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Perlen im Getriebe – Hochsensibel im Beruf

Stärken gezielt einsetzen

von Cordula Roemer (Autor:in)
192 Seiten

Zusammenfassung

So bereichern Sie Ihr Berufsleben auf Ihre spezielle Weise: Hochsensible Menschen sind oftmals gewissenhaft, verantwortungsbewusst und auf die Bedürfnisse von anderen Menschen bedacht. Dieser Ratgeber begleitet hochsensible Menschen auf ihrem Weg, jenen Kompetenzen, über die sie Kraft ihrer Veranlagung verfügen, zu vertrauen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Soft Skills, mit denen sie ihr Berufsleben auf ihre spezielle Weise bereichern können. Sie sind damit wertvolle Perlen, und nicht Sand, im Getriebe des beruflichen Alltags, die durch besondere Gaben und Wesenszüge das Klima oder die Qualität der Arbeit prägen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Der Tag beginnt

Der Wecker klingelt. Nein, er klingelt nicht. Er krakeelt, er schreit und bohrt sich schließlich mit aller Macht mit seinem elektronischen Gedudel gnadenlos in mein noch im Tiefschlaf befindliches Hirn. Schlaftrunken taste ich nach dem Knopf, um diese frühmorgendliche Tortur zu beenden. Auf dem Weg zur Erlösung landet meine Hand im Wasserglas, und die daneben liegenden Kopfschmerztabletten purzeln auf den Fußboden. Endlich Stille! Ich atme durch, genieße die Ruhe, durchsetzt von tiefen Atemzügen neben mir.

5:55 Uhr. Fünf Minuten noch. Die gebe ich mir immer, sozusagen als Bonus für dieses viel zu frühe Aufstehen. Damit habe ich das Gefühl, ich hätte ja noch Zeit. Zeit, mein System in Gang zu bringen und mich innerlich auf den Tag vorzubereiten. Sören neben mir kann noch liegen bleiben. Er ist Lehrer und muss heute erst zur dritten Stunde in die Schule. Glückspilz! Ich schließe die Augen, atme ruhig und tief und … Jäh wird mir klar, dass dieser Wecker, ein Geschenk meiner Schwiegereltern, ein Folterinstrument ist. Und er hat genau jetzt ausgedient! Aus! Vorbei! Seine Zeit ist abgelaufen! Wieso habe ich mich eigentlich von diesem Monstrum an so vielen Morgen foltern lassen? Mir wird bewusst, dass ich doch selbst entscheiden kann, wie und von wem – oder besser gesagt wovon – ich geweckt werden möchte. Bei diesen Gedanken schiele ich das Ding aus den Augenwinkeln an, gerade so, als ob ich mich auf einen weiteren Angriff von ihm wappnen müsste. Aber es schweigt. Besser so.

Die fünf Minuten sind um und ich schäle mich missmutig aus dem warmen Bett. Im Zimmer ist es kalt. Sören schläft gerne bei offenem Fenster. „Ist gesünder!“, sagt er immer, obwohl die Nächte gerade sehr frostig sind. Auf dem Weg ins Bad greife ich mir den Wecker, dieses Prunkstück in quietschgelb, poppig pink und froschgrün. Was haben sich seine Eltern nur dabei gedacht? Nur weil wir keine Kinder haben, brauchen wir doch als Ersatz kein Kinderspielzeug! Ich lasse den Wecker ohne Sentimentalitäten im Mülleimer des Badezimmers verschwinden. Vorbei ist vorbei!

Während die Dusche warmläuft, sinniere ich auf der Toilette weiter über eine Weckalternative. Sanft sollte sie sein. Meine Lust aufs Aufstehen wecken. Mich liebevoll und genüsslich aus dem Schlaf kitzeln. Mein empfindliches Gehör nicht schon am frühen Morgen in den totalen Reizgau katapultieren. Ich beschließe, noch gleich heute nach einem eierlegenden Wollmilchwecker zu suchen. Noch immer von Schlaf und der falschen Stunde zerknautscht steige ich in die Dusche, die zumindest mit ihrer wohligen Wärme für etwas Entspannung und eine leichten Verbesserung meiner Laune sorgt.

Wieder zurück im Schlafzimmer hebe ich die abgestürzten Kopfschmerztabletten auf und lege sie in die Schublade des Nachttischs. Es ärgert mich immer wieder, aber nach den stressigen Arbeitstagen in der Firma habe ich in letzter Zeit häufiger Kopfschmerzen. Sören meint, ich solle mich mal ordentlich durchchecken lassen, aber mir ist klar, dass es an dem ständig gestiegenen Druck in der Arbeit liegt. Die Speditionsfirma, bei der ich beschäftigt bin, hat im letzten Jahr stetig expandiert und mit ihr auch meine Arbeit. Für Werbung und weitere Fahrer reicht das Geld, nicht aber für eine weitere Sekretärin. Meine Laune sinkt bei diesen Gedanken prompt wieder, und mein Kopf beginnt zu schmerzen. Ich konzentriere mich auf meine Kleiderwahl: BH, Bluse – geblümt, gestreift, uni? –, Jeans – die graue oder besser die blaue? –, Pullover, nein besser den Blazer, heute steht eine Sitzung mit dem Chef an, Schaltuch und Schuhe. Ach herrje, welche Schuhe? Ich verschiebe die Wahl auf nach dem Frühstück.

In der Küche werfe ich die Kaffeemaschine an, peinlichst darauf achtend, dass die Türen zum Schlafzimmer und der Küche fest verschlossen sind. Sören ist immer sehr ungnädig, wenn er so früh durch mein Geklapper geweckt wird. Auch eine Art von Wecker, denke ich zynisch. Brot und Apfel aufgeschnitten, Butter und Aufschnitt großzügig verteilt. Eine Schnitte gibt es jetzt, die anderen beiden und den Apfel zur Frühstückspause um halb elf. Kauend schnell noch einen Schluck vom viel zu heißen Kaffee genommen, autsch!, alle Brote und die Apfelstückchen in der Dose in meiner Tasche verstaut, Handy gesucht, Mantel übergeworfen, Schlüssel gegriffen und die Wohnungstür leise geschlossen. Mist! Ich habe noch meine Hausschuhe an. Wieder zurück, die erstbesten Schuhe gegriffen, angezogen und wieder raus. Jetzt ist mir nicht vom Duschen warm.

Der Weg zur Arbeit

Ich haste die Treppen herunter und eile im Laufschritt zur Bahn. Sie kommt nur einmal in der Stunde. Wenn ich spät komme, ergattere ich keinen Sitzplatz mehr, aber wenn ich zu spät komme, bekomme ich ein ernstes Problem im Büro. Ich bin diejenige, die ab acht Uhr mit freundlich-professioneller Säuselstimme alle Kunden willkommen heißt und sämtliche Aufträge und Fragen mit der Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs beantwortet. Eigentlich mache ich das wirklich gerne, aber die Anspannung und der Druck der letzten Monate vergällt mir dies immer mehr.

Keuchend und trotz der Kälte mit kleinen Schweißperlen auf der Stirn versehen, komme ich auf dem Bahndamm an, als die letzten Fahrgäste einsteigen. Das bedeutet fünfunddreißig Minuten stehen. Ich ärgere mich über mich selbst und steige gottergeben in den übervollen Zug ein.

Im Büro

Allein die Zugfahrt hat mich schon geschafft. Zu eng, zu viele Menschen und diese Gerüche! Wie können Menschen bereits so früh am Morgen schon so schlecht riechen? Mit flacher Atmung quetsche ich mich den Großteil der Fahrt an die Waggontür, um bei jedem Halt befreit nach Frischluft zu schnappen. Aber noch schlimmer sind die Menschen, die ihre natürlichen Ausdünstungen mit künstlichen Düften übertünchen, meist so stark, dass sich selbst noch Minuten nach ihrem Aussteigen der Geruch ihres Parfüms oder Rasierwassers in meine Nase heftet.

Ich suche den Büroschlüssel. Ich suche ihn jeden Arbeitstag, jedes Mal mit der Angst im Nacken, ich könnte ihn unbemerkt verloren haben. Allerdings habe ich noch nie in meinem Leben einen Schlüssel verloren. Es ist mein Perfektionismus, der mich da täglich foppt. Das Bürogebäude ist mit einem Sicherheitsschließsystem ausgestattet, und diese Verantwortung trage ich ständig als schwere Last mit mir. Meine Tasche hat so ihre Nischen, ich nenne sie liebevoll meine Schatzeckchen. Immer wenn ich es nicht brauche, finde ich Interessantes oder lang Verschollenes wieder, nur wenn ich suche, finde ich nichts.

Endlich entdecke ich den Schlüssel schön ordentlich in der inneren Seitentasche, um beim Öffnen der Tür festzustellen, dass sie bereits entriegelt ist. Schnaubend stopfe ich meinen Schlüssel wieder in die Tasche und betrete das Haus. Hinauf in den dritten Stock, den Gang mit den flackernden Neonröhren und dem muffigen Teppichboden entlang bis zur vorletzten Tür. Sie steht offen, ich trete ein.

Das Büro unserer Spedition ist eine Raumflucht. Raum an Raum, nur der erste und der letzte Raum sind keine Durchgangszimmer. Das eine Ende ist der Rechenstelle vorbehalten, das andere dem Chef. Ich sitze, ganz meiner Funktion entsprechend, in der Mitte, in dem Raum mit der Eingangstür, die so einladend offen steht. Warum steht sie um diese Zeit eigentlich offen?

Wie gewohnt lege ich die Tasche auf meinen Schreibtisch und hänge meinen Mantel an die Garderobe. Wer ist eigentlich schon hier? Wer hat die Tür aufgeschlossen? Ein kurzer Blick zum Schloss bestätigt mir, dass es wohl keine Einbrecher gewesen sind. Ich werde gleich nachsehen, aber zuerst höre ich den Anrufbeantworter ab, um zu sehen, ob es irgendwelche Notfälle gibt.

Aufgeschreckt durch das Geräusch der gequetschten Stimmen vom Band steckt plötzlich Frau Platzek, die Frau des Firmenleiters, den Kopf um die Ecke. „Guten Morgen, Frau S., ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt. Ich wollte nur schnell ein paar Sachen aus dem Büro holen, weil Wolfgang, Herr Platzek meine ich, leider erkrankt ist. Nur, dass Sie Bescheid wissen. Ach ja, und die Sitzung heute Nachmittag ist auf kommenden Montag verschoben.“

Ich danke ihr und während ich mich, nun etwas entspannter, für mein Tagwerk an meinem Arbeitsplatz einrichte, überkommt mich ein Anflug von Unmut und Langeweile: immer dieselben Fragen, immer dieselben Beanstandungen, immer dieselben Abläufe. Und gleichzeitig diese permanente Unruhe im Büro. Ich habe keinen abgeschlossenen Raum, in dem ich mal für einige Stunden, ach, was sage ich, für ein paar Minuten konzentriert meinen Aufgaben nachgehen kann. Im Gegenteil, ich bin die ständige Ansprechperson in der Firma. „Sie haben eine Frage? Gehen Sie mal rüber zu Frau S. Die kann Ihnen sicher weiterhelfen!“ Nicht nur die Kopfschmerzen mehren sich in den letzten Monaten, nein, auch die Unmutsanfälle. Aber glücklicherweise gehen sie meist deutlich schneller als die Kopfschmerzen wieder vorbei.

Während des Arbeitstages gibt es nicht viel Zeit zum Grübeln. Die ersten Fahrer trudeln ein, wir regeln ihre Aufträge, Papiere und Routen. Nun geht es Schlag auf Schlag: Telefonate, Mails und Briefe beantworten, Fahrer betreuen, Kaffee kochen, Kostenvoranschläge erstellen und übersetzen. Es ist unruhig im Zimmer, da immer entweder jemand hereinkommt oder herausgeht, das Telefon klingelt oder sich Kollegen lautstark in den Nachbarräumen unterhalten. Und die Mittagspause entfällt inzwischen auch meistens.

Um 17 Uhr ist Feierabend. Da bin ich pünktlich und konsequent. Nach 16:55 Uhr nehme ich kein Telefonat mehr entgegen. Das habe ich inzwischen gelernt, und die Kollegen haben sich zähneknirschend daran gewöhnt. Ich schalte den Rechner aus, packe meine Tasche, ziehe meinen Mantel an und schließe die Tür ab. Heute bin ich die Letzte.

Der Wecker

Unten auf der Straße fällt mir wieder der Wecker ein. Ach nö, ich will nicht. Ich bin so erschöpft, habe gar nicht die Kraft und den Nerv, mich jetzt durch ein Kaufhaus mit all seinen Gerüchen, Geräuschen, Lichtern und Menschen zu quälen. Ich überlege, den Weckerkauf aufzuschieben, als mir einfällt, dass ich den alten, das gute Stück, ja bereits in den Müll befördert habe. Und Sören ist schnell mit dem Ausleeren der Eimer. Das Handy als Wecker kommt auch nicht in Frage. Die Strahlung macht mir zunehmend zu schaffen, daher schalte ich es nachts aus und verbanne es – sicherheitshalber – ganz aus dem Schlafzimmer. Kein Funken Strahlung soll meinen kostbaren Schlaf stören. Schweren Herzens biege ich also in Richtung Shoppingcenter ab.

Gewohnter Trubel begrüßt mich in den Hallen des Konsums. Ich überlege, wo ich am ehesten einen Wecker meiner Wahl bekommen könnte, und entscheide mich für das zentrale Kaufhaus mit seinen vielen Abteilungen. „Uhren und Schmuck“ – ich folge den Wegweisern, immer wieder von kleinen Remplern aus meinem Rhythmus gebracht und von den starken Gerüchen der Parfüm- und Süßwarenabteilungen überschwemmt. Bei den Uhren angekommen halte ich Ausschau nach interessanten Objekten. Ich verschaffe mir stets gern selbst einen Eindruck, um dann in den Verkaufsgesprächen mitreden zu können und nicht nur: „Aha! Sehr schön! Hm! Was kostet das?“ zu sagen.

In einer Vitrine stehen die Wecker, von klein bis groß, von altmodisch bis modern, von rund bis quadratisch. Ich sammle mich und meine Wünsche innerlich, um ein möglichst zügiges und effektives Gespräch mit der noch beschäftigten Verkäuferin zu führen. Ich warte und schaue mir derweil die Armbanduhren an. Ich warte und bestaune jetzt die bunte Vielfalt der ausgestellten Kinderuhren. Sie ähneln unserem verflossenen Weckerungetüm sehr. Ich warte weiter. Mein Kopf beginnt zu brummen, meine Beine und meine Atmung werden schwer und ich bekomme Hunger. Ich warte noch immer. Meine Stimmung wird flattrig, ich überlege zu gehen. Aber ohne Wecker? So früh werde ich morgens niemals von alleine wach. „Guten Tag, die Dame. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Die frische Stimme der jungen Verkäuferin rüttelt mich aus meinen trüben Gedanken und meiner Erschöpfung. „Ich brauche einen Wecker!“ herrsche ich sie ungewollt unhöflich an. Was doch so ein bisschen Warten und Hungrigsein mit einem Menschen macht! Ich räuspere mich und ergänze: „Bitte, ich suche einen Wecker, der einen möglichst sanft weckt.“ – „An was haben Sie da gedacht? Vielleicht einen Radiowecker oder ein klassisches Model? Radiowecker hätten wir in der Hi-Fi-Abteilung.“ Verwirrt starre ich die Verkäuferin an, unschlüssig, was ich will. „Äh, ja, also einen Wecker, der nicht so einen Lärm macht. Haben Sie so etwas?“

Die junge Frau dreht sich zur Vitrine um, holt ihren Schlüssel aus der Hosentasche, schließt den Glasschrank auf und greift sich einige Wecker, die sie vor mir aufbaut. Sie erläutert mir die Unterschiede, die mir nichts sagen, wenn ich sie nicht hören kann. Ich frage, ob sie die Wecker auch anstellen könnte. Mit säuerlichem Gesicht meint sie, sie müsse dazu aus einer Nachbarabteilung erst Batterien holen, und verschwindet, aber erst, nachdem sie die Wecker wieder fein säuberlich in die Vitrine zurückgelegt hat. Ich warte wieder.

Die Verkäuferin kommt zurück, schließt die Vitrine auf, holt die Wecker wieder hervor und bestückt den ersten mit einer Batterie. Der Wecker piepst selbst im trubeligen Lärm des Kaufhauses ohrenbetäubend. Entschuldigend schüttle ich den Kopf. Der nächste Wecker wird bestückt, nein, der nächste, nein, der nächste. „Warten Sie bitte. Können Sie den noch mal anstellen?“ Eine leise Melodie erklingt, ähnlich dem Klang einer kleinen Spieluhr. Bei seinem Klang beginne ich in Sekundenschnelle zu träumen und bekomme nicht mit, dass die Verkäuferin schon dabei ist, die Batterie wieder herauszunehmen. „Nein, nein, warten Sie. Können Sie diesen Wecker bitte noch einmal anstellen?“ Wieder erklingt die zarte Melodie, wieder bin ich ganz fasziniert. Und sage schnell: „Den nehme ich!“ Die Batterie lassen wir gleich drin.

Endlich begebe ich mich, müde, hungrig, aber zufrieden, mit meinem kleinen Schatz in der Tasche zur Bahn.

Der Abend

Der Abend ist recht kurz. Sören hat noch einen Elternabend zu bestreiten und ist danach mit seinem besten Kumpel zum Dartspielen verabredet. Runterkommen nennt er das. Ich komme auf dem Sofa runter, eine Tüte Chips neben mir, einen schlechten Film vor mir und viel Erschöpfung in mir. Diese sorgt auch für eine angenehme Ruhe während des Films. Als mich der Werbeblock nach dem Film weckt, schalte ich den Fernseher aus, wieder frustriert, dass ich mich nicht zu etwas anderem und wirklich Schönem aufraffen konnte.

Ich liege bereits im Bett, als mir der neue Wecker einfällt. Also ächzend wieder raus, durch den Flur zur Tasche geschlurft, das Ding von seiner Hülle befreit und mich damit wieder ins Bett gekuschelt. Meine Befürchtung wird nicht bestätigt, ich muss keinen Fremdsprachenkurs zum Lesen der sehr kurzen Gebrauchsanweisung belegen. Ein paar simple Bilder geleiten mich zu meinem zukünftigen Weckgenuss. Die Nacht sinkt leise und schnell auf mich hernieder. Der spät heimkehrende Sören stört meinen Traum in schwarz-weiß nur am Rande.

Der nächste Morgen

Ich weiß nicht, warum, aber ich öffne die Augen. Draußen ist es noch dunkel, aber das ist es zu dieser unchristlichen Stunde ja immer in dieser Jahreszeit. Und dann vernehme ich sie: die leise, sanfte Melodie. Ach ja, der neue Wecker. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und betrachte ihn, als wäre er ein sachte herniedergeschwebtes Engelein. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich lasse ihn weiter tönen, schließe meine Augen für meine obligatorischen fünf Minuten und atme beim Klang meines neuen Weckers tief durch. Für Sören wäre dieser Wecker nichts.

Hochsensible Stärken gezielt entwickeln

Was empfinden Sie, wenn Sie lesen, wie es Jana S. täglich ergeht? Fühlen Sie sich ähnlich? Hadern auch Sie möglicherweise schon seit Längerem mit Ihrem Arbeitsplatz, Ihrem Beruf? Fühlen Sie sich ausgelaugt, gelangweilt oder einfach fehl am Platz? Empfinden Sie sich eher wie der sprichwörtliche Sand im Getriebe – störend statt akzeptiert und fähig? Viel schöner wäre es doch, stattdessen eine Perle im Getriebe zu sein: Eine Perle ist einzigartig, vielseitig – und wertvoll. Eigenschaften, die auf Sie zutreffen, wenn Sie in Ihrem Arbeitsumfeld Ihren Finger auf Schwachstellen in Abläufen, Strukturen oder Ergebnisse legen, durch besondere Gaben und Wesenszüge das Klima und die Qualität der Arbeit in besonderer Weise verbessern, weiterentwickeln und prägen!

In der Regel ist es vor allem ein bunter Strauß sozialer und persönlicher Kompetenzen, die das Betriebsklima und den professionellen Umgang miteinander wohlwollend gestalten – die sogenannten Soft Skills.

Soft Skills sind im Zusammenhang mit beruflichen Qualitäten seit vielen Jahren in aller Munde. Da soll die neue Mitarbeiterin über hervorragende Kommunikations- und Teamfähigkeiten sowie ein großes Organisationstalent verfügen, der neue Mitarbeiter zuverlässig und kritikfähig sein und ein hohes Maß an Eigeninitiative zeigen. Es scheint, dass die Soft Skills den fachlichen Kompetenzen, den sogenannten Hard Skills, langsam den Rang ablaufen. Unzählige Bücher und Webseiten klären über die Wichtigkeit und Erforderlichkeit dieser Kompetenzen auf und bieten vielfältige Wege an, sie zu erlernen, falls sie nicht im gewünschten Umfang zur Verfügung stehen sollten.

Soft Skills sind im Zusammenhang mit beruflichen Qualitäten seit vielen Jahren in aller Munde.

Vielleicht keimt in Ihnen der Gedanke oder gar die Sorge auf, wie viele und vor allem welche dieser wertvollen Kompetenzen Sie in sich vereinen und welche Folgen es für Sie haben könnte, sollten Sie über manche nicht oder nur begrenzt verfügen. Sorgen Sie sich nicht!

Dieses Buch begleitet Sie auf Ihrem Weg zur Entfaltung Ihres ureigenen bunten Straußes. Sie benötigen nicht zwingend weitere Soft Skills, es sei denn, Sie wünschen sich in Ihrem Leben weitere Kompetenzen. Gerade hochsensible Menschen vereinen in sich, quasi von Haus aus, eine interessante Vielzahl sozialer und persönlicher Kompetenzen, über die Normalsensible oft nicht in dem Umfang verfügen. Als Beispiele seien hier nur genannt: Weitblick und hohes Verantwortungsbewusstsein, Detailgenauigkeit und großes Harmonieempfinden, viel Kreativität oder eine hohe Empathiefähigkeit.

Für Sie als hochsensibler Mensch mag es von größerem Interesse sein herauszufinden, welches die Kompetenzen sind, die Ihnen bereits in die Wiege gelegt wurden, und diese Gaben dort, wo sie zur Geltung kommen und Früchte tragen können, erblühen zu lassen.

Ein kleines Beispiel mag dies verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, Sie sind Verkäuferin in einem größeren Kaufhaus. Sie lieben es, die Ware der Kundschaft liebevoll einzupacken und mit netten kleinen Verpackungstricks zu verschönern. Die meisten Ihrer Kunden schätzen dies sehr an Ihnen, aber aus der Chefetage bekommen Sie einen Rüffel, da Sie durch diesen Zusatzaufwand mehr Zeit und Material benötigen. Ihnen wird untersagt, weiterhin so viel Einsatz dafür zu bringen. Anfangs sind Sie frustriert, dann ärgern Sie sich, und selbst wenn Sie es irgendwann als gegeben zu Seite schieben, beginnen Sie allmählich still und leise zu leiden, ganz unbemerkt und vielleicht auch ganz ohne zu wissen, dass die Ursache Ihres Kummers diese berufliche Einschränkung ist. Sie fühlen sich zunehmend unwohl an Ihrem Arbeitsplatz, der Wunsch nach einer anderen Arbeitsstelle entsteht, und Sie beginnen zu suchen.

Sie werden in einem kleinen Geschäft für Geschenkartikel fündig. Hier freut sich nicht nur die Kundschaft über Ihre kunstfertigen Verpackungen, sondern es gehört nun auch zu Ihren Aufgaben, die Verkaufstische und -regale zu arrangieren. Sie erfreuen sich wieder an Ihrem Beruf.

Es genügt völlig, Ihre vorhandenen sozialen und persönlichen Fähigkeiten einzusetzen.

Sie sehen, Sie brauchen nicht die sprichwörtliche eierlegende Wollmilchsau in Sachen Soft Skills zu werden. Es genügt völlig, Ihre bereits vorhandenen sozialen und persönlichen Fähigkeiten dort einzusetzen, wo sie für eine optimale Gestaltung Ihrer Arbeit sorgen können.

Allerdings ist dies zuweilen leichter gesagt als getan. Hochsensible Menschen kämpfen häufig bereits von klein auf damit, von ihrer Umwelt nicht so gesehen zu werden, wie sie sind. Die Folgen sind mangelndes Selbstwertempfinden und verdrängte Talente. Wenn Sie oft genug zu hören bekamen, Sie sollen nicht immer so empfindlich sein und das, was Sie alles sehen, hören, riechen oder fühlen, könne ja gar nicht stimmen, dann werden Sie als Kind Ihre Empfindungen und Fähigkeiten für sich behalten und versteckt haben.

Nun ist es an der Zeit, diese wieder ins Licht zu bringen. Dieses Buch begleitet Sie auf Ihrem Weg, denjenigen Kompetenzen, über die Sie kraft Ihrer Disposition der Hochsensibilität verfügen, wieder zu vertrauen und sie für Ihr berufliches Wirken einzusetzen. Entwickeln Sie ein Gefühl für Ihren eigenen hochsensiblen Soft-Skills-Strauß, mit dem Sie Ihr Berufsleben und Ihr Umfeld auf Ihre spezielle Weise bereichern.

Berufliche Probleme aktiv lösen

Es kann viele Gründe geben, warum Sie sich beruflich nicht wohlfühlen, große und kleine, geringfügige oder aber auch tiefgreifende Gründe. Aber ganz gleich, wie umfassend Ihre Probleme sind: Damit Sie zufriedenstellende Lösungen für Ihr berufliches Problem finden und nutzen können, braucht es zu allererst – Sie!

Sie sind der Mittelpunkt Ihrer Realität! Das heißt: Alles, was Sie denken oder tun, hat eine Auswirkung in Ihrem Leben. Ob Sie über jemanden schlecht denken, jemandem am Straßenrand behilflich sind, Ihre Aufgaben in der Firma schludrig oder mit Akribie erfüllen – alles hat eine Auswirkung auf Ihr eigenes Leben. Manche Folgen können Sie selbst nachvollziehen, wie beispielsweise den Ärger im Betrieb als Folge einer nachlässig erledigten Aufgabe. Aber viele andere Dinge entziehen sich häufig unserem Erkenntnisvermögen, und so neigen wir Menschen oft dazu, davon auszugehen, unser Denken und Handeln hätte keine Auswirkung auf uns selbst. Dieser Gedanke ist nicht in unserem Alltagsbewusstsein verankert, vor allem nicht, wann und wie wir selbst für unsere Realität sorgen können. Das lässt viel Spielraum für Unsicherheiten, Missverständnisse oder Vermutungen.

An einem Beispiel aus meiner Seminartätigkeit mit Erwachsenen möchte ich Ihnen das Phänomen der eigenen Realität gerne verdeutlichen:

Die Aufgabe bestand darin, eine Minute lang aus dem Fenster zu schauen und anschließend niederzuschreiben, was jede und jeder gesehen hatte. Das Fenster ging zu einer Geschäftsstraße hinaus, daher gab es eine Menge zu beobachten. Nachdem alle ihre Wahrnehmungen aufgeschrieben hatten, wurden sie vorgelesen und an der Tafel notiert. Gleiche Wahrnehmungen wurden mit Zählstrichen versehen. Das Ergebnis war verblüffend: Selten wurde dieselbe Sache oder Situation mehr als fünf oder sechs Mal erwähnt, obwohl die Gruppe etwa zwanzig und mehr Teilnehmer umfasste. Selbst markante Gegenstände wie blinkende Werbung oder auffällige Situationen wurden nur von wenigen in gleicher Weise beobachtet. Immer waren es unterschiedliche Details oder völlig andere Schwerpunkte in der Gesamtbetrachtung. So gab es Teilnehmer, die ihren Fokus auf die Beobachtung der vorbeigehenden Menschen legten, die Wahrnehmung anderer war wesentlich stärker auf Gegenstände wie Fenster, Dächer, Straßenbeschaffenheit oder Autos fokussiert. Wiederum andere beobachteten vorrangig zwischenmenschliche Interaktionen.

Was sagt uns dieses Ergebnis? Jeder Mensch hat einen völlig eigenen Blick auf die Dinge. Der individuelle Blick ist geprägt von den eigenen Erfahrungen, ist gefüllt mit den eigenen Bedürfnissen und richtet sich an den eigenen Motivationen aus.

Wenn Sie sich nun vorstellen, Sie müssten sich mit den anderen Seminarteilnehmern über die beobachteten Dinge und Situationen verständigen, könnte es leicht zu Missverständnissen und Komplikationen kommen. Der eine hat nicht gesehen, was Sie beobachteten, soll aber seine Meinung dazu abgeben. Oder die Kollegin hat die wahrgenommene Situation völlig anders als Sie bewertet. Dies macht deutlich, warum es häufig so schwierig ist, anderen Menschen den eigenen Standpunkt oder Blickwinkel korrekt zu vermitteln. Das bedeutet, was Sie als Tatsache sehen und empfinden, mag sich für Ihre Kollegen völlig anders darstellen.

Ist Ihre Wahrnehmung nun falsch? Mitnichten! Es ist Ihre Wahrnehmung der Dinge, und als solche sollten Sie sie ernst nehmen. Sie sehen die Welt, wie Sie sie sehen, andere Menschen haben ein anderes Bild von den Gegebenheiten.

Wenn sich also in Ihrer Realität ein Hindernis auftut, ist es sinnvoll, genau hinzuschauen, was genau das Problem ist, worin die mögliche Hilfe anderer bestehen könnte und welchen Teil nur Sie letztlich ändern können oder sollten, um ein für Sie befriedigendes Ergebnis zu erhalten. Würden Sie zu viel an Einflussnahme abgeben, könnte es passieren, dass die andere Person ein anderes Problem als das Ihre behebt oder Ihr Problem gar verschlimmert. Häufig verhalten wir uns im Alltag aber genau so. Ein Beispiel aus meinem Berufsleben:

Nehmen Sie Ihre eigene Wahrnehmung ernst.

Ich neigte früher dazu, krisenhafte Situationen zu lange auszuhalten. Es könnte sich ja bald etwas daran ändern, oder vielleicht lag in dieser Krise für mich eine spezielle Lernaufgabe … Häufig wurden solche Situationen letztlich dann durch die andere Seite verändert, indem beispielsweise die betreuten Klienten keine Lust mehr auf eine Zusammenarbeit mit mir hatten. Ich gab meine Entscheidung, das Problem selbst zu lösen, und somit die Gestaltung meiner eigenen Realität, aus meinen Händen und überließ sie anderen.

Was hat nun dieser individuelle Blickwinkel mit Ihren Soft Skills zu tun? Ihre Soft Skills helfen Ihnen maßgeblich dabei, Ihr Leben so zu gestalten, wie es Ihnen vorschwebt – Herausforderungen inbegriffen. Je nachdem, welche Kompetenzen Sie nutzen und ob Ihnen Ihre eigenen Fähigkeiten bewusst zur Verfügung stehen, können Sie Ihre Lebens- und somit auch Ihre Arbeitsbedingung möglichst passgenau für sich selbst gestalten. Warten Sie daher nicht darauf, dass andere Ihr Leben in ihre Hand nehmen. Nutzen Sie Ihre Gaben, denn sie sind maßgeschneidert für Ihr hochsensibles Wesen und Leben!

Lernen Sie anhand kleinerer und größerer Unstimmigkeiten in Ihrem Beruf zu erkennen, was für Sie nicht mehr stimmt und was Sie stattdessen brauchen. Da letztlich kein anderer Mensch die für Sie notwendige Veränderung erwirken kann, liegt, genau betrachtet, die Verantwortung bei Ihnen, Ihre Lösung selbst zu entwickeln. Wenn es also (wieder) gut werden soll, tun Sie es selbst und tun Sie es auf Ihre Weise!

Aber was und wie ist Ihre Weise? Und welchen Nutzen hat es, das eigene Wesen dabei so herauszustellen und nicht einfach in der Masse mitzuschwimmen? Diese Frage stellen sich viele Menschen im Wandelprozess, so auch Hochsensible, wenn sie sich ihrer Veranlagung bewusst werden und sie aktiv leben möchten.

Nun beginnt der Weg der (Selbst-)Entdeckung und (Selbst-)Entfaltung: Was kann ich gut? Woran habe ich Spaß? Was wollte ich schon immer mal tun bzw. was ist mir wichtig, zu tun? Was geht für mich überhaupt nicht mehr? Mit diesem Buch möchte ich Sie auf Ihrem Weg begleiten, die dafür hilfreichen und in Ihnen angelegten Soft Skills zu entdecken und zu nutzen.

Innere Blockaden und Zweifel überwinden

Der Wunsch nach beruflicher Veränderung ist häufig der Ruf nach innerem Wachstum, nach Reifung der eigenen Persönlichkeit. Zuweilen ist dieses Sehnen noch nicht bewusst, aber das Unbewusste lenkt uns zu den Situationen oder Menschen, die uns fördern oder guttun. Aber da das in diesem frühen Stadium meist schwer zu erkennen ist, werden die unangenehmen Situationen vorerst als ein Problem verstanden, das es zu beseitigen gilt. So mag ein neuer unangenehmer Vorgesetzter im Grunde vielleicht die Einladung dazu sein, den Arbeitsplatz zu wechseln. Oder dafür zu sorgen, dass Sie sich zukünftig besser abgrenzen und für Ihre Bedürfnisse einstehen. Herauszufinden, worin genau die Herausforderung einer schwierigen Situation liegt, ist manchmal ein fast kriminalistisches Unterfangen – aber mit einer extrem hohen Aufklärungsrate! Und haben Sie die Lösung noch nicht gefunden, wird Ihnen das Leben weitere Hinweise schicken.

Mit diesem Buch lernen Sie die hilfreichen und in Ihnen angelegten Soft Skills zu entdecken und zu nutzen.

Nun kann es sein, dass unbewusste Überzeugungen oder Zweifel die Umsetzung von Wünschen oder Zielen verhindern oder den Wünschen sogar zuwiderlaufen. Meist handelt es sich hierbei um Überzeugungen – auch Glaubenssätze genannt –, die in den ersten Jahren unseres Lebens entstanden sind. Da wir nur etwa fünf Prozent unserer Überzeugungen bewusst wahrnehmen, können Sie sich sicherlich vorstellen, welch ungeheure Kraft und Auswirkung die unbewussten 95 Prozent auf uns haben. Hier sind in der Regel die verinnerlichten Haltungen und Verletzungen beheimatet, die wir in Kindheitstagen erfahren haben. Sie können uns auch heute noch in unserem Erwachsenenleben blockieren. Auch diese Glaubenssätze werden wir uns im Lauf des Buches ansehen und in Frage stellen.

Um Ihr Berufsleben zukünftig erfüllt zu gestalten, ist es sinnvoll, nicht nur die äußere Welt zu betrachten und sie Ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten anzupassen, sondern auch Ihr Innenleben zu beleuchten und mögliche Verletzungen auszumachen und sie zu „verarzten“, damit sie Sie nicht weiter an Ihrem Wachstum behindern. Dabei hilft Ihnen dieses Buch. Entfalten Sie Ihre Talente und Fähigkeiten, werden Sie zur hochsensiblen Perle im Getriebe!

Finden Sie heraus, ob Sie hochsensibel sind

Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand ist Hochsensibilität die „Veranlagung zu einem reizoffeneren sensorischen System“. Das heißt, über alle Sinneskanäle wird mehr aufgenommen und in Hirn und Körper intensiver verarbeitet als bei Normalsensiblen.

Das Phänomen betrifft Frauen und Männer gleichermaßen, tritt in allen Kulturen auf und ist weder eine Krankheit noch eine Störung. Nicht bei jedem Menschen sind sämtliche Sinneskanäle gleich stark betroffen, aber meist ist eine besondere Empfindsamkeit in zwei, drei Bereichen festzustellen. Hochsensibilität als solche führt gar nicht zwingend zu Problemen, es ist vielmehr die unpassende, zu „reiz-volle“ Umgebung und die Tatsache, dass die spezifischen Bedürfnisse, die eine Hochsensibilität mit sich bringt, nicht entsprechend berücksichtigt werden (können).

Möglicherweise wissen Sie bereits, dass Sie zur Gruppe der hochsensiblen Menschen gehören. Wenn Sie sich darüber unsicher sind, nutzen Sie den Fragebogen der amerikanischen Psychologin und Psychotherapeutin Elaine N. Aron, den Sie ganz leicht im Internet recherchieren können. Aron ist seit Beginn der 1990er-Jahre federführend in der Forschung rund um Hochsensibilität aktiv. Sie hat sowohl die heute geläufige Bezeichnung „hochsensible Person“ („highly sensitive person“), kurz HSP, geprägt, als auch in ihren Büchern zentrale Erkenntnisse über das Wesen, die Gaben und Schwierigkeiten feinfühliger Menschen beschrieben.

Sie finden den Fragebogen z. B. auf http://sensibel-beraten.de.

Inzwischen mehren sich auch in Europa die Forschungen und wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema, aber da Hochsensibilität ein hochkomplexer Aspekt der Persönlichkeit ist, sind auch in Zukunft weitere und umfassende Forschungen nötig. Ein medizinisch oder psychologisch anerkanntes Testverfahren zur Erkennung oder Messung einer möglichen Hochsensibilität gibt es derzeit noch nicht, aber es wird daran gearbeitet.

Arons Fragebogen gibt einen ersten Eindruck über das Phänomen und bietet Ihnen eine erste Orientierung darüber, ob Sie tatsächlich hochsensibel sein könnten.

Die Forschung zur Hochsensibilität ist noch vergleichsweise jung, daher werfen sich bei der Klärung, ob Sie selbst hochsensibel sind, meist viele Fragen auf. In der Kombination Fragebogen, Austausch mit Gleichartigen und einer fundierten HSP-Beratung können Sie Ihre Vermutung präzisieren und vertiefen. Gerade der Kontakt und die Auseinandersetzung mit anderen Hochsensiblen ist in der ersten Zeit sehr unterstützend. Durch andere Feinfühlige können Sie erfahren, wie diese ihre eigene Empfindsamkeit bewerten und damit umgehen und wie sie typische Schwierigkeiten meistern. So fühlen Sie sich mit Ihrem eigenen Wesen nicht mehr so verloren und alleine.

Da Sie vermutlich in einem Arbeitsfeld tätig sind, das nicht gezielt auf hochsensible Bedürfnisse und Arbeitsbedingungen ausgerichtet ist, ist das Ausfindigmachen anderer feinfühliger Menschen häufig ein schwieriges Unterfangen. Manche Hochsensible haben diesbezüglich eine gute Intuition und „erspüren“ Gleichartige. Ist Ihnen dies aber nicht möglich oder gibt es tatsächlich niemand anderen in Ihrem direkten Umfeld, ist es sinnvoll, gezielt Orte oder auch Internetforen aufzusuchen. Der positiv stärkende Effekt des Austauschs mit anderen Hochsensiblen ist für Ihre Psyche nicht zu unterschätzen!

Der positiv stärkende Effekt des Austauschs mit anderen Hochsensiblen ist für Ihre Psyche nicht zu unterschätzen!

Eine weitere wesentliche Hilfe für das Erkennen der eigenen Hochsensibilität sind Merkmale und Verhaltensweisen. Es gibt Wesenszüge, die typisch sind, beispielsweise eine hohe Detailwahrnehmung, leichte Ablenkbarkeit oder die Eigenart, erst zu beobachten und dann zu handeln. Elaine N. Aron nennt dies die primären Merkmale. Andere Verhaltensweisen entstehen durch die Blockierung oder Unterdrückung der hochsensiblen Veranlagung. Dazu können verstärkte Introversion, mangelndes Selbstbewusstsein oder eine erhöhte Neigung zu Ängsten gehören. Diese Charakteristika nennt Aron die sekundären Merkmale. Die Herausforderung bei der Entdeckung der eigenen Hochsensibilität ist die Unterscheidung der beiden Merkmalskategorien, um mögliche andere Ursachen für die eine oder andere Verhaltensweise zu erkennen.

Zu den Merkmalen für Hochsensibilität gehören auch spezifische Gaben wie die Neigung zu einem großen Verantwortungsbewusstsein, eine ausgeprägte Kreativität, starker Innovationsgeist oder ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn. Hier wird die Brücke zu den Soft Skills (siehe S. 53) deutlich. Im Laufe dieses Buches werde ich Ihnen derartige Parallelen immer wieder aufzeigen.

Typisch hochsensible Verhaltensweisen

Um Ihnen das Erkennen eigener typisch hochsensibler Verhaltensweisen und Bedürfnisse zu erleichtern, finden Sie im Folgenden zusätzlich zum Fragebogen von Elaine N. Aron einige zentrale Merkmale erläutert. Spüren Sie, von welchen Sie sich angesprochen fühlen, bei welchen Sie eine sogenannte „Resonanz“ wahrnehmen: Kribbelt es dabei in Ihrem Bauch, wird Ihnen plötzlich warm oder steigen in Ihnen Bilder auf? In der Regel sind dies ernstzunehmende Hinweise Ihres Inneren, dass Sie mit dem Thema zu tun haben könnten.

WIE SIE IHRE LAGE BESSER EINSCHÄTZEN KÖNNEN

Bevor Sie sich den Merkmalen der Hochsensibilität widmen, stellen Sie sich bitte folgende Fragen. Sie helfen Ihnen, Ihre Veranlagung selbst besser einschätzen zu können.

Welche Umstände oder Hinweise lassen mich eine Hochsensibilität bei mir vermuten?

In welchen Situationen scheine ich anders als andere zu reagieren oder zu empfinden?

Wie agiere und reagiere ich und was empfinde ich dann?

Höre ich oder habe ich früher öfter zu hören bekommen: „Stell dich nicht so an!“, „Du bist aber eine Mimose!“ oder „Was du so alles siehst/hörst/fühlst!“?

Was war meine Reaktion damals und welche Reaktionsmuster kenne ich auch heute noch?

Empfinde ich mich selbst als „anders“?

Wie stehe ich zu meinem möglichen Anderssein?

Sie haben eine erhöhte Wahrnehmungsfähigkeit

Dies ist das zentrale Merkmal der Hochsensibilität und eine spezielle Gabe. Sie nehmen deutlich feinere Details und Nuancen wahr als die meisten Ihrer Mitmenschen (Geräusche, Gerüche, Licht, Stimmungen, Schwingungen, Energien, Berührungen, Temperaturen). Sie haben zusätzlich ein gutes Gespür für „Kleinigkeiten“ (neuer Haarschnitt, fehlende Pflanze, geringfügige Variationen). Das alles kann sehr schön und bereichernd sein, aber in unseren von Informationen überfluten Zeiten wird diese Gabe durch Überreizung schnell zum Fluch.

Hilfe: Lernen Sie, vor allem alltägliche und unscheinbare Quellen der Überreizung ausfindig zu machen (Radio im Büro, das Surren von Glühbirnen oder Rechnern, zugiger Arbeitsplatz, übervolle Wände oder überquellende Regale, Unordnung u. v. m.).

Schauen Sie, was Sie selbst davon verändern können (Regal aufräumen, Glühbirne wechseln, Rechner umstellen oder abschirmen). Klären Sie, was möglicherweise von einer anderen Person verändert werden kann und wer Sie im konkreten Fall unterstützen könnte. Generell ist es hilfreich, den Umgang mit Überreizung genauer zu betrachten, da häufig die Tücke im Detail steckt – bzw. in der gewohnten Alltäglichkeit.

Sie lassen sich leicht ablenken und haben schneller Konzentrationsprobleme

Das hochsensible Nervensystem verfügt über eine geringere Hemmschwelle bei der Aufnahme von Informationen. Das heißt, weniger Dinge werden als unwichtig aussortiert. Die Folge ist: ein Rascheln, ein Zucken in der Mimik des Gegenübers, kleine Details am Rande des Blickfelds – das alles wird (wenn auch überwiegend unbewusst) wahrgenommen und lenkt im Zweifelsfall von der momentanen Tätigkeit ab.

Hilfe: Reduzieren Sie, wo immer Sie können, äußere und innere Reize. An meinem Arbeitsplatz blicke ich beispielsweise auf eine belebte Straße. Die permanente Bewegung vorbeifahrender Autos lenkt mich häufiger ab, so dass ich mich umsetze, um weiter konzentriert arbeiten zu können. Überlegen Sie, auf welche Weise Sie störende äußere Reize verringern können: Schreibtisch-Stellwände, spezielle Geräuschfilter-Ohrstöpsel, Ordnung schaffen, lieber Schränke als Regale aufstellen (glatte Flächen beruhigen das Auge).

Innere Reize können Sie beispielsweise durch Schlaf, Entspannung, Meditation, Lesen, Spazierengehen oder andere beruhigende Tätigkeiten reduzieren.

Sie sind schneller oder häufiger als andere erschöpft

Ihr Gehirn und Nervensystem läuft durch den ständigen Informationsdurchfluss dauerhaft auf Hochtouren. Das fordert seinen Tribut in Form von Müdigkeit, Konzentrationsproblemen, Erschöpfung oder Schwäche. Es ist die „Kehrseite“ Ihrer reichhaltigen und vielfältigen Wahrnehmungsfähigkeit.

Hilfe: Sorgen Sie für ausreichend Erholung. Das kann der Mittagsschlaf, der kleine Spaziergang im Stadtpark, das Lesen eines Buches, eine kurze Meditation, Sport oder das Gespräch mit Ihrem Tier sein. Auf welche Weise Sie am besten auftanken und Ihr neuronales System wieder entspannen, finden Sie heraus, indem Sie verschiedene Dinge ausprobieren. Sie werden spüren, was zu Ihnen passt. Was nicht wirklich Ihres ist, wird Sie auch nicht entspannen oder Ihnen Kraft geben!

Sorgen Sie darüber hinaus für einen Alltag, der Sie nicht ständig an die Grenze Ihrer Kapazitäten bringt, oder planen Sie mehr freie Zeit ein (einen Abend, ein Wochenende allein), wenn dies nicht zu vermeiden ist. Und lernen Sie, Nein zu sagen. Sie müssen nicht an jeder Unternehmung Ihrer Familie oder Freunde teilnehmen, und Sie müssen auch nicht die Person sein, die stets das Protokoll schreibt oder die unliebsamen Aufgaben übernimmt. Aber auch das will in unserer aktivitätsorientierten Gesellschaft gelernt und akzeptiert sein. Überprüfen Sie auch Ihren Arbeitsstil und -rhythmus. Wenn sie nicht Ihrem inneren Wesen entsprechen, kann das auf Dauer äußerst kräftezehrend sein.

Was nicht wirklich Ihres ist, wird Sie auch nicht entspannen oder Ihnen Kraft geben!

Sie neigen leicht zu (innerer) Unruhe und Hektik

Eine Reaktion Ihres hochsensiblen Systems kann Unruhe und Hektik sein. Das System läuft auf Hochtouren, ist überlastet und weiß nicht, was es zuerst „bearbeiten“ soll. Dies ist immer ein Zeichen dafür, dass Sie aus Ihrer eigenen Mitte, aus Ihrer Zentrierung geraten sind.

Hilfe: Halten Sie so bald wie möglich inne, sammeln Sie sich, atmen Sie durch und machen Sie wenn möglich zentrierende Körper- oder Meditationsübungen. Überprüfen Sie Ihr Arbeitspensum und reduzieren Sie es bzw. geben Sie Aufgaben ab, soweit dies möglich ist. Das Aufbürden von zu viel Verantwortung oder zu vielen Aufgaben ist ein typisches Problem Hochsensibler (später erfahren Sie mehr dazu).

 

image ZENTRIERUNGSÜBUNG

Ziehen Sie für diese Übung Ihre Schuhe aus. Stellen Sie sich aufrecht hin. Nehmen Sie sich dann einen Moment Zeit, um Ihren Atemfluss zu verfolgen und Ihren Körper in der Senkrechten zu spüren.

Beginnen Sie dann ganz sachte, mit dem ganzen Körper vor- und zurückzupendeln. Starten Sie mit sehr kleinen Bewegungen, die Sie ganz allmählich größer und größer werden lassen. Achten Sie darauf, dass bei Ihrem Vor- und Zurückschwingen immer beide Füße komplett am Boden bleiben und Sie auch nicht aus dem Gleichgewicht geraten.

Wenn Sie das Maximum der für Sie möglichen Vor- und Zurückbewegungen erreicht haben, lassen Sie das Pendeln wieder kleiner und kleiner werden, bis sich Ihr Körper auf Ihre individuell empfundene Mitte zwischen vorne und hinten eingependelt hat.

Verweilen Sie einen kurzen Moment in dieser Mitte, bevor Sie dann den gleichen Ablauf in einem seitlichen Pendeln zwischen rechts und links beginnen. Sie werden spüren, dass die Bewegungsspanne hier nicht so groß ist, das muss sie aber auch nicht sein. Wenn die Bewegung in der größten Spanne angelangt ist, lassen Sie sie wieder kleiner und kleiner werden, bis Sie in der Mitte zwischen links und rechts zum Stillstand kommen.

Nehmen Sie sich nun noch einen abschließenden Moment, um zu spüren, wie es sich anfühlt, wenn Ihr Körper sich genau in der Mitte zwischen vorne und hinten, zwischen links und rechts befindet und in der Senkrechten Himmel und Erde verbindet. Das ist Ihre momentane Mitte.

Sie sind sehr sensibel

Sie nehmen mehr Informationen „zwischen den Zeilen“ wahr. Menschen, denen diese Informationen nicht im gleichen Maße zugänglich sind, streiten Ihre Wahrnehmungen möglicherweise auch ab. Dies kann Sie in einen Konflikt mit der Person oder mit sich selbst bringen: „Stimmt meine Wahrnehmung?“ Vertrauen Sie Ihrer Wahrnehmung!

Hilfe: Pflegen Sie Kontakte mit anderen Hochsensiblen, um zu erfahren, ob andere Menschen Ihres Schlages die gleichen oder ähnliche Wahrnehmungen haben und wie sie damit umgehen. Seien Sie sich dieser Gabe bewusst und überprüfen Sie Ihre eigene Haltung dazu. Sollten Sie diese Fähigkeit negativ bewerten, beginnen Sie sie umzuwerten. Nehmen Sie einen Imagewandel vor! Denn alles, worin Sie sich schlecht bewerten, wird Sie auf Dauer belasten und Ihnen Ihre Energie rauben.

Alles, worin Sie sich schlecht bewerten, wird Sie auf Dauer belasten und Ihnen Ihre Energie rauben.

Sie mögen keine (plötzlichen) Veränderungen

Veränderungen bedeuten für das wahrnehmende und verarbeitende System Mehrarbeit. Neue Reize müssen aufgenommen, neue Informationen mit Vorwissen abgeglichen werden. „Neu“ kann hier schon die gleiche Situation, aber einen anderen Tag bedeuten. Durch das Vermeiden von Veränderungen schützt sich Ihr System unbewusst vor Reizüberflutung.

Hilfe: Dieser Schutz vor Überstimulation ist für Ihr hochsensibles System eine gesunde Reaktion. Allerdings kann er im Alltag allzu leicht Ihre Komfortzone und Ihren Aktionsradius einengen: Aus Sorge vor Überreizung werden herausfordernde und unangenehme Situationen zu oft vermieden. Langfristig ist diese Haltung kontra produktiv. Üben Sie daher in kleinen Situationen, emotional in Bewegung zu bleiben: Fahren Sie morgen einen anderen Weg zur Arbeit, verändern Sie einen Tagesablauf, gestalten Sie kleine Alltagsrituale hin und wieder um und kehren Sie dann wieder zu ihnen zurück. Spüren Sie den Unterschied zwischen vor und nach der Veränderung. Wahrscheinlich werden Sie sich nach der Veränderung etwas leichter fühlen und vor der nächsten Veränderung nicht mehr ganz so besorgt sein. Seien Sie mutig und üben Sie immer wieder am Rande Ihres individuellen Wohlfühlbereichs!

Sie haben ein reges Innenleben und eine intensive Phantasie

Auch dieses Merkmal gehört zu den Schätzen der Hochsensibilität. Sie machen sich viele Gedanken um etwas, denken und fühlen vor und nach, entwerfen Visionen oder tüfteln im Geiste an Lösungen. Daraus ergeben sich häufig auch gut durchdachte Ergebnisse, innovative Konzepte oder kreative Lösungen. Wenn die innere Gedanken- und Empfindungswelt sich jedoch beginnt im Kreis zu drehen und aus dem Nachdenken ein Grübeln geworden ist, sollten Sie etwas daran ändern.

Hilfe: Unterbrechen Sie das Grübeln, indem Sie zum Beispiel aufstehen, sich bewegen, in die Küche gehen oder einen kleinen Spaziergang unternehmen. Lenken Sie Ihre Gedanken oder Empfindungen vorübergehend auf etwas anderes, unterhalten Sie sich mit einer Nachbarin oder einem Kollegen. Grübeln ist eine Art innerer Krampf, ein Feststecken in einem Problem, das in diesem Moment oder aus der aktuellen Lage heraus nicht gelöst werden kann. Verändern Sie die „Lage“, löst sich meist die Verkrampfung, und die Gedanken und Empfindungen kommen wieder in eine konstruktive Bewegung.

Verändern Sie die „Lage“, kommen die Gedanken und Empfindungen wieder in eine konstruktive Bewegung.

Sie haben eine gute Intuition

Auch dies gehört zu den hochsensiblen Soft Skills. Die Fähigkeit, viele Feinheiten wahrzunehmen, sorgt für eine starke Intuition. Sie spüren schnell, häufig auch nur halb bewusst: „So muss es sein, so ist es stimmig!“ oder „Das geht auf diese Weise gar nicht, ich kann nur noch nicht erklären, warum.“ Gerade wenn Sie sich Ihrer intuitiven Wahrnehmung selbst noch nicht sicher sind, droht die Gefahr, dass andere Menschen, die Ihre Empfindung nicht verstehen oder annehmen können, Sie verunsichern und Sie Ihre intuitiven Eindrücke in Zweifel stellen. Dies kann nicht nur zu Missverständnissen oder Konflikten führen, sondern auch zu starken Selbstzweifeln.

Hilfe: Vertrauen Sie Ihrer Intuition! Aber überprüfen Sie sie auch. Andere Hochsensible haben mir in Gesprächen häufig erzählt, dass sich ihre Intuition oftmals erst Tage später bewahrheitet hat. Haben Sie daher Geduld mit Ihren Mitmenschen und seien Sie achtsam, wann Sie wem von Ihren Wahrnehmungen und Eindrücken be richten.

Sie sind multitalentiert

Dies tritt nicht bei allen Hochsensiblen zutage, aber es gibt einige unter ihnen, die diese Fähigkeiten aufweisen. Die jeweiligen Talente müssen sich nicht immer im beruflichen Kontext zeigen, jedoch fällt es diesen Menschen häufig leicht, etwas Neues zu erlernen und es darin schnell zu einer gewissen Kunstfertigkeit zu bringen. Zwei Gefahren können hierbei drohen: 1. Sie verzetteln sich schnell. 2. In Ihrem Umfeld machen sich Neider bemerkbar.

Hilfe: Zu Punkt 1: Erstellen Sie eine Prioritätenliste und erlauben Sie sich parallel dazu, in selbst festgelegten Zeiträumen Ihre Talente „tanzen zu lassen“. Immer nur nach Prioritäten zu arbeiten, würde Ihre Kreativität und Arbeitsfreude auf Dauer einengen.

Zu Punkt 2: Meiden Sie Neider, wenn es weder Sie, die Situation noch die andere Person verletzt. Wenn dies nicht möglich oder sinnvoll ist, suchen Sie nach einer Möglichkeit für ein klärendes Gespräch, um das Gefühl des Neides bei Ihrem Gegenüber zu verstehen und zu besänftigen. Meist steht hinter dem Neid ein eigenes verletztes Bedürfnis, beispielsweise nicht mit den eigenen Fähigkeiten gesehen worden zu sein.

Sie haben ein geringes Selbstwertgefühl

Dies ist leider bei vielen hochsensiblen Menschen anzutreffen. Meiner Einschätzung nach liegt die Ursache in der frühkindlichen Erfahrung, so, wie man ist – nämlich anders als andere, hochsensibel – nicht erkannt und akzeptiert worden zu sein. Die fehlende positive Identifikationsfläche lässt das eigene Selbstbewusstsein auf Dauer wanken und, wenn es schlimm kommt, auch zerbrechen. Ein mangelnder Selbstwert jedoch beeinflusst sämtliche Lebensbereiche, auch die Arbeit. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass ihre Schwierigkeiten im Arbeitsleben möglicherweise von ihrem angeschlagenen Selbstwertgefühl herrühren. So kommt es zu Konflikten, Projektionen und Verletzungen, die sich auf sachlicher Ebene jedoch letztlich nicht klären lassen.

Hilfe: Spüren Sie nach, wie es um Ihren Selbstwert bestellt ist. Es ist kein Manko, einen angeknacksten Selbstwert zu haben. Heutzutage leiden viele Menschen darunter. Problematisch wird es nur, wenn es nicht erkannt wird und die alten Verletzungen Ihnen heute das Leben und die Kontakte zu Ihren Mitmenschen erschweren. Tauschen Sie sich mit anderen Hochsensiblen darüber aus und suchen Sie Selbsthilfegruppen oder auch professionelle therapeutische Hilfe auf, wenn Sie merken, dass Ihre frühkindlichen Verletzungen Ihren heutigen Lebensfluss blockieren.

Merkmale im Beruf

Sie neigen zu Perfektionismus

Perfektionismus ist ein zweischneidiges Schwert: Einerseits motiviert er, ganz gleich auf welchem Gebiet und in welchem Umfang, Höchstleistungen zu erbringen. Andererseits hemmt er möglicherweise Ihr Handeln, da es (nie) perfekt genug ist.

Hilfe: Lernen Sie, auch kleine Schritte wertzuschätzen und Fehler als Lern-Wegweiser zu tolerieren, und üben Sie sich – durch Meditation oder Entspannung – in Gelassenheit und innerer Distanz zu Ihrem eigenen inneren Antreiber.

Sie mögen keinen Smalltalk

Smalltalk ist die leichte, oberflächliche Form, rasch mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Das liegt den meisten Hochsensiblen nicht. Sie schießen gerne direkt auf das Ziel bzw. das intensive Gesprächsthema zu, denn sie genießen den intensiven und komplexen Austausch.

Hilfe: Akzeptieren Sie als Erstes Ihre andere Art der Kommunikation! Finden Sie im zweiten Schritt heraus, wie viel leichte Kommunikation für Sie im jeweiligen Moment möglich ist. Dies kann von Situation zu Situation variieren. Halten Sie bewusst Ausschau nach Menschen, die ähnlich wie Sie kommunizieren. Wenn Sie gerade keine finden, testen Sie aus, ob Sie vielleicht doch Kolleginnen und Kollegen für Ihr Thema interessieren können. Wenn alles nichts fruchtet, gönnen Sie sich eine ruhige Zeit mit sich allein in dem Bewusstsein, sich selbst etwas Gutes zu tun und Ihrem feinfühligen System etwas Ruhe zu gönnen. Das können zum Beispiel auch kurze Momente mit einem weiten Blick aus dem Fenster sein.

Sie kommunizieren und handeln gerne komplex und vielschichtig

Ihre neuronalen Strukturen sind auf eine hohe Aufnahme und intensive Verarbeitung von Informationen ausgerichtet. Es fällt Ihnen nicht nur leicht, schnell und tief in die Materie einzudringen, sondern es ist Ihnen auch ein grundlegendes Bedürfnis. Entsprechend sind Sie gerne bereit, komplexe Sachverhalte zu bearbeiten und sich schnell und tiefgründig mit Themen auseinanderzusetzen. Da Sie als hochsensibler Mensch in der Gesellschaft mit nur etwa 15 bis 20 Prozent vertreten sind, ist davon auszugehen, dass die meisten Ihrer Kolleginnen und Kollegen normalsensibel sind und sich mit einem derartig intensiven Kommunikations- und Arbeitsstil häufig unwohl fühlen. Wenn Ihre Kollegen nicht um Ihre Hochsensibilität wissen, droht die Gefahr, dass Sie schnell ins Abseits geraten.

Hilfe: Auch wenn es Sie in den Fingern juckt: Seien Sie achtsam, wann, mit wem und in welchen Situationen Sie Ihren Tiefgang kommunizieren. Möglicherweise schaffen Sie spezielle Settings dafür, wie zum Beispiel eine themenspezifische Gesprächsrunde, einen Vortrag mit anschließender Diskussion oder ein Vier-Augen-Gespräch, je nachdem, um was es sich inhaltlich handelt. Darüber hinaus seien Sie aufmerksam, wer in Ihrem Kollegenkreis möglicherweise ebenso kommuniziert oder arbeitet, und suchen Sie den Kontakt zu Gleichartigen – wenn nicht in Ihrem Arbeitsfeld, dann außerhalb Ihres Betriebs. Denn es ist für Sie und Ihre Identität als hochsensibler Mensch wichtig, sich auch in Ihrer Kommunikationsund Arbeitsform verstanden zu fühlen.

Sie beobachten erst und handeln dann

Auch diese Verhaltensweise ist der hochsensiblen Veranlagung zuzuschreiben. Jede Situation ist neu – denn es ist nicht dieselbe. Daher müssen alle Komponenten einer Situation auch wieder neu betrachtet, bewertet und eingeschätzt werden. Erst dann, wenn Ihr „System“ eine Auswertung vorgenommen hat, kommen Sie ins Handeln. Das kann manchmal etwas dauern und verwirrt andere Menschen, die diesen Prozess weniger intensiv durchlaufen.

Hilfe: Sie können den Beobachtungs- und Auswertungsprozess ein wenig abkürzen, indem Sie sich im Vorfeld gedanklich auf die kommende Situation vorbereiten. Wie wird es dort aussehen (falls Sie den Ort bereits kennen)? Wer wird voraussichtlich dort sein? Was wird dort geschehen oder was wird von Ihnen erwartet? Sollte dies nicht gehen, weil Sie eine unbekannte Situation erwartet, dann üben Sie sich darin, sich selbst und Ihre achtsame Art des Umgangs mit neuen Situationen wertzuschätzen. Sie erlangen durch Ihr achtsames Verhalten Informationen, die anderen nicht in dieser Form zur Verfügung stehen, wie zum Beispiel das Erfassen von Stimmungen oder komplexen Beziehungen innerhalb einer Gruppe.

Sie sind kooperativ, arbeiten aber auch gerne alleine

Als hochsensibler Mensch liegt Ihnen das harmonische Miteinander vermutlich mehr als der konfrontative Disput – Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Aufgrund Ihrer Veranlagung haben Sie die Fähigkeit, schnell einen guten Überblick zu gewinnen, verschiedene Standpunkte griffig auf den Punkt zu bringen, mit Ihrem auf Harmonie ausgerichteten Wesen für Ausgleich im Team zu sorgen oder mit Ihrem innovativen Denken den Ideenpool zu bereichern. All das sind wertvolle Soft Skills in der Gruppe. Allerdings mag Sie die permanente Arbeit im Team überreizen. Daher ist ein Wechsel zwischen Team- und Einzelarbeit für Sie vorteilhaft.

Hilfe: Klären Sie für sich, welche Arbeitsweise Ihnen hauptsächlich liegt. Wenn Sie beides mögen, halten Sie in Ihren Arbeitsabläufen oder -inhalten nach Möglichkeiten Ausschau, wie Sie sowohl allein als auch mit Kollegen zusammenarbeiten können. Dies muss nicht immer generell geregelt werden, sondern es können auch spontane oder situationsbedingte Variationen sein. Wenn Sie diese Wechsel für sich einrichten, werden Sie spüren, dass Sie zufriedener am Arbeitsplatz werden.

Sie übernehmen gerne Verantwortung

Viele Hochsensible übernehmen schnell und gerne Verantwortung. Das ist eine wunderbare Fähigkeit, die vermutlich dem Umstand zuzuschreiben ist, dass die detaillierte Wahrnehmung viele Informationen zur Verfügung stellt und somit für einen guten Überblick und ein gutes Erfassen von Zusammenhängen sorgt. Dies wiederum sind gute Voraussetzungen, um verantwortungsvoll zu handeln. Sie erkennen rasch, wo was in welcher Form vonnöten ist.

Für Hochsensible droht schnell die Gefahr, zu viel Verantwortung zu übernehmen.

Allerdings droht für Hochsensible schnell die Gefahr, zu viel Verantwortung zu übernehmen. Auch die Neigung der Mitmenschen, dem meist hilfsbereiten Feinfühligen noch mehr Verantwortung aufzubürden, ist nicht zu unterschätzen: „Sie machen das doch immer so wunderbar!“

Hilfe: Achten Sie auf Ihre körperlichen Stopp-Signale. Genießen Sie Ihre Verantwortlichkeiten, wo es zu Ihnen passt, aber sorgen Sie dafür, dass Sie nicht zu viel übernehmen. Delegieren Sie, wenn es für Sie zu viel wird oder üben Sie sich in Ihrem „Nein“. Klären Sie ebenfalls Ihre eigene Motivation zur Verantwortungsbereitschaft: Schließlich streichelt es ja auch das Ego, von anderen gebraucht zu werden.

Sie arbeiten gerne qualitativ hochwertig

Zumindest, wenn Ihnen die Arbeit zusagt. Viele Hochsensible haben ein ausgeprägtes Gespür für Qualität und fühlen sich mit nachlässigen Ergebnissen sehr unwohl. Sollten jedoch belastende Arbeitsbedingungen vorliegen oder die Arbeit inhaltlich nicht zu Ihnen passen, kann dieses Bedürfnis durchaus auch unerfüllt bleiben. Langfristig sorgt ein solcher Zustand für wachsende Unzufriedenheit mit den entsprechenden Begleiterscheinungen wie Stress, Erschöpfung, vermehrten Konflikten oder auch psychosomatischen Erkrankungen.

Hilfe: Ihr Qualitätsempfinden werden Sie als hochsensibler Mensch nur schwerlich reduzieren können. Sorgen Sie daher möglichst für die zu Ihnen passenden Arbeitsbedingungen und -inhalte. Dies beginnt bereits bei der Berufswahl, jedoch ist zu diesem frühen Zeitpunkt vielen Hochsensiblen noch nicht abschließend klar, mit welchen Inhalten sie sich gerne befassen oder welche Arbeitsfelder für sie im Sinne der eigenen Berufung die richtigen sind. Befinden Sie sich daher in einer qualitativ unbefriedigenden und unstimmigen Arbeitssituation, ist der erste Schritt die Klärung, ob der Beruf, den Sie derzeit ausüben, der richtige ist. Denn der passende Beruf und das befriedigende Empfinden beruflicher Qualität hängen häufig zusammen. Ist es nicht „Ihr“ Beruf, sollten Sie sich auf den Weg zu Ihrer Berufung begeben, denn langfristig wird nichts anderes Sie zufriedenstellen bzw. erfüllen.

Ist es bereits der richtige Beruf, aber die Rahmenbedingungen belasten oder unterfordern Sie, gilt es, diese Bedingungen Schritt für Schritt zu überprüfen und nach Alternativen zu suchen. Vielleicht benötigen Sie mehr Verantwortung oder eine Erweiterung oder Spezifizierung Ihrer Arbeitsinhalte. Manchmal hilft auch der erweiterte Blick auf das Ganze, um die Relationen des eigenen Arbeitsbereichs und die damit zusammenhängende Qualität im Kontext des Gesamten zu erkennen: Ich habe viele Jahre Percussionunterricht gegeben und Gruppen angeleitet. Häufig haben wir auf Straßenveranstaltungen gespielt. Im Übungsraum ist mir jede kleine Unstimmigkeit aufgefallen, und ich versuchte, sie zu beheben. Habe ich jedoch der spielenden Gruppe draußen auf der Straße aus einem gewissen Abstand zugehört, war ich häufig überrascht, wie gut alles zusammenklang.

Letztlich kann es aber auch hilfreich sein, Ihre Hochsensibilität und das damit verbundene größere Qualitätsbewusstsein anzusprechen. Auf diese Weise können Sie Ihren Vorgesetzten oder Kollegen auch die Vorzüge Ihrer Arbeitsweise darlegen.

Sie erkennen schnell Unstimmigkeiten

Unstimmigkeiten können zwischenmenschlicher, aber auch inhaltlicher Natur sein. Sie nehmen etwas in einer Feinheit und in Nuancen wahr, das sich Ihren normalsensiblen Kolleginnen und Kollegen (noch) nicht erschließt. Da ist es nur natürlich, dass die anderen Ihre Wahrnehmungen in Frage stellen – das ist bedauerlich, aber nachvollziehbar. Solange Ihre Kollegen, Vorgesetzten und Ihre Firma nicht über Ihre speziellen Gaben informiert sind, kann dieser Umstand immer wieder zu Unmut im Team führen.

Hilfe: Der Umgang mit einem solchen Konflikt hängt von Ihren Möglichkeiten ab, offen mit Ihrer Veranlagung umzugehen. Falls dies möglich ist und in Ihrer Firma Ihre hochsensiblen Fähigkeiten bekannt sind, können Sie im Falle unterschiedlicher Wahrnehmungen auf Ihre Veranlagung verweisen und darum bitten, dass Ihre Hinweise berücksichtigt werden. Ist Ihre Hochsensibilität nicht bekannt und gibt es auch keine Möglichkeit, das Thema in einem wohlwollenden Klima einzubringen, notieren Sie sich Ihre Hinweise mit Datumsangabe, so dass Sie an späterer Stelle darauf verweisen können, dass Sie die Hinweise bereits am Tag X eingebracht hatten. Nicht selten schmücken sich sonst andere Kollegen mit Ihren Erkenntnissen.

Manchmal ist das Arbeitsklima aber auch so verhärtet, dass auch dieses Verfahren nicht möglich ist. Dann sollten Sie sich genau überlegen, wie viel Sie von Ihrer Disposition preisgeben. Distanz und eine gewisse Zurückhaltung zu wahren, kann Sie schützen, um nicht selbst durch ein mögliches ablehnendes Verhalten der anderen verletzt zu werden. Zusätzlich sollten Sie sich darüber klar werden, ob diese Arbeitsstelle mittel- und langfristig die richtige für Sie ist.

Sie fühlen Fehler mehr, als dass Sie sie suchen, finden aber auch schnell das Haar in der Suppe

Auch dies ist eine hochsensible Gabe, ein Soft Skill, das gerade im beruflichen Kontext sehr wertvoll ist. Sie bemerken Fehler, ohne sich bewusst darauf zu konzentrieren. Ihr neuronales System fühlt sich durch die gestörte Harmonie irritiert. Bei einer gezielten Fehlersuche ist diese Kompetenz klar von Vorteil, in alltäglichen Situationen neigen Sie jedoch im ungünstigen Fall oder bei anhaltender Unstimmigkeit schneller zu Unzufriedenheit, Mäkeln oder Nörgelei. Dies bringt Sie unter Umständen bei Ihren Kollegen in Misskredit, obwohl die Ursache Ihrer Unzufriedenheit durchaus ihre Berechtigung haben kann.

Hilfe: Lernen Sie, auf Dinge hinzuweisen oder sie auf eine Weise anzusprechen, die weder Ihr Gegenüber unter Druck setzt noch Sie schlecht dastehen lässt. Oft fühlen Menschen sich gemaßregelt oder meinen, es mit „Besserwissern“ zu tun zu haben, wenn ihnen jemand etwas sagt, das sie selbst noch nicht erkannt oder bedacht haben. Dies führt unweigerlich zu Konflikten. Wählen Sie daher achtsame Worte oder stellen Sie eher Fragen, als dass Sie „Behauptungen“ aufstellen, z. B. „Ich habe den Eindruck, dass …“, „Ich bin mir nicht sicher, ob …“, „Geht es Ihnen ebenso? Wie sehen Sie das?“ Das lässt Ihrem Gegenüber Spielraum, sich in seinem Tempo und auf seine Weise mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Lernen Sie, auf Dinge so hinzuweisen, dass es Ihr Gegenüber nicht unter Druck setzt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869106700
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (September)
Schlagworte
Arbeitsalltag Arbeitsorganisation Persönlichkeit hochsensibel

Autor

  • Cordula Roemer (Autor:in)

Cordula Roemer ist Diplom Pädagogin und Beraterin für Persönlichkeitsentwicklung und privates Krisenmanagement. 2007 entdeckte sie ihre eigene Hochsensibilität. Sie begann, Vorträge und Seminare zu halten und hochsensible Menschen beratend zu begleiten. Im Jahr 2011 gründete sie KiAMA – Institut zur Förderung und Erforschung der Hochsensibilität e.V. Seit 2012 hat sie sich als Autorin von Ratgebern über Hochsensibilität etabliert.
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Titel: Perlen im Getriebe – Hochsensibel im Beruf