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Stressfreie Vorschuljahre

Trotzköpfe, Schreihälse und Angsthasen kompetent erziehen. Kinder verstehen lernen

von Doris Heueck-Mauß (Autor:in)
168 Seiten

Zusammenfassung

Erfolgskonzept: Entwicklungsstufen verstehen und Erziehung darauf aufbauen: Machtkämpfe, Trotz, Schüchternheit – Konflikte zwischen Eltern und Kind sind in den Vorschuljahren an der Tagesordnung. Die gute Nachricht: Erziehen kann gelernt werden. Die erfahrene Psychologin und Bestseller-Autorin Doris Heueck-Mauß zeigt Ihnen die wichtigsten Entwicklungsstufen und Verhaltensmuster sowie die Wechselwirkung zwischen Eltern und Kinderverhalten auf. So ersparen Sie sich Stress und erziehen kompetent! Absolut praxisnah, Beispiele aus dem Leben!

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

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Liebe Eltern und Großeltern, liebe Erzieherinnen und Erzieher,

Kinder großziehen ist nicht immer leicht! Der tägliche Umgang mit den Kleinen stellt uns täglich vor neue Herausforderungen, da Kinder oft ganz andere Bedürfnisse und Wünsche haben als wir Erwachsenen – was im Alltag häufig zu Konflikten führt.

Zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr findet eine enorme motorische, emotionale und soziale Entwicklung statt, vom kleinen Trotzkopf zum vernünftigen Vorschulkind. Damit diese so wichtigen Jahre der sozialen Entwicklung möglichst stressfrei für Eltern und Kinder ablaufen, sollten Eltern sich ein Grundwissen über lernpsychologische Erkenntnisse aneignen – ganz so, wie ein Erstklässler sich das 1 x 1 und das ABC aneignen muss, um später rechnen und schreiben zu können.

Dieser Erziehungsratgeber hat es sich zur Aufgabe gemacht, Ihnen dieses ABC zu vermitteln. Besonders wichtig ist dabei die Erkenntnis, dass elterliches und kindliches Verhalten immer in Wechselwirkung stehen und die meisten Alltagskonflikte durchschaubar und lösbar sind, da es sich um Zielkonflikte handelt.

Typische Beispiele werden beschrieben, erklärt und anschließend Veränderungsmöglichkeiten aufgezeigt. Hilfreiche Tipps und Zusammenfassungen helfen Ihnen dabei, den Alltag mit Kindern durchschaubarer und entspannter zu meistern.

Familienleben ist und bleibt ein lebenslanger Lernprozess und ist die beste Schule für Eltern und Kinder.

Ihre

Doris Heueck-Mauß

Diplom-Psychologin

Vom Dreikäsehoch zum Schulkind

Sprechen und verstehen

Sprechen lernen beginnt schon mit der Geburt

Kaum ist das Kind auf der Welt, gibt es Geräusche von sich, und es dauert nicht lange, dann können Eltern die kindlichen Lautäußerungen unterscheiden. Sie hören, ob das Kind Hunger hat oder Langeweile, ob es müde ist oder ob es das Bedürfnis nach Hautkontakt hat und getragen werden möchte.

Auch das Baby ist „ganz Ohr“ und lauscht aufmerksam, wenn die Eltern mit ihm sprechen. Schon im Mutterleib kann es zwischen weiblichen und männlichen Stimmen unterscheiden, ja sogar unterschiedliche Sprachen kann es wahrnehmen. Alle Sinne, vor allem das Hören und der Hautsinn, sind schon voll im Einsatz. Deshalb sind dem Baby viele Stimmen, Töne und Melodien sowie Berührungen nach der Geburt bereits vertraut.

Im ersten Lebensjahr lernt das Kind Worte und Begriffe, kann diese aber noch nicht aussprechen, da sich die Zungenmotorik noch entwickeln muss. Eltern-Kind-Dialoge finden über Doppellaute statt, das Baby brabbelt aber auch alleine vor sich hin, wenn es zufrieden ist. Am Ende des ersten Lebensjahres hat es schon ungefähr fünfzig Wörter abgespeichert und mit sechzehn Monaten sprechen 90 Prozent der Kleinkinder Einwortsätze und können Begriffe zuordnen. Mit zwei Jahren verständigt sich das Kleinkind mit Zweiwortsätzen: „Mama eia!“, „Papa spielen!“, „Mimi haben!“ etc.

Bis das Sprechen als psychomotorischer Vorgang erlernt ist, vergehen drei Jahre, dann werden Drei- und Mehrwortsätze gesprochen. Dabei sind Kleinkinder häufig sehr kreativ bei der Wortwahl – zum Beispiel „Popi“ für den Opa, den Vater vom Papa. Diesen Namen verwenden dann alle in der Familie. Kinder sollten in diesem „Wortfindungsalter“ zwischen zwei und drei Jahren weder korrigiert noch ausgelacht werden. Als Eltern wiederholen Sie das Wort aber richtig: „Ach, mit Mimi meinst du deine Milch!“ Gerade Großeltern neigen zur Babysprache, wenn das Kind noch so klein und niedlich ist: „Gib der Oma das Patschehändchen“ oder „Magst du namnam?“ oder „Sollen wir heia machen?“. Das ist in Ordnung, doch auch hier sollten die Begriffe danach in der Erwachsenensprache benannt werden.

Sprachverständnis

Das Sprachverständnis als kognitiver Vorgang entwickelt sich schneller als das Sprechen und setzt bereits ab dem fünften Lebensmonat ein. Das Baby erkennt seinen Namen, Mama und Papa, Gegenstände und Begriffe wie heiß, kalt, aua, ja und nein. Es kann kleinere Aufforderungen verstehen, wie „Gib mir den Teddy!“, „Nimm den Ball!“, „Wo ist der Hund?“.

Wie das Kind ab dem dritten Lebensjahr spricht, in Babysprache, im Dialekt oder grammatikalisch richtig, lernt es durch Nachahmung der Erwachsenen. Sprechen ist zwar genetisch angelegt, das Kind braucht aber Anregung, Sie müssen sich mit ihm beschäftigen. Das Kind muss Sprache hören, um sich später ausdrücken zu können. Sprechen Sie mit Ihrem Kind, lesen Sie ihm Geschichten vor. Ermutigen und bestärken Sie Ihr Kind in seinem Sprechen, so kann es sich später frei und ohne Hemmungen oder Sprachlücken artikulieren. Die Eltern sind das Sprachmodell ihrer Kinder! Das kann man gut bei den kindlichen Rollenspielen erkennen, wenn das Kind in eine Elternrolle schlüpft und Papa oder Mama in Tonfall oder Wortwahl, aber auch Mimik und Gestik genau widerspiegelt. Manche Eltern erschrecken und erkennen sich kaum wieder: „Was, so laut und im Befehlston rede ich mit meinem Kind?“

Selbstbewusste Dreijährige sind kleine Plaudertaschen und übernehmen schon Formulierungen von den Großen. Gehemmte oder entwicklungsverzögerte Kinder sind eher still, man muss ihnen jedes Wort entlocken, oft drücken sie sich nur über Gestik und Mimik aus.

Kleine Kinder wollen sich zwar wie die Großen ausdrücken, verstehen vieles jedoch noch nicht und plappern einfach nach. Vermeiden Sie als Erwachsener Ironie und Doppeldeutigkeiten. Kinder in diesem Alter nehmen noch alles wortwörtlich, sie können noch nicht hinterfragen, sie müssen erst lernen, die Bedeutung der Wörter oder das, was manchmal noch dahinter steckt, zu begreifen. Bitte auch keine Fäkalsprache oder sexistischen Ausdrücke! Kinder sprechen auch diese Worte unbefangen aus, was in der Regel nicht gut ankommt: „Opa, du bist ein Arschloch, hat der Papa gesagt.“

Auch die Gefühlswelt der Erwachsenen können Kleinkinder noch nicht erkennen. Zum Beispiel sagt die Mutter zu ihrem Kind: „Es ist zum Verrücktwerden mit dir, du bist wieder unausstehlich.“ Wiederholt der Dreijährige dies gegenüber seiner Erzieherin, schimpft sie vielleicht mit ihm und er versteht gar nicht warum. Vorsicht: Kinder haben große Ohren und Freude am Nachahmen und Nachplappern, sie können aber noch nicht abstrahieren und nicht erkennen, dass manches, was man in der Familie so dahinsagt, nicht nach außen gehört.

Zweisprachigkeit

Haben die Eltern unterschiedliche Muttersprachen, erziehen sie ihre Kinder häufig bilingual. Das kindliche Gehirn ist unglaublich aufnahmefähig, ein Kleinkind ist damit nicht überfordert, wenn jeder Elternteil konsequent in seiner Muttersprache mit ihm spricht. Babys befinden sich schon vor der Geburt in einem „Sprachbad“ und hören täglich verschiedene Sprachen, sie sind daher fähig, von Geburt an zwei- oder mehrsprachig aufzuwachsen.

Ob der Vater Englisch spricht und die Mutter Spanisch, oder ob beide Eltern nur Arabisch sprechen – wird in der Familie eine andere als die Landessprache gesprochen, ist es sehr wichtig, dass das Kind diese auf anderem Weg frühzeitig lernt, von den Nachbarskindern, in der Spielgruppe, auf dem Spielplatz, in der Kita oder später im Kindergarten. Geschieht diese Integration erst in der Grundschule, tut sich das Kind viel schwerer, die Sprache zu lernen und die Grammatik richtig anzuwenden. In der Folge fühlt es sich schnell ausgegrenzt.

Kinder, die nur mit einem Dialekt aufwachsen und keine Standardsprache sprechen können, sind ebenfalls benachteiligt, wenn sie in die Schule kommen. Hier wäre es sinnvoll, wenn sie von klein auf die Möglichkeit hätten, mit jemandem Standardsprache zu sprechen.

Eltern sollten aber keinesfalls zwanghaft eine Fremdsprache sprechen, wenn es nicht ihre Muttersprache ist. Kinder reagieren darauf eher mit Kauderwelsch. Auch einmal die Woche eine Englischstunde im Kindergarten wird nicht zum Sprechen einer Fremdsprache reichen. Eine gute Alternative sind bilinguale Kindergärten und Schulen, die es mittlerweile in den Großstädten gibt. Hier sind die Pädagogen Muttersprachler und die Kinder werden täglich in beiden Sprachen gefördert und unterrichtet.

Das Sprachvermögen des Kindes

Die Fähigkeit zu sprechen ist angeboren, wie sich das Sprachvermögen des Kindes entwickelt, ist genetisch festgelegt. Sprechen ist ein psycho-motorischer Vorgang.

Das Sprachverständnis eines Kindes wird durch den sozial-emotionalen Umgang gefördert, also über Reden und vor allem über Vorlesen.

Mit drei Jahren sollte das Kind einfache, vollständige Sätze bilden können.

Sprache im Kindergartenalter

Zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr meistern gesunde und geförderte Kinder ihre Muttersprache sowohl in der Wortwahl als auch in grammatikalisch richtigen Sätzen. Dabei spielt die Bildung der Eltern eine große Rolle, aber auch die pädagogische Einrichtung und der Umgang mit den Medien. Leider verbringen schon viel zu viele Vierjährige täglich eine Stunde oder mehr vor dem Fernseher oder vor Spielkonsolen für kleine Kinder. Kinder sind davon fasziniert, und gestressten Eltern freuen sich, wenn die Kinder „beschäftigt“ sind. Doch dabei kommen das soziale Miteinander und der Austausch oft zu kurz. Ganz davon abgesehen sollten Kinder bis vier Jahre insgesamt maximal eine Stunde pro Woche fernsehen. Ausgesuchte Sendungen für Kleinkinder wie „Die Sendung mit der Maus“ oder „Sesamstraße“ sind in Ordnung, aber auch diese sollte ein Erwachsener mit dem Kind schauen, damit die kindlichen Fragen beantwortet werden können. Als Regel kann gelten, dass Vier- bis Sechsjährige nicht länger als 30 Minuten am Tag vor dem Bildschirm sitzen sollten.

Stammeln oder Stottern kommt bei Vorschulkindern öfter vor, da sie schneller denken, als sie sprechen können. Fällt Ihnen das bei Ihrem Kind auf, dann lachen Sie es nicht aus und korrigieren es bitte nicht ständig. Das würde es nur verunsichern. Besser ist der Satz: „Lass dir Zeit, sag es einfach noch mal.“ Sollte das Stammeln, Stottern oder Lispeln aber nach ein paar Wochen nicht aufhören, dann sprechen Sie mit dem Kinderarzt darüber, gehen zu einem Logopäden oder Kinderpsychologen. Hinter diesen Sprachauffälligkeiten können motorische, genetische, aber auch seelische Ursachen stecken. Sprache spiegelt die Beziehung – jedes vierte Kind um das sechste Lebensjahr, das sprachauffällig ist, hat psychische Probleme. Da hilft dann keine Logopädie mehr, sondern eine Kinder- und Familientherapie ist notwendig.

Sie machen es dem Kind vor
  • Sprechen Sie viel mit Ihrem Kind und hören Sie ihm zu!
  • Schauen Sie zusammen Bilderbücher an.
  • Während der Hausarbeit oder bei längeren Autofahrten können Sie singen und Wortspiele machen.
  • Sprechen Sie in ganzen Sätzen, in Ich- und Du-Form mit Ihrem Kind.

Laufen, rennen, sich ausprobieren

So wie das Sprechen, ist auch die motorische Entwicklung genetisch festgelegt. Etwa zwischen dem zehnten und dem elften Monat macht das Kleinkind die ersten freien Schritte, dann geht es schnell: Kaum hat es sein Gleichgewicht gefunden, rennt es den Eltern auch schon davon! Das Kleinkind hat große Freude am Klettern, Springen, Toben und greift sich alles, was es erreichen kann. Es sollte sich jetzt viel frei bewegen dürfen, denn das schult den Gleichgewichtsinn. Nicht jeder Spielplatz ist dafür geeignet. Besuchen Sie die Spielplätze in Ihrer Umgebung und schauen Sie sich die Spielgeräte an, beobachten Sie, wie Ihr Kind dort spielt. Sie werden sicher Ihren Favoriten finden. Ansonsten bietet die Natur dem kleinen Forscher viele Möglichkeiten. Im Wald, im Park oder am Fluss können auch die Eltern wieder das Kind in sich entdecken, wenn sie Steine in das Wasser werfen, auf Baumstämmen balancieren oder den Ball kicken.

Schon bevor sie zwei Jahre sind, können Kinder Dreirad fahren lernen. Mit etwa zwei Jahren schaffen sie es, auf dem Tretroller zu stehen und sich abzustoßen, ab zweieinhalb können sie anfangen, mit dem Laufrad zu fahren. So sind sie bereits im Kleinkindalter ziemlich mobil. Später balancieren sie geschickt das Rad, je nach Geschicklichkeit ab vier Jahren oder auch später. Wie auch immer sich Ihr Kind fortbewegt – Sie sollten ein wenig Geduld aufbringen, damit es Zeit, Raum und Möglichkeiten bekommt, um seinen Bewegungsdrang auszuleben und seine Geschicklichkeit in seinem Tempo zu trainieren. Sie tun Ihrem Kind keinen Gefallen, wenn Sie es für jede noch so kurze Strecke in das Auto, auf den Fahrradkindersitz oder in den Fahrradanhänger setzen.

Anregungen gibt es aber auch täglich in der Wohnung. Lassen Sie sich von Ihrem Kind dabei helfen, den Staubsauger zu ziehen, Wäsche in die Maschine zu füllen und unter das Sofa zu kriechen, um einen Gegenstand rauszuholen. Es kann auch mutig auf einen festen Stuhl steigen, um den Becher aus dem Schrank zu holen, auf der Matratze hopsen und die Treppe runterspringen. Seien Sie ein Vorbild, indem Sie kurze Wege zu Fuß zurücklegen und Treppen steigen statt den Aufzug zu nehmen. Lassen Sie Ihr Kind mit anderen toben und rangeln – ein dicker Teppich fängt Stürze auf und schont die Nerven der Nachbarn.

Natürlich wird das Kind mal fallen und sich stoßen, sich ärgern, wenn es ungeschickt war. Reagieren Sie bitte gelassen, trauen Sie Ihrem Kind etwas zu – nur über Missgeschicke lernt es sich selbst einzuschätzen und seine Grenzen zu erkennen, ohne mutlos zu werden. Überbehütete Kinder von ängstlichen Müttern können mit fünf Jahren oft noch nicht mal den Einbeinstand, trauen sich wenig zu, geben schnell auf und wollen immer beschäftigt werden. Häufig stehen sie am Rand und werden somit in einer Kindergruppe schnell zum Außenseiter. Kinder, die immer gebremst werden, können aber auch aggressiv werden und der nicht ausgelebte Bewegungsdrang äußert sich in Schreien und Zerstören.

Für Kinder mit ausgeprägtem Bewegungsdrang, aber auch für Kinder, die eher bewegungsarm sind, sind Turngruppen eine gute Sache. Es gibt viele Angebote, ob Kinderturnen, Ballsportgruppen oder Kinderschwimmen. Hier lernen Drei- bis Sechsjährige, sich in einer Gruppe einzuordnen, sie entwickeln Teamgeist und sie werden über Spiel und Spaß motiviert und gefördert. Zurückstecken, mal verlieren, mal gewinnen – diese Erfahrungen sind wichtig für die Frustrationstoleranz und für das Selbstvertrauen eines Kindes und damit die beste Vorbereitung für den Kindergarten und die Schule. Mannschaftsspiele und Temposportarten eignen sich ab dem fünften Lebensjahr.

Feinmotorik

Die Auge-Hand-Koordination, also die Feinmotorik, wird zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr immer ausgereifter. Am besten erkennt man es an den „Männchen- Zeichnungen“ des Kindes. Mit drei Jahren zeichnet es einen großen Kopf mit zwei Strichen als Beine, mit vier Jahren alle Gliedmaßen als Striche und mit fünf Jahren wird der Körper ausgeformt und detailliert dargestellt. Das Weltbild des Kindes ist noch sehr egozentrisch, deshalb malt es das, was es weiß und was es beeindruckt, und nicht das, was es sieht. Eine realistische Abbildung der Umwelt erfolgt erst im Grundschulalter, wenn das Kind durch seine kognitive Reifung lernt zu abstrahieren.

Die erweiterte Feinmotorik und die Geschicklichkeit in beiden Händen befähigt das Kind, sich selbstständig anzuziehen, Schnürsenkel zu binden, zu basteln und zu schneiden. Auch hier sollte das Kind viele Möglichkeiten zum Ausprobieren bekommen, das fördert die spätere Ausdauer für das Lernen in der Schule, die Konzentration und Kreativität. Wenn Ihr Kind in die Schule kommt, sollte es sich selbstständig anziehen und seine Schuhe binden können, auch sollte es seine Schultasche selbst packen. Wenn Sie all dies Ihrem Kind immer abnehmen, fördern Sie Ungeschicklichkeit, Unselbstständigkeit und Abhängigkeit.

Bei der U8 oder bei der Schuleintrittsuntersuchung fällt den Kinderärzten immer häufiger eine „motorische Ungeschicklichkeit“ auf (grobmotorisch und feinmotorisch), die keine hirnorganische Ursache hat. Vergleichsweise viele Kinder weisen bereits Haltungsschäden auf und sind zu dick. Das liegt nicht in der Natur des Kindes, sondern entsteht durch Bewegungsmangel und zu viel ungesunde Ernährung. Häufig kommen diese Kinder aus Elternhäusern, in denen wenig auf gesunde Ernährung geachtet wird. Darüber hinaus sind die Kinder zu oft sich selbst überlassen, den ganzen Tag läuft der Fernseher oder der PC und aus Langeweile essen sie Chips und Süßigkeiten.

Bewegung fördert die geistige Entwicklung

Lernen durch Bewegung und Ausprobieren fördert die Geschicklichkeit und die Entwicklung des Gleichgewichtsinnes. Es stärkt das Selbstvertrauen und das Kind entwickelt eine gesunde Frustrationstoleranz.

Hat das Kind zu wenig Möglichkeiten, sich zu entfalten, gilt der Spruch: „Was Hänschen nicht lernt …“ Denn frühe Vernetzungen im Gehirn können nicht mehr gelöscht, zelluläre Veränderungen nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Denken und wahrnehmen

Zwischen drei und vier Jahren beginnt das Kind, sich für die Zusammenhänge verschiedener Ereignisse und Dinge zu interessieren. Das Kind wird Sie jetzt Löcher in den Bauch fragen: Warum ist das so? Es erwartet aber keine wissenschaftliche Erklärung, sondern eine, die in sein Weltbild und sein Verstehen passt. Fragt es zum Beispiel: „Warum regnet es?“, lautet eine passende Antwort: „Es regnet, damit die Blumen, die Tiere und die Menschen Wasser haben.“

Zwischen drei und sechs Jahren ist der Wissensdrang des Kindes enorm, und da es noch nicht lesen kann, braucht es Erwachsene, die mit viel Geduld antworten, Bücher vorlesen, Wissensspiele anbieten und mit dem Kind ins Museum gehen oder einen Film anschauen. Kinder öffnen uns Erwachsenen wieder die Augen. Für uns ist alles so selbstverständlich, doch wenn wir uns in die Wahrnehmungswelt eines Kindes hineinversetzen, hilft uns dies, einen neuen Blick auf die Dinge zu bekommen und die Denkweise des Kindes besser zu verstehen. Dies vermeidet auch Missverständnisse. Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Achtsamkeit gegenüber den Mitmenschen und der Natur – all das entwickelt sich beim Kind zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr. Dafür braucht es aber Vorbilder, Menschen, die ihre Augen und Herzen offen halten und bereit sind, das Kind zu leiten.

Für das Vorschulkind bekommen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Bedeutung. Es wird Fragen stellen über das Leben, über Krankheiten und den Tod. Und es hat das Recht auf kindgerechte Antworten. Es spürt, wenn Erwachsene mit seinen Fragen überfordert sind oder ungeduldig werden. „Das ist noch nichts für dich, dafür bist du noch zu klein“, bekommen die Kinder dann zu hören. Solche Antworten verunsichern ein Kind und es fühlt sich nicht ernst genommen. Nehmen Sie sich die Zeit, um mit Ihrem Kind über seine Fragen zu sprechen. Wenn Sie nicht wissen, was Sie sagen sollten, nehmen Sie Bücher zur Hilfe, die sich kindgerecht mit Themen wie Krankheit und Tod beschäftigen.

Mit der Erkenntnis seiner eigenen Individualität wächst auch das Interesse des Kindes am eigenen Körper. Es zeigt Neugierde auf sein Geschlecht und das der anderen. „Doktorspiele“ finden zwischen Geschwistern und in Kindergruppen statt. Sie wollen wissen, warum es Männer und Frauen gibt und woher die Kinder kommen. Auch hier können Sie auf Bücher zurückgreifen, wenn Sie sich mit den Antworten schwer tun. Für diese Aufklärungsthemen gibt es sehr schöne, liebevoll gestaltete Bücher mit Zeichnungen, die ein Kind in diesem Alter gut anschauen und verstehen kann. Schauen Sie diese Bücher aber bitte mit Ihrem Kind zusammen an, dann können Sie seine Fragen beantworten und ihm die Nähe geben, die es braucht. Kinder sollen frühzeitig erfahren, dass sie als Person mit ihrem Körper und ihrem Geschlecht einmalig sind und sie sich schützen dürfen.

Kleine Kinder sehen sich als Mittelpunkt der Welt

Da Kinder bis zum fünften Lebensjahr noch sehr magisch denken und sehr emotional reagieren, sollten ihre Fragen anschaulich und in bildhafter Sprache beantwortet werden.

Ein Kind sieht sich im Mittelpunkt seiner Welt. Seine Umgebung, seine Familie sind die Welt und seine Eltern sind seine Beschützer. Diese Erfahrungen prägen ein Kind nachhaltig.

Erst mit acht Jahren können Kinder logisch denken, vergleichen und erkennen, dass es auch noch andere Kulturen, Familien und Welten gibt.

Spielen und erforschen

Wahrnehmen, denken und spielen, also die Wahrnehmungen verarbeiten, diese Vorgänge gehören in der kindlichen Entwicklung eng zusammen.

Erwachsene spielen, um abzuschalten, um sich vom Alltag abzulenken. Ganz anders beim heranwachsenden Kind: Es verarbeitet seine Erfahrungen nach und nach im Spielen. In seinem Spiel setzt es seine Phantasiewelt um, dafür nimmt es selbst verschiedene Rollen ein, Gegenstände und Stofftiere werden beseelt. So kann ein simpler Stock stundenlang ein Hund, ein Pferd, ein Kind sein, und wehe, man nimmt ihm den Zauber, indem man es auffordert: „Wirf doch endlich den Stock weg!“

Ab dem dritten Lebensjahr entstehen richtige Inszenierungen: Kleiderschränke werden zu Häusern, Betten zu Piratenschiffen, aus Sofakissen und Decken werden Höhlen gebaut, sodass das Wohnzimmer nicht mehr von Erwachsenen betreten werden darf. Der Flur wird zur Schlittschuhbahn, und ausgerechnet der Küchentisch wird zur Zirkusbühne umfunktioniert, auf der alle Stofftiere Platz nehmen müssen. Kommen Mutter und Vater dazu, werden sie gleich mit bestimmten Rollen in die Inszenierung eingebunden, und wehe, man hat keine Zeit! Dann ist die Enttäuschung groß und laut. Also lassen Sie sich lieber auf diese Rollenspiele ein, sie können sich bei Bedarf auch mit dem Alltag kreuzen: So bekommen die Ritter plötzlich großen Hunger und ziehen in die Küche.

Kinder leben im Spiel all ihre Wünsche, Ängste und Sorgen aus, sie spielen oft alleine und nehmen verschiedene Rollen ein, oder sie binden andere Kinder mit ein. Wenn die Kinder im Vorschulalter über das Spiel ihre täglichen Eindrücke mit allen Sinnen und ihrer Bewegungsfreude verarbeiten können, wenn sie ihrer blühenden Phantasie freien Lauf lassen dürfen, indem sie sich Geschichten ausdenken, werden sie seelisch gesund und stark sein. Eine Spielkonsole kann niemals ein Phantasiespiel ersetzen, da alles vorgegeben ist und Kinder nur mehr passiv konsumieren.

Gemeinsames freies Spielen

Lasst Kinder unter Kinder! Auf dem Spielplatz, im Kindergarten oder in der Ferienfreizeit wachsen Kinder als Gruppe oder Bande zusammen. Sie erzählen sich Gruselgeschichten, messen ihre Kräfte, toben und raufen, üben sich in Geschicklichkeits- und Rauswurf-Spielen. Trotz Medienvielfalt sind Kinder in ihren Spielen und Phantasien sehr „altmodisch“. Sie spielen aus sich heraus und motivieren sich gegenseitig. Sie brauchen dafür keine Erwachsene, die sie bespaßen, keine Eltern, die aufpassen (Erwachsene sind eher Spaßkiller), keine Eventagentur zur Planung von Geburtstagen!

Durch die erweiterten feinmotorischen Fähigkeiten wird das Kind um das fünfte Lebensjahr Werke schaffen wollen: mit Legosteinen, Playmobil oder Fischertechnik. Gerne wird auch getöpfert oder mit Holz oder Papier gebastelt. Steht ein Garten zur Verfügung, werden Hängebrücken gebaut oder Baumhäuser. Das fördert Geduld und Konzentration. Das Kind entwickelt ein Qualitätsbewusstsein, lernt durch Versuch und Irrtum und braucht Durchhaltevermögen, bis das Werk zu seiner Zufriedenheit fertiggestellt ist. Erwachsene sollten möglichst keine Tipps geben oder gar kritisieren, denn Kinder sollten eigene Erfahrungen machen dürfen, dann sind die Motivation und der Stolz umso größer.

Kinder, die nicht spielen dürfen – aus welchen Gründen auch immer –, wirken ernst, gehemmt, traurig und werden passiv. Kinder, die zu früh lernen müssen, ob Fremdsprachen, ein anspruchsvolles Musikinstrument oder was auch immer die Eltern ihnen verordnen, werden ihrer Phantasie und Lebendigkeit beraubt. Sie mögen zu angepassten kleinen Wunderkindern werden, die Eltern stolz vorzeigen, aber man hat sie ihrer Kindheit beraubt!

Durch Spielen lernen Kinder, sich im Leben zurechtzufinden, da hierbei primär die ganzheitliche rechte Gehirnregion angesprochen wird. Logisches Denken und Lernen wird im Grundschulalter intensiv gefördert, jetzt wird mehr die linke Hirnregion angesprochen. Erst dann kann das Gelernte im Langzeitgedächtnis abgespeichert werden.

Ab vier Jahren verstehen Kinder Spielregeln. Doch Spiele wie das bei Erwachsenen so beliebte „Mensch ärgere dich nicht“ bedeutet für Kinder im Vorschulalter eher Frust. Wettbewerb und Siegen sind ihnen noch nicht so wichtig. Suchen Sie für Ihre Familienspielzeit lieber Reaktionsspiele aus, oder Spiele, bei denen etwas erraten werden muss oder pantomimisch dargestellt wird. Es gibt zum Beispiel viele Variationen von Memory, lustige Brettspiele und Kartenspiele. Spiele, die alle in Bewegung bringen, machen Spaß und fördern die Kreativität.

Sportliche Wettbewerbsspiele, wie um die Wette klettern, rennen etc. sind erst für Kinder ab fünf Jahren geeignet. Vorher ist es für sie eher frustrierend, wenn sie den Größeren nicht hinterher kommen. Sie haben noch nicht gelernt, zu verlieren und sind erst dabei, ihre Frustrationstoleranz zu entwickeln.

Rollenspiele sind wichtig

Phantasie- und Rollenspiele, Geschichten erfinden und erzählen fördern Kreativität und Selbstbewusstsein des Kindes im Vorschulalter. Im Spiel verarbeitet es seine täglichen Erfahrungen. Somit kann es seine Emotionen wie Angst, Ärger, Traurigkeit und Freude im Rollenspiel ausleben.

Gemeinsames Spielen fördert den Zusammenhalt der Familie und festigt das Wir-Gefühl.

Ich und die anderen: emotionale und soziale Entwicklung

Emotionale Entwicklung

Das zweijährige Kind entwickelt ein Selbstempfinden, es entdeckt die Wörter „ich will“ und „mein“. Sein Wille wird ausgeprägter, es will mit Nachdruck seine Wünsche durchsetzen. Da es aber noch kein Zeitgefühl hat, kann es schlecht abwarten, somit wird es öfter enttäuscht und zornig werden. Seine Emotionen kann es noch nicht selbst regulieren, es versinkt ganz in seinen Wutanfall und macht seine Eltern ratlos. Das nennt man dann das Trotzalter. Diese wichtige Entwicklungsphase des Kindes habe ich in dem Ratgeber „Das Trotzkopfalter“ ausführlich beschrieben.

Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr will das Kind immer mehr alleine machen, wird motorisch immer geschickter und selbstständiger und kann sich sprachlich immer besser ausdrücken. Manche Eltern empfinden diese Zeit als sehr anstrengend, da das Kind so viel ausprobieren will, aber noch in seinem kindlichen Egoismus steckt.

Dreijährige haben bereits ein gutes Körperverständnis, sie empfinden sich als groß oder klein, mutig oder vorsichtig und erleben sich als Mädchen oder Junge. Das Kind lernt abzuwarten, es kann sich emotional besser steuern oder trösten lassen. Es entwickelt Fürsorge und Mitgefühl und kann seine Freude, Liebe, aber auch seinen Ärger durch zunehmende sprachliche Fertigkeiten benennen.

Mit ungefähr drei Jahren werden Eltern erleben, dass ihre Tochter ganz Papakind sein will und der Sohn nur noch die Mama toll findet. Ab dem vierten Lebensjahr weiß das Mädchen, ich werde eine Frau wie die Mama, und der Junge weiß, ich werde ein Mann wie der Papa. Das nennt man die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil; das Ich-Gefühl des Kindes hängt nun mit seinem Geschlecht zusammen. Die Tochter kokettiert mit dem Papa und möchte ihn heiraten, der kleine Sohn ist ganz Beschützer der Mama und möchte sie ebenfalls heiraten. Das Dumme ist nur, dass es da jemand anderes gibt, der Mama oder Papa schon besetzt hat.

Sigmund Freud hat diese emotional verwirrende Entwicklung beschrieben und nennt sie den Ödipuskomplex. Nach einer alten griechischen Sage erschlägt der Sohn den Vater, um die Mutter zu heiraten. Dieses Drama wiederholt sich in jeder Familie, aber glücklicherweise nur in der Vorstellung und eher mit Worten. Ist der kleine Sohn zornig auf den Papa, weil dieser nicht so nett zu Mama war, sagt er schon mal: „Du sollst tot umfallen!“ In seiner Welt steht der Papa aber wieder ganz lebendig auf. Ist die Tochter sauer auf die Mama, dann schreit sie wutentbrannt: „Ich hab den Papa viel lieber als dich und heirate ihn!“ Das kann eine Mutter das erste Mal ganz schön treffen. Solche kindlichen Ausbrüche sind aber nicht wortwörtlich zu nehmen. Es ist Eifersucht, die das Kind plagt, gemischt mit Liebe, Rivalität und Frustration.

Wichtig ist, dass die Eltern sich nicht auf persönliche Machtkämpfe einlassen, sondern dem Kind vermitteln: Wir haben dich beide lieb – trotz deiner Wutausbrüche –, und Papa und Mama gehören zusammen. Benutzt ein Elternteil das Kind als Partnerersatz, wird es große Spannungen geben. Wie oft findet man ein Vorschulkind im Elternbett, während der andere Elternteil im Kinderzimmer schläft – und das über Monate und Jahre. Kommt es zu einer Trennung, wäre das ein ödipaler Sieg des Kindes.

Mit sechs Jahren verstehen die Jungen und Mädchen, dass sie ihre Eltern nicht heiraten können. Besteht eine positive Bindung zu den Eltern, wollen sie Mama und Papa jetzt gleichen und später mal genauso werden wie sie. Erst in der Pubertät wird sich diese Einstellung wieder ändern, dann wollen die Kinder aus Protest ganz anders werden als Papa und Mama. Aber bis dahin vergeht noch viel Zeit.

Soziale Entwicklung

Kinder erleben schon als Zweijährige, dass sie nach ihrem Geschlecht unterschiedlich bewertet werden. Von Großeltern, Eltern oder Erziehern hören sie Sätze wie: „Du bist doch ein Mädchen, und Mädchen tun das nicht.“ „Du bist doch ein Junge und musst mutig sein.“ Auch Kleidung, Spiele und Tätigkeiten betonen das unterschiedliche Geschlecht. Man sollte diese Trennung zwischen Junge und Mädchen weder forcieren noch ignorieren, denn es gibt nun mal Geschlechtsunterschiede. Ein Junge darf aber auch wie ein Mädchen sein und ein Mädchen darf sich wie ein Junge verhalten.

Mit drei Jahren kommen Kinder, die sich seelisch stabil entwickelt haben, in eine weitere Ablösephase. Sie wollen jetzt mit anderen Kindern spielen, werden gruppenfähig und sind bereit, sich neuen Situationen anzupassen und neue Regeln anzunehmen. Der kleine Egoist hat sich zum sozialen Kind entwickelt. Mitgefühl, Mitleid, sich in den anderen hineinversetzen, mit dem anderen teilen und für den anderen auf etwas verzichten, sind wichtige Eigenschaften für das Zusammenleben. Dafür ist die Gruppe so wichtig, vor allem für Einzelkinder oder Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen.

Mit fünf bis sechs Jahren sucht sich das Kind Freunde oder Freundinnen, mit denen es gemeinsame Interessen hat. Die Freizeit zusammen verbringen, Abenteuer überstehen und bei anderen Familien übernachten – all dies macht das Kind unabhängiger und selbstbewusster. Manche dieser Kinderfreundschaften halten ein Leben lang.

Das Kind loslassen

Der Entwicklungsfortschritt zwischen einem zweijährigen trotzenden Kleinkind zu einem seelisch stabilen und selbstbewussten Vorschulkind, das sich immer mehr von seinen Eltern abnabelt, ist beeindruckend und anstrengend. Es erfordert von den Eltern eine gute Bindung, viel Geduld, Verständnis, aber auch eine ständige Reflexion des erzieherischen Verhaltens. Denn die Eltern sind Vorbild für das Kind.

Es ist wichtig, das Kind loszulassen und Vertrauen in seine Fähigkeiten zu haben, sich in der Gruppe anderer Menschen zurechtzufinden. So ist es für den Schuleintritt gerüstet.

Das ABC der Erziehung

Erziehung bedeutet laut Lexikon, den heranwachsenden Menschen in seiner geistigen und charakterlichen Entwicklung zu unterstützen und zu fördern, um ihn dazu zu befähigen, sich sozial zu verhalten und eigenverantwortlich zu handeln.

Das Ziel ist also klar, doch mit welchen Mitteln dies erreicht werden soll, ist keineswegs so eindeutig. Jede Eltern-Generation hat als Kind unterschiedliche Erfahrungen mit Erziehung gemacht.

Verschiedene Erziehungsstile

Früher wurde von den Kindern absoluter Gehorsam erwartet, es wurde mit „Zuckerbrot und Peitsche“ erzogen, individuelle Bedürfnisse sollten schnellstmöglich unterbunden werden. Noch in den fünfziger Jahren gab es keine Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie. Die „schwarze Pädagogik“ wurde in Familien, Betreuungseinrichtungen und in der Schule angewendet, zu ihren Mitteln gehören Gewalt und Einschüchterung. Den autoritären Erziehungsstil gibt es immer noch, obgleich der Begriff „elterliche Gewalt“ 1986 in „elterliche und pädagogische Fürsorge“ umgewandelt wurde und per Gesetz körperliche Strafen verboten sind.

Dann kam in den achtziger Jahren mit der antiautoritären Erziehung das andere Extrem. Die Kinder sollten sich frei und grenzenlos entfalten dürfen, Kinder und Erwachsene wurden zu Kumpeln. Die Ergebnisse waren erschütternd. Diese Kinder waren unsozial, respektlos, egoistisch und aggressiv. Sie forderten die Grenzen geradezu ein, die ihnen die Eltern nicht setzten, die Lehrer waren überfordert.

Der heute so beliebte materielle Stil – nach dem Motto „Wenn du das (nicht) machst, dann bekommst du eine Belohnung“ – lässt Kinder schnell erkennen, dass jede Leistung eine Belohnung bedeutet. Sie werden dadurch sehr berechnend und erpressen später ihre Eltern: „Wenn du mir das nicht gibst, dann mache ich das nicht.“

„Heute so und morgen so“ – der inkonsequente Erziehungsstil ist für Eltern und Kinder sehr verwirrend und frustrierend, denn es gibt keine klaren Aussagen, kein nachvollziehbares Verhalten, keine klaren Regeln. Eine soziale Gemeinschaft braucht aber bestimmte Regeln, an denen jedes Mitglied sich orientieren kann, sowohl Eltern wie auch Kinder.

Weder der strafende noch der lasche noch der inkonsequente Erziehungsstil trägt dazu bei, dass sich die Persönlichkeit des Kindes entfaltet und dass es lernt, sich in der Familie und Gesellschaft „sozial erwünscht“ zu verhalten!

Das (Erziehungs-)Verhalten reflektieren

Doch welcher Erziehungsstil ist nun der richtige? Um Kinder zu selbstbewussten Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen, sollten Eltern und Erzieher sich auf jeden Fall dessen bewusst sein, was sie tun und ihr Verhalten reflektieren. Sie sollten etwas über die Entwicklungsstufen des Kindes und die dazugehörigen unterschiedlichen Bedürfnisse wissen. Sie sollten auch einige Regeln der Lernpsychologie kennen, zum Beispiel, dass sich das Verhalten der Erziehenden und das Verhalten des Kindes wechselseitig beeinflussen.

Welchen Einfluss Erziehungsstile auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns haben, zeigt uns heute die Neurobiologie. Das elterliche Verhalten hat im frühen Kindesalter direkte Auswirkungen auf die Vernetzungen des wachsenden Gehirns und langfristig auf das chemische Gleichgewicht im Bereich der Stressregulation, bis hin zu zellulären Veränderungen. Elterliches Verhalten kann somit positive oder negative Verknüpfungen im Gehirn eines Kindes fördern, was sich auf die Verhaltensmuster des Kindes auswirkt. Daher ist es wichtig, dass Eltern diese Wechselwirkung verstehen: Welches Verhalten hat eine günstige, welches hat eine ungünstig Auswirkung auf das kindliche Verhalten.

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  • Setzen Sie sich mit Ihrem Partner zusammen und erzählen Sie sich, wie Sie als Kind erzogen wurden. Was Sie hilfreich fanden, was Sie vermisst haben. Wie haben Sie sich gefühlt, wenn Sie bestraft wurden? Wurden Sie nur gelobt, wenn Sie etwas geleistet haben?
  • Worin unterscheidet sich Ihr Erziehungsstil von dem Ihres Partners? Wo sind Sie sich als Eltern einig, in welchen Punkten sind Sie unterschiedlicher Meinung?

Was soll mein Kind lernen?

Erziehen hat viel mit Lernen zu tun. Das Kind soll lernen, welches Verhalten erwünscht und welches unerwünscht ist. Lernen erfolgt immer in Wechselwirkung, man nennt das „soziales Lernen“. So freuen Sie sich, wenn das Kind etwas gut gemacht hat oder wenn es „gehorcht“ hat. Sie ärgern sich, wenn es „bockt“ oder seine Ohren auf Durchzug schaltet, sodass Sie fünfmal rufen müssen.

Das Kind lernt, wie es seine Eltern erfreuen kann, es macht ihm aber auch Spaß, sie zu ärgern oder seine Macht auszuprobieren. Das ist alles ganz menschlich. Ein Appell an die Vernunft oder viel reden hilft im Vorschulalter wenig, da die kognitiven Fähigkeiten des Kindes noch nicht entwickelt sind. Erziehen erfolgt in diesem Alter in erster Linie über Ihr Verhalten, also durch Ihr Handeln, indem Sie Hilfestellungen geben und indem Sie erkennen, mit welchem Verhalten das Kind Aufmerksamkeit einfordert und bekommt. Das Grundbedürfnis eines jeden Kindes ist es, im Mittelpunkt zu stehen und Aufmerksamkeit zu bekommen. Ihre Aufgabe als Eltern ist es, damit adäquat umzugehen.

Erwünschtes und unerwünschtes Verhalten

Lernen findet schon im Mutterleib statt und vom ersten Lebenstag an vermitteln Sie Ihrem Baby und später Ihrem Kleinkind, welches Verhalten erwünscht ist. So lernt es sprechen, essen und schlafen, es lernt sich anzuziehen, sich selbst zu beschäftigen und auf Sie zu hören. Kinder und Eltern lernen beide täglich durch Erfolg oder Misserfolg. Als Mutter, Vater oder Erzieherin in der Kita helfen Sie dem Kind, erlernte Verhaltensweisen täglich zu wiederholen und damit zu festigen. Dazu gehört zum Beispiel „bitte“ und „danke“ zu sagen, bei Tisch sitzen zu bleiben, vor dem Essen die Hände zu waschen und nach dem Essen die Zähne zu putzen. Sie loben das Kind und zeigen Ihre Freude darüber, wenn das erwünschte Verhalten geklappt hat.

Manche Kinder brauchen erst mal viel Hilfestellung und Wiederholungen, da heißt es Geduld haben. Andere zeigen das erwünschte Verhalten sofort, das sind „pflegeleichte“ Kinder, die von ihren Eltern häufig gelobt werden. Die meisten Kinder wollen aber nicht immer so, wie die Erwachsenen das wünschen. Das Kind „bockt“, hat keine Lust, macht gerade das Gegenteil oder versteht noch nicht, was die Großen wollen. Es hört nur noch „Nein“, erntet Kopfschütteln und ärgerliche Reaktionen der Erwachsenen. Dann heißt es schnell: „Julia ist so schwierig“, „Leo ist so aggressiv“, „Was machen wir falsch?“. Die Großeltern meinen: „So ein freches Verhalten hätten wir uns früher nicht erlaubt, ihr verwöhnt das Kind!“

Natürlich lernt ein Kind „Unarten“ von anderen Kindern, die es sofort zu Hause ausprobieren muss. Mit Erfolg, wenn sich die Eltern empören, dann bekommt es ja volle Aufmerksamkeit. Aber woher auch immer sie stammen: Die unerwünschten Verhaltensweisen hat Ihr Kind gelernt – und es kann sie auch wieder verlernen, und zwar indem Sie ihm dafür keine negative Zuwendung geben.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869107264
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Alltagskonflikte Eltern-Ratgeber Erziehungs-Ratgeber Familien-Leben Kinder-Erziehung Konflikt-Lösung Vorschul-Alter

Autor

  • Doris Heueck-Mauß (Autor:in)

Die Diplom-Psychologin Doris Heueck-Mauß ist Expertin für die Entwicklung des Kindes, menschliches Verhalten und Kommunikation. In ihrer Praxis hilft sie seit über drei Jahrzehnten Kindern und Eltern bei den täglichen Erziehungskonfl ikten. Für Aufsehen sorgte sie mit Vorträgen in Kindergärten und Grundschulen zu den Themen Entwicklung und Erziehung vom Vorschulalter bis zur Pubertät. Doris Heueck-Mauß ist Bestseller-Autorin der Ratgeber „Das Trotzkopfalter“ und „So rede ich richtig mit meinem Kind“.
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Titel: Stressfreie Vorschuljahre