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Wo Perfektionismus anfängt, hört der Spaß auf

Eine Anleitung zum Halblang machen

von Benita Feller (Autor:in) Michael Brepohl (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

Wir wollen die perfekte Karriere hinlegen, uns dabei perfekt ernähren und irgendwann mit der perfekten Strandfigur den perfekten Urlaub machen. Dabei orientieren wir uns an Vorbildern, die in Wahrheit gar nicht so toll sind, wie sie uns erscheinen. Dieses Buch hilft Menschen dabei, zu entdecken, wie wunderbar sie sind, auch wenn sie keine Modelfigur haben, kein Mandarin-Chinesisch sprechen und sich auch immer noch nicht für den Iron-Man-Wettbewerb auf Hawaii angemeldet haben. Denn wer ständig nach Perfektion strebt, verliert all das Gute in seinem Leben aus den Augen! Dazu hat die erfahrene Therapeutin eine Technik entwickelt, die uns hilft, einen gesunden Abstand zu äußeren Einflüssen zu entwickeln. Nicht perfekt, aber perfekt unperfekt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


„When too perfect, lieber Gott böse.”

Nam June Paik, koreanischer Künstler  

Liebe Leserin, lieber Leser,

bevor ich vor einigen Jahren meine Praxis als psychotherapeutische Heilpraktikerin eröffnete, habe ich eine ganze Weile als Redakteurin bei einem Modemagazin gearbeitet. Darum kenne ich sämtliche Tricks und Kniffe der Branche, wie man Menschen perfekt inszeniert, um sie zu Vorbildern zu machen, die kein normaler Mensch jemals erreichen kann. Schon weil niemandem von uns ein ganzer Stab von Make-up-Artisten oder Stylistinnen zur Verfügung steht, die sich stundenlang um den perfekten Look kümmern.

Mit anderen Worten: Ganz viel von der Perfektion, die man uns vorgaukelt, ist nichts als Hokuspokus. Und das liegt nicht nur an Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop. Trotzdem vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Klient zu mir in die Praxis kommt, der unter der Vorstellung leidet, nicht perfekt genug zu sein. Und das kann ganz viele Ausprägungen haben. Es gibt zahllose Menschen, die sich im Job krank arbeiten, weil sie denken, sie müssten immer die perfekte Leistung bringen oder immer „die Extrameile gehen”. So lange, bis ihr Körper nicht mehr mitmacht und der Burn-out sie zur Strecke bringt. Nicht nur junge Mädchen hungern sich krank, um eine Figur wie „Germany’s Next Topmodel” zu bekommen, auch Frauen in den Vierzigern befinden sich im ständigen Krieg gegen ihren eigenen Körper. In der Paartherapie ist einer der häufigsten Sätze, die ich höre: „Ich wollte doch, dass alles perfekt ist.”

In meiner Praxis habe ich es mit unterschiedlichen Typen von Perfektionisten zu tun. Da gibt es die, die bei einem Thema absolut perfekt sein wollen, beispielsweise möchten sie mit allen Mitteln eine Traumfigur bekommen oder sie legen sämtliche Energie in den Job. Dann gibt es die Multiperfektionisten, die in allem immer herausragend sein möchten, zum Beispiel die perfekte Mutter, die eine Bilderbuchkarriere hinlegt und zusätzlich Yogameisterin werden will.

Die weitaus größte Gruppe aber bilden diejenigen, die immer nur das Gefühl haben, besser sein zu müssen, tatsächlich aber kaum etwas dafür tun. Sie liegen beispielsweise am Sonntag auf dem Sofa und denken darüber nach, dass sie eigentlich joggen gehen müssten, tun es aber nicht, haben ein schlechtes Gewissen und können deshalb ihr Leben nicht genießen. Und dann sind da noch diejenigen, die sich immer schlecht fühlen, weil sie meinen, etwas an ihnen müsste besser sein. Innerlich sind sie ständig mit sich im Konflikt, weil sie nicht die ideale Nase haben, nicht die perfekte Strandfigur, nicht den rundum erfüllenden Job und auch nicht den perfekten Look im Schrank.

Das große Problem bei all dem Perfektionswahn: Wer immer perfekt sein möchte, der wird sich niemals gut genug sein. Dieses Buch soll allen Menschen helfen, die meinen, sie wären nicht gut genug, so wie sie sind. Ich habe es für Sie geschrieben, damit Sie entdecken, was für ein wunderbarer Mensch Sie sind, auch wenn Sie keine Modelfigur haben, nicht fließend Chinesisch sprechen und sich auch immer noch nicht für den Iron-Man-Wettbewerb auf Hawaii angemeldet haben. Denn wer ständig nach Perfektion strebt, verliert all das Gute in seinem Leben aus den Augen!

Ihre

Benita Feller

PERFEKTION: WARUM SIE EINE ILLUSION IST

Immer perfekt sein, immer im Sonnenschein stehen – das kann auf die Dauer nicht gutgehen. Um zu verstehen, wie die Perfektionsfalle funktioniert, erfahren Sie in diesem Kapitel zunächst etwas über die Ursachen und Einflüsse, die uns dazu bringen, nie mit uns selbst zufrieden zu sein.

Was heißt schon perfekt?

Gibt man bei Amazon das Wort „perfekt” ein, bekommt man mehr als 600 000 Ergebnisse angezeigt. Perfektion ist sehr gefragt und lässt sich ganz ausgezeichnet vermarkten. Mehr als 10 000 deutsche Buchtitel benutzen dieses Wort, viele davon versprechen uns, dass wir mit ihrer Hilfe unser Denken und Handeln optimieren können. Es scheint, dass überhaupt alles perfekt sein müsse. Die Modemagazine präsentieren uns den perfekten Look, in dem wir uns auf die Suche nach dem perfekten Liebhaber machen, den wir mit einem perfekten Dinner bekochen. Haben wir ihn dann gefunden, wollen wir die perfekte Mutter sein und nebenbei auch noch perfekt in unserem Job performen. Natürlich dürfen wir uns zwischendurch auch mal etwas gönnen, einen perfekten Urlaub zum Beispiel – oder wenigstens einen perfekten Abend mit unseren perfekten Freundinnen.

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Aber was heißt eigentlich perfekt? Der Duden sagt: „frei von Mängeln, vollkommen”. Weil sich viele Menschen unvollkommen fühlen, greifen sie zu einschneidenden Maßnahmen, um sich zu perfektionieren. Ungefähr 400 000 Deutsche unterziehen sich jedes Jahr einer Schönheitsoperation. Doch auch im Alltag verfallen immer mehr Menschen dem Perfektionswahn. Eine App auf unserem Handy zählt jeden unserer Schritte und jedes Stockwerk, das wir erklommen haben. Die dabei verbrauchte Kalorienmenge können wir dann gegen die Kalorien aufrechnen, die wir zu uns genommen haben und über die natürlich auch Buch geführt wird, schließlich soll nichts unversucht bleiben, damit wir einen perfekten Body bekommen, in dem ein perfekt getaktetes Herz schlägt. Nur ist Perfektion ein Zustand, den die allerwenigsten erreichen, und das auch nur für eine kurze Zeit. Das mühsam antrainierte Sixpack verschwindet nach ein paar Pizzas und einigen Eisbechern ganz schnell und auf Nimmerwiedersehen unter einem gemütlichen kleinen Bäuchlein.

In meiner Praxis erlebe ich fast jeden Tag Menschen, denen die Suche nach der Perfektion zum Verhängnis geworden ist. Sie arbeiten zu viel und leben zu wenig. Ständig auf der Suche nach einem Zustand, von dem sie sich versprechen, dass er sie glücklich macht, verlieren sie sich früher oder später selber aus dem Blick.

Wer sich ständig verbessern will, tut das meist aus einem sehr traurigen Grund: Er fühlt sich so, wie er ist, nicht liebenswert und hofft, das würde sich ändern, wenn er sich ständig optimiert. Das ist ein

Mechanismus, der oft schon in der Kindheit in uns angelegt wurde: Wenn wir in den Augen unserer Eltern etwas Tolles vollbracht hatten, brachten sie ihre Liebe uns gegenüber am deutlichsten zum Ausdruck. Und so versuchen wir ständig, wieder etwas ganz Großartiges zu vollbringen, in der Hoffnung, dafür belohnt zu werden. Auf die Idee, dass wir genau so, wie wir sind, verdammt liebenswert sind, kommen viele nicht.

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Ein Blick in die Historie

Eine meiner Klientinnen stellte mir einmal seufzend die Frage: „Woran liegt das nur, dass heute jeder Mensch meint, er müsse etwas ganz Besonderes sein?” Historisch betrachtet ist das tatsächlich ein relativ neues Phänomen. Früher – und auch heute noch in manchen Ländern – sahen sich Menschen als Teil einer Gruppe, einer Gemeinschaft. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass das Interesse aller über den Interessen des Einzelnen stand, denn allein hat der Mensch kaum eine Überlebenschance: Unsere Vorfahren, die noch in Höhlen lebten, konnten nur im Verband erfolgreich sein. Als der Mensch sesshaft wurde, waren viele Hände nötig, um die Feldarbeit zu erledigen. Die Familie war darüber hinaus das einzige soziale Netz, das es gab und das einen auffing, wenn man krank oder zu alt war, um für sich selbst zu sorgen.

Das Zeitalter des Individualismus begann erst am Ende des 18. Jahrhunderts. Während mit der Erfindung der Dampfmaschine die Weichen für die industrielle Revolution gestellt wurden, machten sich Philosophen wie Immanuel Kant Gedanken über das Individuum und seine Rechte. Ab dieser Zeit wurden sich immer mehr Menschen ihrer Einzigartigkeit bewusst.

Geprotzt und geprunkt wurde natürlich zu allen Zeiten, doch in früheren Zeiten war das ein Privileg einer winzigen adligen Oberschicht. Im 19. Jahrhundert, als sich das Bürgertum entwickelte und zu Wohlstand gelangte, wollte man es dem Adel gleichtun. Das war die Geburtsstunde der Snobs: Der Begriff leitet sich ab von lateinisch „sine nobilitate”, ohne Adelstitel. Es war die Stunde der Dandys und Stutzer, die, nicht ganz unähnlich den Hipstern heute, sehr viel Wert auf ihr Äußeres legten und vor allem eines wollten: auffallen. Doch das konnten sich immer noch nur die wenigsten leisten. Der allergrößte Teil der Bevölkerung hatte damals ganz andere Sorgen, als aufzufallen: Wer 70 Stunden in der Fabrik arbeitet und kaum etwas verdient, hat anderes im Kopf als Selbstverwirklichung.

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Der moderne Mensch im Perfektionswahn

Wenn man einem Fabrikarbeiter vor 150 Jahren erzählt hätte, welche Probleme seine Nachfahren heute haben, wäre er aus dem Staunen kaum herausgekommen. Was wir auch unternehmen: Gut ist nicht gut genug, es muss immer noch besser werden. Kaum sind wir im Job befördert worden, beschleicht uns das ungute Gefühl, nicht gut genug für die neuen Herausforderungen zu sein und die neue Position wieder zu verlieren – oder wir denken schon über den nächsten Karriereschritt nach. Schaffen wir beim Joggen eine neue Rekordzeit, überlegen wir schon, wie wir die wohl noch übertreffen können. Und wenn wir uns für all unsere Mühen mal belohnen wollen, dann mit einem Urlaub, der aber so was von perfekt ist, dass es nur so kracht.

Wir sind beseelt von dem Gedanken, dass in unserem Leben immer alles größer, schöner und besser sein muss, schon damit wir uns aus der Masse der anderen herausheben. Dieses Streben hat in den letzten Jahren immer mehr zugenommen, besonders seit es die sozialen Netzwerke gibt. Denn dort kann man immer alles vergleichen, bis hin zum Mittagessen. Da wird dann womöglich nicht das Gericht ausgesucht, auf das man Lust hat, sondern etwas, das auf Facebook gut aussieht. Einmal gestand mir eine Klientin, dass sie im Café immer einen großen Eisbecher oder ein dickes Stück Kuchen bestellt, um sich damit abzulichten, und wenn das Foto gepostet ist, reicht sie die Kalorienbombe weiter an ihre Freundinnen.

Alles, was wir tun, soll möglichst einzigartig sein. Hat man dann tatsächlich durch monatelanges Hungern und pausenlose Work-outs die gewünschte Figur, geht es an die nächsten Veränderungen. Als Zeichen der Individualität lässt man sich ein Tattoo stechen, dann noch eins und noch eins. Dabei entsteht inzwischen der Eindruck, dass Menschen ohne Tattoo mittlerweile viel einzigartiger sind. Denn irgendwann werden die Symbole der Individualität zur Uniform, etwa die sündhaft teuren, mit Löchern übersäten Jeans, die aber aussehen, als hätte sie jemand aus der Altkleidersammlung gefischt. Medien und Industrie gaukeln uns vor, wir wären Individualisten, wenn wir nur das richtige Auto fahren, die richtigen Sachen tragen und an den richtigen Orten Urlaub machen – so wie all die anderen Individualisten auch.

Dabei ist jeder von uns von Geburt an einzigartig und perfekt! Doch egal was wir unternehmen, wir wollen uns immer wieder übertreffen und die anderen am besten gleich mit. Eine Klientin erzählte mir einmal folgende Geschichte: Seit ihrer Studienzeit traf sie sich regelmäßig mit drei Freundinnen, man lud sich einmal im Monat gegenseitig nach Hause ein. Doch meine Klientin meinte, sie könne sich diese Freundschaften bald nicht mehr leisten: Früher gab es bei ihren Treffen immer Salzstangen und Prosecco, inzwischen wurde aber von der Gastgeberin erwartet, dass sie Champagner und erlesene Leckerbissen auftrug. Als meine Klientin mal wie früher Salzstangen und Prosecco besorgte, fanden die Freundinnen das überhaupt nicht lustig. Außerdem bot der Umstand, dass meine Klientin nach zehn Jahren im Job immer noch in einer eher bescheidenen Wohnung lebte, immer wieder Anlass zu spitzen Bemerkungen. Sie selbst fühlte sich rundum wohl in ihrem Zuhause, doch geht eine solche Kritik an den wenigsten spurlos vorüber.

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Nachdem wir ausführlich darüber diskutiert hatten, entschloss sie sich, ihren Freundinnen zu sagen, sie wären in ihrer kleinen Wohnung immer willkommen, solange sie sich dort bei Prosecco und Salzstangen wohlfühlten – und siehe da, die Stimmung drehte sich. Auf einmal musste es kein Champagner mehr sein, und die Treffen wurden für alle entspannter.

Der perfekte Wunsch – ein Märchen aus dem Morgenland

Eines Tages fand ein Mann bei einem Spaziergang am Meer zwischen Treibholz eine alte, merkwürdig geformte Flasche, die gänzlich von Korallen überwuchert war. Er befreite sie von ihrem Panzer und rieb an ihrer goldschimmernden Oberfläche. Da entwich ihr mit einem lauten Zischen ein Geist, der sich artig bei dem Mann bedankte und erzählte, er sei ein Prinz, der vor Kurzem von einem Magier in dieser Flasche gefangen gesetzt worden sei. Für seine Befreiung wollte er dem Mann jetzt einen Wunsch erfüllen.

Der Mann wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, schließlich weiß man, dass einem für die Befreiung von Flaschengeistern eigentlich die Erfüllung von drei Wünschen zusteht. Der Geist konnte Gedanken lesen und erklärte dem Mann, dass er nur eine kurze Gefangenschaft durchgemacht habe und dass es dafür nur einen Wunsch gebe. Der Mann sah, dass es keinen Zweck hatte zu verhandeln. Nur – was sollte er mit dem einen Wunsch anfangen? Er wünschte sich gesund zu bleiben, wollte so glücklich werden wie möglich, vielleicht auch berühmt, aber das Allerwichtigste war ihm, geliebt zu werden, und ein großer Batzen Gold wäre auch nicht verkehrt. Aber wie das alles in einen Wunsch verpacken? Der Mann überlegte und überlegte, und der Geist wurde allmählich ungeduldig. Da sagte der Mann: „Lieber Geist, mach mich zu einem perfekten Menschen!”

Der Geist brach in schallendes Gelächter aus. Als er sich endlich wieder beruhigt hatte, klopfte er dem Mann auf die Schulter. „Leichter konntest du es mir nicht machen, denn du bist längst perfekt.”

„Ich – perfekt?”, protestierte der Mann. „So billig lasse ich dich nicht um den Lohn für deine Rettung kommen! Sieh mich doch an, ich ziehe mein rechtes Bein nach, mit einem Auge schiele ich!”

Wieder brach der Geist in dröhnendes Lachen aus. „Sag, hat dein hinkendes Bein dich nicht an diesen wunderbaren Ort gebracht?” Der Mann nickte. „Und kannst du mit deinem schielenden Auge die Sonne sehen, wie sie gerade im Meer versinkt?” Der Mann nickte wieder. „Und du willst behaupten, nicht perfekt zu sein? Jedes lebende Wesen ist perfekt.”

Starkult – einmal schnell berühmt werden

„In der Zukunft wird jeder weltberühmt sein – für 15 Minuten.” Besser als mit dem Zitat von Andy Warhol lässt sich das Medienphänomen der Jetztzeit kaum beschreiben. Die modernen Medien bieten heute jedem, der sich einer breiten Öffentlichkeit präsentieren möchte, ein weltweites Forum. Im klassischen Fernsehen kann man seine Einzigartigkeit in einer stets wachsenden Zahl von Formaten zur Schau stellen. Wer meint, singen zu können, bewirbt sich bei einer Castingshow, wer sich für einen verkappten Sternekoch hält, dem stehen die Kochshows offen, wer über keine besonderen Talente verfügt, kann sich bei einer Kuppelshow versuchen oder alten Krempel aus Uromas Nachlass einem mehr oder weniger geneigten Publikum präsentieren.

Und wenn man bei all den TV-Formaten nicht die passende Nische für sich findet, klappt es im Internet garantiert: Man kann einen eigenen YouTube-Kanal eröffnen und der Internetgemeinde seine Schnäppchen aus dem Schlussverkauf oder sein Erdbeereis aus dem Thermomix vorführen oder auf Facebook das perfekte romantische Abendessen präsentieren, während man auf Instagram zeigt, wie man sich abschuftet, damit der perfekte Body noch ein kleines bisschen perfekter wird.

Viele meiner Klienten haben sich ganz aus den sozialen Medien zurückgezogen, weil sie sagen, das aufregende Leben der anderen zu sehen mache sie unzufrieden mit dem eigenen. Sie fühlen sich im Vergleich wertlos, hässlich oder einfach nur langweilig. Merkwürdigerweise hinterfragt aber niemand, was da eigentlich präsentiert wird. Es ist ja immer nur ein klitzekleiner Ausschnitt aus dem Leben: Von dem zu Schwermut neigenden Miesepeter findet man bei Facebook nur fröhliche Fotos, wer einmal in der Woche etwas Schönes kocht und ein Bild davon postet, unterschlägt der Internetgemeinde die drei Tiefkühlpizzas, die er zwischendurch vertilgt hat, wer schicke Bilder aus der Muckibude versendet, verbringt vielleicht tatsächlich viel mehr Zeit auf dem Sofa als dort – nur werden davon natürlich keine Bilder gemacht. In der Welt der digitalen Medien gilt also: mehr Schein als Sein.

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Perfektion – ein Schrei nach Liebe?

Es gibt Menschen, die vollbringen Unglaubliches, um sich zu perfektionieren. Sie malträtieren ihren Körper über jede vernünftige Grenze hinaus. Sie schinden sich beim Sport, sie arbeiten bis zum Umfallen, sie legen sich beim Schönheitschirurgen unter das Skalpell und riskieren ihre Gesundheit. Und warum das alles? Sie wollen Anerkennung, sie wünschen sich den Applaus ihrer Umgebung und gieren nach Komplimenten. Oft spielt dabei ein geringes Selbstwertgefühl die entscheidende Rolle. Sie erhoffen sich von außen die Anerkennung, die sie sich selbst nicht geben können.

Natürlich ist das Feedback unserer Umwelt wichtig, um uns ein Bild von uns selbst zu machen und auch überprüfen zu können. Doch wenn Menschen uns immer nur Bestätigung geben, wenn wir etwas Außergewöhnliches vollbracht haben, wenn wir bis an unsere Grenzen oder darüber hinaus gegangen sind, dann läuft etwas schief. Darum sollten wir daran arbeiten, uns selbst anzuerkennen und zu akzeptieren – so wie wir sind, und nicht so, wie wir glauben, dass andere uns gerne hätten. Wie das geht, erfahren Sie im zweiten Hauptkapitel.

Der perfekte Kandidat

Es ist schon eine Weile her, als ein Mann „in den besten Jahren” mir seine Geschichte erzählte. Er hatte lange als freier Grafikdesigner gearbeitet, doch die Auftragslage ließ zu wünschen übrig, und er hatte es auch ein wenig satt, immer als Einzelkämpfer unterwegs zu sein. Lieber wollte er wieder zu einer festen Mannschaft gehören. Daher hatte er sich auf eine Stellenanzeige beworben. Der ausgeschriebene Job war recht anspruchsvoll: Es waren nicht nur seine kreativen Fähigkeiten gefragt, er sollte auch über Managementqualitäten verfügen und viele unterschiedliche Aufträge schnell abwickeln können. Kurz und gut, der neue Job stellte hohe Anforderungen. Obwohl mein Klient schon über 40 war, was in seiner Branche nicht mehr jung ist, wurde er eingestellt.

Doch die Freude über das feste Arbeitsverhältnis währte nur kurz. Schnell erfuhr er, was sich hinter Floskeln wie „Wir erwarten einen überdurchschnittlichen Einsatz” verbarg, nämlich, dass er seine Abende und möglichst auch Wochenenden opferte, und zwar unbezahlt. Als er in der Firma anfing, trennte man sich gleich von zwei anderen Mitarbeitern, deren Aufgaben er mit übernehmen sollte. Im Einstellungsgespräch hatte er auf Nachfrage versichert, belastbar zu sein, doch wie belastbar er tatsächlich sein musste, hatte er nicht geahnt. Der neue Chef schaute schon sehr kritisch, wenn mein Klient mal an einem Abend vor 20 Uhr seinen Schreibtisch räumte.

Meinem Klienten kamen erste Zweifel an seiner Entscheidung. Doch zurück in seine alte Tätigkeit konnte er auch nicht. Die Kunden, die er als freier Grafiker betreut hatte, arbeiteten längst mit anderen Freelancern zusammen. Und so setzte er alles daran, sich durchzubeißen. Tag für Tag versuchte er den hohen Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, gerecht zu werden. Wenn es trotz höchstem Einsatz terminlich eng wurde, machte er sich schwere Vorwürfe. Und so setzten bei ihm schon vor Ablauf der Probezeit Panikattacken ein, nachts schlief er kaum, und an besonders stressigen Tagen wurde er auch noch von Magenkrämpfen heimgesucht.

Als er zu mir kam, versuchten wir zunächst einmal herauszufinden, warum er auf der Arbeit alles mit sich machen ließ. Dabei fanden wir heraus, dass es nicht nur die Angst um den neuen Job war, die ihn dazu trieb, ständig mehr zu arbeiten, als eigentlich vertretbar war. Es war vor allem der Wunsch nach Anerkennung. Denn die hatte er als Freiberufler oft vermisst. Er wollte dazugehören und, wie er es nannte, eine „feste Größe” sein. Deshalb schien es ihm unmöglich, Nein zu sagen.

Wir arbeiteten zunächst daran, dass er sich selbst die Anerkennung gab, die er sich von anderen wünschte, einfach, indem er sich nach einer bewältigten Aufgabe selber lobte: „Das hast du gut gemacht!” So gewann mein Klient mit der Zeit deutlich mehr Selbstvertrauen, um endlich seinem Chef zu sagen, dass es so nicht weitergehen könne. Und der machte ihm auch nicht die geringsten Vorwürfe, sondern sorgte dafür, dass er entlastet wurde.

Wer sich nach Anerkennung von anderen sehnt, ist leicht korrumpierbar und tut Dinge, die anderen nicht im Traum einfallen würden – zum Beispiel sich für den Arbeitgeber krank zu arbeiten. Ich erlebe sehr oft, dass sich Klienten zu sehr über ihren Job definieren – was ja erst einmal nicht schlecht ist. Denn wenn man den Job zum „Hobby” macht, weil er voll und ganz den eigenen Talenten und Interessen entspricht, dann ist das das Schönste, was man sich vorstellen kann. Wenn man allerdings den Erfolg braucht und Chefs und Kollegen und Teamleiter, die einen immer wieder bestätigen, dann ist das ein Problem. Dann kann man in eine gefähr liche Schieflage geraten. Gefährlich, weil man sich so der subjektiven Sichtweise der anderen ausliefert, anstatt in sich ein Fundament zu tragen: „Ich weiß, was ich kann, und ich gebe das, was ich geben kann. Ich bin nicht fehlerfrei, und das ist okay.”

In manchen Branchen werden Mitarbeiter regelrecht ausgebeutet. Viele Menschen machen heute „All-nighters”, sie arbeiten die Nacht komplett durch. Und viele sind – leider – auch noch stolz darauf. Sie bleiben bei einer Firma, für die sie sich psychisch und physisch ruinieren. Manche kommen mir vor wie kleine Eselchen, die von ihren Vorgesetzten mit einer Möhre mit der Aufschrift „Aufstiegschance” immer weitergetrieben werden. Doch dann, nach Jahren und Jahrzehnten, in denen man alles gegeben hat, ist die Möhre auf einmal verschwunden. Ich muss dabei an das Buch „Farm der Tiere” von George Orwell denken, wo das Pferd, das sich jahrelang aufgeopfert hat, eines Tages vom Abdecker geholt wird.

Nicht viel besser ergeht es langjährigen Mitarbeitern in manchen Unternehmen. Sind sie einmal länger krank, werden sie gefragt, ob sie sich ihrer Herausforderung noch gewachsen fühlen. Sollten sie tatsächlich noch für eine höhere Aufgabe in Betracht kommen, müssen sie sich in einem Assessmentcenter auf Herz und Nieren prüfen lassen, ob sie denn auch tatsächlich geeignet sind.

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Statussymbole sind keine Lösung

Die Medien predigen uns, dass wir alle unser bestes „Ich” sein sollen, unverwechselbare Individualisten vom Scheitel bis zur Designerschuhsohle. Erst dann ist man als Mensch etwas wert und darf sich wohlfühlen. Viele glauben, das Zurschaustellen von Statussymbolen wäre ein ultimatives Zeichen von Individualismus. Wie „einzigartig” uns das tatsächlich werden lässt, zeigt ein Blick in eine x-beliebige Fußgängerzone: Wie viele Frauen laufen da mit exakt der gleichen It-Bag herum, wie viele Männer schauen ihnen durch die gleiche Designerbrille hinterher? Nein, Statussymbole machen uns nicht zu Individualisten, es ist genau umgekehrt, denn wahre Perfektion ist nie erreichbar. Die begehrte Handtasche wird schon in der nächsten Saison nicht mehr en vogue sein, außerdem gibt es eine Reihe von Taschen, die noch begehrenswerter sind und noch teurer.

Die Trauben hängen immer ein bisschen höher. Egal wie wir uns strecken, wir werden sie nicht erreichen und unzufrieden bleiben. Je mehr wir nach fernen Zielen streben, desto weiter entfernen wir uns von uns selbst. Es sind nicht irgendwelche Accessoires, die uns zu besonderen Menschen machen, sondern das, was wir tatsächlich sind. Und darüber entscheiden nicht die Dinge, mit denen wir uns ausstaffieren, sondern unser Charakter, denn der macht uns tatsächlich einzigartig.

Der Drang nach Individualität hat dazu geführt, dass zahllose Menschen immer mehr vereinzeln und vereinsamen. Während wir versuchen, perfekt zu werden, damit andere uns gut finden, verlieren wir unser Inneres und uns selbst aus den Augen. Die anderen haben Dinge, die wir uns auch wünschen, aber nicht erreichen können, und so werden wir noch unzufriedener. So setzt sich ein Kreislauf in Gang, der uns immer tiefer nach unten führt und Auswirkungen auf Körper und Seele haben kann.

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Vom Familienalbum zum Selfiewahn

Durch nichts lässt sich die Übersteigerung des Individualitätsgedankens besser belegen als durch den Drang zahlloser Menschen, sich in jeder Lebenslage selbst abzulichten. Man liest sogar von Leuten, denen ein Selfie zum tödlichen Verhängnis geworden ist: Für ein besonders spektakuläres Bild sind sie einen Schritt zu nah an den Abgrund getreten oder haben sich auf andere Art und Weise in Lebensgefahr gebracht.

Aber auch das Elend anderer Menschen wird von gewissenslosen Zeitgenossen gerne als Staffage für ein Foto genommen. Unfallhelfer müssen immer öfter erleben, dass sich Schaulustige nicht mehr bloß mit dem Gaffen begnügen, sie machen auch noch ein Bild, auf dem sie mit dem Opfer oder wenigstens mit dem Autowrack zu sehen sind. Und das Ganze wird dann in den sozialen Medien gepostet, auf Facebook, Snapchat und Instagram.

Früher fotografierte man sich nur in den seltensten Fällen selbst. Wer alte Fotoalben durchstöbert, findet zu über 90 Prozent Aufnahmen der anderen: des Partners, der Familie, von Freunden. Heute dürfte das Verhältnis beinahe umgekehrt sein. Und das Bild, das man von sich macht, muss natürlich perfekt sein – zum Glück gibt es eine große Auswahl an digitalen Tools, mit deren Hilfe man ein stark idealisiertes Bild von sich anfertigen kann, das mit der Realität nicht mehr viel zu tun hat.

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Die perfekten Kinder

Und dann sind da noch unsere Eltern, die sich perfekte Kinder gewünscht haben. Sicher nicht mit den schlechtesten Hintergedanken. Aber oft projizieren Eltern die Dinge, die sie selbst nicht erreicht haben, auf ihre Kinder. Wenn der Vater nicht die perfekte Karriere hingelegt hat, dann soll es dafür der Sohnemann schaffen. Wenn die Mutter nicht die perfekte Klavierspielerin war, dann muss die Tochter das eben hinkriegen. Viele Eltern wollen ihre Kinder am liebsten noch ein ganzes Stück perfekter haben, als sie selbst jemals waren oder sein konnten.

Eine meiner Klientinnen verbrachte ihre halbe Kindheit mit ihrer Mutter auf dem Tennisplatz, als gerade Steffi Graf und Boris Becker ihre Triumphe feierten. Damals kamen nicht wenige Eltern auf die Idee, aus ihren Kindern berühmte Tennisstars zu formen, und die Mutter meiner Klientin war besonders beseelt von diesem Gedanken. Wenn das Mädchen von der Schule kam, ging es sofort auf den Platz. Und wenn sie etwas anderes machen wollte, gab es Vorhaltungen, weil man doch so viel in die teuren Trainerstunden investierte. Die Mutter selbst war eine eher schlechte Spielerin, ihrer Tochter aber sah sie keine Fehler nach. Das ging soweit, dass das arme Mädchen sich absichtlich mit dem Fahrrad hinfallen ließ, in der Hoffnung, sich einen Arm zu brechen und nicht mehr trainieren zu müssen.

Nach ein paar Jahren war klar, dass aus der Tochter zwar eine passable Spielerin, aber nie ein großer Star werden würde. Das Training wurde abgebrochen, und nun musste sich das Mädchen immer wieder anhören, wie sehr sie die Mutter enttäuscht hatte. Meine Klientin war eine exzellente Schülerin, schloss ihr Studium mit Auszeichnung ab und erarbeitete sich eine Spitzenstellung in einem großen Konzern, doch ihre Mutter war immer noch kein bisschen stolz auf sie. Immerhin hatte die Tochter daraus gelernt: Ihre eigenen Kinder sollen das tun, was ihnen Spaß macht – was keine Selbstverständlichkeit ist.

Ich kenne mehrere Fälle von Müttern, die den Klavierunterricht gehasst haben und trotzdem wollten, dass ihre Töchter kleine Virtuosinnen am Flügel wurden, ganz egal ob sie Spaß daran hatten oder nicht. Wenn man Mütter fragt, warum sie sich so verhalten, kommt meist wie aus der Pistole geschossen: „Ich will nur das Beste für mein Kind.” Jeden Tag sitzen in meiner Praxis Menschen, deren Eltern der Meinung waren, sie wüssten, was das Beste für ihr Kind ist, und die bis heute darunter zu leiden haben, weil ihre Entwicklung nicht nach ihren tatsächlichen Talenten und Neigungen ausgerichtet war, sondern nach den Wünschen ihrer Eltern. Ich versuche sie dabei zu unterstützen, es bei ihren Kindern anders zu machen.

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Generation Lebenslauf – nur gut auf dem Papier

Unter kaum etwas können Menschen so sehr leiden wie unter dem falschen Job. Er lässt sie am Abend nicht einschlafen oder reißt sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Wenn Klienten mit Schlafstörungen, Entfremdungsgefühlen, Angstzuständen oder psychosomatischen Beschwerden zu mir kommen, mache ich mir gleich am Anfang ein Bild von ihrem Leben und frage sie nach ihrem Privatleben und ihrem Job. Nicht selten bleiben wir beim Job hängen. Den meisten ist durchaus bewusst, was ihre Symptome auslöst und wo etwas schiefläuft. Trotzdem tun sich viele Menschen schwer damit, daran etwas zu ändern, denn schließlich will jeder den perfekten Lebenslauf haben.

Jüngst kam eine Klientin in meine Praxis, augenscheinlich sehr angeschlagen. Schnell stellte sich heraus, dass sie der Job, die Kollegen, der Chef fertigmachten. Auf meine Frage hin, ob sie vielleicht schon mit dem Gedanken gespielt hätte, den Job zu wechseln, wurde sie panisch. Sie sei ja erst seit sechs Monaten da, und wenn sie jetzt kündige, wie sähe das in ihrem Lebenslauf aus?

Vielen Studenten wird schon an der Uni eingetrichtert, bloß niemals vom geraden Karriereweg abzuweichen, weil das unweigerlich ins Abseits führe: Wer einen guten Job freiwillig aufgibt, wird nie wieder einen anderen tollen Job finden, sondern den Rest seines Berufslebens in einer Abwärtsspirale gefangen sein. Wenn der Arbeitgeber also Forderungen stellt, werden sie ohne Murren erfüllt.

Ich hatte ein Paar bei mir in der Therapie, dessen Beziehung vom Job des Mannes vollkommen ruiniert worden war. Gerade hatte man sich in München häuslich eingerichtet und machte sich Gedanken um die Familienplanung, da wurde er für ein Jahr nach Kiew abkommandiert. Die Chance einer Auslandserfahrung wollte er sich nicht entgehen lassen, daher sahen sich die beiden nur noch jedes zweite Wochenende. Kaum war er zurück, kam der Ruf nach Singapur. Dem Mann war klar, dass er damit seine Beziehung aufs Spiel setzte: Immerhin war auch seine Frau erfolgreich in ihrem Job, und den aufzugeben, um in Südostasien das Haus zu hüten, war für sie keine Alternative. Der Arbeitgeber hatte für solche Überlegungen allerdings kein Verständnis. Man machte dem Mann unmissverständlich klar, dass es mit seiner Karriere vorbei wäre, würde er diese „Chance” nicht nutzen. Manchmal müssen die Dinge erst noch schlimmer werden, bevor alles gut wird. So gab er zunächst einmal nach und ging nach Asien.

Ich zitiere in solchen Fällen gerne die Bremer Stadtmusikanten: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.” Doch für den perfekten Lebenslauf sind viele bereit, so ziemlich jedes Opfer zu bringen. Wenn man jedoch sterbenskranke Menschen am Ende ihres Lebens befragt, was sie im Leben am meisten bereuen, dann weint niemand einer vergebenen Karrierechance nach, sondern es sind oft die Versäumnisse im Zwischenmenschlichen, die bedauert werden. Wenn es ans Sterben geht, denkt niemand mehr an den Job, denn kein Job der Welt ist es wert, dass man dafür sein ganzes Leben opfert. Daher sollten wir lernen, mehr an uns selbst zu denken und an die Menschen, die uns wichtig sind, und unser Leben so gestalten, wie wir es für richtig halten.

Kaum war mein Klient in Asien angekommen, wurde ihm klar, was für einen Fehler er gemacht hatte. Er meldete sich gleich bei mir und wir setzten unsere Gespräche über Skype fort. Seine Ehe stand inzwischen auf der Kippe. In unseren Stunden wurde ihm klar, dass die Partnerschaft über allem stehen sollte. Die Arbeit konnte ihm nicht das geben, was ihm seine Frau geben konnte. Er lernte, sich und seine Wünsche mehr zu erkennen und dafür mutiger einzustehen: „Es ist mein Leben, und ich werde es wieder so leben, wie es mir guttut.” Und so kündigte er seinen Job, ohne zunächst etwas Neues zu haben. Nach der Rückkehr fand er jedoch eine Stelle, zwar nicht mit ganz so glänzenden Karrierechancen, dafür hatte er aber bedeutend mehr Freizeit – ein Umstand, der ihn und seine Beziehung nochmal richtig aufblühen ließ.

Vor einer Weile wurde in den sozialen Medien fleißig ein Auszug aus einem Bewerbungsgespräch geteilt: „Da ist eine Lücke von einem Jahr in Ihrer Vita.” – „Ja, war geil.” Genau das ist der Spirit: Wenn man sich die Karrieren mancher sehr erfolgreicher Menschen ansieht, entdeckt man darin durchaus einige interessante Brüche – ein blütenweißer Lebenslauf muss gar nicht sein, im Gegenteil, ein „Rückschritt” im Job kann sogar ein Fortschritt sein. Ein Mann, der zu mir gekommen war, weil er immer 120 Prozent gab und schon kaum mehr schlafen konnte, hängte seinen Job schließlich an den Nagel. Nachdem ich ihn eine Weile nicht gesehen hatte, stand er eines Tages strahlend in meiner Praxis: „Frau Feller, ich mache jetzt Karriere als Mensch.” Er hatte eine Schule für Blindenhunde eröffnet, verdiente viel weniger als früher, kam damit aber besser aus als zuvor: Solange er rund um die Uhr geschuftet hatte, musste er sich ständig belohnen und gab immense Summen für teure Kleidung und kostspielige Weine aus. „Jetzt”, sagte er, „ist die Aufgabe, die ich habe, Belohnung genug.”

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Karriereturbo – höher, schneller, weiter

Viele Kinder werden bereits auf der Vorschule für ihre weitere Laufbahn fit gemacht – damit sie in der Grundschule glänzen und einen Platz auf dem Gymnasium ergattern. Dort müssen die richtigen Noten her, die den Weg zu einem aussichtsreichen Studiengang ebnen.

Ohne Zweifel, Bildung ist wichtig. Leider verhält es sich heute so, dass man mit einem Mittelschulabschluss oder gar ganz ohne Schulabschluss herzlich wenig Berufe zur Auswahl hat. Eltern impfen ihren Kindern daher frühzeitig ein, sich voll auf ihr Vorankommen zu konzentrieren, und im Laufe der Jahre machen sich viele Kinder diesen Wunsch ganz zu eigen und entwickeln einen großen Ehrgeiz darin, den bestmöglichen Abschluss zu schaffen. Was Eltern und Kinder jedoch oft außer Acht lassen, ist die Frage, wofür ein Mensch überhaupt talentiert ist. Ich kenne viele Familien, in denen nicht darüber nachgedacht wird, ob denn die Ausbildung oder der angestrebte Beruf überhaupt zu der Person passt. Und dann wird es verdammt anstrengend.

Ein gutes Beispiel sind Ärztefamilien, da gibt es richtige Familiendynastien, in denen schon der Urgroßvater, der Großvater und der Vater Chirurg waren. Also muss auch der Sohn Chirurg werden, selbst wenn er nicht gerne Blut sieht und zwei linke Hände hat. Wenn ein Familienunternehmen in der dritten oder vierten Generation weitergeführt werden soll, kann ich dem Gedanken zum Teil noch folgen, aber warum muss jemand Bäuche aufschneiden, nur weil Opa auch schon damit sein Geld verdient hat?

Darum sollten sich Eltern zunächst immer fragen, wo die Talente des Kindes liegen und was ihm Freude bereiten könnte. Und muss es überhaupt ein Hochschulstudium sein? Einer der zufriedensten Menschen, den ich kenne, ist Schreiner. Weil er seinen Beruf liebt und es ihm Freude macht, mit seinen Händen etwas zu schaffen, lassen die Menschen gern ihre Möbel von ihm anfertigen. Und so verdient er auch noch besser als so mancher Universitätsabsolvent.

Leider lassen sich viele Menschen bei der Berufswahl von ihrem Umfeld unter Druck setzen. Ich erlebe immer wieder, dass Klienten eigentlich ganz zufrieden sind mit ihrem Job, sich aber beispielsweise bei einem Klassentreffen als totale Loser fühlen, weil sie nicht eine solch brillante Karriere hingelegt haben, nicht so einen tollen Firmenwagen fahren und nicht für ihren Arbeitgeber um die halbe Welt jetten. Diesen Menschen kann ich nur raten: Weniger ist mehr, gerade in Sachen Karriere! Selbst das fantastischste Gehalt und der fetteste Bonus sind es nicht wert, dafür seine Gesundheit und sein Leben zu ruinieren.

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Essen als Zeichen eines Ungleichgewichts

Einmal kam eine sehr aufgewühlte Frau zu einem Ersttermin in meine Praxis. Auf meine Frage, was sie denn so aus der Fassung brächte, antwortete sie: „Dieser verdammte Scheißkeks. Da lag er auf einmal neben meinem Mandelmilchcappuccino, und im nächsten Moment, schwupp, war er in meinem Mund verschwunden. Dieser verdammte Keks hat mir meinen Tag, ach was, die ganze Woche versaut, ich könnte jetzt noch kotzen, wenn ich an diesen Keks denke. Sie müssen nämlich wissen, ich ernähre mich sehr bewusst, ich nehme nur Sachen zu mir, die meinem Körper guttun. Und in so einem Keks, da ist doch ein ganzer Berg Zucker und wahrscheinlich noch viele andere ungesunde Sachen drin. Vor dem Schlafengehen gehe ich immer noch mal durch, was ich an dem Tag gegessen habe, und schaue, ob ich auch keine Unterversorgung habe. Magnesium ist so ein Handicap bei mir, ich bekomme schon mal Krämpfe, gerade nachts, also versuche ich immer darauf zu achten, dass ich regelmäßig Kürbiskerne und ab und an ein paar Cashews esse, da ist nämlich reichlich davon drin. Wer mich von früher kennt, würde sich wahrscheinlich wundern. Mir dreht sich noch heute der Magen um, wenn ich daran denke, was ich während meines Studiums so in mich reingestopft habe: Tiefkühlpizzas, Kartoffelchips und Tütensäfte!”

Es gibt immer ein Zuviel des Guten, auch was gesunde Ernährung angeht. Tatsächlich spricht man heute schon von einem Krankheitsbild mit dem Namen Orthorexia nervosa, das man auf Menschen münzt, die sich übermäßig viele Gedanken über ihre Ernährung und die Qualität ihrer Lebensmittel machen, was durch die selbst auferlegten Regeln zu psychischen und physischen Beeinträchtigungen führen kann. Geprägt wurde der Ausdruck von dem Mediziner Steven Bratman, von dem das Buch „Health Food Junkies” stammt. Ich habe schon einige Klienten erlebt, deren Gedanken nur um ihre Ernährung kreisen.

Dass Menschen, die sich gesund ernähren, Junkies sein sollen, klingt natürlich zunächst einmal paradox. Doch wenn sich alles nur noch auf einen Gedanken konzentriert und das restliche Leben dabei auf der Strecke bleibt, dann trifft der Ausdruck die Sache sehr gut. Ähnlich wie für den Junkie gibt es auch für den krankhaften Ernährungsoptimierer Einstiegsdrogen: Es fängt oft damit an, dass sich jemand entschließt, nur noch Produkte aus Bioanbau zu essen. Dann verschwinden Nahrungsmittel, die Gluten, Lactose und andere unter Verdacht stehende Bestandteile enthalten, vom Speisezettel, ganz egal, ob man eine Intoleranz dagegen hat oder nicht. Früher oder später werden alle tierischen Lebensmittel vom Speiseplan gestrichen, und ganz zum Schluss wird nur noch gegessen, was die Natur freiwillig hergibt, in Form von Früchten und Samen, die man zu sich nehmen kann, ohne dass eine Pflanze dadurch Schaden nimmt. Diese Form der Ernährung geht früher oder später mit Mangelerscheinungen einher und endet damit, dass man anfängt, sich mit synthetischen Nahrungsergänzungsmitteln vollzustopfen.

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Die Hersteller bieten uns eine kaum überschaubare Menge an Vitaminpräparaten und Nahrungsergänzungsmitteln an, die für eine perfekte Ernährung unverzichtbar sind – angeblich. Tatsächlich nehmen auch die Menschen, die sich nicht ausschließlich von Superfoods ernähren, mit der normalen Nahrung fast alles zu sich, was sie brauchen. Und schaden sich mit den zusätzlich eingeworfenen Präparaten oft mehr, als sie sich nutzen. Längst stehen einige Vitaminpräparate im Verdacht, bestimmte Krebserkrankungen zu befördern: Es gibt viele Theorien, fast täglich kommt eine neue hinzu. Aber woher wissen Wissenschaftler in einem Labor am anderen Ende der Welt, was gut für Sie ist? Wer kann es denn besser wissen als Sie selbst?

Grundsätzlich trifft dieses Extrem nur auf sehr wenige Menschen zu, und selbstverständlich kann ich auch jedem nur raten, wenn der Geldbeutel es zulässt, sich mit Bio-Lebensmitteln zu ernähren. Es spricht auch nichts gegen einen vegetarischen oder veganen Lebensstil, im Gegenteil. Am wichtigsten ist es aber, dass Sie Ihren eigenen Weg finden, der Ihnen guttut. Unser Körper ist mit einem feinen Sensorium ausgestattet, wir haben nur verlernt, es zu nutzen, und hören zu sehr auf die Einflüsterungen der Nahrungsmittelindustrie.

Es ist ganz einfach: Wenn wir beispielsweise ein Vitamindefizit haben, entwickeln wir automatisch Appetit auf einen knackigen Salat oder frisches Obst. Hören Sie also immer auf die eigene Stimme und kaufen Sie Ihre Nahrungsmittel am besten frisch auf dem Markt, laden Sie mal wieder Leute zum Essen ein und genießen Sie gemeinsam. Und auch wenn wir mal Heißhunger auf Schokolade haben, dürfen wir dem ab und zu mal nachgeben. Es wird Zeit, dass wir wieder auf uns selbst hören, was wirklich gut oder nicht gut für uns ist. Die Antwort steckt in jedem Einzelnen: Wir müssen nur lernen, hinzuhören und darauf einzugehen.

Ernährung ist für viele Menschen zu einem riesengroßen Thema geworden, wie ein Fall aus meiner Praxis zeigt. Die Klientin erzählte mir Folgendes: „Wenn ich in einer Beziehung war, habe ich mich immer fallen gelassen. Als Single war ich jeden Tag beim Fitness, der Kosmetikerin und am Diätmachen sowieso. Hat man dann jemanden gefunden, will man endlich auch mal entspannen. Mit Andreas war das nicht anders. Wir haben es uns richtig schön gemacht, vorm Fernseher gekuschelt, unsere Lieblingsfilme geguckt und dazu Eis und Schokolade gegessen. Das wurde mit der Zeit richtig heftig, da haben wir schon mal an einem Abend eine 300-g-Tafel Schokolade mit Nüssen weggeputzt, und vorher hatten wir ja auch noch gekocht oder eine Pizza bestellt. Kurz und gut, innerhalb eines Jahres hatten wir uns beide einen ganz schönen Ranzen angefressen. Eines Abends im Bett habe ich zum ersten Mal gemerkt, was für eine Wampe mein Adonis mittlerweile hatte, und da rutschte es mir einfach raus: ,Schatz, du hast bald größere Brüste als ich.’ Zuerst lachte er, aber ich habe gemerkt, dass ihn der Spruch ziemlich getroffen hatte. Am nächsten Tag war’s vorbei mit den gemütlichen Abenden, er ist jeden Tag ins Fitnessstudio oder auf seine Joggingstrecke. Ein paarmal bin ich mit, aber sein Programm war mir zu heftig. Je dünner er wurde, desto ungemütlicher wurde unsere Beziehung. Pizza und Schokolade gab es nicht mehr, er hat mir das natürlich nicht verboten, aber alleine hat es mir auch keinen Spaß gemacht. Nach einem Dreivierteljahr war er schlanker als zu Beginn unserer Beziehung und hat immer weitergemacht, er ließ sich nicht bremsen. Wir lebten uns auseinander, und irgendwann ist er zu einer anderen gezogen. Die Pointe ist: Kaum war er weg, habe ich wieder das volle Programm durchgezogen, von Detox bis Botox. Jeder hat damals gesagt, dass ich umwerfend aussehe, und dann – so etwas passiert sonst ja nur in der Phantasie – habe ich Andreas mit seiner Neuen zufällig getroffen, und: Er hatte wieder eine Mörderplautze.”

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Das perfekte Dinner

Wenn im Fernsehen gekocht wird, muss es das perfekte Dinner sein – es ist ja auch Fernsehen. Aber alle machen es nach. Früher freute man sich auf die Freunde, mit denen man ein aus der Hand gezaubertes Chili con Carne spachteln konnte und dazu ein paar Flaschen Wein leerte. Heute ist man schon Tage vorher gestresst und zerbricht sich den Kopf, was man alles unternehmen muss, damit das viergängige Menü auch Anklang findet. Je näher der Abend rückt, desto genervter ist man. Kaum stehen die Gäste vor der Tür, stellt man fest, dass das Silberbesteck ein wenig angelaufen ist, und wer in aller Welt schafft es eigentlich, Weingläser ohne hässliche Schlieren blank zu bekommen? Für die Tischdeko braucht man die Zeit, die dann fürs Make-up fehlt. Manche machen geradezu eine Wissenschaft daraus, jeden Gegenstand auf der Tafel exakt auszutarieren. Dann sieht der fertig gedeckte Tisch schon mal aus wie aus dem Katalog eines Geschirrherstellers. Sind die Vorbereitungen einigermaßen über die Bühne gebracht, zittert man sich weiter durch den Abend. Hat man das Süppchen nicht ein wenig zu lau serviert? Sind die Nudeln nicht allzu sehr al dente geraten? Wieso hat der Fisch bloß so viele Gräten, und hätte die Mousse nicht noch viel luftiger sein müssen?

Ein schöner Abend geht definitiv anders. Darum sollte man sich vor der nächsten Essenseinladung daran erinnern, dass man eben kein Drei-Sterne-Restaurant betreibt. Und Gäste, die Tafeln mitbringen, um das Dargebotene zu bewerten, sollte man gleich auf Nimmerwiedersehen vor die Tür setzen. Auch hier gilt es, halblang zu machen: Das Wichtigste an einem Abend mit Freunden sind die Gespräche, und Gäste haben auch viel mehr Freude an dem Abend, wenn ihre Gastgeber entspannt sind. Freizeit bedeutet „freie Zeit”, und die sollte der Entspannung dienen und nicht zum Stress ausarten.

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Wer will eigentlich, dass wir perfekt sind?

Es gibt viele Menschen, die ein Interesse daran haben, dass wir unzufrieden sind, ja die sogar von unserer Unzufriedenheit leben. Das sind zunächst einmal Unternehmen, deren Geschäftsmodell auf unserem Optimierungsbedürfnis gründet. Also zum Beispiel die Hersteller von Diät- und Light-Produkten oder die Anbieter von Fitnessgeräten. In ihrer Werbung suggerieren sie uns ein Bild, wie wir aussehen könnten, wenn wir nur ihre Produkte konsumieren. Genauso lebt die Kosmetikindustrie von unserer Unzufriedenheit mit unserem Aussehen. Und natürlich die Institute, die in klinischen Tests nachgewiesen haben, dass die sündhaft teuren Produkte, die uns eine glattere Haut versprechen, auch tatsächlich funktionieren. Und dann sind da noch die Modehersteller, in deren Kleider wir erst nach einer Fastenkur passen (und das nur solange, bis uns der Jojo-Effekt ereilt).

Dabei werden uns so viele Dinge angepriesen, die nicht gut für uns sind – nicht nur von der Werbung, auch von der Gesellschaft. Ein Phänomen ist der Alkohol. Nichts gegen ein gutes Glas Wein oder mal ein Bier, aber in unserer Gesellschaft ist es schwer, das richtige Maß zu halten: Wer nicht oder selten trinkt, gilt oft als Spielverderber. Und: Alkohol macht uns wieder munter, wenn wir eigentlich völlig durch sind.

Am Ende einer anstrengenden Woche ist man eigentlich so geschafft, dass der Körper hocherfreut wäre, wenn man sich einmal richtig ausschlafen würde. Doch man will ja keine Spaßbremse sein und geht auf diese megawichtige Party. Mit viel „Prickelwasser” bringt man sich erst einmal in Stimmung, und weil man auf gar keinen Fall vor Mitternacht gehen darf, pfeift man sich noch den ein oder anderen Wodka Red Bull rein, um länger wach zu bleiben. Am nächsten Morgen gönnt man sich erst einmal eine Dose Cola, mit der man eine Aspirin-Tablette hinunterspült.

Gerade junge, erfolgreiche Menschen, die im Job 70 Stunden und mehr die Woche arbeiten, greifen zu Drogen, um sich aufzuputschen. Es gibt erschreckende Zahlen dazu, wie der Drogenkonsum in den letzten Jahren stetig zunimmt, gerade in den Städten, wo die hippen Start-up-Unternehmen zu Hause sind: Die jungen Leistungsträger brauchen am Wochenende ein bisschen Ekstase, um sich für die Anstrengungen der Woche zu belohnen, feiern sich mit 120 Beats per Minute in Richtung Burn-out und treiben Raubbau an ihrem eigenen Körper.

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120 % ist gerade gut genug

In der Sowjetunion gab es einst die „Stachanow-Bewegung”, eine Kampagne zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Sie ging auf Alexei Grigorjewitsch Stachanow zurück, einen Bergmann, der 1935 während einer Schicht 102 Tonnen Steinkohle förderte, womit er die gültige Arbeitsnorm um 1457 Prozent übererfüllte. Er wurde als „Held der sozialistischen Arbeit” ausgezeichnet. Die Tragik an der Geschichte: Er starb 40 Jahre später vereinsamt, depressiv und mit einem massiven Alkoholproblem. Das Verrückte ist, dass es lange nach dem Untergang der Sowjetunion auch im Kapitalismus ein Heer von Stachanow-Arbeitern gibt, die ihm nacheifern.

Einer meiner Klienten hatte an sich den Anspruch, immer 120 Prozent Leistung zu bringen: Er meinte, bei dem, was er verdiene, sei das das Mindeste. Nur verausgabte er sich ständig bei dem Versuch, sein selbstgestecktes Ziel zu erreichen, und litt unter stressbedingten Krankheiten – mit dem Ergebnis, dass er irgendwann nicht einmal die 100 Prozent erreichte. Wenn sich jemand ständig überfordert, bringt er immer weniger Leistung, und wer immer über seine Grenzen geht, bleibt bald unter seinen Möglichkeiten.

Erst neulich berichtete mir ein Klient, der für eine internationale Unternehmensberatung arbeitet: „Meine Lieblingsstrecke ist die Extrameile. Ich versuche bei jedem neuen Projekt an meine Leistungsgrenzen zu gehen. Und das wird in der Branche auch von mir erwartet. Wenn ich jetzt noch ein paar Jahre Vollgas gebe, dann kann ich vielleicht zum Partner aufsteigen, dann bin ich ein ,Master of the Universe’, so heißt das in dem Buch von Tom Wolfe, ,Fegefeuer der Eitelkeiten’. Ich würde gerne wieder mehr lesen, aber dazu fehlt einfach die Zeit. Für eine Turbokarriere muss man bereit sein, Opfer zu bringen, gerade privat. Beziehung ist eher schwierig. Meine letzte Freundin hatte ich über Parship kennengelernt. In ihrem Profil stand, dass sie einen Kerl sucht, der für seinen Job brennt. Da ist sie bei mir ja richtig, dachte ich. Dass ich regelmäßig am Abend und am Wochenende arbeite, war ihr dann wohl ein wenig zu viel Feuer, denn sie hat nach einem halben Jahr Schluss gemacht, dabei hab ich ihr eine teure Uhr geschenkt und Klamotten, Schuhe, Handtaschen. Ich muss auch zugeben, dass mich so eine Beziehung behindert. Da bereitest du eine Pitch-Präsentation vor, bei der es um viele Millionen geht, und sie nervt dich die ganze Zeit mit Whatsapp-Nachrichten: ,Schatz, was wollen wir am Wochenende Schönes machen?’ Mein jüngerer Bruder ist für mich ein warnendes Beispiel, mieser Uniabschluss, jetzt hat er einen Job bei der Stadt, 37,5-Stundenwoche, lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einer Minibutze. Wenn wir mal telefonieren, erzählt er mir, wie gern er für die Familie kocht. Wenn ich gut essen will, geh ich ins beste Restaurant der Stadt oder lasse mir was kommen, Kochen ist Zeitverschwendung. Um was zu erreichen im Leben, braucht man einen eng getakteten Kalender. Wer ganz an die Spitze will, darf keine Pausen einlegen. Verschnaufen kann ich mit 50.” Tatsächlich war er schon lange vorher am Ende. Das war auch der Grund für seinen Besuch bei mir. Nachdem ich seinen Vortrag angehört hatte, kam er dann auch gleich auf merkwürdige Symptome zu sprechen, die ihm Kopfschmerzen bereiteten. Der Mann war auf dem besten Weg zum Burn-out.

Manchmal ist es ein langer Weg, bis sich ein Klient eingesteht, dass es so nicht weitergehen kann und wirklich bereit ist, etwas ändern zu wollen. In diesem Fall hat es etwas gedauert, es gab Rückschläge, aber sein Körper hat ihm mit unterschiedlichen Symptomen zu verstehen gegeben, dass er etwas ändern muss. Im Laufe unserer Gespräche lernte er nach und nach, mehr auf sich und seinen Körper zu hören. Gleichzeitig musste er lernen, dass er auch ohne sein ausuferndes Arbeitspensum ein wertvoller Mensch ist, den viel mehr ausmacht als seine zahllosen Überstunden. Er geht mittlerweile viel achtsamer mit sich um und nimmt regelmäßige Auszeiten, seiner Karriere hat das keinen Abbruch getan, dafür hat er private Interessen entdeckt, die ihn zufriedener und ausgeglichener machen.

Viele Klienten, die in meine Praxis kommen, leiden unter den unterschiedlichsten psychischen oder psychosomatischen Beschwerden, etwa Schwindelanfällen, Panikattacken, Schlafstörungen, Rückschmerzen, Bauchschmerzen und vielem anderen mehr. Und von mir wünschen sie sich, dass diese Symptome bitteschön ganz schnell verschwinden sollen, damit sie wieder reibungslos funktionieren können.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869106793
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Burnout Stress Ratgeber Psychotherapie entspannen Selbstcoaching

Autoren

  • Benita Feller (Autor:in)

  • Michael Brepohl (Autor:in)

Benita Feller ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und führt seit vielen Jahren eine Praxis für Einzel- und Paartherapie in München. Dass der ganze Perfektionismus bloß fauler Zauber ist, erkannte sie schon, als sie noch als Redakteurin bei einem Hochglanzmagazin arbeitete. Aufbauend auf ihre jahrelange Erfahrung hat sie eine Technik entwickelt, die es ihren Klienten ermöglicht, sich anzunehmen und wertzuschätzen wie sie sind. Damit nicht nur ihre Klienten von ihrer Technik profitieren, hat sie gemeinsam mit Michael Brepohl dieses Buch erarbeitet und aufgeschrieben. Michael Brepohl ist freier Autor, Texter und Konzeptioner in München. Er arbeitete über zwei Jahrzehnte in internationalen Werbeagenturen und weiß schon deshalb, wie der schöne Schein der Perfektion erzeugt wird.
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Titel: Wo Perfektionismus anfängt, hört der Spaß auf