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Pflegegrad-Management

Fehleinstufungen vermeiden - Pflegeprozess optimal strukturieren - Erlöse nachhaltig sichern - Expertenwissen: aktuell, kompakt, praxisnah

von Jutta König (Autor:in)
184 Seiten

Zusammenfassung

Rund 24.000 ambulante und stationäre Einrichtungen gibt es in Deutschland. Und alle leben davon, dass die Pflegeversicherung Geld zuschießt: Je höher der Pflegegrad, desto mehr Geld fließt. Im Moment läuft’s, denn die automatische Umstellung von Pflegestufen in –grade hat die Erlöse gesichert.

Doch das bleibt nicht so: Bei allen künftigen Einstufungen werden die Pflegegrade geringer ausfallen. Das Einkommen der ambulanten/stationären Pflegeeinrichtungen wird also künftig sinken, damit auch die Personaldecke und letztlich die Qualität der Pflege.

Es sei denn, die Einrichtungen haben das Expertenwissen, damit die korrekte (möglichst hohe) Einstufung funktioniert – Pflegegrad-Management ist gefragt!

Die Bezeichnung „Pflegegrad-Management bzw. Pflegegrad-Manager“ ist neu (ebenso wie die Problematik der sinkenden Erlöse), die Expertise aber künftig überlebenswichtig für die rund 24.000 stationären/ambulanten Einrichtungen. Dieses Buch zeigt, was Pflegegrad-Management ist und wie es funktioniert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Es reicht keineswegs, das Begutachtungsinstrument (NBI) einfach nur auszufüllen. Wer Pflegegrade managen will (und muss), der hat weit mehr zu tun als nur ein Formular zu vervollständigen.

Die Eingradung in Pflegegrade ist heute wichtiger denn je. Der betriebswirtschaftliche Erfolg Ihrer Einrichtung hängt zwingend davon ab, dass Ihre Bewohner/Klienten die richtigen Pflegegrade erhalten.

Hintergrund: Die sehr positive Umgradung von Pflegestufen auf Pflegegrade führte zu einem massiv hohen Pflegestufenmix zu Beginn des Jahres 2017. Dieser Mix ist auf Dauer nicht zu halten, das spüren einige Einrichtungen heute schon, mehr als ein Jahr nach Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Die Einrichtungen, ambulant und noch mehr stationär, sind auf einen berechenbaren und nahezu gleichbleibend hohen Pflegegradmix angewiesen. »Es ist daher von grundlegender Bedeutung, die aufgezeigten Entwicklungen der Pflegegradstruktur engmaschig zu untersuchen und die relevanten Kennzahlen (Deckungsbeiträge je Pflegegrad) systematisch zu erheben. Zudem kommt der anstehenden Pflegesatzvergütungsverhandlung eine zentrale Rolle bei. Gelingt es hier einen realistischen und für die Einrichtung vorteilhaften Pflegegradmix zu verhandeln, können die beschriebenen Risiken zum einen als solche geltend gemacht werden und zum anderen auch in unternehmerische Gestaltungspielräume umgewandelt werden. Bei einer sich andeutenden Negativentwicklung sollte auch die Pflegesatzvereinbarung auf Basis von Sonderkündigungsrechten vorzeitig gekündigt werden.«1

Deshalb müssen Sie mehr denn je darauf achten, dass die Eingradung gesteuert und korrekt läuft. Profis müssen her, die das Thema für die Einrichtung strukturiert in die Hand nehmen und begleiten – die Pflegegrad-Manager.

Eine Eingradung nach Schema F sollte künftig der Vergangenheit angehören. Die Zeiten, als Sie die Pflegestufe eines Pflegebedürftigen sozusagen aus der Ferne abschätzen konnten, sind endgültig vorbei.

Der betriebswirtschaftliche Erfolg Ihrer stationären Einrichtung hängt ebenso vom Pflegegradmix ab wie die Personalbesetzung.

Deshalb möchte ich Ihnen in diesem Buch kompakt und praxisnah zeigen, wie Sie Pflegegrade managen können. Die Eingradung eines Pflegebedürftigen in den richtigen Pflegegrad schaffen Ihre Mitarbeiter nicht einfach so nebenher:

Sie müssen Sie richtig führen.

Sie müssen ständig den Pflegegradmix im Auge behalten und nachsteuern.

Sie müssen das Pflegegrad-Management zur Chefsache machen!

Wie das gelingt, was Sie brauchen und was Sie tun müssen, erfahren Sie in diesem Buch.

Wiesbaden, im Januar 2018Jutta König

1 Nagy, A. & Sloane, K. (2017). Rothgang-Effekt zeigt Wirkung. Veränderung der Pflegegradstruktur. CareKonkret vom 17. November 2017, Hannover: Vincentz, S. 2

1 WARUM DAS RICHTIGE PFLEGEGRAD-MANAGEMENT SO WICHTIG IST

Mit dem Strukturmodell, der Änderung des Pflegebedürftigkeitsbegriff und der Veränderung von Pflegestufe in Pflegegrade müssen ambulante und stationäre Einrichtungen einen neuen Blick auf die ihnen anvertrauten Klienten werfen.

Genau darum geht es auch beim Pflegegrad-Management, das für jede Einrichtung sinnvoll ist, »weil dadurch

eine bessere Übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen Pflege- und Betreuungsbedarf und dem festgestellten Pflegegrad erreicht werden kann;

Pflegeeinrichtungen die Kapazitäten (Personal- und Sachmittel) und das Leistungsangebot für ihre Kunden/Bewohner adäquat planen, kalkulieren, vorhalten sowie vereinbaren können und

der Einrichtung eine wirtschaftliche Betriebsführung durch die Refinanzierung des tatsächlich geleisteten Aufwands ermöglicht wird;«2

ambulante Dienste mehr Umsätze generieren und damit ihr Angebot ausweiten und ihr Portfolio erweitern können;

und nicht zuletzt dadurch alle Einrichtungen gegenüber Mitbewerbern einen klaren Vorteil haben.

Diese Funktionen des Pflegegrad-Managements sind vielen Einrichtungen noch nicht wirklich bekannt.

1.1 Nur der richtige Mix bringt auch das korrekte Budget

Interessanterweise berichten mir viele Einrichtungen, dass sie mit ihrem Pflegegradmix zufrieden sind. Es ist es geradezu irritierend, dass dieselben Einrichtungen auch in den letzten Jahren mit den Pflegestufen ihrer Klienten gut leben konnten.

Das muss ein Irrtum sein, denn die Zahlen der Pflegestufen sprachen ganz klar gegen jede Form der Zufriedenheit, sanken doch die Pflegestufen 2 und 3 seit dem Jahr 2000 kontinuierlich. Wie können Einrichtungen mit sinkenden Pflegestufen, dem damit sinkenden Einnahmen und einem sinkenden Personalschlüssel, der ja an den Stufen hängt, zufrieden sein? Es ist mir ein Rätsel, denn die Zahlen sagen mir, dass Einrichtungen mit den Pflegestufen seit vielen Jahren schon nicht mehr hätten zufrieden sein können (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Entwicklung der Pflegestufen von 2000 bis 2016 (Zahlen3 gerundet)

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Auch die GKV führt regelmäßige Erhebungen und stellt genau das Gleiche fest wie das Bundesministerium für Gesundheit (vgl. Abbildung 1).4

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Abb. 1: Entwicklung der Anzahl der Leistungsempfänger in den Pflegestufen.

Fazit

Die Zahl der Pflegebedürftigen ist den vergangenen Jahren um über eine Million Menschen gestiegen. Im gleichen Zeitraum aber sank der Pflegestufenmix.

Kaum eine Einrichtung konnte also in der Vergangenheit mit ihrem Pflegestufenmix wirklich zufrieden gewesen sein. Das ist von 2017 bis Mitte 2018 vielleicht durch die Umrechnung von Pflegestufen in die Pflegegrade noch nicht so extrem spürbar.

Aber die Zukunft ist klar: Der relativ hohe Pflegegradmix von Anfang 2017 wird nie wieder erreicht werden. Denn die durchaus positive Umgradung von 2016 auf 2017 hatte zur Folge, dass rund 42,1 %5 der Pflegebedürftigen in einen höheren Grad kamen, als ihnen nach reiner Berechnung der Module des NBI heute zustehen würde.

Diese zu positiv umgerechnete Klientel wird im Laufe der Zeit versterben. Es werden neue Pflegebedürftige eingestuft werden. Diese neuen Klienten werden jedoch einen Pflegegrad auf Basis des Neuen Begutachtungsinstruments (NBI) erhalten. Alle Einrichtungen müssen also mit einem schrittweise niedrigeren Pflegegradmix rechnen.

Auf der anderen Seite gilt: Alle Einrichtungen sind aufgrund der kumulierten und budgetierten Zahlen bei Personal und Einnahmen darauf angewiesen, dass ihr Pflege-gradmix im Mittel hoch bleibt oder hoch wird. Die ambulanten Dienste haben es leichter. Sie können den Pflegegradmix leichter oben halten, weil ein Kunde, der mehr Geld zur Verfügung hat, dies ggf. auch in zusätzliche Dienstleistungen umsetzt.

Hinzu kommen die neuen, alarmierenden Zahlen hinsichtlich des Anstiegs der Pflegebedürftigkeit in Deutschland. Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 gab es bereits 220 0006, in den ersten neun Monaten sogar 350 0007 Pflegebedürftige mehr als im Jahr davor. Damit hatte niemand gerechnet, auch nicht der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK).

So war am 22. April 20178 noch zu lesen, man rechne seitens des MDK mit einem Zuwachs von 200.000 Pflegebedürftigen im Jahr 2017. Der MDK hat sich also um fast 100 % verrechnet. Die prognostizierte Zahl stammt vermutlich aus einer Aussage von Dr. Peter Pick, Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), der am 4. November 20169 mit diesen Zahlen zitiert wurde. Nicht nur, dass die Anzahl der Pflegebedürftigen 2017 enorm anstieg. Es wurde auch ein großer Teil der Pflegebedürftigen von 2016 auf 2017 sehr positiv umgegradet und erhielt so mehr Geld als in den Jahren zuvor. Gleichzeitig beziehen heute auch deutlich mehr Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung. Wenngleich der Zuwachs der Pflegebedürftigen nicht bedeutet, dass der Pflegegradmix steigt. Die bis jetzt vorliegenden Zahlen10 weisen auf eine sukzessive Verschlechterung des Mixes hin (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2: Verschlechterung des Pflegegrad-Mixes11

Ergebnisse aller Begutachtungen nach dem neuen Verfahren (1.1.– 31.12.17) Neuanträge 2017
Ohne Pflegegrad 12,9 %   –
Pflegegrad 1 17,2 % 29,0 %
Pflegegrad 2 29,4 % 44,0 %
Pflegegrad 3 22,2 % 19,0 %
Pflegegrad 4 12,7%   6,0 %
Pflegegrad 5   5,7 %   2,0 %

Im 1. Halbjahr 2017 wurden bereits nahezu so viele Menschen begutachtet wie im gesamten Jahr 2016. Waren es 2016 insgesamt 444.276 Begutachtungen, so lag die Zahl der Neubegutachtungen im 1. Halbjahr 2017 schon bei 441.966 und Ende September 2017 sogar bei 585.765 Neubegutachtungen.12

Obwohl der MDK also mehr Menschen begutachtet denn je, titelte eine Fachzeitung13 »Zu wenig Personal beim MDK«. Wie kann das sein, frage ich mich, wenn doch die Zahl der Begutachtungen in 2017 über denen von 2016 liegt? Sieht man sich die Personalzahlen an, scheint es auch nicht plausibel zu sein, dass beim MDK ein chronischer Personalmangel herrschen soll (vgl. Tabelle 3).

Tabelle 3: Mitarbeiterstab beim MDK (Stand: Ende 2015)

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Vermutlich war Ende 2016, als alle, die eine Chance hatten, sich eine Pflegestufe sichern wollten und Anfang 2017, als manche erstmals eine Chance auf den Pflegegrad sahen, ein gewisser Stau. Es mussten Massen an Anträgen abgearbeitet werden. Aber die Zahl der Begutachtungen wird sich nach diesem ersten Ansturm wieder auf ein »Normalmaß« einpendeln: 450.000 Begutachtungen pro Jahr mit normalem Zuwachs, also einem üblichen Anstieg an Pflegebedürftigen.

In dem oben erwähnten Artikel stand auch, dass der MDK seinen Personalmangel mit dem permanenten Zuwachs an Aufgaben begründete. Das Bundesministerium für Gesundheit, so stand zu lesen, denke daher über eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen und Richtlinien nach, um eine schnellere Abarbeitung der Fälle zu garantieren. Darüber hinaus solle das Thema »externe Gutachter« forciert und gesetzlich verankert werden.

Angesichts solcher Angaben ist die Frage erlaubt, ob der Gesetzgeber seine eigenen Gesetze nicht kennt oder nicht konsequent umsetzt. Denn

externe Gutachter sind im Gesetz bereits seit fast zehn Jahren in § 18 verankert. Auch 2017 steht im aktualisierten SGB XI in § 18 Abs 3a »Die Pflegekasse ist verpflichtet, dem Antragsteller mindestens drei unabhängige Gutachter zur Auswahl zu benennen,

1. soweit nach Absatz 1 unabhängige Gutachter mit der Prüfung beauftragt werden sollen oder

2. wenn innerhalb von 20 Arbeitstagen ab Antragstellung keine Begutachtung erfolgt ist.«

die Bearbeitungszeit ist in vielen Fällen durch die Sozialgesetzbücher, eben auch im SGB XI, vorgegeben. Gemäß § 18 Abs. 3 dürfen ab dem 1. Januar 2018 zwischen Antrag und Bescheid nicht mehr als 25 Arbeitstage vergehen (»Die Pflegekasse leitet die Anträge zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit unverzüglich an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder die von der Pflegekasse beauftragten Gutachter weiter. Dem Antragsteller ist spätestens 25 Arbeitstage nach Eingang des Antrags bei der zuständigen Pflegekasse die Entscheidung der Pflegekasse schriftlich mitzuteilen.«) Man muss diesen Paragrafen eben nur anwenden und nicht schleifen lassen. Menschen, die zuhause leben, erhalten pro Überschreitungswoche 70 Euro ist (§ 18 Absatz 3b). Es sei denn, die Pflegekasse hat die Fristüberschreitung nicht zu vertreten, weil etwa der Pflegebedürftige den Termin verschiebt oder zwischenzeitlich ins Krankenhaus kommt.

Fazit

1.2 Viele Pflegebedürftige gehen leer aus

Erfreulicherweise lag die Zahl der Bewilligungen von Pflegegraden im Jahr 2017 über der des Vorjahres. Das klingt allerdings positiver als es in Wahrheit ist. Denn knapp die Hälfte aller in 201714 begutachteten Personen, immerhin 44,9 %, erhielt nach der Begutachtung weder Pflegegeld noch Sachleistungen. Bei 19,7 % lag nämlich kein Pflegegrad vor und bei 25,2 % gab es nur Pflegegrad 1. Dieser berechtigt bekanntermaßen nur zur Inanspruchnahme von Entlastungsleistungen in Höhe von 125 Euro. Pflegegeld oder Pflegeleistungen sind nicht möglich. Zum Vergleich: 2016 gingen lediglich 29,7 % aller Begutachteten leer aus.

Fazit

Im Vergleich zu 2016 zeigt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff damit einen deutlichen Trend: Es werden mehr Personen begutachtet, doch es werden weniger Pflegegrade 2 bis 5 attestiert.

Aktuell beträgt der Pflegegradmix nach der Berechnung der GKV insgesamt nur 2,13. Vergleichen Sie diese Zahl doch einmal mit jener in Ihrer Einrichtung. Sie werden sicher heute schon einen Rückgang zu Anfang 2017 feststellen.

Eine Darstellung der Struktur der Pflegegrade15 2017 im Vergleich zu den übergeleiteten aus 2016 macht den »Verfall« deutlich (vgl. Abbildung 2).

1.3 Der Pflegegradmix ist ein einfaches Rechenexempel

Beim Pflegegradmix gilt: Wer EDV hat, muss in der Regel nicht selbst rechnen. Allen anderen hilft eine einfache Exceltabelle (vgl. Tabelle 4).

Tabelle 4: Berechnungsbeispiel eines Pflegegradmixes

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Berechnung

(17/100x1) + (29/100x2) + (22/100x3) + (10/100x4) + (8/100x5)

Liegt Ihnen Excel nicht, bleibt Ihnen nur noch das Addieren mit Taschenrechner und Papier:

Zahl der Pflegebedürftige in Grad 1 x 1 =___ +

Zahl der Pflegebedürftige in Grad 2 x 2 =___ +

Zahl der Pflegebedürftige in Grad 3 x 3 =___ +

Zahl der Pflegebedürftige in Grad 4 x 4 =___ +

Zahl der Pflegebedürftige in Grad 5 x 5 =___

Summe der Berechnung geteilt durch die Anzahl der Pflegebedürftigen = Pflegegrad-mix

Berechnungsbeispiel

1.4 Das soziale System der Pflegeversicherung wird so nicht überleben

Bei steigender Zahl der Pflegebedürftigen und somit steigenden Ausgaben kann das aktuelle System der Pflegeversicherung nicht mehr lange aufrechterhalten werden. 2016 wurden 31 Mrd. Euro16 ausgegeben. Im Jahr 2017 waren es bereits über 37 Mrd.17

Die Ausgaben der Pflegeversicherung sind 2017 stark angestiegen, das war bekannt und auch geplant, allerdings nicht in dieser Höhe. Laut dem Magazin »Spiegel« hat die Pflegeversicherung im 1. Halbjahr 2017 rund 22 % mehr ausgegeben als im Vorjahreszeitraum. In einer weiteren Veröffentlichung18 kam man sogar auf rund 20,8 Mrd. Euro, die bereits im 1. Halbjahr 2017 ausgegeben worden sind.

Fazit

Da im gesamten Jahr 2016 rund 31 Mrd. Euro ausgegeben wurden, wird das Jahr 2017 voraussichtlich das teuerste Jahr in der Geschichte der Pflegeversicherung.

Die Mehrausgaben sind nachvollziehbar, denn ab 2017 wurden die Pflegebedürftigen in den jeweils höheren Pflegegrad hochgestuft, bei Vorliegen einer eingeschränkten Alltagskompetenz waren es sogar zwei Pflegegrade, die ein Pflegebedürftiger hochrutschte. Im 1. Halbjahr 2017 bekamen zudem 432 000 Menschen erstmals Leistungen aus der Pflegeversicherung. Das war ein Zuwachs von 175 000 Menschen gegenüber 2016.

Die Hochrechnungen der Regierung, die noch Anfang 2017 von rund 200 000 Pflegebedürftigen mehr ausging, wurden also um mehr als das Doppelte übertroffen. Wie lange kann die Regierung das von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe gegebene Versprechen »keine Beitragserhöhung bis 2022«19 noch halten? Es gab Ende Juni 2017 über 3,1 Mio. Pflegebedürftige in Deutschland. Das ist die Zahl, die von der Bundesregierung und ihren beauftragten Gutachtern eigentlich erst für das Jahr 2030 errechnet wurde. Wir sind der Entwicklung somit 13 Jahre voraus.

Aber der Pflegeversicherung geht es aktuell nicht schlechter als in der Vergangenheit. Es gab schon Jahre, in denen die Pflegeversicherung fast 1 Mrd. Euro Defizit aufwies (2004). 2016 gab es dagegen satte Überschüsse von 1,03 Mrd. Euro20. Das war allerdings vor den Pflegegraden, vor dem Zuwachs von Pflegebedürftigen und vor dem Anstieg der damit notwendig gewordenen Ausgaben. Überschüsse in der Pflegeversicherung haben allerdings immer ihre Gründe (vgl. Tabelle 5).

Tabelle 5: Künstlich verursachte Überschüsse der Pflegeversicherung21

Überschüsse Folgemaßnahme/Gründe
2004– 820 Mio. EuroVorverlagerung des Fälligkeitstermins des GSV-Beitrages
2005– 380 Mio. EuroErhebung des Kinderlosenzuschlages in Höhe von 0,25 %
2006*+ 450 Mio. Eurokeine
2007– 320 Mio. Eurokeine
2008+ 620 Mio. EuroBeitragssatzanhebung von 1,70 % auf 1,95 % und Leistungsausweitung
2009*+ 990 Mio. EuroKeine bis 2013
2012+ 10 Mio. Euro
2013*+ 630 Mio. EuroBeitragssatzanhebung von 1,95 auf 2,05 %
2015+ 1,68 Mrd. EuroBeitragssatzanhebung von 2,05 auf 2,35 %
2017*Beitragssatzanhebung von 2,35 auf 2,55 %

* Jahre, in denen Bundestagswahlen waren

Brennende Fragen

Auf diese Fragen werden die jetzige und alle künftigen Regierungen eine Lösung finden müssen. Ob die Lösung »Bürgerversicherung« heißt oder anders, ist egal. Fakt ist: Mit der üblichen Finanzierungsmethode durch Sozialabgaben steht die Pflegeversicherung knapp vor der Insolvenz. Man lebt von der Hand in den Mund: Die Beiträge, die heute von den Beitragszahlern (Arbeitnehmer und Arbeitgeber) eingezahlt werden, sind im übernächsten Monat stets ausgegeben.

1.5 Die Personalzahl entspricht nicht dem Pflegeaufwand

Die Pflegeversicherung war »zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit«22 geschaffen worden. Sie galt also der Absicherung der Pflegebedürftigen, nicht der der Leistungserbringer (Pflegekräfte). Von Beginn (1995) an war auch klar, dass die Pflegestufen nur die Grundpflege beinhalten, aber keineswegs weitere Leistungen wie Behandlungspflege, Betreuung, Prophylaxen etc.

Dennoch wurde das Personal in Pflegeeinrichtungen nach den Pflegestufen bemessen. Eine irrwitzige Betrachtungsweise: Man bemisst das Personal an Pflegestufen, lässt aber bestimmte pflegerische Tätigkeiten und jede administrative Tätigkeit außer Betracht. Das ist im neuen System der Pflegegrade nicht anders. Es ist sogar noch dramatischer als vorher.

Neue Erfahrungen für stationäre Einrichtungen

Die Pflegegrade haben wenig mit dem Aufwand und den zu erbringenden Leistungen zu tun. Das wissen ambulante Dienste schon lange, die stationären Einrichtungen machen jetzt ihre negativen Erfahrungen.

Da etwa Menschen mit kognitiven Einbußen im neuen System nicht zwangsläufig besser wegkommen (siehe Kapitel 5.1), bedeutet auch die neue Berechnung eine weiterhin abstrakte Betrachtung der Pflegebedürftigen. Es geht bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht um den direkten Hilfebedarf. So erhält ein demenziell erkrankter Mensch, der sehr gut laufen kann, in der Mobilität 0 Punkte, obwohl man ständig hinter ihm herlaufen, ihn zurückbringen und beruhigen muss.

Bei der Begutachtung geht es rein um die Frage der Einschränkung der Selbständigkeit: »Es ist bei der Begutachtung zu berücksichtigen, dass nicht die Schwere der Erkrankung oder Behinderung, sondern allein die Schwere der gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten Grundlage der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit sind.«23

In stationären Einrichtungen ist der Personalschlüssel seit Einführung der Pflegeversicherung an die Pflegestufen, heute: Pflegegrade, gekoppelt. Die zu leistende Arbeit bildet sich nicht in den Pflegegraden ab, aber die Personalzahl hängt 1:1 von den Pflegegraden ab.

In der Vergangenheit hatten wir ein klares Ungleichgewicht, weil für die Pflegestufe nur die Grundpflege und nichts weiter berechnet wurden. Dennoch wurde das Personal anhand der Pflegestufen berechnet, auch wenn diese Stufen nicht immer den Aufwand widerspiegelten. Ob der Pflegebedürftige 40 Mal am Tag klingelte oder die halbe Nacht rief, interessierte den Gutachter überhaupt nicht.

Das heutige System ist jedoch noch weniger geeignet, um den Personalbedarf zu bemessen. Das Dauerklingeln am Tag und das Rufen in der Nacht werden auch heute nicht so berücksichtigt, tauchen wenn überhaupt an einer Stelle im Modul 3 auf. Auch Prophylaxen werden nach wie vor nicht berücksichtigt. Doch es kommt noch schlimmer: Leistungen zählen in der Häufigkeit gar nicht mehr. Nicht einmal mehr die in der Grundpflege.

Wenn also Ihre Mitarbeiter einen Pflegebedürftigen 12 Mal täglich zur Toilette bringen muss, weil er klingelt, ist das ebenso wenig abzubilden wie der Hilfebedarf eines demenziell Erkrankten, der viel Zuwendung benötigt.

Achtung

Das neue System der Begutachtung setzt einzig auf die Fähigkeit und Selbständigkeit des Pflegebedürftigen, ungeachtet seines tatsächlichen Bedarfs.

Hinzu kommt die aus pflegerischer Sicht sehr unglückliche Betrachtungsweise, dass die Unselbständigkeit höher gewertet und somit bepunktet wird als die Anleitung. Somit kommen gerade die demenziell Erkrankten oder Antriebslosen schlechter weg, denn wer anzuleiten ist, ist nicht unselbständig und erhält automatisch weniger Punkte. Die Pflegekraft benötigt aber mehr Zeit für eine Anleitung als für eine Übernahme, wenn jemand unselbständig ist.

Die Koppelung der Pflegegrade an die Personalzahlen ist ein Teufelskreis. Wenn der Pflegegradmix nach unten geht, müsste auch der Personalbedarf nach unten gehen. Es verändern sich aber nicht die Anzahl der zu versorgenden Bewohner und auch nicht der Aufwand für ihre Pflege. Das Gegenteil ist der Fall: Der Aufwand ist bei Anleitung höher als bei voller Übernahme, aber die Punkte sinken und damit der Pflegegrad.

Bedauerliche Entwicklung

Nehmen wir mal einfach zwei Pflegebedürftige in Pflegegrad 3 und stellen diese gegenüber:

Pflegegrad 3 mit 40 Punkten erhält eine Person, die ein wenig Hilfe benötigt: beim Aufstehen aus dem Bett und teilweise beim Gehen mit dem Rollator. Die Person ist orientiert und unauffällig. In der Pflege ist diese Person überwiegend selbständig. Man hilft ihr nur ein wenig beim Waschen und Ankleiden, beim Wechseln kleiner Inkontinenzvorlagen und beim Brotschneiden. Sie erhält 3x täglich ihre Tabletten und die Kompressionsstümpfe, alles problemlos. In der Alltagsgestaltung bringt man der Pflegebedürftigen etwas zum Lesen, hilft ihr ins Bett und stellt Telefonkontakte zu Verwandten her. Das war es schon. Sie sehen, eine einfache Pflege und eine Person mit wenig Hilfebedarf.

Dieser Person stellen wir einen demenziell Erkrankten gegenüber: mit hoher Lauftendenz, herausforderndem Verhalten, der in Blumen uriniert, gegenüber anderen Personen aggressiv auftritt und herumschreit, wenn ihm etwas missfällt. Dieser Mensch mit Demenz ist sehr mobil, erhält 4x täglich Tabletten und kann mit Impulsgabe essen und trinken. Zum Waschen und Anziehen muss man ihn auffordern, dann macht er mit, denn das sind Rituale, die er noch ganz gut hinbekommt. Gleiches gilt für das Ankleiden: Richtet man ihm die Kleidung, klappt das Ankleiden im Allgemeinen mit Aufforderung. Der Tag muss ihm aber strukturiert werden, da er einen Tag-Nacht-Umkehrrhythmus hat und nur umherläuft.

Selbstverständlich wissen auch Politiker und Verbände um diese oben beschriebenen Phänomene und negativen Nebeneffekte der Pflegegrade vs. Pflegeaufwand, doch niemand traut sich, Veränderungen einzuleiten. »Die Vergütungsverhandlungen sind entscheidend und richtungsweisend«, wird dann gern gesagt. Das ist grundsätzlich richtig, aber die Möglichkeiten einer Einrichtung, in den Vergütungsverhandlungen aus dem »üblichen Vorgehen« auszubrechen, sind gering. Gleichwohl hat der Gesetzgeber in § 84 Abs. 2 SGB XI bestimmt: »Die Pflegesätze müssen leistungsgerecht sein. Sie sind nach dem Versorgungsaufwand, den der Pflegebedürftige nach Art und Schwere seiner Pflegebedürftigkeit benötigt, entsprechend den fünf Pflegegraden einzuteilen.«

Frage

1.6 Antragstellern wird die Arbeit nicht leichtgemacht

Jede Kasse hat ihr eigenes Antragsverfahren, jede hat ihren eigenen Sprachgebrauch. Es soll den Antragstellern und den mit Anträgen betrauten Personen offenbar nicht zu einfach gemacht werden. Das ist schon irritierend, denn schließlich handelt es sich bei der Pflegeversicherung um ein bundeseinheitliches Gesetz mit bundeseinheitlicher Leistung. Sollte es da nicht möglich sein, bundeseinheitliche Vordrucke zu schaffen? Schließlich haben wir für unsere Einkommensteuer auch keine unterschiedlichen Formulare, trotz unterschiedlichen Finanzgebarens in den Bundesländern. Nach einer Umfrage war sogar die Bundesregierung schlauer und konnte in ihrem Infomaterial schreiben: »Die Antragsformulare werden als zu umfangreich, zu detailliert und zu kompliziert beschrieben. Zu kleine Schriftgrößen und vor allem unverständliche Formulierungen sind für betroffene Bürgerinnen und Bürger ein Problem.«24

Schön, dass man das nun wusste. Geändert hat sich (natürlich) nichts. Nach wie vor muss man auch heute alle Formulare per Hand ausfüllen, insbesondere die Stammdaten. Das ist zeitraubend und im Zeitalter der digitalen Datenverarbeitung ein Unding.

Hinzu kommt noch, dass auch die Gutachter nicht immer einen guten Eindruck hinterlassen. »Während der Begutachtungen erlebten einige betroffene Bürgerinnen und Bürger die Gutachterinnen und Gutachter als wenig kompetent, wenig einfühlsam, intransparent und als nicht unabhängig.«25

Jeder, der MDK-Mitarbeiter kennt, hat schon mal inkompetente, unfreundliche Menschen kennengelernt. Zum Glück ist das aber nicht die Regel, denn beim MDK sind genauso viele oder wenige Ungeeignete beschäftigt wie bei Banken, Versicherungen, Bäckereien oder Autowerkstätten. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass der MDK nun mal nicht die Crème de la Crème beschäftigt. Allerdings hat er – vielleicht im Gegensatz zu manchen Autowerkstätten – doch einen klaren Verhaltenskodex – sogar schriftlich und verbindlich seit dem 1. Januar 2017. Pünktlichkeit und Respekt werden da u. a. sehr ans Herz gelegt.

In den Dienstleistungs-Richtlinien der Gutachter26 heißt es unter Punkt 3 Abs. 2: »Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Medizinischen Dienste sehen die Begutachtung der Versicherten in der Regel von Montag bis Freitag zwischen 8:00 und 18:00 Uhr vor. Hausbesuche außerhalb dieser Zeiten sind in Absprache mit der oder dem Versicherten möglich.«

Und weiter unter Punkt 3 Abs. 3: »Die Gutachterinnen und Gutachter der Medizinischen Dienste beachten bei der Durchführung der Begutachtung, dass diese im privaten Bereich der Versicherten und ihrer Angehörigen stattfindet und eine respektvolle und sensible Vorgehensweise mit Achtung der Privatsphäre erfordern.«

Leider haben offensichtlich noch nicht alle Gutachter die neuen Richtlinien gelesen. Einige mischen sich nach wie vor in die Pflege ein, kritisieren diese oder jene Maßnahme, sind mit der Dokumentation nicht einverstanden etc. Einige schrecken selbst vor Kritik an medizinischer Behandlung nicht zurück. Dazu sind MDK-Gutachter aber keinesfalls berechtigt. Schauen wir noch einmal in die Dienstleistungs-Richtlinien, Punkt 3 Abs. 5: »Sie sind nicht berechtigt, in die Pflege oder ärztliche Behandlung einzugreifen.«

Sollten Sie also einmal Grund zur Beschwerde über einen MDK-Mitarbeiter haben, so reichen Sie diese Beschwerde doch ein. Der MDK muss, so will es das Gesetz und die Richtlinie, ein Beschwerdemanagement einführen. Punkt 6 der Dienstleistungs-Richtlinien sagt:

»(1) Jeder Medizinische Dienst hat ein Beschwerdemanagement zu unterhalten und dafür mindestens eine verantwortliche Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter und eine Vertreterin oder einen Vertreter zu benennen.

(2) Alle Beschwerden sind vom Beschwerdemanagement zu erfassen.

(4) Das Beschwerdemanagement ist verpflichtet, jeder Beschwerdeführerin oder jedem Beschwerdeführer eine Eingangsbestätigung zu erteilen.

(7) Die Beschwerdeführerin oder der Beschwerdeführer erhält innerhalb von 4 Wochen nach Eingang ihrer oder seiner Beschwerde eine individuelle schriftliche Antwort von der Vorgesetzten oder dem Vorgesetzten bzw. der Teamleiterin oder dem Teamleiter der Gutachterin oder des Gutachters bzw. Mitarbeiterin oder Mitarbeiters.«

Eine solche Dienstleistungsorientierung hatte der Gesetzgeber schon seit Jahren vorgesehen. Doch GKV, MDS und MDK mauerten. Seit dem 1. Januar 2017 ist damit nun Schluss, die Richtlinie ist da und muss umgesetzt werden. Wir dürfen alle gespannt in die Zukunft blicken, denn in der Richtlinie ist unter Punkt 5 die Versichertenbefragungen seit dem 1. Januar 2017 zur Pflicht geworden: Punkt 5, Abs. 1: »Jeder Medizinische Dienst ist verpflichtet, jährlich eine Versichertenbefragung bei 2,5 % der Antragstellerinnen und Antragsteller durchzuführen. Die Bezugsgröße ist 2,5 % der Begutachtungen aller Versicherten mit persönlicher Befunderhebung des Vorjahres. Die Versichertenbefragung erfolgt durch einen bundesweit einheitlich strukturierten Fragenkatalog anonym innerhalb von einem Monat nach der Begutachtung.«

Fazit


2 Projektbüro Ein STEP (2017). Pflegegradmanagement im Zusammenhang mit der Pflegedokumentation gemäß Strukturmodell – Leitfaden. Berlin, S. 9

3 Vgl. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/pflegeversicherung-zahlen-und-fakten.html [Zugriff am 4. Dezember 2017]

4 Vgl. https://www.gkv-spitzenverband.de/media/grafiken/pflege_kennzahlen/spv_kennzahlen_06_2017/300dpi_5/SPV-Kennzahlen_Leistungsempf_nachPflegestufen_2016.jpg [Zugriff am 29.Oktober 2017]

5 Kimmel, A.; Kowalski, I. & Pick, P. (2013). Umsetzung des NBA. Überleitung heutiger Leistungsempfänger. S. 8 Im Internet: http://www.bmg.bund.de/fileadmin/dateien/Downloads/P/Pflegebeduerftigkeitsbegriff/Materialen/Ueberleitung_heutiger_Leistungsempfaenger_Kimmel_Kowalski_Pick.pdf [Zugriff am 12. August 2016]

6 Vgl. »Mehr Bedürftige« in: CareKonkret vom 27.10.2017, Hannover: Vincentz, S. 1

7 http://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/zahl-der-pflegebeduerftigen-gestiegen-100.html [Zugriff am 1. November .2017]

8 Wiesbadener Kurier, »Mehr Hilfe durch Pflegereform« am 22.4.2017

9 Vgl. CareKonkret vom 4. November 2016, Hannover: Vincentz

10 Vgl. CareKonkret vom 22. September 2017, Hannover: Vincentz, S. 5

11 Vgl. https://www.mds-ev.de/aktuell/aktuelle-meldungen/2018-01-18.html [Zugriff am 25.01.2018]

12 Ebd.

13 CareKonkret vom 6. Oktober 2017, Hannover: Vincentz

14 Vgl. CareKonkret »Mehr Bedürftige« vom 27. Oktober 2017, Hannover: Vincentz

15 Vgl. CareKonkret vom 17. November 2017, Hannover: Vincentz

16 Zahlen und Fakten des BMG vom 20.4.2017, im Internet: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/pflege/pflegeversicherung-zahlen-und-fakten.html [Zugriff am 4. Dezember 2017]

17 Vgl. CareKonkret vom 1. September 2017, Hannover: Vincentz

18 Ebd.

19 »Beiträge zur Pflegeversicherung sollen bis 2022 stabil bleiben«, im Internet: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/gesundheitsminister-groehe-keine-beitragserhoehung-in-pflegeversicherung-14600829.html [Zugriff am 4. Dezember 2017]

20 Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung vom BMG, 20.4.2017

21 Jahresbericht des BVA 2017

22 § 1 Abs. 1 SGB XI Änderung durch Art. 10 G v. 23.12.2016 I 3234

23 MDS & GKV (2017). Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch des Sozialgesetzbuches (BRi), S. 35

24 Bundesregierung (2013). Erfüllungsaufwand im Bereich… Pflege – Antragsverfahren auf gesetzliche Leistungen für Menschen, die pflegebedürftig oder chronisch krank sind. Berlin, S. 135

25 AaO., S. 136

26 Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Dienstleistungsorientierung im Begutachtungsverfahren (Dienstleistungs-Richtlinien – Die-RiLi) nach § 18b SGB XI vom 10.07.2013 geändert durch Beschluss vom 05.12.2016 Im Internet: https://www.gkv-spitzenverband.de/pflegeversicherung/richtlinien_vereinbarungen_formulare/richt-linien_vereinbarungen_formulare.jsp [Zugriff am 22. November 2017]

2 WIE SIE DIE PFLEGEGRADE MANAGEN

2.1 Einen Extra-Beauftragten für Pflegegrade?

Die Zeiten, in denen in der Pflege jeder alles können musste, liegen hinter uns. Eine Pflegefachkraft sollte früher ein »eierlegendes Wollmilchschwein« sein. Sie musste die Medikamentenkunde ebenso beherrschen wie die Berechnung von Insulingaben. Sie konnte Verbände und Wunden ebenso gut versorgen wie sie die Angehörigen beriet und einen demenziell veränderten Menschen nebenher liebevoll betreute. Dass sie dabei die Kosten für die Flachwäsche und das Inkontinenzmaterial im Kopf hatte, wurde einst ebenso vorausgesetzt wie die Tatsache, dass sie in der Lage war, Schüler richtig anzuleiten, das Ernährungsregime zu übernehmen und jegliche Dokumentation zu beherrschen. Nein, das geht eigentlich nicht, es ging vermutlich noch nie.

Es ist Augenwischerei zu glauben, eine einzige Person beherberge derart viele Talente: von sozialer Kompetenz über Fach- und Steuerungskompetenzen bis hin zum Krisenmanagement in Notfällen. Und wenn Einrichtungs- oder Pflegedienstleitungen meinen, genau auf solche Fachkräfte warten zu müssen, warten sie vergebens. Es mag einer unter 50 sein, der rundum alle Erwartungen erfüllen kann und zudem ein engagierter Allrounder ist.

Ausbildung hilft weiter!

Warten Sie bitte nicht, bis Sie einen Mitarbeiter finden, der all Ihren Erwartungen entspricht. Suchen Sie die Talente unter Ihrem jetzigen Mitarbeiterstab: Schaffen Sie ein Beauftragtenwesen bzw. bauen Sie Ihr bestehendes aus.

Bei anderen Arbeitsanforderungen gibt es das doch auch schon:

Inkontinenzbeauftrage wissen um die Produktvielfalt und können entscheiden, welches Produkt für welche Situation bei welchem Pflegebedürftigen am besten passt. Nebenher behalten sie das Bestellwesen und die Kosten im Griff.

Wundbeauftragte wissen um die Arten von Wunden und deren optimale Versorgung. Sie dienen darüber hinaus dem Arzt als kompetente Ansprechpartner und den Kollegen als Ratgeber.

Hygienebeauftragte wissen um die Aktualität von Veröffentlichungen und Anforderungen in ihrem Bereich. Sie kontrollieren die Umsetzung von Standards und Verfahrensanweisungen und schützen so die Klienten, Mitarbeiter und die Einrichtung vor möglichen Regressansprüchen.

Ernährungsbeauftragte haben immer eine Idee, wie man das Thema Ernährung in schwierigen Situationen anpacken kann oder wann welche Maßnahmen einzuleiten sind. Sie wissen um die ethischen Grundsätze bei Ernährungsproblemen und sind Koordinator des Netzwerkes rund um die Ernährung eines Klienten.

Demenzbeauftragte sind Fachleute, die mit ihrem speziellen Wissen Kollegen und Angehörigen Rat geben, in Krisen intervenieren können und Menschen mit Demenz eine Perspektive geben.

Bei einem Pflegegrad-Manager sieht das Arbeitsfeld so aus:

Sie managen den gesamten Prozess der Eingradung.

Sie achten permanent auf mögliche Höherstufungspotenziale.

Sie sprechen mit den Versicherten und deren gesetzlichen Vertreter, wenn es um die Beantragung bei der Pflegekasse geht.

Sie füllen das NBI aus.

Sie prüfen die Vollständigkeit der Dokumentation des Pflegebedürftigen.

Sie begleiten die Gutachter bei der Eingradung.

Sie formulieren Widersprüche, wenn es erforderlich ist.

2.2 Pflegegrade managen kostet Arbeit, Zeit und Geld

Steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in dem Maße an, wie die GKV27 es ermittelte, so ist das Arbeitsfeld für die Pflegegrad-Manager ein Wachstumsfeld (vgl. Abbildung 3).

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Abb. 3: Prognosen zur Pflegebedürftigkeit.  Darstellung: GKV-Spitzenverband

Allerdings werden wir erleben, dass an anderer Stelle Kürzungen durchgeführt werden. Und die Kürzung kann bedeuten, dass Pflegegrade weniger »locker« erreicht werden als bisher. Die Eingradung geht, wie bereits beschrieben, nicht im laufenden Betrieb einfach mal nebenher, und schon gar nicht automatisch, wie einem diverse Softwarehäuser suggerieren.

Ein Beauftragtenwesen zu etablieren und konsequent zu nutzen, bedeutet

1. Arbeit,

2. Zeit und

3. Geld.

Genau diese drei Kriterien sind für Kritiker das Argument, Beauftragte erst gar nicht einzusetzen.

Achtung

Die Etablierung eines Beauftragtenwesens bedeutet Arbeit, weil der Beauftragte zunächst gefunden werden (siehe Kapitel 2) und dann befähigt, das heißt geschult werden muss.

Befähigung bedeutet, sich Wissen anzueignen, Schulungen zu besuchen, Literatur zu lesen, in die praktische Übung zu kommen. Diese Schulung bedeutet für Sie als Leitungskraft bzw. Ihre Einrichtung: Sie müssen Geld investieren.

Wenn der Beauftragte gefunden und geschult ist, benötigt diese Person Zeit, um die Pflegegrade sukzessive zu durchforsten und das Verfahren zur Höherstufung zu begleiten (siehe auch Kapitel 4.3).

2.3 Der »ideale« Pflegegrad-Manager

Gesucht werden Pflegegrad-Manager, die das Wissen und den Mut haben, das Thema Pflegegrade umfassend zu bearbeiten und zu ihrem Steckenpferd zu machen.

Das Wissen muss man sich aneignen, denn das Thema Eingradung war immer schon komplex, heute noch mehr als früher. Meines Erachtens verlangt eine umfassende Kenntnis mit Praxisübungen wenigstens eine zwei Tage umfassende Schulung, mit vertiefenden Praxisanteil gern auch drei Tage. Damit ist der Grundstein für ein solides Wissen gelegt.

Schulung schafft Wissen

Doch Wissen ist nicht alles. Es muss zudem darauf geachtet werden, dass der künftige Pflegegrad-Manager auch eine entsprechende Persönlichkeit besitzt. Die Person muss in der Lage sein, jedem Gutachter Rede und Antwort zu stehen und mitunter auch Paroli (»Wo steht das?«) bieten zu können. Jedes Wissen um die Eingradung nutzt nichts, wenn es nicht angewendet werden kann, im Sinne: Was nützt ein Ferrari in der Garage, wenn niemand ihn fahren kann?

Management bedeutet Mut

Wenn Sie eine solche Person gefunden und geschult haben, kann die tägliche Arbeit losgehen. Sehen wir sie uns im Detail an.

2.4 Die tägliche Arbeit eines Pflegegrad-Managers

Ein Pflegegrad-Manager übernimmt die meisten Prozessschritte auf dem Weg zum richtigen Pflegegrad. Denn die »wichtigste Aufgabe des PGM ist die zeitnahe Identifikation eines voraussichtlich dauerhaft veränderten Pflege- und Betreuungsbedarfs der pflegebedürftigen Person«28:

Wird ein neuer Klient aufgenommen, überprüft der Pflegegrad-Manager den aktuellen Pflegegrad und leitet ggf. die entsprechende Höhergruppierung ein und – wo immer möglich – begleitet er sie auch.

Darüber hinaus durchforstet der Pflegegrad-Manager systematisch, mindestens monatlich, besser 14-tägig, alle potenziellen Höherstufungskandidaten. Das Durchforsten läuft, je nach Einrichtung, unterschiedlich.

Ein Pflegegrad-Management erfolgt immer in vier Schritten:

1. Entdecken (zeitnahe Identifikation von Veränderungen des Pflege- und Betreuungsbedarf)

2. Bewerten (Reichen die Informationen für eine erneute Begutachtung aus?)

3. Entscheiden (Unverzüglich reagieren oder zunächst abwarten?)

4. Begleiten (Begutachtungsprozess vorbereiten und begleiten)

2.4.1 Arbeiten mit EDV-gestützter Pflegedokumentation

Wird mit einer EDV-gestützten Pflegedokumentation gearbeitet, kann der Pflegegrad-Manager am Computer sitzen und die Akten nach Veränderungen durchforsten. Damit ist jede Veränderung des Gesundheitszustandes gemeint oder Krankenhausrückkehrer. Evaluierte Pflegeplanungen oder Maßnahmenpläne (Strukturmodell/SIS®) geben Hinweise auf ein mögliches Höherstufungspotenzial. Neuaufnahmen werden dem Pflegegrad-Manager direkt gemeldet, oder er erkennt sie in der Dokumentation anhand eines elektronischen Reitersystems. In der EDV kann sich der Pflegegrad-Manager also sehr schnell einen Gesamtüberblick verschaffen.

Arbeitsaufwand »Durchforstung« per EDV

Für die Durchforstung der Dokumentationen benötigt ein geübter Pflegegrad-Manager für rund 50 Akten einen Tag. In einem Heim mit 100 Plätzen müssen deshalb dem Pflegegrad-Manager mindestens zwei Tage im Monat für diesen Routinecheck zur Verfügung stehen.

Je ausgeklügelter ein Programm ist und je mehr Erfahrung der Beauftragte mit dem System und dem Thema NBI hat, desto weniger Zeit nimmt das Ganze in Anspruch.

Es gibt auch Softwareprogramme, die Ihnen versprechen, dass alle Höherstufungspotenziale angezeigt werden. Ich bin da skeptisch. Das hat selbst früher, als es noch Pflegeminuten gab, und diese »nur addiert werden mussten«, auch nicht wirklich funktioniert, weil Klienten eben individuell sind. Wie soll es jetzt klappen, eine Pflege-/Maßnahmenplanung oder die SIS® für einen Klienten sinnvoll mit dem NBI zu verknüpfen?

Einrichtungen, die bereits das Strukturmodell eingeführt haben, bekommen von einigen Dokumentationsherstellern vorgegaukelt, dass Änderungen in der SIS® auch ins NBI übernommen werden können und so eine mögliche Höherstufung schnell erkannt wird. Da bin ich ebenfalls skeptisch. Würden Sie alle 64 Kriterien aus den 6 Modulen in der SIS® aufnehmen? Wie soll dann ein Programm die Punkte automatisch berechnen?

Das NBI und die SIS® haben wenig miteinander gemeinsam. Während es in der SIS® um die persönlichen Bedürfnisse eines Klienten geht, geht es im NBI um die Ermittlung der Bedarfe, die teils auch nicht der Realität entsprechen. So wird etwa das Treppensteigen berechnet, obwohl ein Rollstuhlfahrer diese nicht nutzt. Wie also soll die SIS® mit dem NBI übereinstimmen, wenn es im NBI an keiner Stelle um den realen Bedarf geht?

Bitte nicht (nur) auf die EDV verlassen

2.4.2 Arbeiten mit papiergeführter Pflegedokumentation

Wer noch händisch die Dokumentation pflegt, muss sich jede Akte besorgen, statt sie aus der Ferne abzurufen. Dennoch kann man sich auch hier behelfen, wenngleich auch sehr viel mühsamer als mit Hilfe der EDV. Aber auch wenn man die Dokumentation auf Papier gründlich bearbeitet, ob Strukturmodell und SIS® oder herkömmliche Pflegeplanung, das NBI 1:1 davon abzuleiten ist vermessen.

Die Dokumentation allein reicht nicht

Auch hier gilt das Gleiche wie bei der EDV: Die Dokumentation lässt keinen eindeutigen Rückschluss auf alle Module des NBI zu, denn es ist schlicht unsinnig, alle 64 Kriterien in einer Pflegedokumentation abzubilden.

2.4.3 Auf dem Weg zum Pflegegrad-Manager –
Das müssen Sie als Leitungskraft jetzt tun

Finden Sie einen geeigneten Mitarbeiter, der das Potenzial und den Willen besitzt, die Aufgabe als Pflegegrad-Manager mit Leben zu füllen (siehe Kapitel 2.3).

Schulen Sie diesen Mitarbeiter, damit er über das nötige Wissen verfügt (theoretisch und praktisch).

Räumen Sie dem Pflegegrad-Manager Arbeitszeit ein, damit er per Kurzcheck alle Kunden »scannt«, zumindest aber alle Pflegebedürftigen mit verändertem Hilfebedarf, alle Neuaufnahmen und Krankenhausrückkehrer (siehe Kapitel 2.4.4). Die potenziellen Kandidaten für höhere Pflegegrade werden zunächst per Schnellcheck (siehe Kapitel 4.3.1), dann anhand des NBI (siehe Kapitel 5) konsequent durchgerechnet.

Geben Sie dem Pflegegrad-Manager den nötigen Freiraum. Nur dann kann er Anträge in die Wege leiten, notwendige Angaben in der Pflegedokumentation überprüfen und ergänzen sowie die Gutachter bei der Begutachtung begleiten. Notwendige Widersprüche werden fachgerecht begründet und die Widerspruchsbegutachtung begleitet.

Schaffen Sie finanzielle Anreize für die Arbeit eines Pflegegrad-Managers. So könnte er z. B. je Höherstufung, die er entdeckt und durchgeführt hat, einen Bonus erhalten.

2.4.4 So agiert der Pflegegrad-Manager

Der Pflegegrad-Manager

überprüft die Pflegegrade

direkt bei Aufnahme eines neuen Kunden,

nach Krankenhausentlassung,

bei wesentlichen gesundheitlichen Veränderungen,

regelmäßig, routinemäßig wenigstens monatlich;

schult und coacht die Kollegen in Sachen Pflegegrad-Management;

steht mit Rat und Tat zur Seite, wenn es um Fragen der Pflegebedürftigkeit geht;

überprüft vorhandene Instrumente und Richtlinien auf ihre Aktualität und Praktikabilität;

unterstützt Kollegen bei der Dokumentationsführung, hinsichtlich der Kriterien, die zur Eingradung benötigt werden;

geht auf Klienten, deren Betreuer und Angehörige zu, und erläutert Sinn und Notwendigkeit einer Höherstufung;

füllt das NBI fachlich aus;

begleitet Gutachter bei der Eingradung;

nimmt nötige Widersprüche in Angriff und führt diese konsequent und souverän durch.

Für diese Arbeit sichtet der Pflegegrad-Manager nicht nur die Dokumentationen. Er nimmt sich auch die Zeit, mit Kollegen und Betroffenen aus möglichst vielen Bereichen zu sprechen, z. B. mit Angehörigen, Betreuungs- und Servicekräften, »die häufig einen sehr speziellen (oft emotionalen) Zugang zu der pflegebedürftigen Person haben und Stimmungsschwankungen oder nachlassende Fähigkeiten wahrnehmen«29.

Informationsquellen für einen Pflegegrad-Manager sind auch die Fachleute aus medizinischen, therapeutischen und sozialen Diensten. Genauso übrigens wie Dienstübergaben, Fallbesprechungen und Pflegevisiten.

Tipp


27 https://www.gkv-spitzenverband.de/media/grafiken/pflege_kennzahlen/Pflegebeduerftigkeit_Entwick-lung2010_03_2000.jpg [Zugriff am 29. Oktober 2017]

28 Ein STEP 2017, S. 10

29 aaO., S. 11

3 HÜRDEN UND FORMALIEN – FALLSTRICKE AUF DEM WEG ZUM RICHTIGEN PFLEGEGRAD

Für viele Pflegekräfte ist das Thema Eingradung gedanklich lediglich mit dem Besuch des Gutachters verbunden. Davor und danach stehen allerdings weitere Fragen im Raum, die geklärt werden müssen. Nur eine gute Vorbereitung garantiert den gewünschten Erfolg. Von der Antragstellung über die Anpassung der Pflegedokumentation, den Besuch des Gutachters bis zum Bescheid und womöglich Widerspruch. Überall lauern Fallstricke, die ein Pflegegrad-Manager kennen muss.

3.1 Beachten Sie den Bestandsschutz bis 2019

Der Gesetzgeber entschied im Dezember über das Pflegestärkungsgesetz (PSG) und damit auch über die Überführung von Pflegestufen in Pflegegrade. Natürlich wusste der Gesetzgeber, dass diese Überführung für einige Pflegebedürftige eine Besserstellung bedeuten würde.

Die durchaus positive Überführung von 2016 auf 2017 hatte zur Folge, dass rund 42,1 %30 der Pflegebedürftigen in einen höheren Grad übergeleitet wurden, als ihnen nach reiner Berechnung der Module des NBI heute zustehen würde. Das weiß auch die Pflegekasse und möchte das mitunter ändern, indem sie Wiederholungsbegutachtungen in Auftrag gibt.

Diese Wiederholungsbegutachtungen seitens der Kassen sind aber bis zum 31. Dezember 2018 nicht möglich. Der Gesetzgeber regelte in § 140 SGB XI die Überleitung von Pflegestufen in Pflegegrade und nahm in § 141 SGB XI den Bestandsschutz auf und in § 142 die Übergangsregelung im Begutachtungsverfahren.

Bestandsschutz

Wer zum 31. Dezember 2016 eine Pflegestufe hatte, wurde entsprechend der vorgegebenen Regelungen des § 140 SGB XI in einen Pflegegrad überführt. Diesen Pflegegrad behält der Pflegebedürftige bis zum 1. Januar 2019. Es sei denn, er stellt einen Antrag auf einen anderen Pflegegrad.

Ausnahmen sind z. B. eine von vornherein kurzfristige Pflegebedürftigkeit, beispielsweise vor einer zielführenden Operation oder einer anstehenden Rehabilitation, die zur Verbesserung der Pflegesituation dienen soll.

Allerdings legen die Pflegekassen diese Paragrafen offensichtlich sehr eigenwillig aus und mahnen in dem einen oder anderen Falle eine Wiederbegutachtung an. Widerstehen Sie solchen Anforderungen! Für jeden Pflegebedürftigen, der nicht kurzfristig pflegebedürftig ist, der nicht mit einer Operation oder Rehabilitation wieder selbständiger werden soll, gilt die Übergangsregelung von Pflegestufe in Pflegegrad bis zum 31. Dezember 2018.

Erst ab dem 1. Januar 2019 können die Kassen wieder herunterstufen lassen. Wer auch immer Ihnen etwas anderes erzählen will – zeigen Sie ihm den aktuellen Paragrafen aus dem SGB XI:

»§ 142 die Übergangsregelung im Begutachtungsverfahren

(1) Bei Versicherten, die nach § 140 von einer Pflegestufe in einen Pflegegrad übergeleitet wurden, werden bis zum 1. Januar 2019 keine Wiederholungsbegutachtungen nach § 18 Absatz 2 Satz 5 durchgeführt; auch dann nicht, wenn die Wiederholungsbegutachtung vor diesem Zeitpunkt vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder anderen unabhängigen Gutachtern empfohlen wurde. Abweichend von Satz 1 können Wiederholungsbegutachtungen durchgeführt werden, wenn eine Verbesserung der gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, insbesondere aufgrund von durchgeführten Operationen oder Rehabilitationsmaßnahmen, zu erwarten ist.«

Seien Sie wachsam

3.2 Seien Sie aufmerksam bei der Antragstellung

Jeder Antrag auf einen Pflegegrad beginnt mit dem richtigen Antragsteller: Antragsberechtigt sind nur der Versicherte selbst, sein Betreuer oder seine Bevollmächtigten. Einrichtungen sollten sich generell nicht bevollmächtigen lassen. Denn die Einrichtung hat das Ziel, ein höheres Entgelt zu erzielen und das lag bislang nicht zwangsläufig im Interesse des Pflegebedürftigen, zumindest nicht in einer stationären Einrichtung. Auch wenn es seit 2017 deutlich einfacher ist, den Pflegebedürftigen oder seinen Vertreter zu einem Höherstufungsantrag zu bewegen. Bis zur Reform bedeutete eine Höherstufung immer auch einen höheren Zuzahlungsbeitrag für den Heimbewohner. Das hatte oft Diskussionen zur Folge.

Da die Zuzahlung seit 2017 in Pflegegrad 2 bis 5 durch den Einrichtungseinheitlichen Eigenanteil (EEE) gleich hoch ist, sollte heutzutage kein Heimbewohner mehr ein Problem mit der Höherstufung haben. Er zahlt in jedem Grad denselben EEE für die Pflege hinzu. Dennoch hat die Einrichtung ein eigenes Interesse an einem höheren Pflegegrad. Denn im Gegensatz zum Bewohner wächst für die Einrichtung das Heimentgelt pro Pflegegrad immer weiter an, da der Zuschuss der Pflegekasse sich mit jedem Pflegegrad erhöht. Das Heimentgelt setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen (vgl. Tabelle 6).

Tabelle 6: Zusammensetzung des Heimentgelts

Aber auch ambulant kann das Interesse des Pflegedienstes ein anderes sein als das des Pflegebedürftigen. Beispielsweise wenn in der Begutachtung festgestellt wird, dass der Pflegebedürftige im Bereich Kognition und Verhalten eingeschränkt ist und somit Punkte laut NBI erhält. Wenn der Pflegebedürftige dann aber Auto fahren möchte oder von der Krankenkasse ein Elektrofahrzeug für die Fortbewegung außer Haus bewilligt haben möchte, kann das verweigert werden – mit Verweis auf die festgestellten Einschränkungen. Weil das einigen Klienten durchaus bewusst ist, aber teils auch aus Scham, möchten sie keine Eingradung und die damit einhergehende Feststellung ihrer Einschränkungen.

Zurück zum Prozess: Ist der Antrag gestellt, wird der Antragsteller ggf. Post von MDK oder seiner Pflegekasse erhalten. In diesem Zusammenhang wird manchmal darum gebeten, ein bestimmtes Formular im Vorfeld der Begutachtung auszufüllen. Der Antragsteller hat natürlich eine Mitwirkungspflicht (§ 31 Abs. 3 SGB XI). Wenn der Antragsteller aber das Formular nicht ausfüllen kann, was häufig der Fall sein wird, darf dieser Vordruck auch leer bleiben.

Profi-Tipp für Pflegegrad-Manager

Es gibt tatsächlich MDK’en, die auch schon mal mit subtilen Drohungen arbeiten. So erhielt eine stationäre Pflegeeinrichtung in Baden-Württemberg ein Schreiben, in dem eine Frau Dr. R. (»Teamleiterin DLB-Pflege MDK Mannheim«) über Folgendes informierte: »… für oben genannte(n) Versicherte(n) wurde uns im Rahmen der Pflegeversicherung über die Pflegekasse ein Neu-/Höherstufungsantrag vorgelegt.

Um über den vorliegenden Antrag gemäß SGB XI entscheiden zu können, bitten wir Sie, uns den beiliegenden Selbstauskunftsbogen ausgefüllt und unterschrieben zurückzuschicken.

Wir möchten Sie bitten, uns das vorgenannten Formular per Fax … innerhalb der nächsten 7 Tage zukommen zu lassen, da wir ansonsten den Auftrag unbearbeitet an die Pflegekasse zurückgeben.«

Ein solches Schreiben beeindruckt nur Menschen, die sich nicht hinreichend auskennen. Ein kundiger Pflegegrad-Manager wird die Fehler sofort entdecken:

Der Hinweis der Dame vom MDK »Wir möchten Sie darum bitten, uns das vorgenannte Formular per Fax… innerhalb der nächsten 7 Tagen zukommen zu lassen, da wir ansonsten den Auftrag unbearbeitet an die Pflegekassen zurückgeben«, ist

1. unverschämt;

2. fehlerhaft, denn die die Einrichtung muss gar nichts ausfüllen, höchstens der Antragsteller;

3. schlicht und ergreifend nicht statthaft. Der MDK kann keinen Antrag unbearbeitet zurückschicken, nur weil eine Pflegeeinrichtung einen Vordruck nicht ausfüllt, die dazu überhaupt nicht verpflichtet ist. Selbst wenn das gleiche Schreiben an einen Antragsteller ginge, und der das Formular nicht ausfüllen würde oder kann, würde gar nichts passieren, schon gar nicht, dass der Antrag unbearbeitet bliebe.

In einem P.S. verwies Frau Dr. R. vom MDK zudem noch auf einen Gesetzestext, wohl um ihrem Schreiben mehr Bedeutung und Gewicht zu verleihen. Die Passage »Unsere Datenforderung stützt sich auf § 18 Abs. 5 SGB XI. Hieraus ergibt sich die Verpflichtung der Leistungserbringer, die zur Begutachtung erforderliche Daten auf Anforderung des Medizinischen Dienstes unmittelbar an diese zu übermitteln« ist
1. frech, 2. falsch und 3. fehlerhaft zitiert.

»Erforderliche Daten zur Begutachtung« sind z. B. Pflegedokumentationen, aber keine Vordrucke der Pflegekasse oder des MDK.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842689282
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Mai)
Schlagworte
Pflegemanagement & -planung Pflege Medizin Lernmaterialien Altenpflege Pflegeplanung Wörterbücher & Nachschlagewerke

Autor

  • Jutta König (Autor:in)

Jutta König ist Wirtschaftsdiplom-Betriebswirtin Gesundheit (VWA) und Sachverständige bei verschiedenen Sozialgerichten im Bundesgebiet. Sie unterrichtet Pflegesachverständige und Pflegeberater, arbeitet als Unternehmensberaterin und Dozentin in den Bereichen SGB XI, SGB V, Heim- und Betreuungsrecht. Sie ist examinierte Altenpflegerin, Pflegedienst- und Heimleitung.
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Titel: Pflegegrad-Management