Regeln ein notwendiges Element menschlichen Lebens ist.«10

»An dieser Selbstdarstellung hängt auch die Rangordnung, unser Status. Mal ist er hoch, dann wieder niedrig, je nachdem, wo wir uns gerade befinden. Viele Statuszuschreibungen bleiben unausgesprochen. So ist klar, wer viel Geld hat, der hat meist auch ein neues, großes Auto vor der Tür stehen und reist viel in der Welt herum.

Wer in der Natur ohne Zelt und Spirituskocher überleben kann, hat einen höheren Staus, als jemand, der sich im Wald überhaupt nicht auskennt.

Wissen, Fähigkeiten, Möglichkeiten, Geld, Herkunft, Kultur, auch das Geschlecht sorgen für die Statuszuschreibung.«11

Wer alt ist, hat wenig Ansehen, wenig Status – so kann man es global für unsere Gesellschaft beschreiben. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, z. B. ältere Prominente, Politiker oder Künstler. Die dürfen noch ihren Status genießen. Aber der ganz normale Heimbewohner ist eben Heimbewohner. Status: eher niedrig.

Beispiel: Status-Spiele

Die Familientherapeutin Virginia Satir sagt treffend, dass sich alle glücklicher fühlen, wenn sie anerkannt werden. Und das geht einfach. Zum Beispiel durch die Körperhaltung. Wenn wir uns z. B. neben oder vor einen alten Menschen, der sitzt, knien, lassen wir ihn wachsen! Wir schauen zu ihm auf. Probieren Sie es aus! Sie können selber sehen, wie dieser Mensch plötzlich vor Ihren Augen »wächst«, indem Sie ihm Status geben.

Vielleicht auch durch die Sprache: »Sie sind doch die Frau H., die fünf Kinder groß gezogen hat …« und ähnliches. Geben Sie auf dieser Ebene ganz einfach Anerkennung und Wertschätzung. Dadurch gewinnen Sie das Vertrauen der alten Menschen. Zugleich stellt sich noch ein weiterer Nebeneffekt ein: Sie erfahren tatsächlich mehr von den Betroffenen und sehen diese womöglich genau in diesem wertschätzenden Licht.

Zeigen Sie sich von Ihrer vertrauensvollen Seite. »Menschen vertrauen denjenigen,

die kalkulierbar sind,

die zuverlässig sind,

deren Ziele erkennbar sind und deren Umsetzung zu erkennen ist,

die ähnliche oder gleiche Werte auf eine ähnliche Weise leben,

die authentisch und emotional verlässlich sind.«12

Für mich gibt es fast immer eine Möglichkeit, einem anderen Menschen etwas »Gutes« zu sagen, ihn anzuerkennen, ihm ein Kompliment zu machen.

Hinweis

3. Tipp: Akzeptieren Sie die Rückkehr in die Vergangenheit

Kennen Sie das: Die alte Frau, die mit der Hand immer über die Tisch streicht und behauptet, sie würde bügeln? Sie befindet sich eindeutig in der Vergangenheit und ist eifrig darum bemüht, ihre Arbeit gut zu machen.

Naomi Feil, die 1963 eine Stelle im Montefiore-Altersheim in Cleveland annahm, machte ebenfalls Begegnungen dieser Art. Damals begann man gerade mit dem so genannten Realitäts-Orientierungs-Training und für Naomi Feil begann eine Zeit der schmerzhaften Erlebnisse. So berichtet sie: »Ein Mitglied der Gruppe stand auf und erklärte beim Hinausgehen: ›Ich muss nach Hause, das Essen für meine Kinder machen.‹ Ich sagte: ›Frau Kessler, Sie können nicht nach Hause. Ihre Kinder sind nicht dort. Sie leben jetzt im Montefiore-Altersheim.‹ Darauf antwortete sie: ›Das weiß ich. Seien Sie nicht so dumm! Deshalb muss ich sofort weg. Ich muss nach Hause, das Essen für meine Kinder herrichten!‹ Kein einziger Hinweis auf die Realität konnte Frau Kessler überzeugen. Sie fühlte sich im Heim unnütz, verlangte nach ihrem Zuhause und nach ihrer früheren Rolle als Mutter dreier Kinder. Vor sich hinmurmelnd wandte sie sich von mir ab: ›Was weiß die (sie zeigte auf mich) schon davon. Was glaubt sie, wer sie ist!‹«13

Ein anderer »Fall« von Naomi Feil war ein Bewohner namens Isidor Rose. Er beschuldigte den Verwalter des Altenheims, ihn auf dem Dachboden »kastriert« zu haben. Noch einmal Naomi Feil in eigenen Worten: »Fünf Jahre lang versuchte ich, Herrn Rose an der Realität zu orientieren. Als der Verwalter pensioniert wurde, sagte Herr Rose zu mir: ›Sie haben recht. Er hat mich nicht gequält. Ich tauge nichts und habe nie etwas getaugt.‹ Das waren seine letzten Worte an mich.«14

Isidor Rose war der erste »Fall« von Naomi Feil. Der frühere Rechtsanwalt lebte jahrelang im Altenheim und konnte nicht mehr richtig sprechen. Früher war er jeden Tag in seine Kanzlei gegangen, jetzt schrie er nur noch zwei Namen und eine Zahl und schlug sich mit dem Gehstock ständig aufs linke Knie. Isidor hasste den Heimleiter und verfluchte den Dachboden des Hauses. Er war ein alter Mann und galt als schizophren.

Diesem Urteil hatte sich auch Naomi Feil angeschlossen. Erst zu spät erkannte sie die Zusammenhänge zwischen dem undurchschaubaren Verhalten ihres Patienten und seinem unaufgearbeiteten Leben. Isidor war für seinen Vater ein wertloses Kind und wurde auf dem Dachboden des Elternhauses missbraucht. Im Leiter des Altersheims sah er den eigenen Vater. Isidor war kein sehr erfolgreicher Anwalt. Einen wichtigen Prozess verlor er, obwohl er im Recht war, die Prügeleinheiten aufs eigene Knie sollten eine Strafe für den ehemaligen Richter sein. Die Namen und Zahlen, die er immer ausrief, waren die Anschrift seiner Kanzlei, seines ganzen Stolzes.15

Diese beiden Beispiele führt Naomi Feil dafür an, dass sie die Validation von den Menschen lernte, mit denen sie arbeitete. Sie sagt: »Ich lernte es als Ausdruck von Weisheit zu sehen, wenn alte Menschen durch die Rückkehr in die Vergangenheit zu überleben versuchen«.16

Diese beiden Beispiele zeigen die Wucht, die alte Themen in unserem Leben einnehmen. Da ist die Loyalität, die wir unseren Eltern immer noch einräumen, ob sie noch leben oder schon gestorben sind. Der gesamte Bereich der Familienaufstellung lebt von der Bearbeitung alter Themen und wer einmal eine gute Aufstellung erlebt hat, weiß, wie erleichternd es sich anfühlt, ein altes Thema losgeworden zu sein.

Sicher kennen Sie in Ihrem beruflichen Umfeld solche Beispiele:

Ehemalige Schuhverkäuferinnen, die vor dem eigenen Zimmer Schuhe verkaufen;

ehemalige Führungskräfte, die im Speisesaal für Ordnung sorgen;

eine alte Frau, die immer noch vor den Schlägen ihres Vaters zittert;

ein Angehöriger, der seine pflegebedürftige Ehefrau so überversorgt, dass sie fast erstickt.

Alte Menschen wie Frau Kessler und Isidor Rose im obigen Beispiel konnten ihre traumatischen Themen nicht lösen. Sie trugen sie so lange mit sich herum und hatten dann doch noch das Glück, sie ganz zum Schluss lösen zu können.

Hinweis

Tatsächlich tun wir das alle von Zeit zu Zeit: Da tauchen die wunderbaren Erinnerungen daran auf, als die Kinder noch ganz klein waren, diese unsagbar innige Nähe. Oder Gedächtnisbilder aus dem Garten der Großeltern, wo man an heißen Sommertagen unter dem schattigen Kirschbaum saß und kühle Limonade trank. Es werden immer mehr Erinnerungen, die sich im Lauf unseres Lebens ansammeln. Das ist ein höchst kostbarer Schatz, über den wir da im Alter verfügen.

4. Tipp: Beharren Sie nicht auf Ihrer Wahrnehmung

Wir alle kennen solche Beispiele aus unserem Berufsalltag:

Eine alte Frau möchte heim zu ihren Kindern.

Die eigene Mutter wird gesucht, obwohl sie nicht mehr lebt.

Ein alter Mann will jeden Tag zur Arbeit.

Alte, chronisch desorientierte Menschen laufen auf den Fluren der mehr oder weniger reizarmen Altenpflegeeinrichtungen herum, reagieren mit Ablehnung (verbal und nonverbal), wenn man sie in ihrem Tun »stört«.

Alte Menschen haben Angst, vergiftet zu werden.

Alte Menschen befürchten, dass jemand unter ihrem Bett liegt.

Alte Menschen horten und verstecken Lebensmittel.

Babys werden »geboren«.

Ein alter Mensch liegt im Krankenhaus und denkt, er ist zuhause.

Wenn wir auf diese Verhaltensweisen mit Realitätsorientierung reagieren, ernten wir Traurigkeit, Wut, Verzweiflung, Aggression. Weil wir sie überfordern und dadurch letztendlich auch Hilflosigkeit auslösen, die oft in Aggressivität mündet. Mit unserem Beharren auf der Realität, wie wir sie wahrnehmen, zwingen wir die alten Menschen in die Verteidigung.

Die Folge: Sie reagieren wütend oder traurig oder verzweifelt, weil sie sich unmündig, nicht ernst genommen oder erniedrigt fühlen. Oder sie erleben, dass man ihnen keinen Glauben schenkt. Ihnen verschließt die empfundene Hilflosigkeit das Mitgefühl, das Verständnis.

Die alten Menschen stellen enttäuscht fest, dass wir ihnen nicht glauben und unsere Weigerung bringt ihre Gefühle noch mehr in Wallung oder Aufruhr.

Insofern ist es also sinnvoll, ihnen zunächst zu glauben und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Es ist auch recht einfach, ihnen zu glauben, denn die sinnlichen Eindrücke einer Erinnerung sind deutlich wahrnehmbar. Sie scheinen echt und gegenwärtig. Wir können sie quasi abfragen oder sie uns selber vorstellen. Mit ein wenig Fantasie können wir uns in ihre Situation hineinbeamen. Die sinnlichen Eindrücke haben wir selber. Da ist es leicht, sich eine alte Küche vorzustellen, in der gerade eingekocht wird. Oder den strengen Blick des Vaters, die gekräuselten Augenbrauen sind uns nicht unbekannt. Auch den Duft eines Säuglings, das Wohlgefühl ihn in den Arm zu schließen, kennen viele Menschen. Und viele von uns kennen auch tiefe Angst, zerrendes Misstrauen oder nächtliche Verzweiflung.

5. Tipp: Machen Sie sich einige Grundannahmen der Validation bewusst

Naomi Feil entwickelte im Laufe der Zeit folgende Grundannahmen zu ihrer Validation, die auch auf der wissenschaftlichen Arbeit anderer ruhen (in Auszügen):

Akzeptieren Sie ihren Patienten, ohne ihn zu beurteilen. (Carl Rogers) Wenn sich in unserem Kopf ein Satz wie »Wie kommt sie denn daher?« einschleicht oder »Das geht gar nicht, wie Herr P. auf die anderen zugeht«, sollten wir innehalten, unsere Bewertung bewusst wahrnehmen und sie dann beiseite zu legen. Denn sie verhindert einen neutralen Blick, der uns dann wieder im Wege ist.

Der Therapeut kann weder Einsicht verschaffen, noch das Verhalten ändern, wenn der Patient nicht bereit ist, sich zu ändern oder nicht die kognitive Fähigkeit zur Einsicht besitzt. (Sigmund Freud)

Dies ist die Antwort auf viele Konflikte, die in Pflegebeziehungen stattfinden. Manche Pflegekraft meint, dass sie das Verhalten eines alten Menschen ändern kann. Das endet oft genug in sehr gespannten Kontakten und manchmal in übergriffigen Situationen. Ein alter Mensch ändert sich oder sein Verhalten nur, wenn er es möchte und/oder kann. Dasselbe gilt für Pflegende und Begleitende. Wie schwer fällt es uns, etwas zu ändern, wenn wir es nicht selber wirklich wollen? Es kann so einfach sein, den alten Menschen einfach zu akzeptieren, indem wir begreifen, dass er auf seinem Lebensweg gerade noch etwas kämpft oder etwas klärt. Er selber kann nur dazu bereit sein, etwas anders zu machen.

Gefühle, die ausgedrückt und dann von einem vertrauten Zuhörer bestätigt und validiert wurden, werden schwächer; ignorierte oder geleugnete Gefühle stärker. »Aus einer nicht beachteten Katze wird ein Tiger.« (C. G. Jung)

Wenn wir unseren Emotionen keinen Ausdruck verleihen, stauen sie sich auf. Wir können dann bitter oder depressiv werden. Gefühle wollen gelebt sein. Auch die heftigen wie Wut, Trauer oder Angst. Wenn wir sie zulassen und sie gut zu managen wissen, werden sie auch wieder nachlassen und können anderen – zum Beispiel den positiven – Emotionen Platz machen.

Jedes Lebensstadium hat seine spezifische Aufgabe, die wir zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens lösen müssen. Wir müssen danach streben, diese Aufgabe zu erfüllen und dann zur nächsten schreiten. (Erik Erikson)

Analog zu diesem Satz verweise ich auf das Prinzip der Heldenreise von Campbell: Auf unserer ganz persönlichen Heldenreise müssen wir im Leben immer wieder große Prüfungen bestehen, Schwellen überschreiten, Erkenntnisse gewinnen und stehen schon wieder vor der nächsten Aufgabe. Ganz am Ende haben wir die Aufgabe, diese irdische Welt integer zu verlassen und uns auf eine Transformation einzulassen. Wir wachsen an unseren Aufgaben und auch alte Menschen brauchen Aufgaben zum Lebensende hin!

Eine übergangene Aufgabe meldet sich in einem späteren Stadium wieder. (Erik Erikson)

Die unerledigten Erinnerungen, die nicht gelösten Aufgaben holen uns immer wieder ein. Dazu gehört oft Trauerarbeit und die Verarbeitung von Verlusten. Manchmal fehlt uns der Mut, eine Trauer zuzulassen. Aber vor dem Lebensende möchten wir Frieden mit uns und dem Leben schließen, also braucht es da den Blick auf die unerledigten Aufgaben und die Auseinandersetzung damit.

Wenn das Kurzzeitgedächtnis versagt, stellen sehr alte Menschen durch frühe Erinnerungen das Gleichgewicht wieder her. Versagt der Gesichtssinn, sehen sie mit dem inneren Auge; versagt der Gehörsinn, so hören sie Klänge aus der Vergangenheit. (Wilder Penfield)

Frühe, gefestigte Erinnerungen überleben bis ins hohe Alter. (F. G. Schettler und G. S. Boyd) Sicher ist es schwerer, diese Erkenntnis als jüngerer Mensch in aller Tiefe nachvollziehen zu können. Die Bedeutung der Erinnerungen, gerade der früheren, die womöglich kein Zeitgenosse mehr nachvollziehen kann, kennt nur der Betroffene selbst. Viele alte Menschen sprechen gern von Erinnerungen. Sie brauchen sie, um sich daran festzuhalten, um ihre Lebensspuren zu finden. Um die gern immer wieder erzählten Anekdoten herum liegen viele andere Erinnerungen, die durch den passenden Impuls wunderbar angeregt werden können.

Das Gehirn ist nicht der einzige Verhaltensregulator im hohen Alter. Verhalten beruht auf einer Kombination von körperlichen, sozialen und intrapsychischen Veränderungen, die im Laufe des Lebens stattfinden. (Adrian Verwoerdt)

Auch die Ebene unserer persönlichen Glaubenssätze und Werte bestimmt unser Verhalten. Wir tun das, von dem wir glauben, dass es jetzt sinnvoll oder notwendig ist. Weil wir glauben, dass das so richtig ist, oder so zu sein hat.

Fazit

Jede dieser Aussagen ist übrigens bereits eine Lösung für eingefahrene Situationen! Mit diesen Grundannahmen macht Naomi Feil deutlich, dass ihr Modell der Validation von vielen Gedanken und Erkenntnissen anderer mitgetragen wird. Sie fußt auf seriösen Quellen und Wurzeln, die selbst Inspiration und Erkenntnis sind!

6. Tipp: Ändern Sie Ihre Perspektive

Mit der Drehung des Kopfes löst sich nicht das Problem, sondern es ergeben sich Blickwinkel, aus denen sich die Lösung ergibt.        (ALTE EULENWEISHEIT)

In stressigen Situationen fehlt uns manchmal die Geduld, bestimmte Verhaltensweisen von alten, desorientierten Menschen zu verstehen und zu akzeptieren. Wie z. B.:

alle drei Minuten nach der Uhrzeit fragen;

immer an der Seite einer Pflegekraft sein;

Schreien, Rufen, Kreischen über längere Zeiträume;

stundenlanges Herumirren, Herumlaufen;

engmaschiges Wiederholen bestimmter Sätze, Wörter;

sehr häufiges Fragen nach (evtl. verstorbenen) Angehörigen;

woanders hin wollen.

Wenn Sie jetzt aber annehmen, dass es einen Grund für dieses Verhalten gibt, ändern Sie Ihre Perspektive. Sie erkennen, dass der Betroffene nicht grundlos so ist oder so handelt. Er wird quasi dazu angetrieben, er hat wahrscheinlich gar keine andere Möglichkeit, als so zu handeln. Vielleicht möchte er sich selber ganz anders verhalten, sieht aber in diesem Moment keine andere Möglichkeit.

Um im turbulenten Alltag verständnisvoll zu sein, zu werden oder zu bleiben, hilft es, die Perspektive zu wechseln. Dann bekommen wir einen anderen Eindruck und verlassen die eingefahrene Spur unserer Bewertung der Situation. Mir hat es immer geholfen, wenn ich in einer solchen Situation nach dem tiefer liegenden Bedürfnis gesucht habe und das Verhalten des Betroffenen in den Kontext einer Bedürfnisbefriedigung gebracht habe. Darauf hatte ich nicht immer gleich Antworten, aber es ließ meine Geduld wachsen.

Beispiel: Verständnis – ein Ausweg aus einem Dilemma

7. Tipp: Rechnen Sie immer mit der Vergangenheit

Unsere Vergangenheit hinterlässt Spuren in uns. Situationen, die wir aktuell erleben, können uns an Vergangenes erinnern. Dies kann bei sehr schlimmen und traumatisch erlebten Ereignissen äußerst schmerzhaft sein. Martina Böhm hat eine Tatsache untersucht und veröffentlicht, die bislang eher verschwiegen wurde: Vergewaltigungen, die während des Zweiten Weltkrieges begangen wurden.

»Einige der alten Frauen, die uns in der Pflege begegnen, sind Frauen, die im Zweiten Weltkrieg in den ehemals deutsch besetzten Ländern gelebt haben und später vertrieben, umgesiedelt wurden oder ausgewandert sind und Frauen jeglicher Herkunft, die aus den unterschiedlichen Gründen in Konzentrationslager verschleppt worden wurden. Bei all diesen Frauen ist zu bedenken, dass sie sexualisierte männliche Gewalt erlebt haben können.«17

Dieses Erlebnis aus der Vergangenheit kann zurückkehren. Da reicht es aus, dass sich eine Stimme ähnlich anhört, oder dass sich ein unbekannter Mann nähert. Es genügt ein Geruch, eine bestimmte Situation, um die Vergangenheit auf schreckliche Weise zur Gegenwart werden zu lassen. Gerade pflegerische Handlungen können solche äußerst schmerzhaften Erinnerungen auslösen:

Bei der Körperpflege (Berührungen, Mund- und Intimpflege, Dabei sein, wenn sich eine alte Frau auszieht …)

Bei der Inkontinenzversorgung (Begleitung der Toilettengänge, Dauerkatheter-Pflege und -Wechsel …)

Überall dort, wo eine alte Frau etwas machen soll, was sie gar nicht möchte.

Hinweis

Rechnen Sie also damit, dass eine Abwehr gegen eine Handlung sich eigentlich nicht gegen die Handlung in der Gegenwart richtet, sondern gegen das, was sie beim alten Menschen auslöst. So kann es durchaus sein, dass nicht das Waschen an sich abgelehnt wird, sondern die Art und Weise, in der es geschieht.

Ähnliches trifft zum Teil auch auf Männer zu, die sexualisierte Gewalt erleben haben, und auch auf die ganze Fülle anderer schlimmer Erfahrungen, die zwischendrin wieder auftauchen. Zum Beispiel Lagererfahrungen, Erinnerungen an verstorbene Kinder, Schützengrabenerlebnisse etc.

Erfahrungsgemäß hilft es alten Menschen, die eine schmerzhafte Erinnerung erleben, wenn sie diese durchleben dürfen. Sie können damit zusammenhängende Erlebnisse, Gefühle und Erfahrungen ausdrücken und so evtl. Erleichterung verspüren. Wenn sie dabei jemanden an ihrer Seite haben, der signalisiert »Ich bin da, es ist okay, was passiert« oder »Es ist gut, was da gerade passiert« können sie bei ihrem Schmerz Sicherheit und/oder Geborgenheit wahrnehmen.

Hinweis: Zeitreisen sind möglich!

8. Tipp: Spielen Sie kein Theater

Dieser Tipp ist wichtig, denn manchmal wird Validation als »Theater spielen« verstanden. Das ist Unsinn. Es geht nicht darum, etwas zu spielen, etwas nachzumachen oder eine andere Rolle einzunehmen. Aber manches Mal scheint es so zu sein, als wenn wir sekundenlang in die Schuhe einer anderen Person schlüpfen. Wir sprechen mit der Stimme der verlorenen Tochter oder der verstorbenen Mutter. Da kann schon der Verdacht aufkommen, eine andere »Rolle« anzunehmen. Aber es wird nicht gespielt, im Sinne eines »So-tun-als-ob«.

Validation bedeutet nicht:

das Lösen von Problemen und Konflikten, die ein alter Mensch erlebt,

Psychotherapie,

Theater spielen,

Mitleiden,

eine oberflächliche Antwort auf verbaler Ebene,

zeitaufwändig.

Validation ist etwas, das von Herzen kommt und auch vom Herzen zu spüren ist, dabei aber keine Gefühlsduselei ist. Auch wenn ich hier oft von Gefühlen spreche, sind sie nicht alles. Doch ist die emotionale Ansprechbarkeit bei Menschen mit Demenz sehr hoch. Sie spüren genau, wann wir ihnen oberflächlich begegnen, wann wir unehrlich sind und wann wir ihnen etwas »vormachen«.

Vormachen oder Theater spielen kennzeichnet Situationen wie diese: »Hallo, wo ist meine Mutter?« – »Ihre Mutter hat gesagt, Sie sollen hier warten!« Hier wird offensichtlich gelogen. Auch wenn es eine Notlüge ist, bleibt es eine Lüge.

Es kann sein, dass eine Notlüge gelegentlich hilft. Es ist aber nicht der richtige Weg, um sich vertrauensvoll in den Kontakt zu jemand zu bringen. Bei dem Beispiel verstärke ich den Eindruck, dass die Mutter noch lebt. Und wir wissen nie, was genau jetzt bei diesem Menschen ankommt. Vielleicht ahnt ein Teil in ihm, dass die Mutter wirklich nicht mehr lebt. Dann ist sein evtl. Misstrauen wieder legitim.

Erfahrungsgemäß geht es bei solch einer Aussage aber viel eher darum, die Liebe zur Mutter zu spüren oder mitzuteilen, dass sie einem fehlt. Ein Satz wie »Sie vermissen Ihre Mutter, jetzt wo sie nicht da ist?« und eine intensive Berührung können den Kern des Bedürfnisses nach Mütterlichkeit oder Sicherheit viel mehr treffen. Dies ist eines meiner Lieblingsbeispiele, das zudem nichts kostet. Kaum Zeit, keine langen Diskussionen. Es ist ein einfaches »Auf den Punkt bringen«. Dennoch trauen sich viele Pflegekräfte nicht, diesen oder einen ähnlichen Satz zu sagen. Vielleicht befürchten sie, die aktuelle Gefühlslage und Situation des alten Menschen dadurch noch schlimmer zu machen. Sie trösten dann lieber, was aber einen anderen Zweck erfüllt!

9. Tipp: Beachten Sie die Grundlagen der Validation

Naomi Feil entwickelte die Validation nicht nur aus ihren praktischen Erfahrungen heraus. Sie griff – wie gerade gesagt – auf Theorien und Erfahrungen anderer zurück.

Erik Erikson lieferte eine Erklärung für das Verhalten vieler alter, desorientierter Menschen. Feil setzte dem Modell der Lebensstufen noch etwas hinzu: Sehr hohes Alter, die Aufgabe, die Vergangenheit zu verarbeiten und bei Misslingen der Aufgabe: Vegetieren.

Von Carl Rogers übernahm sie das Prinzip der einfühlsamen Grundhaltung in der Gesprächsführung, die Empathie und teilweise auch das Spiegeln.

Aus dem NLP (Neurolinguistisches Programmieren) übernahm sie Ansätze der Ansprechbarkeit über die bevorzugten Sinneskanäle und die Absicht, einen Validationskontakt so zu beenden, dass der Klient ihn als angenehm und schön empfindet.

Sicher gibt es noch mehr Quellen und Denkschulen. Die Methode ist so komplex, dass es schon gar nicht mehr zuzuordnen ist, welches Element woher stammt. In der Validation, wie ich sie verstehe, der systemischen Validation, wird noch der Aspekt des systemischen Denkens als Baustein integriert.

Nach meinem Verständnis ist es dadurch auch eher ein Konzept als eine Methode.

10. Tipp: Lernen Sie das Modell der Lebensaufgaben kennen

Für die Validation ist Eriksons Modell der »Acht Stufen des menschlichen Lebenszyklus« unentbehrlich. Es zeigt zum einen Erkenntnisse für die Lebenssituation der Klienten auf, zum anderen kann es uns Anstöße geben, selber erfolgreich zu altern.

Eriksons Werke sind allgemein faszinierend, speziell für die Altenpflege bekommt sein Modell der Persönlichkeitsentwicklung – Die acht Stufen des menschlichen Lebenszyklus – eine besondere Bedeutung.

Es war Erik Erikson, der als Erster ein Gesamtmodell des Lebensweges entwarf, wonach sich jedem Menschen in acht großen Entwicklungskrisen von der Geburt bis zum Tod Grundaufgaben, Grundprobleme menschlicher Existenz stellen. Diesen Phasen gab Erikson Überschriften, die möglichst prägnant Chancen und Risiken eines Lebensabschnitts bezeichnen sollten.18

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842688599
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Demenz Gerontopsychiatrie Innere Medizin Lernmaterialien Altenpflege Pflege

Autor

  • Barbara Messer (Autor:in)

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Titel: 100 Tipps für die Validation