Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
„Wie soll das Kind morgen leben können, wenn wir ihm heute kein bewusstes, verantwortungsvolles Leben ermöglichen?“
Janusz Korczak, 1878–1942, Arzt und Pädagoge
Kennen Sie das? Ihr Kind sollte eigentlich beim Tischdecken helfen, stattdessen provoziert es einen Streit mit Ihnen. Eben noch waren die Kinder nett am Spielen, und schon im nächsten Augenblick beißt die jüngere Tochter der älteren Schwester heftig in den Arm. Sie stehen mitten im Einkaufszentrum, und Ihr Kind liegt schreiend auf dem Boden, nur weil Sie gesagt haben, dass es jetzt noch kein Brötchen gibt. Der Junior will unbedingt die neuesten Nike-Schuhe, und weil Sie Nein sagen, läuft er motzend davon und knallt die Tür zu. Ihre Tochter kommt ohne Begrüßung von der Schule nach Hause, schmeißt Jacke und Schultasche in die nächste Ecke und flucht über den Lehrer, die anderen Kinder und die ganze Welt. Kennen Sie das?
Wir können Sie beruhigen: Sie sind nicht allein! Das gehört zum Elternsein und Familienleben dazu!
Wenn Kinder Wutausbrüche haben, kommen Eltern an ihre Grenzen. Denn Wutausbrüche werden rasch als elterliches Versagen oder Fehlverhalten des Kindes gedeutet. Dass Wut aber ein normales Gefühl ist und ein adäquater Umgang mit dem Gefühl gelernt werden muss, ist vielen nicht bewusst. Wutanfälle sind ein Tabuthema, über das niemand gerne spricht. Darüber zu reden und vielleicht sogar zuzugeben, dass Kinder Tobsuchtsanfälle haben oder Eltern überfordert sind, ist im idealisierten Bild der Elternrolle nicht vorgesehen. Dadurch verstärkt sich bei Eltern aber das Gefühl, dass solche Aussetzer nur beim eigenen Kind vorkommen. Viele trauen sich nicht, offen über ihre Sorgen und ihren Stress zu sprechen. Und so können kindlichen Wutausbrüche sogar zu Schuld- und Versagensgefühlen führen: Manche Eltern befürchten, dass diese Ausbrüche Anzeichen von Erziehungsversagen sind.
Es ist ein Tabuthema, öffentlich darüber zu reden, dass Kinder an -strengend sein können und sie zu erziehen selten entspannt ist. Die Realität sieht aber so aus: Kinder zu erziehen ist eine große Herausforderung, selbst dann, wenn die Kinder gesund sind. Die Idealisierung und Romantisierung des Familienlebens steigert den Druck zusätzlich, was letztlich zu noch mehr Stress und im schlimmsten Fall gar zu Erkrankungen führen kann.
Wie gehen Eltern mit den heftigen Gefühlen des Kindes um? Die elterlichen Reaktionen gehen von Hilflosigkeit bis zur autoritären Untergrabung solcher Gefühlsregungen. Dass sowohl das hilflose Nachgeben wie auch das aggressive Unterbinden dieser Gefühle nicht förderlich sein kann, scheint vielen klar, doch wie setzt man sich angemessen durch? Wie viel Wut ist noch normal?
Die Grundlage von allem sind gute Beziehungen. Eine wertschätzende Beziehung zwischen den Eltern als Partner ist ebenso wichtig wie eine liebe- und freudvolle Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern.
Gute Beziehungen sind die Grundlage von allem
Es geht in diesem Buch in erster Linie darum, wie Sie mehr gegenseitiges Verständnis füreinander entwickeln und die anspruchsvolle Aufgabe als Eltern mit mehr Leichtigkeit und Freude erfüllen können.
Dieses Buch hat zum Ziel, Sie als Eltern zu stärken und die Verbindung zu Ihren Kindern zu fördern. Kraftvolle und liebevolle Beziehungen sind geprägt von gegenseitigem Interesse, klaren Strukturen und Regeln. Das bedeutet, dass es auf ernst zu nehmende Aktionen wie einen Wutanfall ernst zu nehmende Reaktionen braucht. Eltern sollen wissen, dass klare Reaktionen für die kindliche Entwicklung und eine gute Eltern-Kind-Beziehung sehr wichtig sind. Kinder brauchen Steuerung von außen. Erst nach und nach lernen Sie, welche Auswirkungen ihr Verhalten hat. Und wenn wir uns bemühen, unser Kind in diesem Lernprozess zu verstehen und ihm dabei mit Mitgefühl, Verständnis und Interesse zu begegnen, dann schränkt dies nicht unsere elterliche Autorität ein, sondern stärkt unsere Rolle und Präsenz.
Dieses Buch vermittelt Ihnen einen Einblick, warum Kinder mit Wut reagieren, was „hinter der Wut“ stecken könnte, wie andere Eltern die Wut ihrer Kinder erleben und damit umgehen. Sie erhalten hilfreiche Reflexionsansätze und ganz konkrete Tipps, die Sie befähigen, mit der kindlichen Wut und Ihrer eigenen Reaktion darauf umzugehen.
In dieses Buch floss sowohl unser Fachwissen als Kinder- und Jugendpsychologin und Familienberater sowie unsere ganz persönliche Erfahrung als Eltern von drei Kindern ein. In unserer Arbeit suchen wir gemeinsam mit Kindern und deren Eltern nach Lösungen in schwierigen Lebenssituationen.
Um noch mehr über das Erleben von Eltern im Umgang mit der Wut ihrer Kinder zu erfahren, haben wir in der Vorbereitung dieses Ratgebers eine anonyme Online-Umfrage erstellt: Über einhundert Eltern haben uns offen von ihren Erfahrungen berichtet. Das Kapitel „Wie Eltern die Wut ihrer Kinder erleben“ bietet einen Einblick in die Erfahrungswelt anderer Mütter und Väter. Wenn man das Phänomen Wut besser verstehen möchte, dann lohnt es sich, das Kapitel „Was ist Wut und wie entsteht sie?“ zu lesen. Weiteres Grundlagenwissen findet man im Kapitel „Warum es zu Wutanfällen kommt“. Diese ersten Kapitel helfen, die Wut besser zu verstehen. Wer gleich etwas „Handfestes“ will, kann direkt das Kapitel „Wut als Lösungs-versuch“ lesen. In den darauffolgenden Kapiteln geht es schließlich darum, konkrete und praktische Unterstützung im Umgang mit der Wut zu bekommen. Im Kapitel „Konflikte angemessen lösen“ stehen Ansatzpunkte auf der Elternebene im Zentrum, dann folgt im Kapitel „Was dem Kind helfen kann, mit seiner Wut umzugehen“ der Fokus auf das Kind.
WAS IST WUT UND WIE ENTSTEHT SIE?
Was meinen wir eigentlich damit, wenn wir sagen: „Ich bin wütend“ oder „Mein Kind hat einen Wutausbruch“? Was kann denn einen Wutausbruch auslösen? Und: Was ist eigentlich Wut? Versuchen wir doch einmal, dieses komplexe Phänomen zu durchblicken.
Wut – ein Gefühl und ein Verhalten
WENN DIE WUT AUSBRICHT
Der fünfjährige Daniel spielt geräuschvoll auf dem Teppich mit seinen Autos. Er hat eine Spielautostraße aufgebaut und ist ganz ins Spiel versunken. Dem älteren Bruder Simon (7) ist langweilig. Simon geht in Daniels Zimmer und tritt auf die sorgfältig angeordneten Autos. Daniel, eben noch zufrieden in seiner Welt versunken, ist sehr enttäuscht, dass seine schöne Straße kaputt gemacht wurde, und fühlt sich von seinem älteren Bruder provoziert. Er schreit auf, packt voller Wut das nächstbeste Spielzeugauto und wirft es mit in Richtung seines Bruders. Aus Versehen trifft er seine jüngere Schwester, die gerade ins Zimmer kommt …
Dieses Beispiel zeigt, dass wir zwischen dem Gefühl Wut und der gezeigten Reaktion bzw. dem sichtbaren Verhalten unterscheiden müssen. Es ist klar: mit Autos herumschmeißen geht nicht. Dennoch ist Daniels Wut nachvollziehbar. Er fühlt sich durch seinen Bruder gestört. In seiner Wahrnehmung hat Simon die Autostraße absichtlich zerstört, und das empfindet er als unfair und gemein.
Wir können entscheiden, was wir tun und was wir lassen. Wir können aber nicht entscheiden, was wir fühlen.
Wut steht oft mit anderen Gefühlen wie Stress, Schmerz, Furcht oder Frustration in Zusammenhang oder wird durch diese ausgelöst. Nach außen gerichtete Gefühle werden in der Fachsprache als Emotionen bezeichnet. Die Emotion Wut entsteht insbesondere dann, wenn man eine Beeinträchtigung erlebt und jemand anderem dafür die Schuld zuweisen kann. Die Bewertung der Situation geschieht rein subjektiv. Daniel bewertet die Störung und die Zerstörung seiner Autostraße durch seinen Bruder als absichtlich. Simon ist also verantwortlich für sein Verhalten. Hätte Simon die Autostraße aus Versehen durcheinandergebracht, wäre Daniel kaum so wütend geworden.
Gefühle sind nie falsch und daher immer erlaubt
Wut ist oft berechtigt, da sie auf einen Missstand, ein unfaires Verhalten, eine Kränkung oder eine Ungerechtigkeit hinweist. Es gibt große individuelle Unterschiede, wie Situationen erklärt und bewertet werden. Sehr oft erlebe ich beispielsweise bei Kindern, die Mühe haben, ihre Wut zu kontrollieren, einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Wut tritt also bei einigen Menschen viel schneller auf als bei anderen. Wer hinter negativen Ereignissen böse Absichten erwartet, lässt sich viel schneller in Rage bringen als jemand, der eher von unglücklichen Umständen oder einem Versehen ausgeht.
Obwohl Gefühle an sich nie falsch sein können und ihre Daseinsberechtigung haben, ist ein Wutanfall, bei dem andere zu Schaden kommen, natürlich nie gerechtfertigt. Zwischen dem empfundenen Gefühl und dem daraus resultierenden Verhalten muss deutlich unterschieden werden.
Im Beispiel von Daniel hat das Gefühl so stark Besitz von ihm ergriffen, dass er sein Handeln nicht mehr unter Kontrolle hatte. Daniel muss also noch lernen, mit seiner Wut umzugehen. Das ist aber gar nicht so einfach, denn Wut ist ein intensives, heftiges Gefühl, das nur schwer unter Kontrolle zu halten ist.
Wut ist heftiger und intensiver als Ärger und schwerer zu beherrschen als Zorn. Wer leicht in Wut gerät, ist weniger gut in der Lage, sich selbst zu kontrollieren. Ein Wutanfall wird auch als Überreaktion bezeichnet und gilt deshalb in den meisten Kulturkreisen als charakterliche Schwäche.
Unter einem Wutanfall versteht man einen meist kurzzeitigen Verlust der Kontrolle über das Gefühl der Wut. Ein Wutanfall ist in erster Linie ein emotionaler Ausbruch. Manchmal ist dieser jedoch so heftig, dass eine andere Person zu Schaden kommt.
Richten sich Wutanfälle gegen Personen, Tiere, Sachen oder gegen sich selber, werden sie oft als Aggression wahrgenommen. Wobei man vor allem dann von Aggression spricht, wenn körperliche Verletzungen oder psychische Kränkungen dazukommen.
Wut besser verstehen
Um Wut besser zu verstehen, ist es hilfreich, die Zusammenhänge bzw. Wechselwirkungen von Denken, Fühlen und dem Verhalten zu erkennen und mögliche Auslöser, Ursachen, den Ablauf, die Steuerbarkeit und die Veränderbarkeit des Ausbruchs zu verstehen.
Denken, fühlen und verhalten
Kognitive Prozesse wie das Denken, die Wahrnehmung oder Problemlösefertigkeiten beeinflussen uns und interagieren mit den Gefühlen und dem Verhalten. Dabei haben unsere Gedanken einen starken Einfluss auf unsere Empfindungen, Körperreaktionen und Gefühle.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden so richtig kräftig in eine Zi -trone beißen. Was passiert jetzt? Möglicherweise zieht sich Ihre Backenmuskulatur zusammen oder Sie verziehen das Gesicht. Schon der Gedanke an etwas löst eine Reaktion des Körpers und damit verbunden ein Gefühl aus. Wir können an besonders schöne Momente denken und uns sehr wohl und entspannt fühlen. Umgekehrt löst der Gedanke an einen schlimmen Moment sofort körperliche Stressreaktionen wie Herzklopfen, Verkrampfung und möglicherweise Angst aus.
Umgekehrt haben Körperreaktionen und Gefühle einen Einfluss auf unsere Gedanken und unsere Fähigkeiten wie die Problemlösefähigkeit, die Konzentration oder unser Gedächtnis. Ist der Körper stark angespannt und gestresst, können wir kaum mehr denken, unsere Gedächtnisleistung ist vermindert und die Konzentration fällt ab.
Max (6) baut mit seiner kleinen Schwester Susi (4) eine Legoland-schaft auf. Plötzlich fällt Susi unglücklicherweise auf das Lego-gebäude, das Max sorgfältig über längere Zeit aufgebaut hat. Max, der von seiner jüngeren Schwester schon öfter erlebt hat, dass sie seine Kunstwerke kaputt macht, ist sicher, dass Susi sein Legohaus absichtlich zerstört hat. Dieser Gedanke verstärkt seine Enttäuschung und entlädt sich in einem heftigen Wutanfall.
Debi (9) hat in der letzten Zeit, obwohl sie viel gelernt hat, häufiger schlechte Noten kassiert. Als sie mit ihrer Mutter an den Hausaufgaben sitzt, fällt es ihr wieder schwer, die Matheaufgabe zu verstehen. Die Mutter bemerkt bei Debi eine gewisse Ungeduld und Enttäuschung und sagt: „Du musst nur richtig hinschauen. Ich denke, du siehst gar nicht richtig hin und gibst zu schnell auf.“ Dies ist zu viel für Debi. Sie hört nur Kritik und denkt: „Alle halten mich für dumm.“ Dieser Gedanke verstärkt ihre Versagensängste. Wütend schreit sie ihre Mutter an: „Sag doch gleich, dass ich doof bin.“
Es ist ganz entscheidend, wie wir Situationen, das Verhalten anderer Menschen und uns selber wahrnehmen und bewerten. Würde Max die Situation als Missgeschick oder Unfall einordnen, könnte er anders reagieren. Und würde Debi wahrnehmen, dass ihre Mutter ihr eigentlich helfen möchte, hätte sie nicht nur anders reagiert, sondern sich bestimmt auch anders gefühlt.
Es gibt also immer eine Wechselwirkung zwischen unseren Gedanken, den Körperreaktionen, den Gefühlen und unserem Verhalten.
In stressigen Situationen reagiert der Körper schneller als unser Denkapparat. Bevor wir eine Situation richtig wahrgenommen und bewertet haben, haben wir bereits reagiert. Die geschieht beispielsweise bei einer möglichen akuten Bedrohung: Ein Knall, wir springen auf die Seite, machen uns klein, und erst kurze Zeit später erkennen wir, dass es nur ein Luftballon war, der geplatzt ist. Diese Fähigkeit, schneller zu reagieren als zu denken, zeigt sich typischerweise in einem Flucht- oder Kampfverhalten und sichert unser Überleben. Manchmal ist aber dieser automatische Schutzmechanismus, der nicht unserer Steuerungsfähigkeit unterliegt, sondern viel schneller abläuft, nicht nur von Vorteil, sondern auch hinderlich oder gar gefährlich. Wenn wir reagieren, ohne nachzudenken, kann es gefährlich werden!
Erinnern Sie sich noch an das Beispiel vom fünfjährigen Daniel, der vor Wut über die Störung durch seinen Bruder eines seiner Spielzeugautos durch das Zimmer schmeißt und dabei seine Schwester trifft? Was geht in diesem Moment in Daniel vor?
„DU STÖRST MICH!“
Daniel ist zunächst ganz mit seinen Gedanken ins Spiel versunken, er nimmt seine Außenwelt kaum wahr. Zufrieden spielt er mit den Autos.
Simons Störung holt ihn sofort aus seinem Spiel heraus. Weil er seinen Bruder kennt und schon öfter erlebt hat, dass dieser ihn gerne absichtlich stört, interpretiert er dessen Verhalten als Provokation, was bei ihm ein heftiges Gefühl – Wut – auslöst. Würde sein Schreien seine Gedanken ausdrücken, dann würden wir wohl hören: „Du störst mich! Du ärgerst mich! Du provozierst mich! Lass mich in Ruhe!“
In diesem Moment könnten wir einen erhöhten Puls, eine Verspannung im Körper und weitere heftige Körperreaktionen messen.
Daniels Gedanken, die Interpretation der Situation und seine Ge -fühlsreaktion resultieren in einem impulsiven Verhalten: Er schmeißt das Auto.
Das Denken, das Fühlen und das Verhalten gehören also ganz eng zusammen: Daniels Gedanken überschlagen sich: „Das hat er absichtlich gemacht, der stört mich!“ Die entsprechende Körperreaktion lässt nicht auf sich warten: Das Herz klopft schneller, die Muskulatur spannt sich an, der Bauch verkrampft. Ein Gefühl der Enttäuschung, der Trauer oder der Wut stellt sich ein. Daniels Verhalten: Er schmeißt sein Spielzeugauto durch das Zimmer und trifft dabei unglücklicherweise sein unbeteiligte Schwester.
Daniel hat – ohne nachzudenken, welches Verhalten in dieser Situation angebracht wäre oder welche Folgen sein Verhalten haben könnte – unmittelbar reagiert. Diese impulsive Reaktion ist eine Folge seiner Wut. Er wollte seine Schwester keinesfalls verletzen. Wahrscheinlich wollte er nicht mal seinen älteren Bruder verletzen.
Unser Denken, unser Fühlen und unser Verhalten beeinflussen sich gegenseitig und werden stark von dem geprägt, was wir bisher erfahren und erlebt haben.
Dieses Wissen hilft uns, ein Muster zu unterbrechen oder zu verändern:
1. beim Denken, Wahrnehmen, Verarbeiten und Bewerten (War das Absicht? Ist es wirklich gefährlich?)
2. bei den Körperreaktionen (anstatt Stress zu empfinden, Entspannung lernen)
3. beim Verhalten (Welches Verhalten ist hier angebracht?)
Wir Menschen müssen im Verlauf unseres Lebens lernen, unsere Ge -danken, unseren Körper und unser Verhalten zu steuern. Die Steuerungsfähigkeit ist ein Lernprozess! Nicht alles ist lern- und steuerbar, aber vieles.
Auslöser
Um eingreifen zu können, lohnt es sich, darüber nachzudenken, was mögliche Auslöser für Wut beziehungsweise Wutanfälle sein könnten.
Das sind die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen bringen: ein einzelnes Wort, ein Blick oder irgendwas Beliebiges. Eltern berichten, dass sie teilweise nicht verstehen können, warum diese „Kleinigkei-ten“ beim Kind eine solche Wut auslösen.
NUR EINE KLEINIGKEIT?
Als die Mutter ihre 15-jährige Tochter Lenia darum bittet, ihr kurz zu helfen, schreit diese laut „Immer ich!“, rennt in ihr Zimmer und knallt die Tür zu. Einige Minuten später kommt Lenia ganz verheult wieder heraus und erzählt, dass ihr im Moment alles zu viel sei. Eigentlich wollte sie mit einer Freundin in die Stadt, müsse aber noch so viel für die Schule erledigen …
Wut wird zumeist durch andere Gefühle und unerfüllte Bedürfnisse ausgelöst: Angst, Hilflosigkeit oder Schmerz. Die Auslöser sind in der Regel nicht steuer- oder beeinflussbar. Die Entwicklung der jeweiligen Situation hängt davon ab, wie der Betroffene das Erlebte bewertet. Und diese Bewertung ist für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar. Es kann sein, dass immer die in etwa gleichen Auslöser wirken.
Manche Eltern kennen die Auslöser für Wutanfälle ihrer Kinder recht gut, das zeigt auch das Kapitel „Wie Eltern die Wut ihrer Kinder erleben“. Bei kleineren Kindern kann etwa eine unmittelbare Unterbrechung oder Störung in ihrem Tun oder das Verlieren in einem Spiel ein Auslöser sein. Wenn immer in etwa gleiche Auslöser vorhanden sind, kann man lernen, diese Auslöser zu vermeiden oder zu ignorieren.
Das sogenannte Vermeidungsverhalten ist ein Schutzmechanismus. Es ist nicht nur legitim, sondern sogar wichtig, dass wir Dingen aus dem Weg gehen, die uns reizen oder stressen. Das ist ein Lernprozess, den Erwachsene zumeist unbewusst hinter sich haben. Ich persönlich vermeide Massenansammlungen wie Konzerte, da ich weiß, dass sie mich emotional stressen. Es ist sehr individuell, welche äußeren Faktoren uns belasten. Je besser ich mich als erwachsene Person kenne und meine individuelle Art respektiere, umso besser kann ich Stressauslöser vermeiden.
Kinder müssen erst lernen, auf sich zu achten und einzuschätzen, welche Situationen sie lieber vermeiden. Bei kleinen Kindern müssen wir Eltern einschätzen lernen, welche Situationen unserem Kind Stress verursachen. Ich beobachte immer wieder, dass Kinder mit Wutanfällen reagieren, weil sie überreizt oder überfordert sind. Hier müssen Eltern frühzeitig erkennen, wann es dem Kind zu viel wird, und es vor Reizüberflutungen, Übermüdung oder etwa Hunger schützen.
Nun ist es aber durchaus möglich, dass Ihr Kind sich von Dingen provoziert oder gestresst fühlt, die sich nicht vermeiden lassen oder die sogar wichtig sind: Man verliert nun einmal ein Spiel oder bekommt etwas nicht sofort.
Wenn wir versuchen zu verstehen, was hinter den Wutanfällen steckt, dann kann man davon ausgehen, dass es um menschliche Grundbedürfnisse geht. Die Angst, dass diese zu kurz kommen, aber auch reale Mängel können in konkreten Situationen die Ursache für Wutanfälle sein.
Sehr oft ist ein Kind aufgrund seines Alters, seiner Entwicklung, seiner Persönlichkeit oder seiner bisherigen Erfahrungen noch nicht so weit, dass es mit angebrachten Verhaltensweisen auf emotionalen Stress wie Frustration, Langeweile, Kränkung oder etwa Enttäuschung umgehen kann. In diesem Fall sind wir beim Thema Ursachen der Wut.
Ursachen
Im Alltag ist es gar nicht so einfach, zwischen Auslösern und Ursachen zu unterscheiden. In der Befragung der Eltern haben wir festgestellt, dass die meisten Eltern Auslöser und Ursachen gleichsetzen. Wenn wir von den Ursachen sprechen, dann ist damit gemeint, was zur Entstehung der Wut beiträgt. Auch wenn wir wissen, was mögliche Auslöser sind, erklärt das noch nicht, warum das Kind in dieser Situation gerade mit Wut und nicht anders reagiert. Warum fällt es manchen Kindern schwer, mit Provokationen umzugehen, und anderen gar nicht? Warum kann das Kind in der einen Situation gelassen bleiben, trotz vieler Reize oder gar Hunger, und ein anderes Mal hat es einen Wutausbruch?
Die Entstehung von Wut wird in der Psychologie ähnlich wie die Entstehung von Aggressionen erklärt, darum möchte ich kurz auf vier wesentliche Aggressionstheorien eingehen, die mögliche Erklärungsansätze liefern:
1. Die aggression ist angeboren
Aggression ist sowohl bei den Tieren wie auch beim Menschen angeboren und hat eine wichtige, überlebenssichernde Funktion. Dabei geht es darum, sich verteidigen und wehren zu können. Alle Menschen verfügen über eine angeborene körperlich-emotionale Alarmreaktion, die uns beispielsweise bei Gefahren hilft zu entkommen (Flucht) oder diese zu beseitigen (Angriff). Tatsächlich kann man bereits bei Kindern in den ersten Lebensmonaten erkennen, dass sie auf negative Erlebnisse mit Ärger reagieren. Ebenso angeboren ist die Fähigkeit, sich zu wehren (schreien, treten, stoßen usw.). Wie hoch die Aggressionsbereitschaft tatsächlich ist, das ergibt sich aus einem langen Lern- und Entwicklungsprozess. Dieser ist vergleichbar mit dem Fahrradfahren: Die Fähigkeit dazu ist angeboren, ob man es dann tatsächlich lernt und wie gut man es am Ende beherrscht, ist das Ergebnis eines Lernprozesses.
2. Die aggression ergibt sich aus der Frustration
Die sogenannte Frustrations-Aggressions-Theorie geht davon aus, dass aggressives Verhalten eine Reaktion auf frustrierende Erfahrungen ist. Das kennen wir selbst bestens aus dem Alltag: Ich habe mir große Mühe gegeben, einen wundervollen Kuchen zu backen, doch am Ende bleibt er in der Backform kleben. Wütend knalle ich die Backform auf den Tisch – mit dem Ergebnis, dass Backform und Kuchen zerstört sind … Tatsächlich kennen wir die Erfahrung, dass Frustrationen und auch Provokationen (z. B. verbale Angriffe wie Beleidigungen oder ungerechte Kritik) besonders leicht aggressives Verhalten auslösen. In diesen Momenten steigt Wut in uns auf. Entscheidend ist jedoch, welches Verhalten wir letztendlich zeigen.
3. Aggression ist die Folge eines lernprozesses
Die dritte wichtige Theorie geht davon aus, dass Aggression ein er -lerntes Verhalten ist. Aggression und Wutanfälle sind demnach Verhaltensmuster, die durch bestimmte Erfahrungen und Lernprozesse antrainiert werden. Wenn ein Kind mit 12 Jahren einen Wutanfall hat, weil es das PC-Spiel nicht bekommt, das es unbedingt haben will, kann man eine mögliche Ursache in einem falschen oder noch nicht vollzogenen Lernprozess sehen.
4. Aktuelle theorien
Heute geht man davon aus, dass alle bereits beschriebenen Faktoren, also die angeborenen Neigungen, die Lernprozesse und mög liche Frustrationen eine Rolle spielen und sich diese gegenseitig beeinflussen. Dabei bilden die Persönlichkeit und das Temperament eine gewisse Grundlage. Ob und in welchem Umfang es zu Wutausbrüchen kommt, hängt jedoch von konkreten Situationen und von sozialen Einflüssen wie der Familie oder der Gesellschaft ab. Und auch kognitive Prozesse wie die Wahrnehmung oder das Denken sind entscheidende Kriterien.
WUT IST ANGEBOREN
Wir können davon ausgehen, dass die Fähigkeit, Wut zu empfinden, angeboren ist: Evolutionär gesehen ist Wut durchaus sinnvoll, da sie eine Selbstschutzfunktion für den Menschen hat. Wie sich Wut äußert, ist schlussendlich ein Lernprozess, der einerseits beeinflusst wird durch die Person selbst (Entwicklungsstand, kognitive Fähigkeiten, Temperament, Intelligenz usw.) und andererseits durch die soziale Umwelt (Familie, Gesellschaft).
Wie ein Wutanfall abläuft
Ein Wutanfall durchläuft verschiedene Phasen. Kennt man einen Menschen gut, weiß man in der Regel, ob der Wutanfall sich steigern wird oder rasch vorübergeht. In dem betroffenen Menschen läuft ein Wutanfall meistens nach einem ähnlichen Muster ab. Wutanfälle unterscheiden sich in der Intensität, der Dauer, der Impulsivität, der Vorhersehbarkeit.
Charakteristische Phasen eines Wutanfalls sind:
• Phase vor dem Wutanfall mit typischen „Frühwarnzeichen“
• Kontrollverlust mit oft heftigen Emotionen
• abklingende Phase
• Rückkehr der Selbststeuerung
• Beruhigung
• Phase der Trost- und Versöhnungsbedürftigkeit
Manche der Prozesse sind dabei sichtbar nachvollziehbar, andere können nicht oder nur schwer von außen wahrgenommen werden.
Ein Wutanfall ist selten von 0 auf 100 voll ausgeprägt. Zumeist sind gewisse „Frühwarnzeichen“ vorhanden, die auf einen möglichen An fall hinweisen. Es ist wichtig, diese Vorzeichen zu kennen und richtig deuten zu lernen, um rechtzeitig gegensteuern zu können und einen Anfall zu vermeiden oder abzuschwächen. Das erfordert einige Übung und Selbstreflexion. Kinder sind hier auf die Hilfe der Erwachsenen angewiesen. Wichtig sind dabei der Grad der eigenen Kontrolle und die Steuerbarkeit. Ist ein Kontrollverlust möglich, dann ist die Eskalationsgefahr viel ausgeprägter.
Steuerbarkeit und Veränderbarkeit von Wutanfällen
Wutanfälle lassen sich verändern oder steuern. Das kann man lernen. Wichtig ist, die Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern ernst zu nehmen und zu versuchen, sie in eine „angemessene Verhaltensform“ zu bringen.
Das Verhalten zu steuern kann das Kind selbst erlernen. Eltern oder Fachleute können das Kind dabei unterstützen, sich selber besser zu steuern und zu kontrollieren.
EINE WICHTIGE REGEL
Jeder Mensch, ob groß oder klein, sollte wissen: Ich kann lernen, meine Wut zu kontrollieren. Ich kann lernen, Chef über meine Gefühle und vor allem mein Verhalten zu werden.
Im Moment eines Wutanfalls können Bezugspersonen das Kind un -terstützen, indem sie es beispielsweise ablenken oder beruhigen.
„SCHAU MAL, WAS IST DENN DAS?“
„Ich habe festgestellt, dass ich meinem Kind sehr gut helfen kann, aus dem Trotzanfall herauszukommen, indem ich seine Aufmerksamkeit auf irgendetwas lenke, das es im Moment gerade interessieren könnte. Ich sage dann zum Beispiel: „Schau mal dieser süße Hund da, ist der nicht niedlich … “.
In diesen Momenten die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken kann tatsächlich hilfreich sein. Dadurch können andere Seiten und Reaktionsweisen aktiviert und aufgebaut werden. Durch die Ak -tivierung anderer Seiten von mir und durch erlernte Aufmerksam-keitsfokussierung (zum Beispiel Ablenkung oder Konzentration auf etwas Schönes) habe ich eine andere Form gefunden, mit emotionalem Stress umzugehen.
TIPP: EINEN TYPISCHEN WUTANFALL BESCHREIBEN
Es kann sehr hilfreich sein, einen typischen Wutanfall des Kindes einmal zu beschreiben, da so erkennbar wird, wo man eingreifen und etwas verändern kann. Beobachten Sie dabei die Reaktionen des Kindes und schreiben Sie diese am besten auf.
Hilfreich können dabei folgende Fragen sein:
• Was geschah vor dem Wutanfall?
• Wie erlebte ich das Kind während des Wutausbruchs? Wann war der Ausbruch am heftigsten? Was geschah dann? Wann klang die Wut wieder ab?
• In welchen Momenten gelingt es möglicherweise am besten, einen Wutanfall zu unterbrechen oder gar zu beenden? Warum gerade dann?
• Wie kann ich dem Kind helfen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren?
Eine komplexe Geschichte
Manchmal löst ein einzelner Faktor beim Kind einen Wutanfall aus. Zumeist ist es jedoch eine komplexe Dynamik von Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen, und der letzte Tropfen fällt in ein Fass voller Enttäuschung, Frustration, Erschöpfung, Überforderung oder was auch immer.
Wut ist eine komplexe Angelegenheit mit diversen Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen und miteinander interagieren:
• die gesamte Persönlichkeit bzw. individuelle Eigenarten (Temperament, Alter, Intelligenz …)
• das aktuelle Befinden einer Person (ausgeschlafen, gestresst, ge langweilt, ängstlich …)
• die jeweilige Situation (mögliche Auslöser wie Provokationen, Frustration …)
• die Lebensgeschichte (Norm- und Wertvorstellungen, Lernprozesse, Reaktionen der Bezugspersonen …)
• die subjektive Bedeutung der Wut (Sinn, mögliche Ziele …)
Manche dieser Faktoren lassen sich nur schwer beeinflussen, andere lassen sich ganz einfach umgehen oder verändern.
Wir müssen versuchen zu verstehen, um was es gehen könnte. Jede Art von Veränderung kann etwas bewirken. Und wenn die Veränderung auch nur eine andere Sichtweise auf das Verhalten des Kindes ist. Es spielt eine entscheidende Rolle, ob Eltern einen kindlichen Wutanfall als absichtlich und gegen sich gerichtet bewerten oder als altersentsprechenden Ausdruck einer Frustration.
WIE ELTERN DIE WUT IHRER KINDER ERLEBEN
Viele Eltern erwähnen, dass sie nicht erwartet hätten, wie schwierig das Zusammenleben als Familie wird. Je nach Alter des Kindes wird man mit heftigen Reaktionen oder mit üblen Beschimpfungen konfrontiert. Oft auch bereits wegen Nichtigkeiten oder eines klaren „Nein!“. Das lässt uns Eltern nicht kalt. Wir werden ebenfalls wütend oder von Schuldgefühlen geplagt: Habe ich etwas falsch gemacht, dass mein Kind so reagiert?
Die Unsicherheit der Eltern wird dadurch verstärkt, dass Wutanfälle ein Tabuthema sind, über die niemand gerne spricht. Die wichtigste Botschaft ist aber: Es geht in den meisten Familien so zu. Das legte unsere Onlinebefragung offen und deckt sich mit unserer Praxiserfahrung.
Es gelingt nicht immer, gelassen auf Kinder und ihre Gefühle zu reagieren. Ein tobendes und schreiendes Kind löst bei den Eltern einiges aus und bringt sie an die eigenen Grenzen. Manche berichten, dass sie nicht erwartet hätten, dass sie selber auch eine Wut gegen das eigene Kind entwickeln. Diese Erfahrung kann erschreckend sein.
Insbesondere dann, wenn sich Eltern überfordert und hilflos fühlen, kommen Gefühle von Ungeduld, Anspannung und Wut auf. Manchmal ist das aber eine Reaktion auf die negativen Reaktionen der Kinder. Und öfter als uns lieb ist, erleben wir, dass wir unsere Kinder frustrieren oder wütend machen, zum Beispiel weil sie gerade im Spiel gestört werden, zum Essen kommen sollen oder in die Schule müssen. Schon bei Kleinkindern erleben wir, dass sie enttäuscht reagieren, wenn es nicht nach ihrem Kopf läuft.
WUT ALS STRESSINDIKATOR
„Das Zusammenleben wird aggressiver. Kinder stauen während der Schule und Freizeit Gefühle auf. Als Eltern hat man viel Verantwortung, was im Laufe des Tages zu innerer Anspannung führt. Wenn dann alle zusammen sind, kann sich alles entladen.“
Wie Kinder ihre Wut zeigen
Bei jüngeren Kindern beschreiben die Eltern vor allem trotzige und körperbetonte Verhaltensweisen wie Stampfen, Weinen, Schreien, Hauen oder Sachen herausschmeißen.
KURZ, ABER HEFTIG
Als die Eisenbahnlok wiederholt entgleiste, riss Tom (2) die Schienen der Holzeisenbahn auseinander und schmiss sie durchs Zimmer. Dann folgten die restlichen Teile des Zuges. Anschließend zog er eine Kiste mit Duplosteinen aus dem Spielzeugregal, schüttete diese über sich aus und warf die Kiste ebenfalls durchs Zimmer. Nach einer Minute war alles vorbei. Die Mutter fragte, ob er Hunger habe (es war Mittagszeit) und etwas essen möchte. Das war, als würde man einen Schalter drücken: anderes Thema, Wut weg.
Bei kleineren Kindern kippt die Wut nach dem Ausbruch oft in Trauer oder Weinen, was bei vielen Eltern dazu führt, dass sie ihr Kind trösten. Einige erleben ihre Kinder in solchen Momenten als „verzwei-felt“. Nach den Angaben der Eltern beruhigen sich Kleinkinder rasch wieder. Ein Wutausbruch dauert in der Regel nur wenige Minuten. Die Kinder sind danach schnell wieder in einem gelassenen, fröhlichen Gefühlszustand. Alles ist wieder vorbei und vergessen – zumindest beim Kind.
Je älter Kinder werden, umso mehr setzen sie verbale Botschaften ein wie Anklagen, Drohen, Schimpfwörter oder Vorwürfe.
VON NULL AUF 100
„Meine Tochter (6) hatte neulich von jetzt auf gleich einen heftigen Stimmungswechsel. Plötzlich schrie sie mich an, beleidigte und beschimpfte mich. Sie steigerte sich in ihre Gefühle rein und bekam sie nicht allein in den Griff. Nach fünf Minuten war der Spuk vorbei, und sie lachte wieder. Der Grund für diesen Ausbruch war, dass ich aus Versehen Papierschnitzel in den Papierkorb geworfen hatte, die sie als Sonnenstrahlen zum Basteln verwenden wollte. Dies wusste ich aber nicht.“
Das Verständnis des Umfeldes für einen Anfall schwindet mit zunehmendem Alter des Kindes. Gleichzeitig können Eltern vermehrt beobachten, wie die älteren Kinder mit ihrer eigenen Wut „ringen“ und sie versuchen, sich zu kontrollieren. Manche Kinder ziehen sich zurück und wollen in diesem Moment keine Nähe. Die meisten Eltern erleben, dass die Wutanfälle mit zunehmendem Alter seltener werden.
Bei Jugendlichen richtet sich die Wut zunehmend eher gegen sich selber. Eine Mutter einer Jugendlichen beschreibt, dass sich ihre Tochter in einem Wutausbrauch abwerte und kleinmache. Ein Vater erzählt, dass sein 15-jähriger Sohn seine Wut durch Schläge gegen sich selber richtet. Interessanterweise empfinden manche Eltern auch demonstratives Schweigen, Desinteresse, Hände verschränken, böse schauen und „nicht das machen, was man sagt“ als Wutausbruch.
Gründe für Wutausbrüche
Schaut man auf die Gründe für Wutausbrüche, unterscheiden sie sich je nach Alter des Kindes.
Gründe bei kleinen Kindern
Als häufigster Grund wurde das Ausschlagen eines kindlichen Wunsches genannt: Das Kind will etwas und bekommt ein klares Nein. Vor allem jüngeren Kindern fällt das Verständnis dafür schwer. Ebenfalls häufig sind Wutausbrüche bei kleinen Kindern, wenn sie etwas nicht schaffen, das sie selbst machen möchten, beispielsweise einen Reißverschluss schließen oder Puzzleteile zusammensetzen. Und auch die Unterbrechung von einer Tätigkeit (Spiel, Basteln) oder das Verlieren bei einem Spiel sind oft genannte Gründe. Manche Kinder scheinen bei fehlender Aufmerksamkeit oder Zuwendung mit einem Wutanfall auf sich aufmerksam machen zu wollen. Vielen Eltern fällt auf, dass Übermüdung, Reizüberflutung oder Hunger die Hemmschwelle für Wutanfälle senkt. Seltener wurde erwähnt, dass ein Kind mit einem Wutanfall bewusst eine Reaktion bei einem Elternteil provozieren wolle.
Gründe bei älteren Kindern
Je älter Kinder werden, umso häufiger sind soziale Situationen wie Eifersucht, Geschwisterrivalität oder das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, Gründe für einen Wutausbruch. Eltern von Jugendlichen erleben bei ihren Kindern, dass Versagensgefühle und zu hoch gesteckte Ziele Gründe für Enttäuschung und Wut sein können. Stress und Überforderung sind bei größeren Kindern und Jugendlichen öfter Auslöser von Wut; scheinbar häufig auch die hohen Leistungsansprüche an sich selber. Hausaufgaben und Schulstress werden oft als Konfliktthema angegeben. Eltern, die ihren Kindern bei den Hausaufgaben helfen wollen, bekommen die Wut ab. Bei Jugendlichen werden zusätzlich Hormone bzw. Hormonschwankungen (Pubertät) als Ursache genannt.
Was Wutanfälle bei Eltern auslösen
Eigene Wut
Als Eltern wird man unweigerlich mit Emotionen konfrontiert, vor denen man sich nicht einfach schützen kann. Plötzlich werden emotionale Seiten in uns geweckt, die uns irritieren oder befremden und sich nicht so einfach rational angehen lassen. Unsere Kinder verursachen bei uns Gefühle, die niemand anderes in uns auslösen kann.
Bei vielen Eltern löst ein kindlicher Wutanfall ebenso Ärger und Wut aus. Manche der befragten Eltern beschreiben, dass sie danach eher in einen Streit mit dem Partner geraten, ungeduldiger sind oder ärgerlich reagieren. Das nennt man „Gefühlsansteckung“.
Eine Gefühlsansteckung ist eine angeborene Fähigkeit. Zum Beispiel lösen die per Mimik ausgedrückten Gefühle eines Menschen bei anderen Menschen Nachahmung aus. Ähnlich wie bei einem Gähnen, reagieren unsere Spiegelneuronen auf die gezeigten Gefühle des Gegenübers. So können wir Menschen uns durch alle möglichen Gefühle „anstecken“ lassen. Die Gefühlsansteckung ist oder war vermutlich entwicklungsbedingt notwendig, um eine Bindung zwischen Eltern und neugeborenen Kindern entstehen zu lassen. So wie diese Bindung ein Leben lang vorhanden ist, so bleibt auch die Gefühlsansteckung zwischen Eltern und Kind besonders eng.
Die Wut meines Kindes kann ich nicht nur sehen, sondern ich kann sie sogar empfinden. Das Verhalten des Kindes macht mich nicht nur wütend, sondern ich lasse mich unbewusst von diesem Gefühl anstecken. Dazu kommt, dass mich sowohl das Verhalten des Kindes wie auch seine emotionale Reaktion „triggern“ können: Alte, vergangene Erfahrungen werden reaktiviert und aktivieren bei mir ein altes Muster. Ein bestimmter Wutanfall des Kindes erinnert mich vielleicht unbewusst an einen Wutanfall des Vaters und löst bei mir ein altes, kindliches Reaktionsmuster aus.
Diese Dynamik verstärkt sich oft zusätzlich, wenn ich mich über meine eigene Reaktion und Emotionalität ärgere. Oder es macht mich wütend, dass ich in der Situation gerade so machtlos bin.
Schuldgefühle
Insbesondere dann, wenn Kinder häufig Wutanfälle haben oder diese im öffentlichen Raum, an der Schule oder im Freizeitverein auftreten, kommt bei Eltern die Frage auf, ob sie etwas falsch gemacht haben. Habe ich das Kind zu wenig im Griff? Sollte ich strenger sein? Schuld-und Versagensgefühle machen sich breit. Manche Eltern bekommen auch von außen, zum Beispiel von Verwandten, die Rückmeldung, dass sie etwas ändern müssen. Wutanfälle werden als Erziehungsfehler erlebt. Diese Dynamik verstärkt den Druck, der auf den Eltern lastet, und nicht selten wird dieser Druck dann auf das Kind übertragen. Und dies ist nicht förderlich, im Gegenteil: Das belastet die Beziehung zum Kind und untergräbt die Erziehungskompetenz. Schuld- und Versagensgefühle verunsichern Eltern. Umso wichtiger ist es, Eltern zu erklären, dass Wutanfälle ebenso zum Entwicklungsprozess und normalen Familienalltag gehören wie Einschlafprobleme oder Kinderkrankheiten. Sich von Schuldgefühlen zu entlasten hilft, gelassener mit der Situation umzugehen. Und noch etwas Wichtiges: Nur selten sollten Eltern mit wütenden Kindern strenger sein, viel wichtiger ist es, in Kontakt mit dem Kind zu bleiben und zu erfahren, um was es geht.
WUT IST KEIN ERZIEHUNGSFEHLER
„Lange Zeit war für mich ein Wutanfall meiner Tochter schlimm, da ich das Gefühl hatte, ich habe meine Tochter nicht im Griff. Ich verband damit ein persönliches Versagen. Dies machte mich dann wütend auf mich selber. Ich habe zum Glück aber gelernt zu erkennen, dass meine eigene Reaktion alles nur noch schlimmer machte. Zudem weiß ich heute, dass die Wutanfälle meiner Tochter nicht die Folge eines Erziehungsfehlers sind.“
Stress
Viele Eltern fühlen sich durch einen Wutanfall gestresst. Das hat einerseits mit der Intensität und der Art des Wutanfalls zu tun. Andererseits mit der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung des Geschehens. Ein kindlicher Wutanfall wird schnell als Erziehungsversagen bewertet. Das kann für manche Eltern bedeuten, dass das Kind ihren Ansprüchen oder den sozialen Erwartungen nicht entspricht und man vielleicht sogar selbst dafür verantwortlich gemacht wird oder werden könnte (z. B. vom Partner, den Großeltern, den Lehrpersonen usw.).
Ob eine Situation, in der ein Kind einen Wutanfall hat, als stressig empfunden wird oder nicht, hängt demnach stark davon ab, wie die Situation bewertet wird. Jeder Mensch bewertet Situationen, deren Belastungsgrad und deren Bedrohlichkeit unterschiedlich.
Der Psychologe und Stressforscher Richard Lazarus unterscheidet in seinem Wechselwirkungsmodell verschiedene Bewertungsstufen: Zunächst erfolgt die subjektive Bewertung, ob eine Situation als gefährlich oder Herausforderung eingeschätzt wird. Was für den einen Elternteil Stress bedeutet, wird von einem anderen noch nicht als Stress empfunden. Manche Eltern reagieren empfindlich darauf, wenn ihr Kind schreit und tobt, andere gehen damit gelassen um.
In einem nächsten Bewertungsprozess wird nach diesem Modell überprüft, ob die Situation allein bewältigt werden kann: Eltern, die wissen, was sie bei einem androhenden Wutanfall tun können, fühlen sich kaum gestresst.
WENN WIR WISSEN, WAS WIR TUN KÖNNEN, IST ES OFT WENIGER STRESSIG
Wenn Sie wissen, dass es Ihrem Kind hilft, es für einige Minuten aufs Zimmer zu schicken, wenn es einen Wutanfall kriegt, oder dass Sie selbst für ein paar Minuten z. B. auf die Terrasse ausweichen können, bis sich Ihr Kind wieder beruhigt hat, dann haben Sie eine erfolgreiche Bewältigungsstrategie für die Situation und erleben sie dementsprechend als weniger stressig.
Dieses Modell weist darauf hin, dass nicht nur die Situation oder das Verhalten des Kindes entscheidend ist, als wie stressig dieses empfunden wird, sondern dass die persönliche Bewertung der Situation und die Bewältigungsmöglichkeiten fast entscheidender sind.
Je effizientere Bewältigungsmöglichkeiten wir haben, umso weniger belastend bewerten wir die Situation. Daher ist es ganz wesentlich, dass wir Eltern über gute Bewältigungsstrategien verfügen. Im Kapitel „Konflikte angemessen lösen“ finden sich konkrete Beispiele dazu.
Hilflosigkeit und Angst
Besonders belastend wirken sich Situationen aus, in denen wir uns hilflos oder ohnmächtig fühlen. Wir sehen das Problem und stehen ihm machtlos gegenüber. Mit diesem Gefühl werden wir handlungsunfähig, können vielleicht nicht mehr richtig denken, verlieren den Mut und sehen keinen Ausweg mehr. In diesem Zustand erleben wir oft Angst.
Wenn wir aufgrund eines Wutanfalls oder anderer Situationen in dieses Gefühl der Hilflosigkeit hineinkommen, ist es wichtig, dass wir wissen, wie wir dieses Gefühl wieder überwinden können.
TIPPS: SO ÜBERWINDEN SIE DAS GEFÜHL DER HILFLOSIGKEIT
• Atmen Sie tief durch. Atmen Sie langsam ein und aus, bis Sie merken, dass Sie sich beruhigen. Ein tiefer Seufzer oder ein ausgiebiges Gähnen kann helfen.
• Nehmen Sie eine selbstbewusste Körperhaltung ein. Auch wenn Sie sich im Moment nicht selbstbewusst fühlen, hat es eine positive Wirkung auf Sie und auf Ihr Kind. Stehen Sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden, halten Sie den Kopf aufrecht, blicken Sie ganz bewusst dem Gegenüber in die Augen. Unterstützen können Sie diese Haltung, indem Sie die Hände in die Hüfte stemmen.
• Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf etwas Neutrales. Zählen Sie innerlich fünf Sachen auf, die in Ihrer Umgebung rot, dann drei Sachen, die gelb sind … Auch das Rückwärtsbuchstabieren kann helfen: AUTO wird zu OTUA, Sonne zu ENNOS … Oder subtrahieren Sie von 100 immer sieben.
• Machen Sie etwas, wobei Sie Ihren Körper gut spüren: Klopfen Sie sich von oben nach unten ab, stampfen Sie fest mit den Füßen auf (kleine Kinder machen das wunderbar), trinken Sie kaltes Wasser oder kauen Sie etwas Scharfes.
• Reden Sie sich selber gut zu. Sagen Sie sich: „Ich kann das Problem lösen; es gibt immer eine Lösung.“ Oder: „Ich schaffe das.“
• Erinnern Sie sich an ein Problem, das Sie bereits positiv gemeistert haben. Welche Gedanken oder welches Verhalten haben Ihnen damals geholfen?
• Sobald Sie sich weniger hilflos fühlen und etwas Distanz zur Situation gewonnen haben, lohnt es sich, die Situation genauer anzuschauen und zu überlegen, welche kleinen Schritte zu einer Veränderung der Situation beitragen könnten.
• Holen Sie sich Unterstützung. Sie sind nicht allein!
Wutanfälle sind ein Tabuthema
In offenen Gesprächen und bei der anonymen Befragung äußerten Eltern, dass sie selbst darüber schockiert sind, wie unglaublich wütend ein Wutanfall ihres Kindes sie machen kann. Selbst ausgeglichene, gelassene Eltern erleben bei sich eine Seite, die sie sonst kaum kennen: eine heftige, impulsive emotionale Reaktion, eine Wut. Und sie zeigen Verhaltensweisen, die sie nicht von sich kennen: Schreien oder gar Schlagen.
Wutanfälle kommen in allen Familien vor
Ich bin überzeugt, dass die meisten Eltern solche Situationen erleben; ich selbst auch. Darüber zu sprechen ist schwierig. Wir schämen uns für unser Empfinden und für unser unkontrolliertes Verhalten. Es ist mir deswegen besonders wichtig, in diesem Buch darüber zu schreiben, wie allzu menschlich diese Seiten sind und woher sie kommen. Anzuerkennen, dass wir in manchen Momenten Seiten von uns erleben, die unser Verhalten steuern und dazu führen, dass wir einen Kontrollverlust erleben, kann sehr hilfreich sein. Wenn ich mit dieser unschönen Seite von mir in Kontakt komme, kann ich lernen, damit umzugehen. Zu denken, „Das könnte mir nie geschehen“ oder „Das darf mir nie geschehen“, macht erst recht handlungsunfähig. Eine differenzierte Selbstreflexion hilft uns, uns selber besser zu verstehen, und macht uns steuerungsfähig. Es ist ein großer Unterschied, ob ich aus der Wut heraus reagiere oder ob ich innerlich zu mir sagen kann: „Ich bin jetzt wütend und ich möchte im Moment am liebsten schreien.“ Im ersten Fall handle ich emotional, oft ohne zu überlegen, und impulsiv. Im zweiten Fall beobachte ich meine Gefühle, was zu einer gewissen Distanz führt. Allein dadurch ergibt sich in der Situation die Möglichkeit, die eigene Reaktion zu steuern. Als Beobachter meiner Emotionen habe ich in der Regel mehr Wahlmöglichkeiten.
Nicht nur über die eigene elterliche Reaktion reden wir ungern, auch über die Tobsuchtsanfälle der eigenen Kinder zu sprechen ist ein Tabuthema. Einige Kinder zeigen diese Anfälle nur im familiären Umfeld, während sie nach außen wie „Lämmchen“ wirken. Vielen Eltern ist daher nicht bewusst, dass sie nicht allein sind mit diesem Thema.
Dadurch, dass man nicht über dieses Thema spricht und nicht weiß, dass diese Anfälle ganz normal sind und „in den besten Familien“ vorkommen, wird so ein Ausbruch noch stärker als persönliches Versagen oder als großes Problem des Kindes wahrgenommen (siehe oben). Doch nochmals: Wut ist ein normales Gefühl. Die meisten Eltern erleben bei ihren Kindern heftige Wutanfälle und fühlen sich angesichts der Heftigkeit überfordert. – Ja, das ist bei anderen Familien genauso!
Vorsichtig mit zu hohen Erwartungen umgehen
Kinder müssen unglaublich viel lernen und in allen Lernbereichen (Sprache, Motorik …) ausprobieren, üben und Fehler machen. Dies scheint uns aber in manchen Bereichen verständlicher als in anderen.
KINDER BRAUCHEN GEDULD UND VORBILDER
Wir verstehen, dass das Kind sich nicht einfach aufs Fahrrad setzen und losfahren kann. Wir akzeptieren seine Unsicherheiten, trösten es bei Stürzen und halten es solange wie nötig, lassen aber auch los, damit das Radfahren gelingen kann. In anderen Bereichen scheinen wir weniger tolerant. Dabei geht es um dasselbe Prinzip: Kinder brauchen viele Möglichkeiten, um üben, auszuprobieren und lernen zu können.
Dies trifft auch auf die Entwicklung der Selbstbehauptung, die Möglichkeit, sich durchzusetzen oder auch sich zu wehren zu. Woher soll ein zweijähriges Kind wissen, dass es nicht einfach nehmen darf, worauf es gerade Lust hat? Wie soll ein Kleinkind sich anders wehren als durch Körpereinsatz, wenn es das Gefühl hat, es komme zu kurz oder werde angegriffen? All das und vieles mehr muss ein Kind lernen, und dazu braucht es unser Verständnis, unendliche Geduld, viel Erklärungen und gute Vorbilder.
Eines der größten Erziehungsprobleme liegt darin, dass wir zu hohe Erwartungen an uns als Eltern und oft auch an unsere Kinder haben. Dies kommt wohl daher, dass wir es in der Kindererziehung möglichst gut machen wollen.
Die meisten Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind und bemühen sich sehr, alles möglichst gut und richtig zu machen.
Wir haben konkrete Vorstellungen, wie wir unsere Kinder erziehen möchten und wie unsere Kinder sein sollten. Das ist grundsätzlich nicht schlecht. Das Problem ist aber, dass wir in diesen Ansprüchen unsere eigenen Unzulänglichkeiten und die weniger wünschenswerten (gleichzeitig aber oft auch sehr wichtigen) Seiten unserer Kinder zu wenig berücksichtigen. Wir haben Angst, dass wenn wir nicht konsequent genug oder sogar nachgiebig sind, unsere Kinder verzogen werden und uns auf der Nase rumtanzen. Aufgrund solcher Ängste werden manche Eltern sehr unnachgiebig und reagieren zu wenig verständnisvoll ihren Kindern gegenüber. Immer wieder begegne ich Eltern (insbesondere Vätern), die von ihren Kindern das Pflichtbewusstsein oder das reflektierte Verhalten eines Erwachsenen erwarten.
Die hohen Erwartungen von außen
Als Eltern fühlt man sich permanent beobachtet, von Verwandten, von Lehrpersonen, Nachbarn usw. Viele erleben immer wieder, dass sich andere in die Kindererziehung einmischen und schnell mit wohlgemeinten Ratschlägen zur Stelle sind. Nicht zuletzt müssen wir unter Umständen Kritik über uns ergehen lassen: Die eigene Mutter findet, man habe das Kind nicht im Griff; die Lehrperson meint, dass müsse sich jetzt ändern, diese Wutanfälle seien nicht angemessen; die Nachbarn schauen grimmig, wenn die Kleine wieder mal richtig losschreit.
Was manchmal wohlgemeint ist, wird schnell zum zusätzlichen Stress und ist wenig hilfreich.
TIPPS: KRISEN GEHÖREN DAZU
• Es darf Ihnen auch mal schlecht gehen. Das ist völlig normal.
• Das Leben und der Alltag mit Kindern sind kein Werbespot. Eltern zu sein, kann nicht immer heißen, permanent auf Wolke sieben zu schweben.
• Krisen und schwierige Phasen gehören genauso dazu wie das zeitweilige Gefühl von Überforderung. „Aushalten“ ist manchmal die einzige Möglichkeit, eine schwierige Situation zu überstehen.
• Tauschen Sie sich mit anderen Eltern aus. Suchen Sie sich aber solche Austauschpartner, die ebenfalls offen über ihre Krisen sprechen und nicht alles „schön reden“.
• Sie dürfen sich ohne schlechtes Gewissen Hilfe und Unterstützung holen. Oma, Opa und gute Nachbarn können sehr wertvoll sein. Suchen Sie sich die Bezugspersonen aus, die Ihnen und Ihrer Familie guttun.
• Schützen Sie sich mit einem gut eingeübten Standardsatz vor allzu vielen wohlgemeinten Ratschlägen von außen. In etwa so: „Ich glaube, Sie meinen es gut mit uns, aber danke, wir brauchen Ihre Ratschläge nicht.“ Oder so: „Vielleicht ist bei Ihnen immer alles schön und gut, unser Leben ist halt etwas bunter.“
Die verschiedenen Sichtweisen
Besonders wenn Wutanfälle häufig sind und in aggressiven Handlungen enden, ist es hilfreich, wenn man versucht, die Wut und ihre Auslöser besser zu verstehen. Dies ist in der Regel eine große Herausforderung. Nicht selten erlebe ich, dass wir beim Versuch zu verstehen, welche verschiedene Faktoren einen Wutanfall auslösen, ganz unterschiedliche Einschätzungen und Wahrnehmungen antreffen. Eine Mutter sieht beispielsweise andere Auslöser von Wutanfällen als der Vater. Und das Kind selbst hat nochmals eine ganz andere Sichtweise.
WUT ODER EIN BERECHTIGTER ANSPRUCH?
Regelmäßig bricht die 14-jährige Marie in heftige Wutausbrüche aus. Ihre Mutter beobachtet, dass Maries Wutausbrüche immer dann stattfinden, wenn sie Anforderungen an ihre Tochter stellt. Gut nachvollziehbar, dass die Mutter diese Reaktionen der Tochter loswerden möchte, und meint: „Dieses Herumschreien und Toben, sobald ich etwas von ihr will, ist einfach nicht akzeptabel. Ich erwarte, dass mir Marie in solchen Situationen ohne diese heftigen Widersprüche ge-horcht.“
Marie bestätigt, dass gewisse Ansprüche der Mutter sie so wütend machen. „Ich finde es nicht okay, wenn sie mir sagt, wann ich die Hausaufgaben zu erledigen habe, das ist schließlich meine Sache. Zudem erwartet Mama, dass ich Dinge immer sofort erledige, wenn sie etwas von mir will“, beklagt sie sich. Marie ist scheinbar der Meinung, dass ihre Mutter nur dann kapiert, dass sie etwas nicht will, wenn sie auf derart heftige Art und Wiese „kommuniziert“. Sie möchte in erster Linie nicht den zu hoch gesteckten Ansprüchen der Mutter folgen und sich weiterhin zur Wehr setzen können. Die Wut in Griff zu bekommen kann also nur dann auch im Sinne der Tochter sein, wenn wir auch ihren Standpunkt besser verstehen.
Wie in diesem Beispiel deutlich wurde, geht es zumeist darum zu erkennen, was es anstatt der Wut braucht, um einen adäquaten Entwicklungsschritt machen zu können.
Will man an solchen Situationen etwas verändern, muss man die verschiedenen Sichtweisen der betroffenen Familienmitglieder (vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen) kennenlernen.
Familien gespräche, die möglichst regelmäßig und in ruhiger Atmosphäre geführt werden, bieten die geeignete Ausgangslage für einen vertieften Austausch.
MÖGLICHE REFLEXIONSFRAGEN FÜR EIN BESSERES VERSTÄNDNIS
Um ein besseres Verständnis für die verschiedenen Sichtweisen zu bekommen, kann es hilfreich sein, wenn man sich verschiedenen Fragen stellt. Reflexionsfragen könnten sein:
• Welche Verhaltensweisen werden als „Wutanfall“ eingeschätzt und von wem wie wahrgenommen?
Hier könnte schon deutlich werden, dass wir uns unterscheiden in der Wahrnehmung und Bewertung, was überhaupt ein Wutanfall ist und was nicht.
• Welche mögliche Bedeutung und Auswirkung haben diese Reak tionen für die verschiedenen Familienmitglieder?
• Wer reagiert typischerweise wie auf den Wutanfall?
Hier könnte sich zeigen, dass der Vater anders mit den Wutanfällen umgeht als die Mutter oder beispielsweise die Lehrperson. Festgefahrene Interaktionsmuster können erkannt werden. Auch kann festgestellt werden, welche Reaktion am konstruktivsten bzw. am hilfreichsten wirkt.
• Welche Bedeutung bzw. welchen subjektiven Sinn hat der Wutanfall? Welche Bedürfnisse stecken dahinter?
• Inwiefern kann das betroffene Kind das Verhalten und die zu grunde liegenden Emotionen (Frustration, Angst …) selber steuern? Welche alternativen Reaktionsweisen kennt das Kind schon?
• Wo gibt es Ausnahmen?
WARUM ES ZU WUTANFÄLLEN KOMMT
Jetzt fühlen wir der Wut mal so richtig „auf den Zahn“! Zunächst einmal müssen wir akzeptieren, dass Wut dazugehört, wichtige Funktionen hat und nicht einfach nur „weggemacht“ werden sollte. Wenn wir genau hinschauen, verstehen wir, dass es verschiedene Formen von Wut und Wutausbrüchen gibt, dass es sehr auf den Entwicklungsstand des Kindes ankommt und wir Eltern ebenfalls unseren Anteil an den Wutausbrüchen der Kinder haben.
Wut gehört dazu!
Wut ist eine Emotion, und Emotionen haben immer eine Daseinsberechtigung. Wut hängt mit der Selbstkontrolle, dem Selbstbewusst-sein und den individuellen Möglichkeiten zur Durchsetzungsfähigkeit und Selbstbestimmung zusammen.
Auch wir Eltern erleben, dass es uns wütend macht, wenn wir uns nicht angemessen durchsetzen können oder wenn unsere persönlichen Grenzen überschritten werden.
Wut gehört dazu, um gehört und wahrgenommen zu werden. Wut gehört auch dann dazu, wenn man sich verteidigen oder wehren muss. Wenn ich spüre, dass mich etwas wütend macht, dann ist das ein wichtiger Hinweis dafür, dass ich zu wenig respektiert und verstanden werde. Die Frage ist dann aber, wie ich die Situation bewerte, wie ich darauf reagiere und wie ich meine Wut nach außen zeige.
Also: Akzeptieren Sie die Wutanfälle! Sie bringen einen manchmal an die Belastungsgrenze. Aber sie kommen in jeder Familie vor, insbesondere bei Familien mit jüngeren Kindern. Je eher Sie lernen, mit Wutanfällen umzugehen, desto weniger werden Sie von ihnen gestresst sein.
Jedes Kind ist einzigartig
Es ist völlig normal, dass ein Kind ab und zu einen Wutfanfall bekommt. Es muss zuerst noch lernen, mit seinen Gefühlen umzugehen und angemessene Verhaltensformen zu finden.
Dabei darf nicht vergessen werden, dass Menschen sehr unterschiedlich sind. Manche erleben Gefühle intensiver als andere, manche lernen schneller, andere weniger schnell, und je nach Persönlichkeit sind wir impulsiver oder temperamentvoller oder ruhiger.
Unsere Wesensart und Charaktereigenschaften sind uns zu einem großen Teil angeboren. Sie sind nicht allein durch Erziehung oder Umwelteinflüsse bestimmt. Vielmehr wirken individuelle Eigenschaften des Menschen, Erziehung und Umwelteinflüsse in einer Wechselwirkung zusammen. Das heißt, diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig, und mal wirkt der eine Faktor (zum Beispiel ein Umweltfaktor) stärker als der andere Faktor. Wobei manche Eigenschaften des Menschen angeboren sind und andere als ein individuelles Drängen nach Selbstbestimmung verstanden werden können. Zum Beispiel können eineiige Zwillinge, die in der gleichen Familie aufwachsen, also sehr eine ähnliche Erziehung genießen und vergleichbare Umwelteinflüsse erleben, ganz unterschiedliche Interessen entwickeln: Ein Kind will unbedingt Tennis spielen, das andere lieber einen Malkurs besuchen. Diese Selbstbestimmung spielt in unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle.
Es gibt angeborene und angelernte Unterschiede, wie schnell und wie intensiv jemand auf eine Situation reagiert. Dazu kommt, dass wir uns nicht nur in der Intensität und Ausprägung der Wut unterscheiden, sondern noch eher in der Qualität, das heißt in der Art der gezeigten Wut. Manche Menschen reagieren heftig auf Provokationen und andere negative Anlässe, andere weniger.
Man kann also sagen, Menschen unterscheiden sich in ihrer Ärger-und Wutneigung. Manche setzen einen Wutanfall ganz gezielt ein, um ein Ziel zu erreichen, andere können nicht mal dann Wut zeigen, wenn es angebracht wäre, sich zu wehren; manche Menschen sind regelrecht gehemmt, ihre Wut zu zeigen. Wir sind unterschiedlich und somit einzigartig.
Wutausbrüche äußern sich je nach Alters- und Entwicklungsstufe ganz unterschiedlich. Während Kleinkinder noch sehr reizbar sind und manche heftige Temperamentsausbrüche haben, zeigt sich bei Jugendlichen die Wut zuweilen eher verdeckt und subtil, z. B. im Ignorieren von Abmachungen.
Der Ausdruck von Wut ist abhängig von der Einzigartigkeit eines jeden Kindes, von erlernten Mustern, und drückt sich je nach Entwicklungsstand ganz unterschiedlich aus.
Was ist Ihre aufgabe als Eltern?
Eine wichtige Aufgabe der Erziehung – vielleicht die wichtigste überhaupt – ist die Stärkung des Kindes, damit es zu dem Menschen werden kann, der es sein will und kann. Also zuzulassen, dass es seine Einzigartigkeit entwickeln kann. Und doch braucht es auch die Anpassung; die Anpassung an die Gemeinschaft, an ein soziales System. Ohne diese Anpassungsfähigkeit würde unser Zusammenleben, unsere Gesellschaft nicht funktionieren, und wir würden nicht überleben.
Damit ist Ihre Aufgabe als Eltern ungemein komplex. Erziehung heißt, einen Mensch so zu begleiten und stärken, dass er für seine Interessen und seinen Willen einstehen kann und gleichzeitig lernt, sich an die bestehende Gesellschaft und deren Normen anzupassen. Diese Anpassungsleistungen sind hoch komplex und fordern Eltern in ihren Erziehungsaufgaben ebenso wie Kinder in ihrer Entwicklung heraus. Es gibt unendlich viele individuelle Wege, diese Anpassungen zu leisten. Insbesondere in der Kindheit und im Jugendalter ist es ein innerer Kampf, mit angeborenen Gefühlen sowie gesellschaftlichen Erwartungen zurechtzukommen. Oft stehen diese Gefühle („Ich habe jetzt Lust auf Schokolade“) und Erwartungen und Normvorstellungen („Man isst keine Schokolode vor dem Mittagessen“) in Widerspruch.
Es ist daher sehr wichtig, Verständnis für diesen Lernprozess zu haben und das Kind mit Halt und Geduld hindurchzubegleiten.
Äußere Umstände
Neben der Familie und den Erziehungsbedingungen spielt das so ziale Umfeld eine bedeutende Rolle. Mitschüler, die ein Kind abweisen, Ungerechtigkeit durch eine Lehrperson oder Angst vor Angriffen auf dem Pausenhof sind mögliche Wutauslöser, die nicht übersehen werden sollten.
Immer wieder erlebe ich, dass wir den äußeren Umständen zu wenig Beachtung schenken oder diese vergessen. Interessanterweise zeigen sozialpsychologische Studien, dass wir dazu neigen, Persönlichkeitsfaktoren zu überschätzen und soziale Umstände zu unterschätzen. Doch das soziale Umfeld, Hitze oder Kälte, Lärm, Zeitdruck usw. spielen eine zentrale Rolle, wie wir uns fühlen und verhalten.
Stellen Sie sich mal vor, Sie hätten sich soeben durch Unvorsichtigkeit Ihren Finger in der Tür eingeklemmt. Kommt da nicht neben Schmerz auch leichte Wut auf?
ACHTUNG, UNTERZUCKERUNG!
Aus meiner Erfahrung als Mutter habe ich gelernt, wie heftig sich eine Unterzuckerung bei Kindern auswirken kann. Eigentlich ist es nicht erstaunlich, dass viele Konflikte kurz vor dem Mittagessen entstehen: Wir sollten kochen, das Kind möchte uns von der Schule berichten und wünscht ungeteilte Aufmerksamkeit. Dazu kommen Hunger und Erschöpfung.
Ich empfehle daher, eine Schale mit Apfelscheiben oder ein Glas Orangensaft bereitzuhalten und Knabbern vor dem Essen zu erlauben.
Lernen Sie die Auslöser Kennen
Überlegen Sie einmal, in welchen Situationen Ihr Kind regelmäßig einen Wutanfall bekommt. Typische Auslöser für Wut- und Trotzanfälle sind Reizüberflutung, Mangel an strukturierten Aktivitäten oder Stress. Bei sensiblen, ängstlichen oder hyperaktiven Kindern höre ich beispielsweise immer wieder, dass Situationen im Sportunterricht eskalieren.
Auch die Tatsache, dass ein Kind den genannten äußeren Einflüssen ausgesetzt ist und erst zu Hause im geschützten Rahmen seinen Emotionen freien Lauf lassen kann, darf nicht außer Acht gelassen werden.
Viele Kinder drücken ihre emotionale Überforderung erst zu Hause, also im geschützten Rahmen, aus.
Wutausbrüche als Gewohnheiten
Da die meisten Wutausbrüche so wirken, als geschähen sie aus heiterem Himmel, kann es merkwürdig erscheinen, sie als Gewohnheiten zu bezeichnen. Wenn man jedoch genauer hinschaut, können wir erkennen, dass viele Wutausbrüche einem bestimmten Muster folgen, die das ihnen zugrunde liegende Problem widerspiegeln.
Als „Muster“ oder „Gewohnheiten“ verstehen sich Verhaltensabläufe, die zu einem früheren Zeitpunkt durchaus sinnvoll gewesen sind, in der Gegenwart aber scheinbar einem immer gleichen Ablauf folgen, teilweise ohne nachvollziehbare Gründe.
Psychologen gehen davon aus, dass der größte Teil der menschlichen Verhaltensweisen auf unbewusste, automatische Abläufe zurückgeht. Diese Abläufe sparen Denkkapazität und sichern das Überleben. Viele unbewusste Verhaltensmuster hängen mit der Entwicklung unserer Persönlichkeit zusammen. Kindheitserfahrungen prägen biologisch wie psychisch die Persönlichkeit und die weitere Entwicklung. Beispielsweise bilden sich bei einem Kind, das über Jahre Klavier spielt, ganz bestimmte Bahnen im Gehirn aus. Aber nicht nur motorische oder körperliche Abläufe zeichnen sich hirnorganisch ab, sondern auch emotionale und psychische Erfahrungen. Anders ausgedrückt: Durch Erfahrungen bilden sich in unserem Gehirn feste Verbindungen, die unsere Reaktion auf bestimmte Reize bestimmen – sogenannte Muster. Daher neigen wir dazu, auf bestimmte Reize immer wieder ähnlich zu reagieren.
Erlernte Muster können in der frühen Kindheit hilfreich gewesen sein, heute aber in einer veränderten Umgebung und mit einer gereiften Persönlichkeit als leidvoll erlebt werden. Dies besonders dann, wenn einmal erlernte Reaktionen uns nicht mehr sinnvoll, sondern gar schädlich erscheinen, wir aber Schwierigkeiten haben, sie zu ändern.
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783869106564
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Januar)
- Schlagworte
- Kinder-Erziehung Kinder erziehen Erziehungsratgeber Eltern-Kind-Beziehung Familien-Leben Kindliche Entwicklung Konflikt-Lösung