Lade Inhalt...

Wege aus der Nettigkeitsfalle

Der ideale Ratgeber für schrecklich nette Menschen. Neinsagen für Anfänger

von Nele Süß (Autor:in)
192 Seiten

Zusammenfassung

„Wenn du nett zu den anderen Kindern bist, werden sie dich auch mögen.“ Ein Glaubenssatz, den viele von uns noch als Erwachsene mit sich herumtragen. Woher kommt dieses Harmoniebedürfnis um jeden Preis? Woher die Angst vor Kritik? All diese Fragen haben Nele Süß dazu bewegt, über das Thema „Nicht jeder muss mich mögen“ intensiv
nachzudenken. Sie zeigt Wege auf, aus dieser Nettigkeitsfalle auszusteigen – und zwar ohne zum Arschloch zu mutieren. Sie gibt Übungen an die Hand, die uns schrittweise voranbringen: kleine Erkenntnisse und Anstöße, ohne sich umzukrempeln. Ziel ist, sich mit mehr Selbstbewusstsein auszustatten, um gelassener mit Ablehnung und damit verbundenen schwierigen Situationen umzugehen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ich erinnere mich noch sehr gut an einen Akquise-Termin bei einem Energieversorger, der mich mit einer Personalsuche beauftragen wollte. Da mich ein anderer Dienstleister empfohlen hatte, ahnte ich nichts Böses. Leider geriet ich ausgerechnet am ersten Tag meiner Selbstständigkeit an einen dickbäuchigen und selbstgefälligen Geschäftsführer des Grauens, der gleich bei der Begrüßung mein Standing testen wollte: „Herr Müller hat mir schon erzählt, was Sie die Stunde nehmen. Das sind ja Preise wie im Bordell!“

Na, das konnte ja heiter werden …

Ich bekam einen hochroten Kopf, eiskalte feuchte Hände und wusste vor lauter Schreck so überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. Mein Hirn ratterte fieberhaft und suchte nach einer passenden Antwort, vor allem aber nach einem „Nein, mit einem wie Ihnen will ich nicht zusammenarbeiten!“

Damals liefen noch alle klassischen „Nein-sag-Verhinderer“ in mir zusammen: Höflichkeit, Nettigkeit und der Wunsch, von jedem Dödel gemocht zu werden. Selbst von Menschen, die ich ziemlich dämlich finde, so wie dieses wichtigtuerische Großmaul. Kurzum: Ich saß wie festgetackert in der Nettigkeitsfalle und fand bei diesem Termin auch nicht heraus. Bei meiner familiären Prägung war das allerdings auch kein Wunder, wurde ich doch im Wesentlichen von zwei Frauen geformt, die ständig zu allem „Ja“ sagten, selbst wenn sie „Nein“ meinten. Ihre Ja-Sager-Waagschalen waren randvoll mit sich selbst limitierenden Glaubenssätzen.

Meine Mutter war mit „Was sollen die Leute denken?!“, „Nur nicht unangenehm auffallen“ und „Der Klügere gibt nach“ groß geworden, und ihre Mutter, also meine Oma, konnte keinem Klinkenputzer eine Kamelhaardecke, ein Zeitschriften-Abo oder einen Staubsauger abschlagen. Was dazu führte, dass diese Dinge bei uns nie Mangelware waren.

Dank meines Vaters – „Mir doch egal, was die Leute denken“ und „Man darf sich nix gefallen lassen!“ – hätte ich wenigstens zwei Gewichte in die andere Waagschale werfen können, was ich jedoch nur verschämt tat. Das lag daran, dass sich mein Vater mit dieser Haltung über kurz oder lang mit seinen Mitmenschen anzulegen pflegte und in der Nachbarschaft als kauziger Brausekopf galt. Er war für mich somit auch nicht das ideale Rollenmodell, da hielt ich mich lieber an mein harmoniefreudiges Frauen-Duo.

Hätte ich damals dieses Buch von Nele Süß schon gehabt, wären meine Waagschalen bereits viel früher ins Lot gekommen. Das Bild der Waagschale verdeutlicht sehr schön, dass beides möglich ist und irgendwie auch zusammengehört: freundlich sein und dennoch nein sagen können. „Freundliche Stärke“ nenne ich das inzwischen. Dieses Buch hilft Ihnen, Ihren Verhaltensmustern humorvoll auf die Schliche zu kommen und viele bekömmliche Gegengewichte in Ihre Nein-Waagschale zu werfen – ohne, dass Sie es sich mit anderen verscherzen.

Freuen Sie sich auf viele heitere Anekdoten, hilfreiche Metaphern, spannende Übungen und wertvolle Tipps!

Herzlichst

Sabine Dinkel

www.sabinedinkel.de

PS: Ich habe damals übrigens den Auftrag bekommen und wohlerzogen angenommen – schließlich wurde er wenigstens gut bezahlt. Gefreut habe ich mich darüber allerdings nicht, eher die Zähne zusammengebissen und durch. Eines hat mich diese Begebenheit jedenfalls gelehrt: Ich möchte nicht mehr von jedem gemocht werden. Schon gar nicht von einem schmierigen Businesskasper.

SCHÖN, DASS SIE HIER SIND!

Damit Sie wissen, mit wem Sie es hier zu tun haben und was mit diesem Buch auf Sie zukommt, starte ich erst mal mit einer kleinen Vorstellungsrunde und ein paar Erläuterungen für Sie – sozusagen zum Warmwerden!

Wer ich bin

Liebe Leserin, lieber Leser,

säßen Sie jetzt in einem meiner Workshops, würde ich Sie bitten, sich kurz vorzustellen und eine meiner gefürchteten Überraschungsfragen zu beantworten, und dann würden wir uns mithilfe einer geeigneten Methode näher kennenlernen, beispielsweise anhand von Symbolen oder Hashtags. Nun ist dies ein Buch, eine gegenseitige Vorstellung wird also schwierig. Da Sie jedoch im besten Fall in den kommenden Wochen viel Zeit mit mir verbringen werden, finde ich, dass Sie wissen sollten, mit wem Sie es zu tun haben (und wen Sie, zumindest in Gedanken, nervig finden können, falls Ihnen eine Übung zu blöd ist …). Also lege ich jetzt einfach mal los – und wenn Sie mögen, schicken Sie mir eine Mail mit Ihrer Vorstellung. Ich würde mich sehr freuen, mit Ihnen in Kontakt zu treten!

Hier also meine drei Hashtags:

#eierlegendewollmilchsau: Weil ich sowohl beruflich als auch in meinen privaten Interessen so vielfältig bin, dass ich gar nicht alles so schnell aufzählen kann. Ich bin Pressereferentin, Coach, Kommunikationstrainerin, Seminarhausbesitzerin und nun auch noch Autorin – und ich liebe dieses bunte Leben!

#lebenaufdemlande: Das hätte ich als geborene Münchnerin wirklich nicht gedacht: dass ich, wenn ich mal groß bin, in einem Ort lebe, der aus vier Häusern besteht, und das einfach großartig finde (abgesehen vom miesen Internet). Aber wenn ich an meinem Küchentisch sitze und auf unser knapp zwei Hektar großes Grundstück schaue, alles Grün und Natur, dann weiß ich: Hier bin ich richtig.

#netzwerkerinausleidenschaft: Auf die Frage „Kennst du jemanden, der …?“ habe ich fast immer eine Antwort parat. Manchmal kenne ich die passenden Leute nur um drei Ecken, aber ich weiß immer, wen ich wofür ansprechen kann. Auch dieses Buch habe ich meiner Leidenschaft fürs Netzwerken zu verdanken: Ohne meine Freundin Maya wäre ich auf Facebook vermutlich nicht auf Sabine Dinkel gestoßen, mit der ich mich zuerst virtuell und dann ganz echt befreundet habe. Und die wiederum war so großartig (und vielleicht auch so verrückt), mich beim humboldt Verlag als Autorin zu empfehlen.

Für wen dieses Buch richtig ist

„Die neue Schule wird dir gefallen! Wenn du nett zu den anderen Kindern bist, werden sie dich auch mögen.“ Diese Sätze hörte ich vor einiger Zeit eher zufällig vor einer Grundschule. Gesagt wurden sie von einer besorgten Mutter, die ihr mindestens ebenso besorgtes Kind trösten wollte, das ganz offensichtlich Angst vor der neuen Situation oder vielleicht schlechte Erfahrungen auf seiner vorherigen Schule gemacht hatte. Ganz sicher waren die Worte gut gemeint – aber wie die Band „Kettcar“ in einem ihrer Songs so treffend singt: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Denn was nimmt das kleine Mädchen nun mit in ihre neue Klasse zu ihren noch unbekannten Mitschülern? Dass sie nur recht brav sein muss, damit die anderen sie lieb haben. Ein Glaubenssatz, den viele von uns – fast immer unbewusst – mit sich herumtragen. Oft ein Überbleibsel aus der Kindheit, vielleicht auch aus der Pubertät oder dem ersten Job.

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.

Horchen Sie mal in sich rein: Kommt Ihnen der Satz irgendwie bekannt vor? Klingelt da etwas in Ihnen? Wenn ja, dann sind Sie hier und mit diesem Buch genau richtig – und haben damit einen prima Grundstein in Sachen Veränderung gelegt: weil Sie wahrgenommen haben, dass Ihnen etwas an Ihrem Verhalten nicht passt. Es ist etwa so wie mit einem Loch in Ihrer Lieblingsjeans: Solange Sie das Loch nicht wahrnehmen, können Sie es auch nicht stopfen. Sobald Sie es aber bemerkt haben, greifen Sie zu Nadel und Faden. Aber Obacht: Ein Loch in einer Hose zu stopfen, geht einigermaßen fix – Verhaltensveränderungen jedoch brauchen Zeit und viel Übung!

Wenn Sie erwarten, dass Sie nach dem Lesen dieses Buches ein neuer Mensch mit völlig neuen Verhaltensmustern sind, dann lesen Sie bitte nicht weiter, denn das wird nicht klappen. Und sollten Sie merken, dass die Problematik sehr tief sitzt und Sie nicht allein weiterkommen, dann holen Sie sich professionelle Hilfe. Das ist keine Schande! Um bei dem Beispiel mit der Jeans zu bleiben: Wenn das Loch zu groß ist, geben Sie die Hose ja auch zur Schneiderin und schmeißen sie nicht gleich weg – schließlich ist es Ihre Lieblingsjeans!

Wenn Sie bereit sind, viel über sich nachzudenken, aktiv mitzuarbeiten und auch mal über Ihren Schatten zu springen, dann ist dieses Buch genau richtig für Sie!

Was dieses Buch mit mir zu tun hat

Ich sage es ganz ehrlich: Auch ich tappe immer mal wieder in die Nettigkeitsfalle – und bin in der Vergangenheit manchmal auch ganz schön tief hineingefallen. Diesen inneren Zensor, der mir einflüstert, dass ich jetzt bloß die Klappe halten und ja nicht unhöflich werden soll, kenne ich recht gut. „Aber wie kann sie denn dann so ein Buch schreiben, wenn ihr das auch immer wieder passiert?“, fragen Sie sich jetzt vielleicht.

Genau deswegen! Weil ich weiß, wie ätzend es ist, sich zusammenzureißen, statt offen und ehrlich zu reagieren. Weil ich weiß, wie krank es einen machen kann, wenn man sich ständig verstellt, weil man jemandem auf Teufel komm raus alles recht machen will. Weil ich weiß, wie unangenehm es sich anfühlt, wenn man aus Nachsicht anderen gegenüber die Nachsicht sich selbst gegenüber vernachlässigt. Und weil ich auch weiß, wie es ist, wenn man dann irgendwann ausflippt und sämtliche Höflichkeitsregeln hinter sich lässt, weil es einfach nicht mehr geht. Bei mir ist dann „Grumpie in da house“, wie eine Freundin das mal genannt hat. All das ist nicht sehr förderlich – weder für die eigene Gesundheit noch für das Leben und Arbeiten mit anderen. Deswegen habe ich irgendwann beschlossen, dass es anders gehen muss.

Auch ich tappe immer mal wieder in die Nettigkeitsfalle – und genau deswegen habe ich dieses Buch geschrieben.

Was war mein Weg, um aus der Nettigkeitsfalle rauszukommen? Ich habe immer wieder in mich reingehorcht, mich und mein Verhalten reflektiert, Freunde um Rat gefragt, an meiner Kommunikation gearbeitet – und ganz viel hinterfragt: Warum handle ich jetzt genau so? Was für Muster haben sich da in mir verfestigt? Was steckt eigentlich hinter meinen Gedanken? Das war nicht immer einfach und hat auch nicht immer Spaß gemacht.

Heute kann ich sagen: Die Gelegenheiten, in die Nettigkeitsfalle zu tappen, sind natürlich immer noch in rauen Mengen vorhanden – aber ich falle entweder gar nicht mehr rein oder kann mich oft gerade noch am Rand festkrallen und mich wieder nach oben ziehen. Klar – ab und zu rausche ich noch mit Vollkaracho in die Tiefe. Vor allem in Situationen, die sehr komplex sind – dann brauche ich ein Weilchen, um mich wieder rauszuarbeiten, aber irgendwann gelingt es mir immer.

Also, noch mal: Warum ich dieses Buch schreibe? Weil ich nachvollziehen kann, wie es Ihnen gerade geht. Und weil ich weiß, dass es auch anders geht.

Was Sie in diesem Buch finden

Was werden Sie in diesem Buch finden? Viele Anregungen, Übungen, ein bisschen Theorie, persönliche Geschichten von mir und aus meinem Freundeskreis, Ermunterung, Ehrlichkeit, Wertschätzung. Was werden Sie in diesem Buch nicht finden? Ein Geheimrezept für die sofortige Totalverwandlung. Klar, das hätten wir alle gern – vom Ich-bin-immer-und-jederzeitnett-Menschen in jemanden, der freundlich, aber bestimmt, herzlich, aber nicht unterwürfig ist und das auch noch ohne schlechtes Gewissen. Würde ich über diese Wahnsinnsrezeptur verfügen, hätte ich sie patentiert, in Tütchen gepackt, für viel Geld verkauft und würde gerade Mai-Tai schlürfend in einer Hängematte in der Karibik liegen. Stattdessen sitze ich in einem 200 Jahre alten Haus in Schleswig-Holstein und schreibe dieses Buch.

Ein Geheimrezept für die sofortige Totalverwandlung werden Sie in diesem Buch nicht finden, sonst läge ich längst in einer Hängematte in der Karibik.

Sie werden immer wieder Menschen begegnen, die Ihnen versprechen, dass sie Sie ganz easy und ohne großen Aufwand in einen neuen Menschen verwandeln können und dass sie den Weg für alle haben. Ich bitte Sie inständig: Suchen Sie dann ganz schnell das Weite, denn aus meiner Sicht kann so etwas keinesfalls funktionieren. Mich erinnern solche Versprechen immer an die fahrenden Händler aus dem Mittelalter, die ihren Kunden Fläschchen mit ominösem Inhalt als Mittel gegen alle möglichen Krankheiten andrehten – und dann war da nur eine völlig wirkungslose Flüssigkeit (oder Schlimmeres) drin. Menschen sind nun mal unterschiedlich, und jeder muss seinen ganz eigenen Weg finden.

Deswegen ist dieses Buch auch keine Anleitung, die Sie 1:1 umsetzen sollen, sondern wie ein Workshop aufgebaut, den Sie nach und nach und in Ihrem Tempo absolvieren können. Das Ziel ist, dass Sie für sich die passenden Lösungen und den für Sie passenden Weg finden: mithilfe von Denkanstößen, unterschiedlichen Übungen und dem einen oder anderen aus dem Leben gegriffenen Beispiel. Das wird nicht immer leicht sein. Wären Veränderungen einfach, bräuchten Sie jemanden wie mich gar nicht – aber Veränderung ist ein Prozess, den Sie nur innerhalb Ihrer gerade gegebenen Möglichkeiten gehen können.

Und noch ein Versprechen

Und nun komme ich doch noch mit einem Versprechen um die Ecke. Nein, es ist nicht das Versprechen, dass alles gut wird, wenn Sie dieses Buch lesen und brav alle Übungen machen – da würde ich mich ja selbst ad absurdum führen. Ich gebe Ihnen aber die Hand darauf, dass Ihr Leben anders wird, wenn Sie sich anders verhalten. Viele warten darauf, dass sich endlich die Umwelt oder die Situation, in der sie sich befinden und die sie als unangenehm empfinden, ändert – und dass dann alles gut wird. Aus Erfahrung kann ich sagen: Vergessen Sie’s! Immer, wenn ich für mich gemerkt habe: Das geht gerade nicht mehr, musste ich ganz aktiv etwas tun, um rauszukommen. Also, auf geht’s!

EIN PAAR ANWENDUNGSTIPPS

Ehe Sie starten, möchte ich Ihnen ein paar Hinweise an die Hand geben, die Ihnen die Arbeit mit diesem Buch und an sich selbst erleichtern sollen. Mir ist es wichtig, dass Sie wissen, was in etwa auf Sie zukommt, denn, so leid es mir tut: Die Befreiung aus der Nettigkeitsfalle wird kein gemütlicher Spaziergang, sondern eine immer wieder mühsame und manchmal auch anstrengende Wanderung, die meistens bergauf geht. Aber: Wenn Sie oben angekommen sind, werden Sie sich großartig fühlen!

Einsicht? Reicht nicht!

Ich sagte es schon im vorigen Kapitel: Dieses Buch wird keinen neuen Menschen aus Ihnen machen – aber das muss auch gar nicht sein, denn ich bin sicher, es gibt viele Seiten, die Sie sehr gern an sich mögen. Sie hätten dieses Buch aber nicht gekauft, wenn alles fein wäre.

Die gute Nachricht ist: Veränderung ist möglich. Die vielleicht nicht ganz so gute Nachricht lautet: Veränderung gelingt nur durch Reflexion des eigenen Tuns und durch viel Üben. Das Lesen dieses Buches reicht also nicht aus, damit sich etwas bewegt – Sie müssen auch etwas dafür tun! Denn die Erkenntnisse müssen ihren Weg von der Theorie in die Praxis finden, sie müssen angewendet werden, und Sie müssen sie fühlen. Ohne Gefühle läuft nämlich nichts in Sachen Lernen – oder, wie es Christian Peter Dogs und Nina Poelchau in ihrem lesenswerten Buch „Gefühle sind keine Krankheit“ sehr treffend auf den Punkt bringen:

„Einsichten verändern kein Verhalten.
Das funktioniert nur, wenn die Gefühle beteiligt sind.“

Deswegen gibt es in jedem Kapitel Übungen, die Sie dazu anregen sollen, Ihren Verhaltensmustern auf die Spur zu kommen und sie aktiv zu verändern. Das ist nicht immer einfach, oftmals sogar sehr schwer – und wird sich auch manchmal erst einmal richtig bescheuert anfühlen. Aber da müssen Sie durch, sonst bleibt alles, wie es ist.

In jedem Kapitel gibt es Übungen, die Sie dazu anregen sollen, Ihren Verhaltensmustern auf die Spur zu kommen und sie aktiv zu verändern.

Unsere Komfortzone – alles andere als dauerhaft komfortabel

Was sich da so mies anfühlt, wenn Sie mal wieder in die Nettigkeitsfalle getappt sind, sind Ihre kleinen Wächter an der Schwelle von der Komfortzone zur Lern- und Wachstumszone. Ich habe Ihnen das mal auf Seite 16 aufgezeichnet, damit es leichter zu verstehen ist.

Sie befinden sich mit Ihrem üblichen Verhalten in der Komfortzone. Die Komfortzone heißt nicht etwa so, weil es dort immerzu wahnsinnig komfortabel ist, sondern weil wir uns dort in einem Bereich befinden, in dem wir uns auskennen. Hier fühlen wir uns sicher, denn alles ist vorhersehbar. Natürlich brauchen wir eine solche Zone unbedingt, um zur Ruhe zu kommen. Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich ständig in der Lern- und Wachstumszone – da wären Sie ganz schön schnell mit den Nerven am Ende! Doch Veränderung ist in der Komfortzone niemals möglich.

Veränderung ist in der Komfortzone niemals möglich.

Ich gebe mal ein Beispiel für eine typische Szene aus meiner Komfortzone: Ich bin regelmäßig mit meiner Hündin Pippa in der Hundeschule. Dort gilt die Regel: Füttere nur deinen eigenen Hund. Niemals die Hunde der anderen mit Leckerli belohnen – und wenn sie dich noch so bedürftig ansehen! Eine frühere Mitteilnehmerin sah das anders, lächelte mich an, gab meinem Hund ein Leckerli und sagte: „Ich hab das jetzt einfach mal gemacht. Ist doch okay, oder?“ Pippa war natürlich glücklich, ich stinkig – gesagt habe ich aber nichts, um des lieben Friedens willen. Man will sich ja schließlich nicht streiten … Ich bin also brav in meiner Komfortzone geblieben, die ich in diesem Fall auch in Harmoniezone hätte umbenennen können.

Wie hätte das Ganze ausgesehen, wenn ich mich da rausbewegt hätte? Ich hätte zu der anderen Teilnehmerin gesagt: „Nein, das ist nicht in Ordnung. Und ich möchte dich bitten, das nicht mehr zu machen.“ Was hätte ich riskiert? Klaro: vermutlich ihren Missmut. Wäre das schlimm gewesen? Ganz rational gesehen: Nein. Zum Kuckuck – es geht um ein Hundeleckerli! Und vielleicht hätte sie auch mit einem „Okay, sorry!“ geantwortet. Wer weiß? Ich bin aber nicht gegen meine Wächter angekommen. Diese fiesen kleinen Mistkerlchen haben mir eingeflüstert: „Sei mal lieber nett zu ihr, denn das gehört sich so. Wenn du nicht nett bist, dann hat sie dich nicht mehr lieb und redet vielleicht nicht mehr mit dir!“

Und so ist es ganz oft. Wir tragen eine große Angst mit uns herum, die uns einredet, niemand hätte uns mehr lieb, wenn wir mal nicht nett sind, wenn wir mal ehrlich und klar sind, wenn wir mal Nein sagen. Die Angst zensiert und bewacht uns und hält uns davon ab, den Schritt raus aus der Komfortzone zu machen, denn wer weiß, vielleicht ist es da draußen noch viel blöder als in unserer Blase, in der es zwar irgendwie auch doof ist, aber es könnte ja noch doofer werden. Veränderung ist also nichts, was sich von Anfang an gut anfühlt. Anatole France, ein französischer Schriftsteller, hat das mal so aus gedrückt:

Wir tragen eine große Angst mit uns herum, die uns einredet, niemand hätte uns mehr lieb, wenn wir mal nicht nett sind.

„Allen Veränderungen, selbst jenen, die wir ersehnt haben, haftet etwas Melancholisches an; denn wir lassen einen Teil von uns selbst zurück; wir müssen ein Leben sterben, ehe wir ein anderes beginnen können.“

Vom Risiko, auch mal nicht gemocht zu werden

Ich will es nicht verhehlen: Natürlich gehen Sie mit der Entscheidung, nicht mehr zu jedem lieb und nett zu sein, ein Risiko ein. Die Menschen in Ihrem Umfeld werden irritiert bis missmutig reagieren – schließlich funktionieren Sie nicht mehr so, wie es dem einen oder anderen immer so gut gepasst hat. Sie sind nicht mehr berechenbar. Sie sagen auf einmal Ihre Meinung. Sie schwimmen nicht mehr mit dem Strom.

Der Kollege, der immer auf den letzten Drücker seine unerledigten Aufgaben bei Ihnen abgeladen hat, muss seinen Kram in Zukunft selbst machen. Die Nachbarin, die immer Ihre Katze gefüttert, dabei aber auch die ganze Bude durchstöbert hat, wird ihrer Neugier auf einmal nicht mehr nachgehen können. Die Freundin, der Sie immer bei Ihrer ewigen Lamentiererei zugehört und sie mit zusammengebissenen Zähnen in ihrer Alle-sind-ungerecht-zu-mir-Haltung unterstützt haben, wird ab sofort kein Gehör mehr bei Ihnen finden. Die Kollegin, die immer Ihre Ideen geklaut und als ihre eigenen verkauft hat, wird in Zukunft selbst denken müssen. Das wird nicht auf Begeisterung stoßen.

Aber es hilft nichts: Auf dem Weg zu sich selbst werden Sie die Zuneigung des einen oder anderen Mitmenschen verlieren. Allerdings sind das fast immer diejenigen, die Ihnen zu viel Kraft geraubt und nichts zurückgegeben haben – so ist zumindest meine Erfahrung. Hinter all dem Verlust steckt also letztlich ein ganz großer Gewinn: mehr Freiraum, mehr Zeit, mehr Man-selbst-Sein, weniger Ärger – und vielleicht der eine oder andere neue Freund, denn Menschen, die authentisch sind und für sich einstehen, sind ausgesprochen attraktiv. Mit diesem Ziel vor Augen werden Sie auch doofe Phasen überstehen.

Wie Sie mit diesem Buch arbeiten

Dieses Buch ist aufgebaut wie ein Workshop. Natürlich können und sollen Sie auch mal neugierig darin blättern, damit Sie wissen, was noch so auf Sie zukommt. Vielleicht springt Sie auch ein Kapitel ganz besonders an, so dass Sie es zuerst lesen müssen. Ich empfehle jedoch, die Übungen in der vorgegebenen Reihenfolge zu machen. Sie bauen aufeinander auf, und mir ist es wichtig, dass Sie sich nicht gleich mit den etwas schwereren Übungen aus dem hinteren Teil des Buches überfordern und es dann genervt in die Ecke pfeffern. Starten Sie lieber langsam und behutsam – dann haben Sie gleich am Anfang das eine oder andere Erfolgserlebnis, und die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dranbleiben, ist viel höher.

Ich möchte Sie außerdem bitten, die Übungen nicht nur im Kopf zu machen, sondern Ihre Ergebnisse auch schriftlich festzuhalten – und zwar handschriftlich. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass es sehr förderlich für die Konzentration und die Verbindung von Körper und Geist ist, wenn mit der Hand geschrieben wird. Es gibt sogar Studien, die nahelegen, dass Lernstoff besser behalten wird, wenn er mit der Hand niedergeschrieben wird. Das Schreiben mit der Hand aktiviert sehr viel mehr Hirnareale als das Tippen auf Rechner, Tablet oder Smartphone. Natürlich kann ich Ihnen nicht vorschreiben, wie und auf welchem Medium Sie Ihre Gedanken zusammentragen, ich würde mich aber freuen, wenn Sie sich trotz Rundumdigitalisierung Stift und Papier schnappen und dieser ganz und gar analogen Form eine Chance geben würden.

Machen Sie die Übungen nicht nur im Kopf, sondern halten Sie Ihre Ergebnisse auch schriftlich fest.

Ich persönlich stehe auf schöne Notizbücher. Mit gutem Papier und buntem Einband, der sich gut anfühlt. Gleiches gilt für meine Schreibutensilien – sie müssen gut in der Hand liegen und dürfen nicht zu sehr übers Papier kratzen. Ja, ich gebe es zu: Da bin ich ein echter Nerd. Das heißt ja nicht, dass Sie sich diesem Spleen anschließen müssen. Wenn es für Sie auch eine alte Kladde tut oder eine Loseblattsammlung, die Sie in einem Ordner zusammentragen, oder die Rückseiten alter Ausdrucke und dazu irgendein Werbekugelschreiber – wunderbar! Generell würde ich allerdings dazu raten, kein zu kleines Format zu nehmen – nutzen Sie mindestens DIN A5, vielleicht sogar DIN A4. Und, ganz wichtig: Lassen Sie bitte Platz bei allem, was Sie notieren – für weitere Gedanken, Ergänzungen und Anmerkungen. Also nicht alles futzelklein untereinander schreiben, sondern ruhig großzügig arbeiten.

Suchen Sie sich außerdem einen Ort, an dem Sie ungestört Ihren Gedanken nachhängen können und an dem nicht alle naselang jemand vorbeikommt und etwas von Ihnen will. Vielleicht haben Sie einen Lieblingsplatz, an dem Sie es besonders muckelig haben?

Bei mir ist es unser Küchensofa, von dem aus ich einen wunderbaren Blick in die Natur habe. Außerdem ist die Kaffeemaschine nicht weit entfernt, und im besten Fall liegen unser Hund unter und die Katzen mit auf dem Sofa – herrlich! Wenn ich nicht gestört werden will, setze ich mir außerdem meine Kopfhörer auf, die die Außengeräusche auf ein Minimum reduzieren – eine ganz großartige Erfindung, diese Noise-Cancelling-Dinger. Ich habe manchmal nicht mal Musik an, sondern setze sie einfach auf, um meine Ruhe zu haben. Dann kann mein Mann trotzdem in der Küche rumwurschteln, und ich bin nicht genervt davon.

Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie ungestört Ihren Gedanken nachhängen können.

Dieses Muckelig-Machen hört sich vielleicht für manche merkwürdig an – schließlich ist das hier ein Arbeitsbuch, ein Workshop für daheim. Da darf es doch nicht zu gemütlich zugehen! Und ich sage: Doch! Das muss es sogar. Es ist so toll, dass Sie sich Zeit für sich selbst nehmen und etwas angehen, was nicht ganz einfach ist. Da ist es ganz wichtig, dass Sie sich eine Atmosphäre schaffen, in der Sie sich wohlfühlen. Das hat auch etwas mit dem wertschätzenden Umgang mit sich selbst zu tun. Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären Ihre beste Freundin – die würden Sie zu einem intensiven Gespräch über ein aktuelles Problem ja auch nicht vor sich auf den Schreibtischstuhl tackern.

Ein weiterer Hinweis, der sich auf den ersten Blick irritierend anhören könnte: Machen Sie mit sich selbst Termine aus. Klingt schräg, aber seien wir mal ehrlich: Wie oft haben Sie sich in den letzten Monaten Zeit genommen, um über sich selbst nachzudenken? Und zwar nicht nur so nebenbei, sondern ganz gezielt? Genau – wenig bis gar nicht. Deswegen mein Tipp: Tragen Sie sich im Kalender Zeiten ein, in denen Sie sich diesem Buch widmen wollen. Das heißt nicht, dass Sie das unter allen Umständen einhalten müssen. Es gibt Tage, da gerät alles durcheinander, oder Ihr Hirn mag nicht so, wie Sie es wollen – dann schieben Sie die Verabredung mit sich selbst auf einen anderen Zeitpunkt.

Für alle, die Kinder haben, ist diese Hürde sicher eine der höchsten – sich aus dem regen Familienleben rauszuziehen und etwas nur für sich zu machen, ist oft eine große Herausforderung und nicht immer machbar. Vielleicht haben Sie ja die Möglichkeit, sich mit Ihrem Partner abzusprechen oder die Kinder einmal in der Woche an die (Schwieger-)Eltern abzugeben – und wehe, Sie putzen dann in dieser Zeit die Fenster, weil’s gar so schön ruhig ist!

Sich Freiräume für sich selbst zu schaffen, ist aber auch ohne Kinder nicht immer einfach – schnell plagt uns das schlechte Gewissen, vielleicht werfen Sie sich sogar Egoismus vor. Aber denken Sie immer daran: Ziel ist, dass es Ihnen auf Dauer besser geht. Dass es Ihnen gelingt, aus dem Nettigkeits-Hamsterrad auszubrechen. Und wenn es Ihnen besser geht, wenn Sie mit sich selbst im Reinen sind, kommt das auch Ihrem Umfeld zugute.

Sich Freiräume für sich selbst zu schaffen, ist nicht immer einfach – schnell plagt uns das schlechte Gewissen.

Und bitte: Hetzen Sie nicht durch dieses Buch. Ärgern Sie sich nicht, wenn Sie nicht so schnell vorankommen, wie Sie es sich vorgestellt haben. Jeder hat sein eigenes Tempo – Sie bestimmen, wann es wie weitergeht. Vielleicht verharren Sie an einem Punkt etwas länger oder beißen sich auch mal an einer Aufgabe fest – das ist völlig in Ordnung und normal. Gleiches gilt für Rückschläge, die vorkommen werden. In der Achtsamkeitspraxis gibt es den Begriff „Anfängergeist“. Gemeint ist damit eine bestimmte Haltung, die es jedem erlaubt, jede Situation immer wieder ganz neu zu betrachten und nicht in der Vergangenheit zu verharren, sondern ganz im Hier und Jetzt zu verweilen. Was sich ein klein wenig esoterisch anhört, ist unheimlich hilfreich für den Alltag, denn: Es geht nicht darum, ob Sie diese und jene Aufgabe schon erfüllt haben, sondern darum, immer wieder neu zu beginnen und sich nicht über Vergangenes zu ärgern.

Wenn ein Tag blöd gelaufen ist und ich quasi nichts von dem geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe, sage ich mir mittlerweile immer: Morgen ist ein ganz neuer, frischgewaschener Tag, an dem ich neu anpacken kann – und wenn ich es dann geschafft habe, endlich mal wieder zu meditieren oder Yoga zu machen, freue ich mich darüber und habe wieder einen guten Anknüpfungspunkt gefunden. Das heißt für Sie: Wenn Sie mal nicht dazu gekommen sind, sich Zeit für sich zu nehmen und eine Aufgabe zu bearbeiten, dann ist das so. Lassen Sie sich nicht von dem Gedanken „Ach, dann bringt das ja eh nichts, wenn ich da nicht jeden Tag dran arbeite“ in die Flucht schlagen.

Wenn ein Tag blöd gelaufen ist, sage ich mir immer: Morgen ist ein ganz neuer Tag, an dem ich neu anpacken kann.

Seien Sie auch mal rebellisch!

In meinen Workshops freue ich mich immer, wenn Teilnehmer auch mal anderer Meinung sind als ich – das macht die gemeinsame Arbeit erst richtig spannend. Das heißt für Sie: Sie müssen nicht mit allem übereinstimmen, was in diesem Buch steht. Seien Sie auch mal rebellisch, überblättern Sie Seiten, schreiben Sie auch mal „So ein Quatsch!“ neben den Text, wenn Sie damit nicht einverstanden sind. Das ist okay – und nein, ich merke das nicht. Abgesehen davon: Sie sollen ja üben, auch mal nicht nett zu sein, deswegen befürworte ich das ganz ausdrücklich!

Ich hoffe aber sehr, dass Sie auch viel lachen beim Lesen. Lachen entspannt, es hilft uns, mehr Leichtigkeit in unser Leben zu bringen – und: Wer lacht, kann sich nicht ausschimpfen. Seien Sie bitte wertschätzend mit sich selbst und nicht allzu streng.

Die 72-Stunden-Regel

Als sehr hilfreich für alles, was ich neu anpacken möchte, empfinde ich die 72-Stunden-Regel. Kennen Sie nicht? Macht nichts – sie war auch für mich eine Neuentdeckung, die ich nun nicht mehr missen möchte. Sie besagt: Wenn Sie sich etwas vornehmen, unternehmen Sie den ersten Schritt in Richtung Ziel unbedingt innerhalb von 72 Stunden. Damit erhöhen Sie die Chance, das Ziel auch zu erreichen, ganz wesentlich.

Es gibt sogar Untersuchungen, die sagen, dass 99 Prozent aller Vorhaben, die nicht innerhalb dieser Frist angepackt werden, nicht umgesetzt werden. Sie könnten nun natürlich den Kauf dieses Buches als ersten Schritt ansehen – aber damit kommen Sie mir nicht durch, denn so ein Buch landet (genauso wie beispielsweise die Joggingschuhe oder die Yogamatte oder …) ganz fix in einer Ecke und ist damit aus den Augen, aus dem Sinn. Deswegen starten wir gleich mal mit der ersten Übung.

Übung: Die ersten drei Schritte

Überlegen Sie sich, was Ihre ersten drei Schritte sein werden, die Sie in Sachen „Raus aus der Nettigkeitsfalle“ unternehmen werden. Schnappen Sie sich Stift und Papier und legen Sie los! Es müssen gar keine großen Schritte sein – so etwas wie „ein Notizbuch kaufen“ oder „mir einen muckeligen Platz für die Arbeit an und mit mir selbst suchen“ zählen auch.

WIE VERÄNDERUNG MÖGLICH IST: SCHRITT FÜR SCHRITT

In ihrem Buch „Das große Los“ beschreibt die Journalistin Meike Winnemuth, wie sie sich während einer großen Reise verändert hat. Ein zauberhaftes Buch mit vielen tollen Erkenntnissen und Hinweisen. Einen davon will ich Ihnen mitgeben: „das Vorübergehende zu lieben. Mehr ‚estar‘, weniger ‚ser‘.“ Was sie damit meint? Im Spanischen gibt es zwei Worte für „sein“: „Ser“ wird für etwas Unabänderliches verwendet, „estar“ für einen vorübergehenden Zustand. Rufen Sie sich das immer mal wieder in Erinnerung: dass „die Dinge nicht immer so sind, wie sie sind, sondern halt nur zurzeit“.

Der Wille als Anschubser

Sie kennen das bestimmt: Sie haben sich beispielsweise vorgenommen, ab sofort mindestens dreimal die Woche laufen zu gehen, weniger Süßigkeiten zu essen, sich jeden Tag einen Salat zu machen oder mehr Obst zu essen. Nach spätestens einer Woche fallen Sie aber ganz fix wieder in Ihre alten Gewohnheiten zurück. Die Pizza schmeckt einfach zu gut, draußen ist es viel zu nass zum Joggen, das Obst war irgendwann alle … Nichts war’s also mit dem neuen Gesundheitsplan – und das, obwohl Sie es sich doch so fest vorgenommen hatten und obwohl es Ihnen da oben im Kopf doch völlig klar war und ist, dass all die guten Vorsätze Ihnen und Ihrem Körper doch so guttun würden. Und nun fragen Sie sich vielleicht: Wenn das schon nicht gelingt, wie soll denn dann aus Mrs. oder Mr. Ewig-Nett jemand anderes werden? Wie soll es Ihnen gelingen, sich in Situationen, die so viel wichtiger sind als die Frage „Pizza oder Salat?“, anders als gewohnt zu verhalten? Die Antwort: Mit Geduld. Denn: Eine solche Veränderung geht nur Schritt für Schritt. Mit der richtigen Strategie und viiieel Übung.

„Uff, hört sich anstrengend an“, denken Sie jetzt vielleicht – und ich kann Ihnen nur antworten: „Ja. Aber anders wird nichts draus.“ Nur das Wollen, nur der Entschluss zur Veränderung reicht leider einfach nicht aus. Und bitte, glauben Sie keinem, der Ihnen sagt: „Du musst nur wollen.“ Klar, der Wille muss da sein – er ist sozu sagen der Anschubser, der Sie schon mal in die richtige Richtung bugsiert – aber dann wird’s schwierig.

Warum? Ich beschreibe das mal an einem Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen herrlichen, dicht bewachsenen Wald. Welchen Weg nehmen Sie? Wahrscheinlich wählen Sie den bereits vorhandenen, bereits etwas ausgetretenen Pfad. Warum machen Sie das? Warum gehen Sie nicht mittendurch, über Stock und Stein, mitten durchs Dickicht? Weil es doch viel einfacher ist, den bereits vorhandenen Weg zu nehmen. Weil die Gefahr, dass Sie sich verlaufen, nicht mehr zurückfinden oder sich den Fuß verstauchen, viel größer ist, wenn Sie vom Weg abweichen. Ihr Gehirn funktioniert genauso: Es wählt immer erst mal den einfachsten Weg, und das ist der, den es kennt.

Das Gehirn wählt immer erst mal den einfachsten Weg, und das ist der, den es kennt.

Unser Gehirn mag Veränderung nicht, denn es ist darauf trainiert, uns das Überleben zu sichern – und wo überlebt es sich besser als dort, wo wir uns auskennen? Dafür hat dieses System unzählige Verhaltensmuster angelegt, die es im passenden Moment abspielt – und zwar ohne mit uns Rücksprache zu halten, das freche Ding! Diese unbewussten Abläufe sind sehr oft sehr praktisch, zum Beispiel beim Auto- oder Radfahren, Duschen und Einkaufen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten jedes Mal überlegen, wie das noch mal geht mit dem Haarewaschen oder dem Schalten vom ersten in den zweiten Gang. Da wären Sie ganz schön beschäftigt.

Diese Automatismen sorgen aber eben auch dafür, dass Veränderungen nicht so einfach zu vollziehen sind. Unser Gehirn ist außerdem darauf aus, sehr energiesparend zu arbeiten, damit für Notfälle ausreichend Energie da ist – deswegen liebt es klare Abläufe. Zusammengefasst heißt das also: Nur weil wir uns einen neuen Weg durch das Dickicht im Gehirn bahnen wollen, tut sich nicht durch Zauberhand auf einmal ein Weg auf.

Das Gehirn mit kleinen Schritten überlisten

Was bedeutet das nun für Sie und Ihren Veränderungswillen? Dass das Gehirn sich erst mal sträubt, weil es für neue Verhaltensweisen noch gar keinen Weg angelegt und absolut keinen Bock hat, diese Anstrengung auf sich zu nehmen. Wie können Sie es trotzdem schaffen? Indem Sie klein anfangen. Bleiben wir mal bei dem Bild des Waldes: Verschaffen Sie sich erst einmal einen Überblick über die Beschaffenheit des Ortes. Wo ist das Dickicht vielleicht etwas leichter zu durchdringen? An welchen Stellen kommen Sie leichter voran? Wo sind die Erfolgsaussichten, dass Sie ohne größere Blessuren durchkommen, am besten?

Wenn Sie eine passende Stelle gefunden haben, schneiden Sie sich den Weg erst mal mit einer kleinen Rosenschere frei und nehmen nicht gleich die Motorsäge, die Ihnen beim ersten Versuch um die Ohren fliegt. Ein paar Meter reichen auch schon, Sie müssen sich nicht gleich durch den kompletten Wald arbeiten.

Übersetzt für Ihren Veränderungswillen heißt das: Nehmen Sie sich für Ihre neue Verhaltensweise nicht gleich die schwierigste Situation vor, sondern eine vergleichsweise einfache. Eine, bei der Sie nicht gleich schweres Geschütz auffahren müssen. Die Sie ohne große Anstrengung hinbekommen. Dann steigern Sie sich nach und nach – und bahnen sich so Stück für Stück einen Weg durch Ihr widerspenstiges Gehirn und legen einen neuen Weg an, den Sie nach einiger Zeit ganz einfach und ohne Mühen nehmen können.

Nehmen Sie sich für Ihre neue Verhaltensweise nicht gleich die schwierigste Situation vor, sondern eine einfache.

Vielleicht denken Sie jetzt: „Aber dann dauert das ja ewig, wenn ich nur in Trippelschritten vorangehe!“ Da kann ich Ihnen nur recht geben – und gerade weil ich selbst ein so ungeduldiger Mensch bin und am liebsten immer alles sofort umsetzen will, kann ich diesen Gedanken sehr gut verstehen. Dennoch, die Vorteile dieses stückchenweisen Vorgehens überwiegen:

Erstens brauchen Sie weniger Kraft dafür und halten länger durch. Der Weg hin zum freundlichen, sich klar äußernden Menschen ist nun mal keine Sprintstrecke, sondern eine Langstrecke mit Höhen und Tiefen. Zweitens löst Ihr Gehirn nicht gleich Großalarm aus. Im Wald merkt der Förster auch nicht gleich, wenn Sie irgendwo ein Zweiglein abgebrochen haben, um sich den Weg zu erleichtern. Drittens werden Sie weniger schnell entmutigt, was Ihre Chancen auf eine dauerhafte Veränderung deutlich steigert. Und viertens: Sie können sich an jedem kleinen Schritt erfreuen – und diese positiven Gefühle sind sehr wichtig. Denn sie sorgen dafür, dass sie die Veränderung wirklich spüren und nicht nur rational in Ihrem Kopf wahrnehmen.

Die Bedeutung positiver Gefühle für den Erfolg

Ganz wichtig, gerade in schwierigen Phasen, in denen Sie den Plan mit dem Weniger-nett-Sein vielleicht wieder aufgeben wollen: Unterstützen Sie Ihr Gehirn darin, Ihre Erfolge und die damit verknüpften positiven Gefühle wahrzunehmen und abzuspeichern, denn auch darin ist es leider entsetzlich schlecht. Unter anderem dafür haben Sie Ihr Notizbuch. Darin notieren Sie bitte jede Situation, die erfolgreich war, denn: Ihr Gehirn wird Ihnen immer erst mal die Situationen vor Augen führen, in denen Sie in Ihr gewohntes Verhalten zurückgefallen sind und in denen Sie sich über sich selbst geärgert haben.

Auch das ist – und das finde ich immer ungemein beruhigend, weil es nicht an uns, sondern in unserer Natur liegt – evolutionär bedingt. Dafür können wir gar nichts, denn unser Gehirn ist es gewohnt, in Katastrophen zu denken, schließlich hat der Mensch früher in erster Linie überlebt, weil sein Gehirn ihn auf mögliche Gefahren aufmerksam gemacht hat, also etwa Hunger, Kälte oder den Säbelzahntiger, der plötzlich um die Ecke kam. Da war der Urzeitmensch auf einen Schlag hellwach. Positive Gefühle wurden damals eher im Vorbeigehen wahrgenommen, weil sie unsere Vorfahren eben nicht vor dem Tod bewahrt haben.

Unterstützen Sie Ihr Gehirn darin, Ihre Erfolge und die damit verknüpften positiven Gefühle wahrzunehmen und abzuspeichern.

Der amerikanische Sozialpsychologe Martin Seligmann hat den Begriff „katastrophisches Gehirn“ geprägt. Das bedeutet vereinfacht gesagt, dass unser Gehirn mehr negative als positive Dinge wahrnimmt. Dieses Programm greift noch heute in unserem Kopf. Beobachten Sie sich mal im Alltag: Wenn etwas nicht funktioniert, sind Sie mit voller Aufmerksamkeit dabei. Wenn etwas reibungslos klappt, sind Sie vielleicht erstaunt, aber freuen Sie sich darüber? Wenn überhaupt, dann wahrscheinlich zu selten – gute Gefühle gleiten an uns ab wie ein Spiegelei an einer gut beschichteten Pfanne. Schwupps, weg! Die schlechten Gefühle kleben dafür an uns wie fiese Kletten.

Dazu kommt, dass viele von uns immer noch den alten Spruch „Eigenlob stinkt“ verinnerlicht haben, den ich für eine der größten Blödheiten überhaupt halte. Demnach dürften wir also auf alle anderen stolz sein, nur nicht auf uns selbst? Wie bitte soll denn dann innere Kraft entstehen? Wie sollen Sie sich selbst motivieren auf Ihrem Weg?

Man stelle sich das mal vor: Wenn es danach ginge, müssten Sie bei jedem kleinen Erfolg jemanden aus Ihrem Umfeld bitten, Ihnen auf die Schulter zu klopfen und „Gut gemacht!“ zu sagen. Nee, nee, nee – das übernehmen Sie bitte schön selbst: Indem Sie ab jetzt wirklich jeden kleinen Erfolg notieren und sich darüber freuen. Vielleicht finden Sie sogar ein Signalwort für sich, das Sie sich selbst sagen, wenn Sie erfolgreich nicht nett waren. Klappt bei Hunden ja auch hervorragend und hilft dabei, die neue Verhaltensweise besser im Gehirn zu verankern – es muss ja nicht „Fein gemacht!“ sein (wobei: Ich fände das recht amüsant!).

Übung: Erfolge würdigen

Halten Sie ab sofort jeden Erfolg ganz bewusst in Ihrem Notizbuch fest. Stichworte reichen, z. B.: „Nachbarin stinkenden Müll vor der Tür stehen lassen, diesmal aktiv auf Nachbarin zugegangen und sie gebeten, ihn immer sofort zu entsorgen und nicht stillschweigend die Tüte zum Müll getragen, stolz auf mich gewesen.“

Zusätzlich tun Sie bitte noch Folgendes: Wenn es Ihnen gelungen ist, aus der Nettigkeitsfalle auszubrechen, klopfen Sie sich selbst auf die Schulter – und zwar nicht nur in Gedanken, sondern wirklich – links UND rechts! Ja, Sie werden sich dabei ein wenig bekloppt vorkommen, aber glauben Sie mir: Es wird Ihnen guttun!

Sie müssen das ja nicht in der Öffentlichkeit machen. Das geht auch daheim oder in der Klokabine. Machen Sie das wirklich ganz bewusst! Ich verspreche Ihnen, dass Sie nicht vor Selbstlob stinken werden, sondern dass Sie das auf Dauer sehr zufrieden machen wird.

Wahrscheinlich wird es Ihnen am Anfang schwerfallen, sich auf die guten Gefühle zu konzentrieren – aber genau die brauchen Sie ganz dringend, um dazuzulernen. Und nichts anderes ist es, was Sie vorhaben: Sie werden neue Verhaltensweisen lernen.

Denken Sie mal an Ihre Schulzeit zurück: Wann sind Sie richtig gern in den Unterricht gegangen und konnten sich den Lernstoff besonders gut merken? Wenn Sie mit Spaß an ihn herangeführt wurden und Erfolgserlebnisse hatten. Dann tanzen die Synapsen in unserem Hirn, der Körper schüttet das Glückshormon Dopamin aus und sorgt dafür, dass unser Gehirn besser funktioniert. Quasi ein Glückskreislauf, der bewirkt, dass wir uns von Erfolgserlebnis zu Erfolgserlebnis hangeln können.

Genau diesen Effekt machen Sie sich beim Erlernen neuer Verhaltensweisen auch zunutze. Das kann sich ab und zu etwas absurd anfühlen – einerseits werden Sie sich unwohl fühlen, weil Sie gerade zu jemandem nicht nett waren, andererseits werden Sie sich freuen (oder es zumindest versuchen!), weil Ihnen genau das gelungen ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Die guten Gefühle sind von längerer Dauer!

Die Neuroplastizität des Gehirns

Nein, keine Sorge – ich halte Ihnen jetzt keinen neuropsychologischen Vortrag. Ich will Ihnen aber einmal kurz und ohne wissenschaftliches Geschwurbel erklären, warum Veränderung wirklich und tatsächlich und ganz ehrlich möglich ist, auch bis ins hohe Alter. Lange Zeit war man diesbezüglich ganz anderer Meinung – frei nach dem Motto „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Das ist Quatsch. Gerald Hüther, ein ganz wunderbarer, schlauer und humorvoller Neurowissenschaftler, hat das mal so formuliert: Auch ein 80-Jähriger kann noch Chinesisch lernen, wenn er sich in eine Chinesin verliebt hat. Mit dem richtigen Ansporn geht alles!

Mit dem richtigen Ansporn geht alles!

Klar – der in die Jahre gekommene Hans braucht manchmal vielleicht ein bisschen länger, um Neues zu verinnerlichen, aber dass die Entwicklung und Formung des Gehirns mit dem Erwachsensein abgeschlossen ist, ist heute hinreichend widerlegt.

Man kann den Menschen ja – und das ist etwas, was mich wirklich begeistert – heute mit lauter schicken Methoden in den Kopf gucken und genau sehen, wie sich bestimmte Bereiche im Gehirn verändern oder welche Bereiche in welchem Moment aktiviert sind. Und so hat man entdeckt, dass die Neuronen – unsere Nervenzellen – sehr eng vernetzt sind und diese Vernetzungen (sprich: Wege) sich der jeweiligen Situation anpassen.

Das machen sie natürlich nicht auf Befehl und auch nicht innerhalb von Sekunden, sondern – tadaaa! – nur dann, wenn sie entsprechend trainiert werden. Vielleicht haben Sie mal ein Musikinstrument erlernt – dann wissen Sie, dass so etwas Übung, also Training, benötigt. Ganz wichtig ist aber: Ihr Gehirn braucht den richtigen Ansporn. Ohne Begeisterung für das, was Sie erlernen wollen, geht nun mal nichts oder zumindest nicht viel.

Stellen Sie sich vor, jemand drückt Ihnen eine Blockflöte in die Hand und sagt Ihnen, dass Sie in zehn Tagen eine Prüfung haben und bis dahin „Oh du fröhliche“ draufhaben müssen. Nun finden Sie Blockflötenmusik ganz schaurig. Wie groß wäre Ihre Motivation wohl, dieses Instrument zu lernen? Genau: Eher nicht so. Deswegen werden Sie den Prüfern auch eher etwas vorquietschen als vorflöten (wenn überhaupt). Nun stellen Sie sich vor, Sie wären von Kindesbeinen an der größte Blockflötenfan ever gewesen, hätten aber nie die Gelegenheit gehabt, Musikunterricht zu nehmen – dann werden Sie das Stück in Nullkommanichts erlernt haben und in Zukunft jede Familienfeier mit exquisiten musikalischen Beiträgen bereichern.

Wir sind also in der Lage, unser Gehirn entsprechend den Anforderungen zu verändern. Ihre Daueraufgabe in den nächsten Wochen ist also, sich und Ihr wunderbares Gehirn ordentlich anzuspornen und auch herauszufordern, denn auch an einer gut gewählten Herausforderung wachsen wir. Nach und nach wird sich Ihr Gehirn die neuen Verhaltensweisen einprägen und entsprechend neue Wege anlegen.

Auch hier noch mal der Hinweis: Haben Sie Geduld mit sich und schimpfen Sie vor allem nicht mit sich, wenn Ihr Gehirn ein bisschen länger braucht! Hélène Grimaud ist nicht als hochkarätige Klavierspielerin auf die Welt gekommen, Roger Federer wurde nicht mit einem Tennisschläger in der Hand geboren. Die Gleichung lautet nun mal: Mehr neue Verschaltungen im Gehirn durch mehr Training oder auch „Use it or lose it“. Und ich verrate Ihnen noch etwas ganz Wunderbares: Sie können Ihr Gehirn sogar nur durch Ihre Vorstellungskraft trainieren.

Wenn Sie Sorge haben, doch wieder Ja zu etwas zu sagen, was Sie gar nicht wollen, dann stellen Sie sich die ganze Sache erst mal vor.

Wenn Sie also, vor allem am Anfang, ein wenig Sorge haben, in einer realen Situation wieder einzuknicken und doch Ja zu etwas zu sagen, was Sie gar nicht tun wollen, dann stellen Sie sich die ganze Sache erst mal vor.

Das ist ein bisschen wie eine Trockenübung, wenn man Schwimmen lernen will – man übt beispielsweise die Kraulbewegung erst mal an Land, ohne Wasser und die damit verbundene Atemtechnik. Genauso machen Sie es auch.

Übung: Das Gehirn durch die Vorstellungskraft trainieren

Suchen Sie sich ein möglichst ruhiges Fleckchen, an dem Sie ungestört sind – im besten Fall haben Sie sich schon Ihren Übungsort eingerichtet.

Führen Sie sich nun eine Situation vor Augen, die Sie entweder bereits erlebt haben oder die Ihnen bevorsteht und in der Ihr Zu-nett-Sein im Mittelpunkt steht. Spielen Sie sie nun mithilfe Ihrer Vorstellungskraft durch, und zwar unbedingt so, wie Sie aus Ihrer Sicht laufen sollte. Wichtig ist auch: so konkret wie möglich und so positiv wie möglich. Sparen Sie sich unbedingt Gedanken wie „Ich will nicht wieder so verschüchtert sein“, sondern arbeiten Sie mit Formulierungen wie „Ich werde selbstbewusst reagieren.“

Beschwören Sie alles herauf, was mit dieser Situation zusammenhängt: die Menschen, den Ort, die Geräusche und Gerüche, Ihre Gefühle – alles, was Ihnen möglich ist. Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Regisseur, der gerade eine ganz wichtige Szene dreht und jede Einzelheit genau bestimmen kann. Und dann: Action, bitte!

Wenn Sie mögen: Schreiben Sie in Ihr Notizbuch, wie Sie sich bei dieser Übung gefühlt haben. Ist sie Ihnen schwergefallen? Wenn ja, was genau war schwierig für Sie? Und was war leicht?

Diese Übung können Sie immer wieder mal machen. Je öfter, desto besser. Sie eignet sich besonders gut für Situationen, die Sie bereits erlebt haben und in denen Sie gern anders gehandelt hätten. Damit zeigen Sie Ihrem Gehirn: „Guck mal, es gibt auch andere Handlungsoptionen.“ Das heißt nicht, dass Sie sich im Nachhinein über Ihr Verhalten ärgern sollen – das mit dem Ärgern ist sowieso eine doofe Idee, denn Ärger bremst uns aus. Sehen Sie es eher als wohlwollendes Umschreiben der Vergangenheit – und eine sanfte Art der Gehirn-Umprogrammierung.

Am Anfang wird Ihr innerer Regisseur vermutlich Schwierigkeiten haben, diese Szene in seinem Sinn ablaufen zu lassen. Schließlich hat Ihr Gehirn ganz andere Verhaltensmuster in petto, als Sie sich gerade vorstellen, und Sie werden mehr als einmal auch in Gedanken in Ihr übliches Fahrwasser abgleiten. Das ist völlig normal. Wenn Sie merken, dass die Szene gerade ganz anders läuft, als Sie es in Ihrem Drehbuch vorgesehen haben, holen Sie Ihre Gedanken behutsam wieder zurück und drehen Sie die Szene noch mal neu so, dass sie für Sie passt. Nicht ungeduldig werden!

Das ist übrigens eine Übung, die Sie immer mal wieder zwischendurch machen können – einfach mal das Handy beim Warten an der Bushaltestelle in der Tasche lassen und vor dem inneren Auge eine solche Szene durchspielen. Je öfter, desto besser!

Kleiner Exkurs zum Thema Heldenreise

Diese kleinen inneren Filme, die Sie da drehen, sind im Grunde alle kleine Abenteuerfilme – nur dass Ihr Abenteuer nicht darin besteht, die Welt zu retten oder einem verlorenen Schatz hinterherzujagen, sondern neue Verhaltensmuster für sich zu entdecken. Es gibt eine ganz wunderbare Methode aus der Gestalttherapie, die ich Ihnen gern kurz vorstellen will – sie kann Ihnen in Zeiten, in denen das mit der Verhaltensänderung nicht so gut klappt, als Ansporn dienen. Gemeint ist die Heldenreise, die vor allem von dem Mythenforscher Joseph Campbell genauer untersucht und von dem Psychotherapeuten Paul Rebillot weiterentwickelt wurde. Das Grundmuster ist das folgende – ich habe es Ihnen der Einfachheit halber aufgemalt:

Sie werden das Grundmuster vermutlich ab jetzt in vielen Filmen und Büchern wiedererkennen – so ging es jedenfalls mir, als ich das erste Mal damit in Berührung gekommen bin. Ich will hier gar nicht auf Details eingehen, sondern Sie nur auf ein paar wichtige Punkte aufmerksam machen:

Jeder Held erlebt Rückschläge. Ob Harry Potter, Frodo Beutlin oder James Bond: Sie alle sind nicht einfach zum Ziel durchmarschiert, sondern mussten auch wirklich fiese Tiefschläge überstehen. Wäre sonst auch arg langweilig, oder? Und nicht nur das: Ohne Tiefen keine Höhenflüge und auch kein inneres Wachstum.

Jeder Held hat Helfer. Ohne Hermine und Ron, ohne Sam, ohne diverse Unterstützer hätten Harry, Frodo und James ihre Abenteuer wohl nie überstanden. Und wenn selbst die sich Unterstützung geholt haben, dürfen Sie das auch tun!

Jeder Held bekommt am Schluss eine Belohnung. Harry wird glücklicher Familienvater, Frodo segelt zur Elbeninsel, James bekommt Ruhm und Ehre (und, ja, natürlich auch die eine oder andere Frau). Und auch auf Sie wartet am Ende etwas Wunderbares, beispielsweise Zufriedenheit und das gute Gefühl, dass Sie in Ihrem Sinne handeln und nicht in dem anderer.

Vielleicht hilft Ihnen ja der Gedanke, Ihre eigene Entwicklung in der nächsten Zeit als Ihre eigene Heldenreise zu sehen, denn das sind Sie: ein Held oder eine Heldin und sehr mutig, denn nicht jeder traut sich auf eine solche Entwicklungsreise.

Was tun bei Rückschlägen?

Sie haben es an der Heldenreise gesehen: Ohne Rückschläge wird auch Ihre Reise nicht ablaufen. Sie werden in Ihrem Gehirn auf unwegsames Gelände treffen, auf Morast, in dem Sie steckenbleiben, vielleicht sogar auf eine Mauer – und Sie werden sich fragen, ob denn der ganze Weg bisher umsonst war. Nein, war er natürlich nicht! Denn jeder Schritt, den Sie weg vom Ewig-nett-Sein machen, ist wichtig und wird Ihnen neue Erfahrungen verschaffen. Nicht jeder Schritt wird sich gut anfühlen, aber Sie werden sehen: Es geht auch anders – und die Welt wird überraschenderweise nicht untergehen, nur weil Sie mal nicht nett waren.

Ohne Rückschläge wird Ihre Reise nicht ablaufen, aber der Weg ist nicht umsonst!

Was also tun bei Hindernissen oder Rückfällen? Je nachdem, wie viel Kraft Sie gerade haben, werden Sie entweder eine kleine Pause einlegen, einen kleinen Umweg nehmen oder tief Luft holen und die Mauer mit einem Hammer einreißen. Vielleicht werden Sie sie auch Stein für Stein abtragen. Aber bitte: Bleiben Sie dran! All diese Hindernisse sind überwindbar, und manche stellen sich auch als Hirngespinste heraus, die sich bei näherer Betrachtung einfach wegpusten lassen.

Dieses Buch ist so gemacht, dass Sie das Tempo bestimmen können – und es ist völlig okay, wenn Sie es zwischendurch zur Seite legen (oder wahlweise auch mal in die Ecke pfeffern, wenn Ihnen danach ist) oder an einem Kapitel etwas länger knabbern. Ganz wichtig ist: Haben Sie Geduld mit sich und denken Sie immer wieder daran, dass Sie sich den Weg durch den Wald nicht mit Gewalt bahnen können – dann verheddern Sie sich nämlich ganz böse in den Himbeerranken und haben ganz schnell überhaupt keinen Bock mehr auf den ganzen Mist.

Das Umfeld als Stütze

Menschen sind sehr unterschiedlich, wenn es darum geht, etwas in ihrem Leben zu ändern. Die einen machen so etwas lieber mit sich selbst aus und sprechen erst darüber, wenn sie erfolgreich waren oder zumindest die ersten Schritte unternommen haben. Dann gibt es die, die ihre Pläne nur mit ein, zwei Menschen teilen, denen sie wirklich vertrauen. Und dann gibt es diejenigen, die ihr Vorhaben der ganzen Welt mitteilen und dafür auch fleißig alle zur Verfügung stehenden Kanäle nutzen. Ich neige eher zu Letzterem, was in manchen Situationen durchaus hilfreich ist – und noch heute nutze ich Facebook, um gute Nachrichten zu verbreiten, mir gut zureden zu lassen oder auch, um das dort vorhandene Schwarmwissen zu nutzen.

Letztlich entscheiden Sie ganz allein, ob Sie Ihren Wunsch, in Zukunft weniger nett zu sein, mit anderen teilen wollen oder nicht. Empfehlen würde ich: Seien Sie ein bisschen zurückhaltend mit Ihren Plänen, aber suchen Sie sich jemanden, mit dem Sie sich dazu austauschen können. Je mehr Menschen Sie erzählen, was Sie vorhaben, desto mehr stehen Sie auch unter Beobachtung – und das macht Druck. Und Druck ist etwas, was Sie weder jetzt noch in Zukunft brauchen können. Damit schaffen Sie sich nur eine weitere Hürde auf dem Weg zur Veränderung – und ich plädiere immer dafür, es sich nicht schwerer zu machen, sondern lieber leichter.

Vertrauen Sie Ihren Wunsch, in Zukunft weniger nett zu sein, nur wenigen Menschen an.

Suchen Sie sich also eine Hermine, einen Ron – das ist erlaubt und sogar gewünscht! Denn wenn Sie immer alles nur in Ihrem eigenen Kopf bewegen, kann es passieren, dass Ihre Gedanken irgendwann wild im Kreis rennen und Schabernack mit Ihnen treiben. Also, wählen Sie jemanden, dem Sie vertrauen, erzählen Sie ihm von Ihren Plänen und beobachten Sie seine Reaktion.

Wenn Ihr Gegenüber eher nicht begeistert erscheint von Ihrer Idee, aus dem Nettigkeits-Hamsterrad auszusteigen: schnell das Thema wechseln und die Freundschaft eventuell überdenken. Wenn Ihr Gegenüber begeistert sagt: „Na endlich! Das wurde aber auch Zeit!“, dann halten Sie denjenigen gut fest und überlegen Sie sich, wie Ihr Austausch aussehen soll. Regelmäßig oder sporadisch? In festen Abständen oder spontan? Darf Ihr Unterstützer Sie nach dem Stand der Dinge fragen, oder wollen Sie bestimmen, wann Sie etwas erzählen wollen?

Das klingt vielleicht etwas formal, macht aber Sinn, wenn Sie auch in Zukunft noch befreundet sein wollen. Ich bin immer für klare Regeln. Dann weiß jeder, woran er ist – gerade bei einem so sensiblen Thema eine echte Erleichterung, denn wie blöd wäre es, wenn Sie sich im Austausch darüber in die Wolle bekämen! Das Ganze ist ja ohnehin schon nicht ganz einfach – da brauchen Sie das nicht auch noch.

Reflektieren Sie, in welchen Situationen Ihnen Ihre Nettigkeit mal wieder dazwischengegrätscht ist, aber feiern Sie auch erste Erfolge.

Wichtig für Sie ist auch: Seien Sie ehrlich im Gespräch. So ein Austausch ist für die Katz, wenn Sie Ihr Gegenüber anflunkern. Es geht darum, zu reflektieren, in welchen Situationen Ihnen Ihre Nettigkeit mal wieder dazwischengegrätscht ist, und natürlich auch und vor allem darum (und ich kann es nicht oft genug sagen), erste Erfolge zu feiern – und wenn es nur ein erstes „Nein, danke!“ an der Käsetheke war, wenn Ihnen die Verkäuferin mal wieder die doppelte Menge Leerdammer andrehen wollte.

Stress als Gegenspieler von Veränderung

Ich hatte schon gesagt: Machen Sie es sich zu Beginn leicht. Dazu gehört auch, dass Sie mit Ihren Veränderungen in einer Zeit starten, die nicht allzu stressig ist. Denn: Stress ist einer der Gegenspieler der Veränderung. Um das zu erklären, muss ich ins Detail gehen – aber keine Sorge, ich werde Sie nicht mit medizinischen Fachbegriffen zuwerfen. Gleichwohl finde ich es wichtig, dass Sie wissen, was in Ihnen passiert, wenn Sie im Stress sind, und warum es dann besonders schwierig ist, Ihre neuen Verhaltensweisen umzusetzen. Das entlastet ungemein und sorgt dafür, dass Sie sich weniger über sich selbst ärgern, wenn’s mal nicht geklappt hat mit dem Nicht-Nett-Sein.

Was passiert also bei Stress im Körper? Im Grunde hat die Natur das ganz geschickt eingerichtet. In Ruhephasen ist der Parasympathikus am Start, in stressigen Phasen der Sympathikus. Beide zusammen bilden mit dem Darm-Nervensystem unser vegetatives Nervensystem, das auch als autonomes Nervensystem bezeichnet wird. An diesem Begriff merken Sie schon: Da werden ganz viele Abläufe in uns autonom, also ohne bewusste Beteiligung unsererseits, gesteuert, beispielsweise Atmung, Verdauung, Stoffwechsel, Herzschlag und vieles mehr. Im Idealfall sieht das Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus so aus:

Als perfekte Gegenspieler wechseln sie sich ab – den einen gibt es nicht ohne den anderen. Schwierig wird es, wenn der Sympathikus die alleinige Macht übernimmt – dann sind Sie im Dauerstress, und das macht krank, denn Ihr ganzer Körper ist permanent in Alarmbereitschaft. Das sieht dann so aus:

Die Folgen können gravierend sein – angefangen bei Verspannungen über Schlaflosigkeit bis hin zu schweren Organschäden. Wenn Ihr Dauer-Nett-Sein Sie also sehr stresst, empfehle ich dringend, regelmäßig runterzufahren – Sie werden einige passende Übungen in diesem Buch finden. Wenn das nicht hilft, begeben Sie sich bitte in professionelle Hände: Reden Sie mit Ihrem Hausarzt, suchen Sie sich einen guten Therapeuten und/oder Coach und ziehen Sie die Notbremse.

Ich hatte aber versprochen, nicht zur sehr in die Tiefe zu gehen, sondern Ihnen zu zeigen, warum Sie in stressigen Situationen oft auf eingefahrene Verhaltenswege zurückgreifen und nicht so reagieren, wie Sie es – beispielsweise in einfachen Situationen – geübt haben. Wenn der Sympathikus am Start ist, versetzt er den Körper durch die Ausschüttung von Stresshormonen (u. a. Adrenalin und Cortisol) in einen Zustand höherer Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft. Herzschlag und Blutdruck gehen hoch (damit die Muskeln mit wertvollem Sauerstoff vollgepumpt werden), die Pupillen weiten sich (damit Sie besser sehen können), die Verdauung wird gehemmt (die braucht man auf der Flucht nicht) – und er sorgt dafür, dass wir einen Tunnelblick haben und unsere ganze Aufmerksamkeit darauf richten, aus der unguten Situation zu fliehen.

Wenn der Sympathikus am Start ist, versetzt er den Körper in einen Zustand höherer Aufmerksamkeit und Fluchtbereitschaft.

Dieser ganze Ablauf war in der Steinzeit, bei der Flucht vor dem Säbelzahntiger, natürlich ausgesprochen hilfreich – und ist es auch heute noch in bestimmten Situationen, wenn zum Beispiel ein Auto auf Sie zurast und Sie gerade noch rechtzeitig zur Seite springen können. Dieses Programm wird aber auch aktiviert, wenn Kollege Meier wieder mit einem Stapel Akten in der Hand auf Sie zukommt und Sie genau wissen: „Das will der doch wieder bei mir abladen.“ Zack! Fluchtmodus aktiviert, sprich: Der Sympathikus ist am Start und sorgt für die Ausschüttung von Stresshormonen und den Tunnelblick – und wie das so ist in Tunneln: Da gibt’s nur geradeaus und keine Abzweigungen.

Ich vergleiche das immer mit der Fahrt auf einer französischen Autobahn: Die Franzosen schildern ihre kostenpflichtigen Autobahnen sehr gut aus, so dass Sie als Ortsunkundiger sie auf jeden Fall finden werden. Die Landstraßen hingegen, auf denen es sich auch sehr gut fahren lässt, die aber manchmal einen kleinen Umweg darstellen und vor allem nichts kosten, werden wenig bis gar nicht ausgeschildert. Stellen Sie sich also vor, Sie sind mit dem Auto in Frankreich unterwegs, schon ordentlich im Stress, weil Sie Paris längst hinter sich haben wollten – welche Straße werden Sie wohl nehmen? Die Landstraße, die Ihnen die schönere Aussicht verspricht, deren Abfahrt Sie aber auf Teufel komm raus nicht finden – oder die wunderbar ausgeschilderte Autobahn? Genau: Die Autobahn wird es wohl werden.

Und genauso läuft es auch in Ihrem Hirn, wenn Sie im Stress sind – um Energie zu sparen und schnell reagieren zu können, biegt Ihr Gehirn ganz schnell auf die Autobahn ab, auf den gewohnten und einfachen Weg. Wenn Sie jedoch vorher schon sehr oft auf die Landstraße abgebogen sind, wird Ihnen das nicht mehr so schnell passieren, denn: Sie wissen ja jetzt, wo es langgeht. Vielleicht verspüren Sie ab und zu den Impuls, auf die Autobahn abzubiegen, aber Sie haben gelernt, einmal tief durchzuatmen und Ihrem Gehirn klarzumachen: Nichts da – wir nehmen den neuen Weg!

Zusammengefasst heißt das also: Übung macht den Meister (das wird Sie nun nicht mehr überraschen), und ein kurzes Innehalten ermöglicht das Abbiegen. Wie das geht mit dem Innehalten und Abbiegen, erkläre ich Ihnen ausführlicher im Kapitel „Vom Automatismus zur Impulskontrolle“, vorweg will ich Sie aber mit ein paar kleinen Achtsamkeitsübungen versorgen, damit Sie bis dahin auch durchhalten!

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869106823
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Januar)
Schlagworte
Kommunikation Kommunikations-Ratgeber Nein sagen Selbsthilfe Kritik aushalten

Autor

  • Nele Süß (Autor:in)

Silke Weinig ist Coach, Trainerin und Bloggerin. In ihrer Arbeit befähigt sie Menschen darin, ihre individuellen Stärken zu entwickeln, um das Leben zu führen, das sie sich wünschen. Bei der Beratung kommen ihr ihre mehrjährigen internationalen Erfahrungen in verschiedenen Positionen, ihre psychologische Ausbildung und ihr ausgeprägtes Einfühlungsvermögen zugute. Silke Weinig bloggt zu aktuellen Themen wie Motivation, Potentialentfaltung oder was zu einem guten Miteinander verhilft. Sie ist eine gefragte Interviewpartnerin und Rednerin.
Zurück

Titel: Wege aus der Nettigkeitsfalle