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Ein Rucksack voller Urlaubsglück

Heiter-besinnliche Feriengeschichten – Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz

von Renate Dopatka (Autor:in)
128 Seiten

Zusammenfassung

Auf den Punkt gebracht:
Humorvolle Kurzgeschichten für die Einzel- und Gruppenaktivierung.
Erinnerungen wecken & Ressourcen aktivieren.
Besonders gut geeignet für Menschen mit Demenz.

Die Betreuung und Aktivierung von Menschen mit
(und ohne) Demenz verlangt ständig nach Material.
Heiter-Besinnliches aus dem Alltag liegt dabei voll
im Trend.
Dieses Buch bietet Ferienglück auf Zeit:
Erinnerungen an Urlaub in den Bergen oder am Meer
werden geweckt; Gefühle von Freiheit und Sorglosigkeit
kehren zurück. Der Leser/Zuhörer wandert mit,
freut sich an überraschenden Begegnungen, an heiteren
Stunden und am ersten Liebesglück.
Die kurzen Geschichten sind ideal zum Vorlesen,
bieten Impulse für Gespräche und sind manchmal
einfach Fantasiereisen, die den Alltag vergessen lassen.
Dank ihrer Kürze überfordern sie nicht, sodass
auch Menschen mit Demenz
ihren Spaß haben.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Kleine »Gebrauchsanweisung« für Angehörige und Pflegepersonal.

Etwas vorgelesen zu bekommen – das zählt zu den schönsten Kindheitserinnerungen. Für den älteren, kranken oder an Demenz leidenden Menschen ist es somit ein sehr vertrauter Vorgang, wenn in entspannter, behaglicher Atmosphäre ein Buch aufgeschlagen wird und er interessanten Geschichten lauschen darf.

Dabei ist es wichtig, dass laut, deutlich und langsam vorgelesen wird. Besonders zu achten ist auf eine gute Betonung und einen lebendigen, die Gefühle des Zuhörers ansprechenden Vortrag.

Anregend und auf das Thema Urlaub einstimmend, wirken auch mitgebrachte Gegenstände. Dies können z. B. ein buntgestreifter Liegestuhl, ein Rucksack oder Wanderstiefel sein. Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt …!

Fragen nach persönlichen Urlaubserinnerungen aktivieren den Zuhörer. Er darf aus dem reichen Fundus seiner Lebenserfahrungen schöpfen und andere daran teilhaben lassen. Das beglückt und stärkt das Selbstwertgefühl!

Fragen können sein: »Welches ist Ihre Lieblingslandschaft?«, »Haben Sie schon einmal einen Berg bestiegen?«, »Hatten Sie auch eine große Urlaubsliebe?«, »Ist Ihnen im Zug schon mal etwas Lustiges passiert?« etc.

Mündet ein solcher Austausch in eine fröhliche Gesprächsrunde, dann hat das Vorlesen seinen Zweck erfüllt: Es hat Menschen glücklich gemacht. Oder anders gesagt: Es hat sie ins Paradies ihrer Erinnerungen geführt …

Und vielleicht heißt es dann ja beim Verabschieden:

»Das war so schön. Wann lesen Sie uns wieder etwas vor?« In diesem Sinne wünsche ich Ihnen fröhliche Stunden beim Lesen und Vorlesen.

Ab in den Urlaub

Eine gute Idee

»So, Mama, ich muss nun los.« Den Autoschlüssel schon in der Hand, streicht Claudia der kleinen weißhaarigen Frau zärtlich über die Wange:

»Mal schauen, wie ich es schaffe. Wahrscheinlich kann ich aber erst wieder am Samstag bei dir vorbeikommen.«

»Ich freue mich schon«, lächelt ihre Mutter. »Fahr recht vorsichtig, ja? Und grüß Markus! Wie kommt der Junge denn so zurecht in seiner ersten eigenen Wohnung?«

»Ganz gut«, lacht Claudia. »Kochen kann er ja. Bloß die Wäsche, die habe ich halt immer noch am Hals.«

Sie drückt ihre Mutter noch einmal an sich, spürt, wie deren Arme sich gar nicht von ihren Schultern lösen möchten – und muss schlucken.

»Weißt du, Mama«, entfährt es ihr. »Wir beide machen uns mal einen richtig schönen Tag, gehen gut essen oder bummeln oder was immer du magst.«

»Ja, das wäre wunderbar!«

Claudia sieht das Glück, aber auch die Zweifel in den Augen ihrer Mutter. Ja, es stimmt schon: Beruf, Haushalt, Sportgruppe und kirchliches Ehrenamt lassen ihr nur wenig Zeit für Muße. Aber mit guter Organisation wird sich schon ein freier Tag finden lassen!

Wieder daheim, holt Claudia ihren Terminkalender hervor. Ihre Stirn umwölkt sich: Die nächsten Wochen sind so gut wie verplant, ein freier Tag kaum möglich. Aber je länger sie auf die voll gekritzelten Spalten blickt, umso deutlicher wird ihr bewusst, dass nur wenige der dort aufgeführten Termine wirklich Nutzen oder Freude bringen.

Während sie nachdenklich alle Eintragungen auf ihren »Wert« hin prüft, glätten sich ihre Sorgenfalten. Die Arbeit im Pfarrgemeinderat verschlingt zwar einen Großteil ihrer Freizeit, aber sie gibt ihrem Leben auch Sinn und Freude. Na, und der wöchentliche Tanztreff macht einfach nur Spaß! Auf diese beiden Aktivitäten würde sie auch in Zukunft nicht mehr verzichten wollen. Auf vieles andere dagegen schon.

Claudia atmete tief durch. Sie hat Zeit!

Als Markus am Abend seine frische Wäsche holt, schaut er verblüfft auf den von Landkarten und alten Fotos zugedeckten Wohnzimmertisch:

»Planst du eine Tour in die Vergangenheit oder was?«

»Und wenn – was wäre so schlimm daran?«, lächelt Claudia ihren Sohn an.

Sie legt den Atlas aus der Hand.

»Weißt du, Markus, ich habe für alles Mögliche Zeit, nur nicht für das, was wirklich wichtig ist.«

»Und was ist wichtig?«

»Deine Großmutter zum Beispiel. Sie kommt doch kaum noch raus aus ihrer Wohnung. Dabei ist sie immer so gern übers Land gefahren. Früher, als Vater noch lebte, da haben die beiden viele Reisen unternommen. Noch heute erzählt sie gerne davon.«

»Aber die Vergangenheit lässt sich doch nicht wiederholen«, wendet Markus ein.

»Ein bisschen schon«, erwidert Claudia lächelnd. »All die hübschen Dörfer und Weiler – die sind ja nicht von der Landkarte verschwunden.«

Markus ist kaum aus der Wohnung, da greift sie zum Handy: »Hallo, Mama, bist du noch wach und guckst fern?«

»Ach, den Kasten habe ich schon lange ausgemacht. Lieber lese ich, als mir das Zeug anzugucken.«

Claudia lacht: »Na, vielleicht hebt es deine Stimmung, wenn ich dir jetzt sage, dass ich gern für ein paar Tage mit dir verreisen würde?«

»Im Ernst?« Freude und Unglauben halten sich in der mütterlichen Stimme die Waage. »Ja, und wohin soll es gehen? Und hast du denn überhaupt die Zeit? – Ach, ich bin ganz durcheinander …«

»Ich habe Zeit«, lacht Claudia. »Aber das Ziel bestimmst du. Möchtest du gern in den Bayerischen Wald? Oder lieber ins Vogtland? Oder vielleicht gemütlich mit dem Schiff auf der Donau bis nach Kelheim oder Regensburg?«

»Liebes, mir schwirrt der Kopf. Bis wohin darf die Reise denn gehen?«

»Die Welt steht uns offen, Mama!«, scherzt Claudia.

»Die Welt ist schon zu viel«, lacht Mama. »Die Berge tun es auch. Die haben mir immer am besten gefallen …«

»Abgemacht. Auf ins Gebirge! Dabei fällt mir ein: Gibt es eigentlich noch diesen urigen Einödhof, auf dem ihr damals eure Flitterwochen verlebt habt?«

»Ich denke schon«, ruft ihre Mutter freudig aus. »Herrlich war es dort droben! Bloß – wie hieß der Ort doch noch?«

»Ach, Mama, bis zum Wochenende hast du noch Zeit zum Überlegen. Sicher fällt dir der Name ein, kaum dass du den Hörer aufgelegt hast.«

»Hoffentlich! Ach, Liebes, ich bin so glücklich und aufgeregt, ich glaube, ich werde heute gar kein Auge zumachen können!«

»Dann gibt es wenigstens einen hübschen Grund dafür«, erwidert Claudia.

Ohne zu ahnen, dass sie selbst, die sie Nacht für Nacht mit Schäfchenzählen beschäftigt ist, an diesem Abend ganz leicht in den Schlaf finden würde …

Die Kletterpartie

Den Sommer verbringen sie gern daheim. Im Schatten hoher Bäume auf einer Parkbank zu sitzen – das genügt den beiden voll und ganz.

Doch wenn das Laub sich leise zu verfärben beginnt der Himmel plötzlich um vieles höher und durchsichtiger wirkt – dann, ja, dann, gibt es kein Halten mehr für Hilde und Hannelotte.

»Draußen tut sich was«, pflegt Hannelotte, die jüngere der beiden verwitweten Schwestern, dann voll verhaltener Freude festzustellen. »Auf meinem Balkon lag heute das erste gelbe Birkenblatt!«

Hilde schiebt mit grimmiger Befriedigung die Unterlippe vor: »Dann wird es wohl Zeit, die Fahrkarten zu kaufen …!«

Wohin die Reise gehen soll, das wissen sie schon ganz genau. Jedes Jahr suchen sie sich ein anderes Ziel aus: Mal sind es die stillen Winkel des Berchtesgadener Landes, mal der Taunus, und wieder ein anderes Mal die rebengeschmückten Steilhänge des Mains.

Auch jetzt haben sie sich für eine Gegend entschieden, die der Herbst besonders gut kleidet.

Bei ihrer Ankunft lagern in den Senken der sanften Hügellandschaft bereits tiefe Schatten, doch die bewaldeten Kuppen glühen in flammendem Rotgold.

»Schön hier«, nickt Hilde nach einem ersten Blick aus dem Pensionsfenster. »Mich juckt schon mächtig der Wanderfuß!«

Wandern – das ist ihre Leidenschaft. Mit der gleichen Ausdauer und Begeisterung, mit der sie früher gemeinsam mit ihren Ehemännern durch Wald und Flur gestreift sind erkunden sie jetzt, als rüstige Damen im besten Alter, die Schönheiten der Natur.

Gleich nach dem Frühstück geht es hinaus in den manchmal noch nebelfeuchten Morgen. Weinberge gibt es hier nicht, dafür aber Obstgärten in Hülle und Fülle. Und so ist es Ehrensache für die beiden, gegen Ende der Wanderung in einem gemütlichen Wirtshaus einzukehren und den hiesigen Birnenschnaps oder ein anderes gehaltvolles Obstwässerchen zu kosten.

Mag sein, dass es das berühmte Gläschen zu viel ist das Hannelotte an diesem denkwürdigen Abend zum Ausprobieren ihrer Kletterkünste verleitet.

Die Sonne steht schon tief über dem Tal, und bis nach Hause ins Ferienquartier sind es nur noch wenige hundert Meter, als der Weg sie an einem mit Ebereschen bestandenen Wiesengraben vorbeiführt.

»Schau nur, wir rot die Beeren leuchten!«, ruft Hannelotte entzückt. »Als Kinder haben wir uns immer Ketten aus ihnen gemacht.«

»Na, und erst das Gelee, das Mutter daraus gekocht hat!«, erinnert sich Hilde.

»Am schönsten war aber das Klettern. Ich glaube, das könnte ich heute noch …«

Hilde runzelt die Stirn. »Jetzt sag nicht, dass du auf deine alten Tage noch in Ebereschen herum kraxeln willst!«

»Nur probieren, ob es noch klappt«, lacht Hannelotte spitzbübisch und rüttelt versuchsweise am untersten Abzweig des Baumes. »Wenn du mir von unten einen Schubs gibst, dann komm ich mühelos hinauf.«

»Die Knochen wirst du dir brechen!«, schimpft Hilde, doch im selben Moment hat sich ihre Schwester bereits aus eigener Kraft am Stamm hochgezogen. Geschickt hangelt sie sich von Ast zu Ast.

»Du, das macht vielleicht Spaß!«, hört Hilde sie rufen. »Gleich bin ich oben!«

Der Baum ist vielleicht vier, fünf Meter hoch. Und die bewältigt Hannelotte tatsächlich mühelos.

»Komm jetzt runter!«, drängt Hilde.

Doch das scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.

»Ich trau mich nicht«, ruft Hannelotte ganz verzagt, ja, ängstlich zu ihr herunter. »Es ist so furchtbar hoch. Ich glaube, du musst Hilfe holen!«

Die folgenden Minuten wird Hilde in ihrem ganzen Leben nicht vergessen. Nachdem alles Zureden erfolglos geblieben ist, rennt sie ins Dorf – schwindlig vor Angst und Sorge und gleichzeitig auch wütend, dass sie sich mit dieser Kletterpartie beide zum Narren machen.

Gleich am ersten Haus läutet sie Sturm. Wenn sie auf Spott oder Unglaube gefasst ist so wird sie eines Besseren belehrt. Im Nu hat der junge Familienvater Leiter und Auto aus der Garage geholt, um Minuten später eine völlig aufgelöste Hannelotte vom Baum zu lotsen.

»Das Raufkommen ist halt leichter als das Runterkommen«, lacht ihr Retter. »Daheim spülen Sie den Schreck am besten mit einem ordentlichen Schnaps hinunter …!«

»Schnaps?« Hilde und Hannelotte sehen sich wie auf Kommando an. »Bloß das nicht …!«

Adebar weist den Weg

»Mama, mir ist langweilig!«

Unruhig zerrt Klein-Sophie an ihrem Anschnallgurt. Und auch Brüderchen Max scheint der öden Fahrt auf der Autobahn nichts abgewinnen zu können. Den überholenden Fahrern schneidet er gräuliche Grimassen, streckt ihnen die Zunge heraus, oder er ärgert Sophie, indem er ihre Zopfspange aufzumachen versucht.

Vor ihnen liegt die Fahrspur, rechts und links vom Asphaltgrau aber grünen Wiesen und Weiden, blüht sonnengelb der Raps.

Schöner hätte sich der Frühsommer nicht präsentieren können. Und so wandern auch die Blicke der Eltern immer wieder zur Seite, wo sanft gewelltes Bauernland an die Autobahn stößt.

Es herrscht kaum Reiseverkehr. Bis zu den Sommerferien sind es noch ein paar Wochen. In der Gewissheit, jetzt noch überall ein freies Bett zu bekommen, hat die junge Familie auch kein Urlaubsquartier gebucht.

Ab dem nächsten Jahr, wenn die Zwillinge eingeschult werden, heißt es dann wohl Abschied nehmen von dieser freien, ungebundenen Art des Reisens. Dann werden auch sie nur in jenen Wochen unterwegs sein können, in denen ohne vorherige Buchung landauf, landab kein freies Zimmer mehr zu bekommen ist …

In diesem Sommer wollen die Eltern das Privileg, ohne festes Ziel in den Urlaub zu fahren, aber noch einmal in vollen Zügen genießen. Es ist einfach herrlich, ins Ungewisse zu starten und am Morgen noch nicht zu wissen, wohin der Weg einen letztlich führen wird.

Fast fühlen sich Bernd und Christa in ihre Jugendzeit zurückversetzt, als es mit Rucksack und Schlafmatte einfach hinausgegangen war in die freie Natur. Jeder Tag bescherte aufregende Abenteuer und das Wort Routine war damals noch ein Fremdwort gewesen …

»Mama, mir wird übel!«

Sophies Stimmchen reißt Christa aus ihren Jugendträumereien. Besorgt schaut sie nach hinten, wo ihr Töchterchen tatsächlich mit ziemlich blasser Nase dasitzt.

»Und ich muss mal!« trompetet Max seinen Eltern ins Ohr. »Ganz, ganz dringend!«

»Also gut, der Papa fährt gleich runter«, verspricht Bernd seiner quengelnden Nachkommenschaft. »Dann machen wir ein wenig Rast und sehen uns ein bisschen in der Gegend um.«

An der nächsten Ausfahrt geht es hinein in die blühende Sommerherrlichkeit. Auf den Weiden grasen Schafe und Kühe, Vogelgezwitscher erfüllt die Luft und selbst das aufdringliche Brummen dicker Landfliegen, die durch die geöffnete Seitenscheibe ins Auto dringen, wirkt hier keine Minute störend.

Am Rande eines in hellem Frühsommergrün stehenden Buchenwäldchens macht die Familie Rast. Es duftet nach Heu und Wiesenkräutern, und vom Wald her wohl auch ein wenig nach Bärlauch.

Jubelnd laufen Max und Sophie den schmalen Feldweg rauf und runter, pflücken Klatschmohn, rupfen Gräser aus und lassen sich zwischendurch vom Reiseproviant füttern.

»Schön hier«, brummt Bernd zufrieden, während er sich dick Senf auf seine Frikadelle quetscht. »Wir sollten gar nicht mehr weiterfahren.«

»Guck mal, Papa, da oben!«, kräht Mäxchen plötzlich. »Ein Geier!«

Ein Geier? Die Eltern starren verblüfft ins helle Himmelsblau. Tatsächlich – ein großer Vogel segelt majestätisch über der im Mittagslicht glitzernden Wiese. Langsam gleitend setzt er jetzt zum Landeanflug an. Rot leuchtet sein Schnabel auf, hebt sich so prachtvoll vom schwarz-weißen Gefieder ab.

»Darf ich vorstellen, Kinder: Adebar!«, lacht der Vater. »So nennt man ihn nämlich auch – den Storch!«

Sophie und Max schauen gebannt zu dem langsam schreitenden Vogel hinüber.

Es ist ein schöner Anblick – zwischen Wiesengrün und wolkenlosem Blau sorgt Adebar mit seinem blendendweißen Gefieder und dem langen roten Schnabel für einen wunderbaren Farbkontrast.

Längst haben sich die Eltern ihre Sprösslinge auf die Schultern gesetzt, um diesen eine möglichst gute Sicht auf Adebar zu ermöglichen. Aber auch sie sind freudig bewegt vom Anblick dieses so selten gewordenen Gastes.

»Oh, da fliegt er!«, ruft Sophie und klammert sich fester an Mamas Hals. »Ob er noch zurückkommt?«

Mit großen Augen blickt auch Mäxchen dem bedächtig davon schwebenden Storch nach.

»Irgendwo wird er sein Nest haben«, mutmaßt Bernd. »Da zieht er seine Jungen auf …«

Im nächsten Moment bereut er seine Worte schon. Die Möglichkeit, eine ganze Storchenfamilie sehen zu können, begeistert die Kinder hellauf: »Papa, lass uns hinter dem Storch herfahren!«, bettelt Max. »Bitte, bitte!«

»Na, hört mal, der Storch hat sein Nest sicher«, versucht Bernd seinen Kindern die Idee auszureden. »Wer noch kein Bett hat, das sind wir!«

»Vielleicht finden wir es ja hier«, lächelt Christa versonnen und streichelt Sophies erhitztes Bäckchen. »Bestimmt hat sich unser Storch das hübscheste Dorf ausgesucht. Folgen wir ihm doch einfach. So sind die Kinder zufrieden, und wir brauchen nicht länger nach einem Quartier suchen.«

»Also gut! Dann heften wir uns jetzt an Adebars Fersen«, lacht Bernd und hebt Mäxchen mit Schwung von seinen Schultern.

Der Storch macht es ihnen leicht. Schon im nächsten Dorf begrüßt sie lautes Klappern. Und dann entdecken sie auf dem Dach einer alten Scheune das große, gut gepolsterte Nest ihres Adebars!

Die zwei Altvögel thronen auf dem Rand, während aus dem Inneren des Nestes die noch schwarz gefärbten Schnäbel der Jungstörche ragen.

Die Storchenfamilie hat hier ihr Zuhause – und auch die vier Urlauber finden das idyllisch zwischen Wald und einem kleinen See gelegene Dorf einfach zauberhaft.

Im einzigen Gasthof des Ortes bekommen sie zwei behaglich eingerichtete Zimmerchen mit Verbindungstür und einer kleinen Badestube. Alles wirkt ein wenig altmodisch, und gerade das ist es, was allen gefällt.

Am Abend desselben Tages sitzt man gemütlich mit den Wirtsleuten draußen bei einem Glas Bier, lauscht dem Zirpen der Grillen und genießt die dörfliche Stille. Immer dunkler wird es nun, die ersten Sterne blitzen auf. Und plötzlich lässt es sich vom Scheunendach noch einmal vernehmen – ein leises, sehr zufrieden klingendes Klappern.

»Gute Nacht, Adebar …«, flüstert Christa zärtlich.

Sie sagt es ganz leise und fast empfindet sie dabei so etwas wie Dankbarkeit …

Ferienglück aus Kindertagen

Müde, aber zufrieden mit dem Erreichten, brettert Simone über die Autobahn.

Ihre Geschäftsreise war erfolgreich. Nun freut sie sich auf Zuhause, auf ihre gemütliche Wohnung hoch über den Dächern der Stadt, auf Ruhe und Entspannung und ein heißes Bad.

Sie schaut auf die Uhr. Wenn nicht irgendwo noch ein Stau lauert, würde sie in knapp drei Stunden zu Hause sein.

Die nächste Ausfahrt kündigt sich an. Der Ortsname weckt Erinnerungen. Ganz in der Nähe liegt das kleine Dörfchen, in dem sie als Kind so viele schöne Ferientage verbracht hat.

Noch immer denkt Simone voller Wärme an ihre Gastgeber zurück. Im Haus von Onkel Franz und Tante Käthe, die selbst kinderlos sind, hat sich jeder wohl gefühlt. Nicht selten traf dort die halbe Verwandtschaft zusammen. Die Erwachsenen machten es sich auf der Terrasse mit Wein und Grillgut gemütlich – die Kinder tollten ausgelassen durch den riesigen Garten.

Daheim, in der Stadt, gab es für Simone und ihre Vettern und Cousinen nur Spielplätze und Parkanlagen. Bei Onkel und Tante aber konnten sie sich der Natur im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme werfen. Stundenlang lagen sie träumend im Gras, kletterten schorfige Bäume hoch, schleppten verzückt die sich sträubenden Stallkaninchen auf dem Arm herum oder schlugen sich den Bauch mit Tante Käthes Stachelbeeren voll.

Am schönsten hatte Simone es jedoch gefunden, wenn sie das einzige Ferienkind war. Dann suchte sie die Nähe von Onkel Franz, einem leidenschaftlichen Gärtner. Der große hagere Mann mit den humorvollen Augen war kein großer Unterhalter, aber seine bedächtige, liebevolle Art, mit Tieren, Pflanzen und auch Menschen umzugehen, nahm Simone für ihn ein.

Sie liebte es, unter seiner Anleitung Saatgut oder junge Pflänzchen in die feuchte Erde zu bringen, um beim nächsten Besuch dann schon die Früchte ihrer Arbeit genießen zu können.

Schön war es auch, Onkel Franz beim Veredeln seiner Obstbäume zuzusehen. Geduldig erklärte er ihr, was es mit Kerbeln und Aufpfropfen für eine Bewandtnis hatte und ließ sie oft sogar selbst Hand anlegen.

Tante Käthe aber sah lächelnd vom Küchenfenster aus zu, in der Hand die Rührschüssel – wusste sie doch aus Erfahrung, wie gut ein saftiges Stück Napfkuchen bei ihren beiden »Gärtnern« ankam.

Auch später, als Simone längst im Beruf stand, war der Kontakt zu Onkel Franz und Tante Käthe nie abgerissen. Man telefonierte regelmäßig miteinander, schrieb sich Karten, doch für einen Besuch fehlte Simone meistens die Zeit …

Die Ausfahrt rückt immer näher. Simone umklammert das Steuer, schaut starr nach vorn.

»Bleib auf der Spur!«, befiehlt die Stimme der Vernunft.

»Bieg ab«, sagt leise ihr Herz – und gewinnt.

Zehn Minuten später fährt Simone durch eine ihr wohlbekannte Gegend. Äcker und Rebgärten wechseln einander ab, Streuobstwiesen sorgen für Auflockerung im Landschaftsbild, und stille Feldwege scheinen ins Nirgendwo zu führen.

Der Himmel zeigt sich an diesem Tag wolkenverhangen. Ein feiner Nieselregen verhüllt die Landschaft, der aber ahnen lässt, wie schön es hier an sonnigen Tagen war.

Das Dorf kommt in Sicht. Schon grüßt der Turm der kleinen Pfarrkirche herüber.

Simones Herz schlägt plötzlich schneller. Zweifel überfallen sie. Vielleicht kommt sie ungelegen? Vielleicht sind Franz und Käthe gar nicht zu Hause?

Doch als sie ihr Auto vor dem von Weinlaub überwucherten Häuschen parkt und auf der Treppe die abgetragenen Gartenschuhe von Onkel Franz entdeckt, weichen alle Bedenken. Freude durchströmt sie, die jedes Gefühl der Müdigkeit, des Abgespanntseins tilgt.

Und dann steht auch schon Onkel Franz in der Haustür, kleiner als sie ihn in Erinnerung hatte, gebückter und hagerer als früher. Doch seine Augen leuchten, als er erkennt, wer da vor der Tür stand.

»Unser Mädchen ist da!«, ruft er nach hinten in den Flur hinein. »Unser Simonchen!«

Die kleine, immer noch rundliche Gestalt von Tante Käthe schält sich aus dem Dämmerlicht des Treppenhauses.

Simone schluckt. Irgendwie vermisst sie die obligate Rührschüssel in der Hand der Tante, aber vielleicht wäre das auch zu viel gewesen. Denn sie ist ihm jetzt ja so nah wie nie zuvor: dem alten, unvergesslich schönen Ferienglück aus Kindertagen …

Zugfahrt mit Überraschung

Endlich tauchen sie auf – die ersten Berge!

Danielas Herz macht einen gewaltigen Sprung. Sie steht im Gang des mit Urlaubern gefüllten Zuges und schaut sich die Augen aus.

Der dichte Nadelwald zu beiden Seiten der Strecke weicht immer weiter zurück, lichtet sich und gibt schließlich den Blick frei auf die im Mittagsdunst aufragenden Berge.

Tiefe Freude durchströmt Daniela. Wie hatte sie dieses Panorama vermisst! Zehn Jahre lang war sie nur für den kränkelnden Vater da, hatte alles getan, um die ihm noch verbleibende Zeit für ihn so angenehm wie möglich zu gestalten. Oft bis ans Limit ihrer Kräfte gehend, hatte sie Beruf und Pflege unter einen Hut gebracht und eigene Wünsche und Bedürfnisse erfolgreich unterdrückt.

Vor drei Monaten war er dann friedlich in ihren Armen eingeschlafen. So weh es auch tat, den einzigen Familienangehörigen, der ihr nach dem frühen Tod der Mutter noch geblieben war, zu verlieren, so fühlte sie doch auch so etwas wie Befreiung. Es gab niemanden mehr, um den sie sich kümmern musste. Nach Büroschluss konnte sie nun auch mal mit Kollegen in den Biergarten gehen, konnte bummeln und stundenlang lesen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

Und jetzt geht es in die Berge! Sie würde wieder weichen Waldboden unter den Füßen spüren, würde Brotzeit unter rauschenden Föhren halten und Felsformationen im Abendlicht erglühen sehen.

Zitternd vor Glück holt sie Luft. Es klingt wie ein Seufzen, und es entlockt dem Mann, der in einigem Abstand von ihr ebenfalls am Gangfenster steht, ein leises Lächeln: »Sie lieben die Berge?«

Daniela zuckt zusammen. Wohl hatte sie bemerkt, dass sich ihr jemand zugesellt hatte, dem Betreffenden aber keine Aufmerksamkeit geschenkt.

»Sie etwa nicht?«, kontert sie reserviert.

»Schwer zu sagen. Ich schau sie mir gern an, aber lieben …?«

Daniela fasst den Mann genauer ins Auge. Er mag Mitte 50 sein, also gut zehn Jahre älter als sie. Sie sieht ein festes, freundliches Gesicht, grau gesträhntes Haar und blitzblaue Augen …

»Ich fahre zu meiner Tochter, sie hat hierher geheiratet.« Sein Lächeln vertieft sich. »Die Familie ruft also, nicht der Berg!«

Daniela erwidert nichts darauf, obwohl oder vielleicht gerade weil ihr der Mann sympathisch ist.

Minutenlang herrscht Schweigen. Draußen zieht saftig grünes Weideland vorbei, reiht sich ein Bilderbuchdorf an das andere.

»Und Sie wollen sich hier erholen?«, nimmt der Mann das Gespräch wieder auf. »Darf ich fragen, wo?«

Kaum sind die Worte über seine Lippen gekommen, scheint er sein schnelles Vorpreschen zu bereuen:

»Verzeihung«, setzt er eilig hinzu. »Sie müssen natürlich nicht antworten. Es ist nur – ich steige gleich aus, und so hätte ich wenigstens die Hoffnung, dass wir uns in den nächsten Tagen mal über den Weg laufen.«

Die Silhouette eines weiteren Bilderbuchortes kommt in Sicht – aber Daniela schweigt.

»Ich muss jetzt raus.« Ernst, mit einem warmen, aber hoffnungslosen Lächeln in den Augen, reicht er ihr die Hand: »Meine Tochter holt mich ab. Am Sonntag feiern wir Taufe, mein erster Enkel …! – Meine Frau hat’s leider nicht mehr erlebt …«

Warm wie sein Blick ist auch sein Händedruck. Ein höchst eigenartiges Gefühl überkommt Daniela, ähnlich jenem, das sie vor einem Vierteljahr durchlebt hatte: das Gefühl, etwas Kostbares zu verlieren.

Sein Lächeln erwidernd, schaut sie ihn an: »Ich steige an der nächsten Station aus. – Vielleicht sehen wir uns also noch …«

Die Freude lässt seine Augen leuchten.

»Ich werde Sie finden«, erwidert er leise. Und muss sich jetzt mächtig sputen, um noch rasch seinen Koffer aus dem Abteil zu holen und sich an anderen Reisenden und ihren Gepäckstücken vorbei zum Ausgang vorzuarbeiten.

Auf dem ländlichen Bahnsteig wartet ein gutes Dutzend Menschen auf den einfahrenden Zug. Unter ihnen eine junge Frau mit einem Kinderwagen, deren Augen suchend über die Abteile gleiten, um dann in jähem Erkennen aufzuleuchten. Zwei Minuten später liegen sich Vater und Tochter in den Armen.

Daniela wendet den Kopf ab, will sich diskret zurückziehen, aber da stehen die beiden auch schon unter ihrem Gangfenster, sehen freudestrahlend zu ihr hoch und drehen den Kinderwagen so herum, dass Daniela unter zartblauen Kissen das schlafende Kind sehen kann. Alle lächeln.

Der Zug ruckt wieder an. Ein letztes Winken, ein letzter langer Blick – dann ist Daniela mit sich und ihren Gedanken allein.

Immer näher rücken die Berge nun an die Ortschaften heran. In wenigen Minuten wird sie am Ziel sein. Eine herrliche Zeit liegt vor ihr, und plötzlich weiß Daniela, dass sie diese nicht ganz allein verleben wird …

Frische Brezeln und eine alte Liebe

Vor ihnen taucht das Ortsschild auf. Thomas verlangsamt die Fahrt und lächelt seiner Großmutter zu:

»Da wären wir!«

Trotz ihrer 70 Lenze empfindet Elisabeth so etwas wie Erregung, als sie die über roten Dächern aufragende barocke Kirchturmspitze erspäht. Über 50 Jahre ist es jetzt her, dass sie als Sommerfrischlerin hier der Liebe ihres Lebens begegnet war …

»Und wo genau soll es nun hingehen?«, hört sie Thomas fragen.

Für einen Moment fühlt sie sich überfordert. Es gibt so vieles, das sie wiedersehen will: die Pension, in der sie mit ihren Eltern gewohnt hat …, die nur Einheimischen bekannte verschwiegene Badestelle am See …, und all die anderen Plätze, die für sie eine besondere Bedeutung besitzen. Vor allem aber zieht es Elisabeth in den kleinen Bäckerladen, in dem alles begann …

»Ach, Bub, ich bin ganz durcheinander«, seufzt sie. »In 50 Jahren hat sich viel verändert. Ich fürchte, ich finde mich gar nicht mehr zurecht.«

»Das brauchst du auch nicht auf die Schnelle«, lacht Thomas. »Wir lassen es ganz langsam angehen. Du weißt ja: Die nächsten zwei Tage habe ich nur für dich reserviert!«

Elisabeth betrachtet liebevoll sein gut geschnittenes, energisch wirkendes Profil. So viele wunderbare Geschenke hat sie zu ihrem 70. Geburtstag erhalten, doch das allerschönste kam von Thomas. Eine Wochenendreise hat er ihr geschenkt – mit ihm als Chauffeur!

»Sag einfach, wohin du schon immer gern mal fahren wolltest. Mein Schlitten und ich stehen dir zur Verfügung!«

Ohne ihre Wahl näher zu begründen, nannte Elisabeth jenen Gebirgsort, in dem sich vor langer Zeit beinahe ihr Schicksal entschieden hätte. Weder ihr mittlerweile verstorbener Ehemann noch die Kinder haben je von dieser ersten Liebe erfahren. Und so lässt Elisabeth ihre Familie denn auch jetzt in dem Glauben, sie hätte sich damals lediglich in den Ferienort verguckt.

Thomas jedoch scheint sich während der Fahrt so seine Gedanken gemacht zu haben. Beim Mittagessen in dem schon zu Elisabeths Zeit besten Hotel am Platz, lehnt er sich mit vergnügtem Blinzeln zurück: »Und wie heißt es nun, das kernige Mannsbild, das dir damals den Kopf verdreht hat? Dass wir allein des tollen Ortsbildes wegen hergekommen sind, willst du ja wohl nicht behaupten …?«

Seine Frage kommt so überraschend, dass Elisabeth im ersten Moment nicht weiß, ob sie sich über seinen Spürsinn freuen oder ärgern soll. Nachdenklich, ja, prüfend, schaut sie ihren Enkel an. Seine Augen verraten Neugier, aber auch liebevolle Anteilnahme – und plötzlich fällt es Elisabeth ganz leicht, über die Vergangenheit zu reden. Erst zögerlich, dann immer lebhafter, erzählt sie von »ihrem« Franz – dem jungen Bäckermeister, dessen Eltern damals direkt am Marktplatz ihr Geschäft hatten.

Die berühmte Liebe auf den ersten Blick war es damals: Just in dem Moment, da Elisabeth den Bäckerladen betrat, um die von der Pensionswirtin so hoch gelobten und nur am Freitag erhältlichen Küchlein zu erstehen, brachte Franz ein großes Blech ofenfrischer Brezeln in den Verkaufsraum.

»Ja, und da hat es halt gefunkt zwischen uns«, lächelt Elisabeth versonnen. »Noch am selben Abend hat Franz mich zum Tanzen abgeholt … Dass aus der Sache dann doch nichts geworden ist und ich Jahre später deinen Großvater geheiratet habe, sollte wohl so sein. Weißt du, Bub, ich glaube, ich war damals zu zögerlich, zu unentschlossen. Bindungsscheu sagt man heute wohl dazu.«

»Könnte mir nicht passieren«, grinst Thomas. »Ich weiß meistens ganz genau, was ich will – und was nicht.«

Der Kellner bringt den Nachtisch, und Thomas zieht gleich Erkundigungen ein: »Sagen Sie, die Bäckerei am Marktplatz – ist die noch in Familienbesitz?«

»Freilich«, nickt der Ober. »Nun schon in der vierten oder fünften Generation. Vor zehn Jahren hat der älteste Sohn den Betrieb übernommen. Na, und mittlerweile steht schon die Enkelin im Laden.«

»Und der Seniorchef, der Franz, ist der auch noch anzutreffen?«, hakt Thomas nach.

»Der ist Anfang des Jahres verstorben …«

»Traurig?«, fragt Thomas, als der Kellner gegangen war.

Elisabeth schüttelt den Kopf. »Nur ein wenig. – Ich werde ihn nie vergessen, den Franz. Aber so wie alles gekommen ist, so ist es gut …«

»Ich denke auch«, bekräftigt Thomas. »Aber jetzt lass uns gehen!«

»Gehen – wohin?«

»Na, zum Bäcker, Brezel kaufen!«, lacht Thomas.

Elisabeth staunt nicht schlecht, als sie zehn Minuten später am Marktplatz ankommen. Aus dem schlichten Bäckerladen von einst ist eine große Konditorei geworden, mit blitzenden Vitrinen, in denen die herrlichsten Torten die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Thomas’ Blicke ruhen jedoch einzig auf der schlanken jungen Frau hinter der Verkaufstheke …

»Hallo«, hört Elisabeth ihn sagen und der raue Klang seiner Stimme bewirkt, dass sie ihre eigenen wehmütigen Gedanken abstreift und ihr Augenmerk auf das Mädchen richtet. – Auch ohne die Bemerkung des Kellners hätte sie sofort gewusst, wer ihr da gegenübersteht. Denn es sind die dunklen, ausdrucksvollen Augen von Franz, in die sie blickt.

Leichter Schwindel befällt sie, als sie in die Gesichter der beiden jungen Leute sieht. Was schon einmal geschehen ist, scheint sich hier und heute zu wiederholen. Sie selbst hatte damals gezögert, doch Thomas würde sein Glück beim Schopfe fassen und es festhalten.

Elisabeth holt tief Luft. »Nicht wahr, Franz«, flüstert sie lautlos. »Das mit unseren Enkeln – das hätte dich auch gefreut …«

Fahrt ins Blaue

»Herrschaftszeiten, was hast du denn da alles eingepackt?!«

Die schwere Reisetasche ins Gepäcknetz wuchtend, wirft Ludwig seiner Frau einen gereizten Blick zu. »Wir sind doch bloß übers Wochenende fort …!«

»Ja, schon«, verteidigt sich Maria und nestelt nervös an ihrer Kette. »Aber in so einem feinen Hotel, da kannst du nicht immer im selben Zeug herumlaufen.«

»Na, wenn wir ständig unsere Kleider wechseln müssen, bleibt ja kaum noch Zeit fürs Besichtigen!«, murrt Ludwig.

Maria zieht es vor, darauf nichts zu erwidern, und so bildet das gleichmäßige Brausen des Zuges lange Zeit das einzige Geräusch im Abteil.

In drei Stunden werden sie ihr Ziel erreichen. Beide freuen sie sich auf ein paar erholsame Tage in schöner Umgebung. Nur der Gedanke an das im Prospekt abgebildete Hotel bereitet ihnen etwas Unbehagen. Äußerst vornehm schaut es nämlich aus, fast wie ein hochherrschaftliches Schloss. So viel Eleganz wirkt auf Ludwig und Maria schon ein wenig einschüchternd.

Aber die Kinder haben es doch so gut mit ihnen gemeint. Die Wochenendreise ist ein Geschenk zum 40. Hochzeitstag und welches Elternpaar hätte sich darüber nicht gefreut? Die von Touristen aus aller Welt besuchte Stadt ist zauberhaft, die Landschaft drum herum auch – nur die Unterkunft hätte halt nicht gar so nobel zu sein brauchen.

Einerseits rührt es Ludwig und Maria, dass ihre Kinder ihnen das beste Hotel am Platz zugedacht haben; andererseits schreckt sie der Gedanke, dort mit Leuten zusammenzutreffen, die wohl kaum ihr ganzes Leben lang hinter der Theke des eigenen kleinen Lebensmittelladens gestanden haben …

»Verehrte Fahrgäste«, tönt es aus dem Lautsprecher, »unser nächster Halt ist … Sie haben Anschluss an …«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842689138
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Biografie-Arbeit Gegenwartsliteratur Aktivieren Psychologie & Hilfe Beschäftigen Ratgeber Altenpflege Belletristik Senioren Vorlesebuch

Autor

  • Renate Dopatka (Autor:in)

Renate Dopatka aus Gelsenkirchen war eine leidenschaftliche Kurzgeschichten-Schreiberin. Über 20 Jahre gehörten ihre Texte zur beliebten Lektüre bei den Lesern von Kirchenzeitungen und Volks- und Bauernkalendern. »Die Seele baumeln lassen, Erholung vom Tagesgeschehen finden – mit diesem Buch gelingt es mühelos …«
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Titel: Ein Rucksack voller Urlaubsglück