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Palliative Care in Pflegeheimen und -diensten

Wissen und Handeln für Pflegende

von Jochen Becker-Ebel (Herausgeber:in)
216 Seiten

Zusammenfassung

Eine gute Palliativversorgung ist ein Qualitätskriterium von Pflegeheimen und -diensten. Für Bewohner, Patienten und Angehörige sichert sie eine gute Lebensqualität auch in schwierigen Krankheitsphasen. Für die 5. Auflage wurde dieses bewährte Buch aktualisiert. Es zeigt, wie sich ein modernes Schmerzmanagement durchführen lässt, wie Ehrenamtliche und Angehörige einbezogen, psychosoziale Nöte begleitet und Krisen speziell im Team gemeistert werden können. Der komplexe Bereich der ethischen Entscheidungsfindung und Therapiezielbegrenzung am Lebensende wird praxisnah dargelegt. Dabei geht es immer auch darum, die Mitarbeiter gezielt einzusetzen und zu entlasten.
Aktuell: Mit Hinweisen zum neuen Hospiz- und Palliativgesetz (HPG) und zum Verbot der Suizidbeihilfe.

Auf den Punkt gebracht:
Palliatives Basiswissen für den Pflegealltag.
Kompakt, verständlich, praxisnah.
Multidisziplinär & umfassend.
Aktuell: Mit Hinweisen zum neuen Hospiz und
Palliativgesetz (HPG von 2015) und zum Verbot der Suizidbeihilfe

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort zur sechsten Auflage

»Palliative Care in Pflegeheimen und -diensten« ist mit dieser sechsten Auflage weiterhin eines der erfolgreichsten nicht-pharmafinanzierten Bücher der Palliativversorgung.

Auch die allgemeine und spezialisierte Palliativpflege ist in Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten gut angekommen. Immer schon wurde und wird Gutes und oft Hervorragendes in der Begleitung kranker und hochbetagter Menschen ambulant und stationär geleistet – trotz steigendem Fachkräftemangel und Bürokratie.

Mit wenigen, hilfreichen Schritten kann im Rahmen des vorhandenen Zeitbudgets in der allgemeinen palliativen Versorgung bereits viel geleistet werden. Die darüber hinaus gehende spezialisierte Versorgung – SAPV – durch Pflegedienste und in Pflegeheimen begleitet darüber hinaus die letzte Lebensphase optimal. Hier ist die (Palliativ-)Pflege in Deutschland auf einem guten Weg, wie internationale Vergleichsstudien bestätigen.

Dennoch: Mehr als drei Jahre nach der Einführung des neuen Hospiz- und Palliativgesetzes hat sich bei der flächendeckenden Umsetzung noch nicht viel getan:

Es bestehen weiterhin Lücken in manchen Landkreisen und in großen Bereichen Ostdeutschlands bei der SAPV.

Seit Ende 2016 ist es möglich, mit Krankenkassenfinanzierung Pflegeheimbewohner zur Palliativversorgung zu informieren und zu ethischen Entscheidungsfindungen zu beraten, doch haben erst wenige Pflegeheime derartige Beratungen strukturell verankert.

Über die Jahre hat sich die Aufgabenstellung dieses Buchs geändert. Neben den Altenpflegenden lesen auch viele Gesundheits- und Krankenpflegende dieses Buch. Nicht nur für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Pflegeheimen, sondern auch für jene von Pflegediensten und ebenso für Pflegende von nicht-palliativen Krankenhausabteilungen sind die hier gesammelten Informationen zunehmend hilfreich. Unser Buch dient ihnen allen als praktische und umsetzbare Antwort auf alle anfallenden Fragen.

Mit diesem Buch sind Sie, liebe Leser und Leserinnen, weiterhin auf den verschiedenen Versorgungsformen im Palliative Care gut vorbereitet – spezifisch auf die Palliativpflege des hochbetagten Menschen. So sind die Medikamentenempfehlungen in ihren hier besonders hervorgehobenen (oft niedrigeren) Dosierungen leitlinienkonform gerade für den älteren Menschen gezielt modifiziert.

Im Bereich der Ethik am Lebensende hat sich in den letzten Jahren viel getan. Damit Sie eine eigene Haltung finden können, tragen wir aktuelle Informationen zusammen:

zur Diskussion zum stets straffreien Suizid sowie zur Garantenstellung im Kontext einer Beihilfe zum Suizid.

zum neuerdings eingeführten Strafgesetz des Verbots der Suizid-Bewerbung, das vom Bundesverfassungsgericht nach Verfassungsbeschwerden derzeit überprüft wird. Eine Entscheidung zu diesem § 217 StGB wird erst nach Drucklegung dieser 6. Auflage erwartet.

zu Patientenverfügungen, die seit den BGH-Urteilen vom 6.7.2016 und 8.2.2017 zunehmend wichtig sind, aber nur wenn sie konkret genug abgefasst werden. Dies hat ein neues BGH-Urteil vom 14.11.2018 nochmals konkretisiert. Die Selbstbestimmung der Betroffenen ist gestärkt.

zur Palliativ-Beratung nach Paragraf 132g SGB V.1 Sie kann im Rahmen des neuen Hospiz- und Palliativgesetzes auch durch Pflegeheime selbst erbracht werden. In den dazu veröffentlichten Rahmenvereinbarungen finden sich Hinweise zur Qualität für die Umsetzung.2

Unser Buch bereitet in seiner sechsten, aktualisierten Auflage Palliativpflegende, -beraterInnen und palliative Einrichtungen gut auf diese Neuregelungen vor. Freuen Sie sich auf umfassende Informationen sowie Handlungsanleitungen in verständlicher Sprache.

09. Februar 2019 Für die Autoren:
Prof. Dr. Jochen Becker-Ebel
Professor f. Palliative Care

_________________

1Vgl. www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/132g.html

2Vgl. www.dhpv.de/tl_files/public/Service/Gesetze%20und%20Verordnungen/2018_Vereinbarung_nach_132g_Abs_3_SGBV_GVP.pdf

Einleitung und Überblick

Jochen Becker-Ebel

Palliativversorgung wird zunehmend zum Qualitätskriterium von Pflegeheimen und Pflegediensten. Für Patienten, Bewohner und Angehörige ist sie ein wichtiges Signal für eine gute Lebensqualität – auch in schwierigen Krankheitsphasen. Doch Palliativversorgung ist mehr: Neben der radikalen Patientenorientierung sind Vernetzung und Multiprofessionalität sowie die besondere Einbeziehung der Angehörigen wichtig.

Bereits 2000 schrieben die norwegischen Pflegeheimärzte und Palliativmediziner Dr. Bettina Sandgathe und Professor Dr. Stein Husebø (Bergen) in der Zeitschrift für angewandte Schmerztherapie (StK 2/2000): »Bislang wurde die Palliativmedizin völlig zu Unrecht in der Geriatrie vernachlässigt, obwohl viele Probleme entstehen, wenn alte Menschen ernsthaft erkranken und im weiteren Verlauf sterben.« Die namhafte Palliativmedizinerin Cicely Saunders gibt zu: »Ich habe mich bewusst der Versorgung von Tumorpatienten gewidmet. Ich wusste, dass es mir nicht gelingt, die Misere in der Versorgung unserer alten Mitbürger aufzugreifen. Das Problem ist mir zu groß gewesen.« Zunehmend kritisieren die internationalen Gremien der Palliative Care die einseitige Fokussierung auf Krebspatienten und fordern, dass die großen Fortschritte auch anderen Patientengruppen zugutekommen sollten.

Die Aufgabe ist weiterhin groß und auch 15 Jahre später noch nicht in vollem Umfang erkannt und bewältigt. Doch gemeinsam wird es gehen. Altenpflegekräfte im ganzen deutschsprachigen Raum wollen das Sterben und den Tod in ihren Einrichtungen nicht weiter tabuisieren und in die Ecke drängen. Sie wollen die Vorzüge der Hospizarbeit in ihre eigenen Einrichtungen auf angepasste Art und Weise integrieren und von der Palliativmedizin und Palliativpflege lernen, um die Schwerstkranken auf ihren letzten Wegen stets besser zu begleiten.

In der Palliativversorgung steht die Ganzheitlichkeit im Vordergrund. Das bedeutet, dass nicht die Erkrankungen allein betrachtet werden, sondern der ganze Mensch, mit seiner Seele, seinem Denken und Glauben und mit seiner sozialen Identität. Daraus entstand das auch heute verwandte Modell des »Total Pain«, zu Deutsch in etwa: »ganzheitlich-umfassender Schmerz«, der oben bereits erwähnten Gründerin der modernen Hospizund Palliativbewegung Dame Cicely Saunders.

Den »Total Pain« beantwortet Saunders mit »Total Care«, eine »umfassende oder auch ummantelnde Pflege/Fürsorge«, auch »Palliative Care« genannt (von lat. »Pallium« = »Mantel«). Die Dimensionen der Bedürfnisse sind als Aufforderung an Multiprofessionalität und institutions- und trägerübergreifende Zusammenarbeit zu verstehen.

Auf diese vier Dimensionen des Leides und des Schmerzes antworten alle Berufsgruppen innerhalb eines palliativen Behandlungsteams mit ihren spezifischen Angeboten. So entsteht »Palliative Care« – eine ganzheitliche Fürsorge am Lebensende. Pflegende und Ärzte arbeiten zusammen mit Sozialarbeitern, Psychologen und Seelsorgern und decken so miteinander die verschiedenen Dimensionen der notwendigen Fürsorge ab. Das geschieht immer schon auf eine anfangs gute Art und Weise auch im Pflegeheim, aber oft nicht für jeden und zu jeder Zeit und in der bisweilen nötigen Intensität.

Palliative Care ist ein Zusammenspiel von Menschen aus verschiedenen Berufen. Deshalb haben wir dieses Buch auch gemeinsam geschrieben, als multidisziplinäres Team. Aus unserer bisherigen Zusammenarbeit in Palliativ- Weiterbildungen, Gremien und Organisationsberatung (siehe auch: www.palliativkurse.de) und bei anderen gemeinsamen Publikationen ist bei uns der Wunsch entstanden, ein einfach verständliches, knappes und preisgünstiges Buch für den alltäglichen Gebrauch im Pflegeheim zu schreiben. Dieses Buch kommt aus der eigenen Praxis heraus, denn innerhalb des weiten Feldes »Palliative Care« haben wir schon vor mehreren Jahren unseren eigenen Handlungs-Schwerpunkt auf »Palliative Care im Pflegeheim« gelegt. Mittlerweile sind wir fast ausschließlich für die bessere palliative Begleitung älterer Menschen tätig. Auch da leitet unser Interesse ein weiteres großes Anliegen von Dame Cicely Saunders, das sie bereits Mitte der Achtziger Jahre äußerte:

»Historisch betrachtet zog die Hospizbewegung ja aus dem Gesundheitssystem aus und entwickelte eigene Modelle (»models of care«, d. h.: Hospize etc.). Es gilt nun, die Haltungen, die Kompetenzen und Erfahrungen der Hospiz- und Palliativversorgung in die Regelversorgung zu reintegrieren (d. h.: in Krankenhäuser, Pflegeheime und ambulante Dienste), damit die Haltungen und das Wissen zurückfließen kann (»… so that attitudes and knowledge could come back«

Zitiert aus einem IFF-Symposium und nach James & Field 1992.

Bei diesem Zurückfließen geht es zunehmend um einen gegenseitigen Lernprozess. Der mit einer Prise Überheblichkeit gewürzte Auszug aus der Regelversorgung und das Gründen eigener Hospiz-Versorgungsorte hat alle Nebengeschmäcker zu verlieren, damit ein gemeinsamer Lernprozess gelingen kann. Wir Autoren staunen stets erneut, was wir an sozialer Kompetenz, Zuneigung und gutem Willen in den Pflegeheimen bereits antreffen. Es ist ein gemeinsames Lernen und nicht ein »1:1«-Übertragen von palliativem Wissen in die palliativ-ungebildete Regelversorgungslandschaft. Palliative Care entdeckt jetzt erst die Alten, die Hochbetagten, die Menschen mit Demenz. Im gemeinsamen Lernen wird Palliative Care im Pflegeheim noch umfassender werden, noch mehr Palliative Care sein und insbesondere für alle da sein, auch für jene, die still und leise von hier gehen und nicht im Licht der Öffentlichkeit mit ihrem eigenen Sterben sind.

1.1Einführung

Die Palliativmedizin bietet inkurablen, unter körperlichen und seelischen Beschwerden leidenden Patienten flankierende Hilfen zur Verbesserung der Lebensqualität an. Angestrebt wird die ambulante Behandlung in der häuslichen Umgebung, die nur gelingt, wenn eine umfassende Stabilisierung der Patienten auf Symptomebene zu erreichen ist. Wenn Entgleisungen zur stationären Aufnahme führen, ist das Behandlungsziel die schnelle, den Betroffenen zufriedenstellende Linderung der Beschwerden, gefolgt von der Rehabilitation in die vertraute Umgebung. Tumorschmerz ist das von vielen am meisten gefürchtete Symptom der Krebskrankheit.

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Info

Was ist Schmerz? Ein/e

Warnsignal (deskriptiv),

Stimulus (neurophysiologisch),

Hilferuf (psychosozial),

Erfahrung des Lebens (lernen),

rein subjektives Gefühl.

Definition gemäß der IASP3 1979: »Schmerz ist ein unangenehmes Sinnesoder Gefühlserlebnis, das mit potenzieller oder tatsächlicher Gewebsschädigung einhergeht oder mit den Begriffen einer solchen beschrieben wird. Schmerz ist immer subjektiv.«

Fazit Schmerz ist, was der Patient als Schmerz empfindet

Das Vorhandensein oder der Nachweis einer somatischen Läsion ist also keine zwingende Voraussetzung für das Erleben von Schmerzen. Schmerz ist also immer das, was der Patient selbst sagt, das es ist. Niemand außer dem Betroffenen selbst kann diesen Schmerz fühlen, niemand außer ihm selbst kann sagen, wie stark dieser sein Schmerz ist und wie stark er unter diesem Schmerz leidet.

Akute und chronische Schmerzen sind ein wesentliches Symptom einer Tumorerkrankung. Ihr Einfluss auf alle Bereiche der Lebensqualität kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seit fast 20 Jahren gibt es zur Behandlung von Tumorschmerzen validierte Therapieoptionen mit einem Effektivitätsgrad mehr als 90 Prozent. Trotzdem wird die Mehrzahl der Patienten in Deutschland noch völlig unzureichend behandelt. Leider wurde der Inhalt der Leitlinien zur Tumorschmerztherapie oft unzulässig auf die rein medikamentöse Therapie verkürzt und alle anderen Optionen der Schmerzpalliation – insbesondere die tumorspezifischen Methoden, wie Bestrahlung, Operation und Chemo- oder Radioisotopentherapie – außer Acht gelassen. Auch darf der Beitrag nichtmedikamentöser Maßnahmen zur Tumorschmerztherapie, wie Lymphdrainage, Verordnung von Prothesen und Orthesen, optimierte Lagerung, Massagen, Physiotherapie und nicht zuletzt psychotherapeutische Interventionen, keineswegs unterschätzt werden.

Tumorschmerzpatienten leiden in der Regel gleichzeitig an weiteren physischen Störungen sowie psychologischen, kulturellen, sozialen und spirituellen Problemen, die mit dem Prozess der Krankheitsverarbeitung zusammenhängen und eine symptomverstärkende Rolle spielen. Gerade für den Schmerz des Krebskranken gilt das biopsychosoziale Modell, ist dieser Patient doch einer existenziellen Bedrohung durch die Krebserkrankung ausgesetzt (»Total Pain«). Aus diesen Gründen ist eine Tumorschmerztherapie unter Einbeziehung vieler Fachdisziplinen (Ärzte, Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter, Psychologen, Seelsorger) zu leisten und setzt die Einbindung des Patienten und seiner Familie voraus.

Dies impliziert auch die Aufklärung über Wirkung und Nebenwirkungen der Behandlung. Da der »Morphinmythos« trotz aller Bemühungen noch lebt, sollten auch Themen, wie und warum der Patient ein »Betäubungsmittelrezept« erhält, wenn er ein wirksames Schmerzmittel braucht, oder warum dieses aus dem »Giftschrank« kommt, offen angesprochen werden.

1.2Schmerztherapie

In der Schmerztherapie muss der Grundsatz der Wahrhaftigkeit dem Patienten gegenüber stets gewahrt werden. Er impliziert, dass dem Patienten stützende Angebote zur Krankheitsbewältigung angeboten werden müssen. Die Schmerztherapie soll dem Patienten ein soweit irgend möglich schmerzarmes normales Leben ermöglichen.

Wichtig Haben Sie Schmerzen?

Der Schmerz muss bei jeden Palliativ-Patienten aktiv vom Arzt und Pflegepersonal erfragt werden, da viele Patienten nicht von selbst über ihre Schmerzen berichten. Sie haben Angst, der Arzt könne nichts tun, sie würden lästig fallen, eine Therapie übergestülpt bekommen, die sie selbst gar nicht wollen.

Bei Tumorpatienten kommt es im Verlauf ihrer Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu behandlungspflichtigen Schmerzzuständen. Dieses Symptom tritt in Abhängigkeit von Tumorart und -stadium, vom Metastasierungsgrad und dem Ort der Schmerz verursachenden Läsion sowie von individuellen und psychosozialen Faktoren zu unterschiedlichen, im Allgemeinen nicht vorhersagbaren Zeitpunkten und mit variabler Intensität auf.

Zum Zeitpunkt einer entsprechenden Diagnosestellung leiden bereits bis zu 50 Prozent aller Tumorpatienten an Schmerzen, die sich in diesem Stadium in vielen Fällen durch tumorspezifische Maßnahmen (Chemotherapie, Operation, Strahlentherapie) reduzieren bzw. gelegentlich sogar gänzlich beseitigen lassen. In einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium werden derartige Schmerzzustände bei über 75 Prozent der Patienten beobachtet. Auch in dieser Situation sollte neben der Durchführung einer symptomatischen Behandlung der Einsatz tumorspezifischer Maßnahmen im Rahmen einer sorgfältigen Nutzen-/Risikoabschätzung erwogen werden.

»Tumorschmerz« ist keine Diagnose. Schmerzen bei Malignomen werden durch verschiedene Schmerzursachen hervorgerufen, die sowohl einzeln als auch in Kombination auftreten können.

1.3Physiologie der Schmerzen

Schmerzentstehung

Überall in der Haut, in den Muskeln, Knochen, Gefäßen, in den Organen und Gelenken dienen vor allem freie Nervenendigungen oder spezielle Nozizeptoren als Schmerzrezeptoren. Unabhängig von der zugrundeliegenden Gewebeschädigung werden diese durch mechanische oder thermische Reize, Botenstoffe oder chemische Stoffe, die bei Gewebsschädigung oder bei Entzündungsreaktion aus den betroffenen Zellen freigesetzt werden, aktiviert oder in ihrer Aktivität moduliert.

Schmerzleitung

Durch die schnell leitenden A-Delta-Fasern und die langsameren C-Fasern, die den peripheren Nerven beigemischt sind, gelangen die Nervensignale zum Rückenmark. Dort endet das erste Neuron der Schmerzleitungsbahn. Es beginnt das zweite Neuron der Schmerzbahn, der Vorderseitenstrang des contralateralen Rückenmarks. Die Neurone des Tractus Spinothalamicus enden in den spezifischen oder unspezifischen Thalamuskernen, andere im Hirnstamm oder Zwischenhirn. Aus den unspezifischen Thalamuskernen gelangen Fasern des dritten Neurons der Schmerzleitung in die affektiven Großhirnareale, aus den spezifischen Kernarealen des Thalamus gelangen andere Fasern in den sensorischen Neokortex.

Zentrale Schmerzwahrnehmung

Erst wenn die Schmerzsignale in die sensorischen Großhirnrindenfelder gelangen, dringt der Schmerz ins Bewusstsein. Aus den affektiven Großhirnarealen werden die Gefühlsqualität und der Effekt beigesteuert.

Schmerzhemmung

Die Schmerzbahn ist keine »Einbahnstraße«. Vom Hirn aus gelangen absteigend- hemmende Bahnen zum Rückenmark, sodass bereits auf Rückenmarksebene die Weiterleitung von Schmerzsignalen moduliert, verändert, verstärkt oder gar unterdrückt werden kann.

Schmerz und Neuroplastizität

Durch länger bestehende oder sehr heftige Schmerzen werden die Schmerzrezeptoren sensibilisiert, sodass Reize, die normalerweise den Rezeptor nicht aktivieren, jetzt ausreichen, um den Rezeptor zu aktivieren. Außerdem vergrößert sich das sogenannte »rezeptive Feld«. Der Radius um den Rezeptor, in dem ein Ereignis den Rezeptor aktiviert, wird größer, die rezeptiven Felder beginnen sich zu überlappen, was dann wieder einen verstärkten neuronalen Input zur Folge hat.

Auch auf Rückenmarksebene kommt es bei anhaltenden Schmerzimpulsen schnell zu einer strukturellen Veränderung der schmerzleitenden Nervenzellen. Das Genom und die Rezeptorbelegung der prä- und postsynaptischen Nervenmembran verändern sich, sodass Schmerzimpulse immer leichter weitergeleitet und kaum noch gehemmt werden können. Es kommt zu einer »Bahnung«. Es werden bald Botenstoffe aus dem zweiten Neuron der Nervenleitungsbahn in den synaptischen Spalt abgegeben, die eine Ausschüttung von schmerzvermittelnden Mediatoren aus dem ersten Neuron in den synaptischen Spalt erleichtern. Ein »Teufelskreis« ist entstanden.

Auch im Kortex kommt es bei anhaltenden Schmerzen schnell zu strukturellen Veränderungen. In der Großhirnrinde vergrößern sich die Repräsentanzfelder von dauerhaft schmerzhaften Körperregionen.

Schmerzschwelle und Schmerztoleranz

Während die Schmerzschwelle, oberhalb derer ein Schmerzreiz ins Bewusstsein dringt, bei fast allen Menschen ungefähr gleich ist, ist die Schmerztoleranz, nämlich die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, individuell und zeitlich sehr unterschiedlich. Insbesondere bei Angst, Depression, Einsamkeit, Hilflosigkeit, Schlaflosigkeit oder Dauerschmerzen sinkt die Schmerztoleranz sehr rasch.

1.4Schmerzursachen

Generell ist zu beachten, dass mit unterschiedlichen Schmerzarten auch differente Begleitsymptome einhergehen, die mit recht unterschiedlichen Beeinträchtigungen der individuellen Lebensqualität verbunden sein können. Die bei Tumorpatienten zu beobachtenden Schmerzen lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien klassifizieren. Dabei müssen sowohl ätiologische als auch pathogenetische Faktoren berücksichtigt werden. Solche differentialdiagnostischen Überlegungen sind sinnvoll, da sich aus den zugrunde liegenden Mechanismen und Ursachen eines Schmerzsyndroms sowohl therapeutische als auch prognostische Konsequenzen ergeben. Beim gleichen Patienten können verschiedene, voneinander abgrenzbare Schmerzsyndrome parallel vorliegen: akute Schmerzen können in chronische übergehen bzw. akute und chronische Schmerzen können gleichzeitig bestehen. Die Kenntnis der Ätiologie und des Pathomechanismus sowie des zeitlichen Musters der Schmerzen ist eine unbedingt notwendige Voraussetzung zur suffizienten Durchführung einer spezifischen Schmerztherapie.

Auch somatische Schmerzen werden nicht isoliert von der psychosozialen Gesamtsituation des Tumorpatienten gesehen, sondern unter Berücksichtigung aller Symptome und Verstärkungsfaktoren innerhalb eines palliativmedizinischen Gesamtkonzeptes behandelt. Die Erfassung und Klassifizierung der Schmerzsyndrome bei Tumorpatienten erfolgt zu allererst durch sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung. Eine Analgetikamedikation zur Linderung bestehender Schmerzen sollte den Patienten aber keinesfalls bis zum Abschluss der diagnostischen Prozeduren vorenthalten werden. Manchmal ist eine frühzeitige medikamentöse Schmerztherapie schon allein deswegen erforderlich, um die Durchführung der apparativen Untersuchungen zu erleichtern bzw. überhaupt erst zu ermöglichen.

1.4.1 Tumorbedingter Schmerz

Bei tumorbedingten Schmerzen wird hinsichtlich der Ätiologie unterschieden zwischen

Nozizeptorschmerz und

neuropathischen Schmerzen.

Bei den meisten Patienten treten im Verlauf der Erkrankung verschiedene Schmerztypen und auch Kombinationen auf. Nach epidemiologischen Daten treten Knochen- oder Weichteilschmerzen bei 35 Prozent der Patienten auf, viszerale Schmerzen bei 17 Prozent, neuropathische Schmerzen bei 9 Prozent und bei 39 Prozent der Patienten sind mehrere Schmerztypen kombiniert.

Nozizeptorschmerz

Knochen- und Periostschmerz

Knochenmetastasen erregen über einen lokalen Druck, Volumenzunahme, Ausschüttung von Schmerzmediatoren (TNF: Tumornekrose Faktoren, Substanz P, Interleukine u. a.) oder Infiltration Nozizeptoren im Periost und lösen dadurch Schmerzen aus. Außerdem werden die freien, demyelinisierten Nerven, die den Knochen durchziehen, irritiert und erregt. Anfänglich treten die Schmerzen meist nur bei körperlicher Belastung und bei bestimmten Bewegungen auf, später sind selbst in Ruhe Schmerzen vorhanden. Die Schmerzen können streng lokal bei einer Solitärmetastase oder sehr diffus bei disiminierten Metastasen auftreten.

Insbesondere nachts werden typischerweise die Knochenmetastasenschmerzen stärker, da durch die »Bettwärme« das Knochenmetastasenödem zunimmt. Deshalb klagen die Patienten über Schlafstörungen, weil sie nicht mehr ruhig liegen können. Rippenmetastasen können die Atemexkursionen schmerzhaft eingeschränkten, sodass der Patient nicht mehr richtig abhusten kann.

Weichteilschmerz

Weichteilschmerzen können nach Infiltrationen von Skelettmuskulatur oder Bindegewebe entstehen. Häufig sind es Dauerschmerzen, die unabhängig von Bewegungen auftreten. Sie verstärken sich bei Druck wie auch beim Sitzen. Die Schmerzen sind eher diffus lokalisiert.

Ischämieschmerz

Kommt es zu einer Kompression oder Infiltration von Blutgefäßen, entsteht im entsprechenden Versorgungsgebiet ein Sauerstoffmangel. Neben einem anfänglichen belastungsabhängigen Claudicatio-Schmerz klagen Patienten mit Ischämieschmerzen in fortgeschrittenen Stadien über Dauerschmerzen. Je mehr die Patienten ihre Extremitäten bewegen und belasten, desto stärker werden die Schmerzen. Bei der Untersuchung fällt häufig die bläulich- livide Verfärbung der Haut auf.

Viszeraler Schmerz

Der viszerale, typischerweise kolikartige Schmerz wird durch Nozizeptoren vermittelt, die im kardiovaskulären System, im Gastrointestinal-, Respirations- und im Urogenitaltrakt lokalisiert sind. Verdrängt der Tumor zum Beispiel im Bereich des Abdomens Verdauungsorgane oder verschließt er Hohlorgane, zum Beispiel Gallengang, Ductus pancreaticus, Coecum, werden solche viszeralen Afferenzen erregt. Schmerzen können auch bei Entzündungen, Kapseldehnungen und Schleimhautulzerationen der Haut zur Ausprägung kommen.

Neuropathischer Schmerz

Infiltration oder Kompression von peripheren Nerven, Nervenplexus oder im zentralen Nervensystem führen zu neuropathischen, typischerweise einschießende, brennende Schmerzen. Sensible und/oder auch motorische Ausfälle sowie erhöhte Reizbarkeit oder Missempfindungen in den schmerzhaften Arealen weisen auf eine Nervenschädigung hin, nicht immer müssen objektivierbare neurologische Symptome auftreten. Neuropathische Schmerzen im Rahmen einer Tumorerkrankung können durch den Tumor selbst, die Chemotherapie, eine Operation oder durch Bestrahlung entstehen.

Bei der körperlichen Untersuchung fällt häufig eine Berührungsempfindlichkeit der Haut auf. Eine normalerweise nicht schmerzhafte leichte Berührung auf der Haut kann stärkste Schmerzhaftigkeit hervorrufen, die den Reiz zeitlich überdauert (Allodynie), oder ein leichter Schmerzreiz wird als extrem stark empfunden (Hyperalgesie). Dabei sind zum Teil erhebliche Sensibilitätsstörungen im Sinne einer Hypoästhesie oder Hyperästhesie zu finden. In seltenen Fällen sind zusätzlich Hinweise für eine Beteiligung des sympathischen Nervensystems vorhanden (Brennschmerz, Hauttrophik gestört, Ödem, Temperaturunterschied).

1.4.2 Therapiebedingter Schmerz

Die Tumortherapie kann Ursache für anhaltende Schmerzen sein. Eine Chemotherapie hinterlässt mitunter schmerzhafte Polyneuropathien, aseptische Knochennekrosen oder Mukosaentzündungen. Unter Umständen Monate bis Jahre nach Bestrahlungen treten Schmerzsyndrome durch Fibrosierung des Arm- oder Lumbosacralplexus auf. Myelopathien und durch Radiatio induzierte periphere Nerventumoren und Knochennekrosen treten ebenfalls auf. Weitere therapiebedingte Schmerzen sind beispielsweise der Postthorakotomieschmerz oder Stumpf- und Phantomschmerzen nach Amputationen einer Extremität wegen Tumorbefalls.

1.4.3 Tumorunabhängiger Schmerz

Tumorpatienten können auch unter akuten oder chronischen Schmerzen leiden, die nicht mit der Tumorerkrankung oder der Therapie im Zusammenhang stehen. Ein schon lange bestehender Kopfschmerz oder Rückenschmerzen können sich gerade in der Krisensituation einer Tumorerkrankung verstärken. Auch die langsam nachlassende Reduktion des Allgemeinzustandes und zunehmende Immobilität können zu einer Schmerzverstärkung nicht tumorbedingter Schmerzen beitragen.

Akuter Schmerz

Akute Schmerzen haben immer eine Alarmfunktion und bedürfen intensiver somatischer, funktioneller und psychosozialer Diagnostik, Abklärung und zielgerichteter, nach Möglichkeit kausaler Therapie.

Chronischer Schmerz

Von chronischen Schmerzen wird vereinbarungsgemäß gesprochen, wenn Schmerzen über eine längere Zeit (früher: mehr als sechs Monate) bestehen. Doch ist die Zeitdauer nicht das einzige Kriterium, das chronische Schmerzen auszeichnet. Der chronische Schmerz ist auch gekennzeichnet durch kognitive und verhaltensspezifische, soziale und interaktionelle Merkmale des betroffenen Patienten und seines sozialen Umfeldes.

Durchbruchschmerzen

Als Durchbruchsschmerzen bezeichnet man unvermittelte, heftige, nur kurz dauernde Schmerzattacken unter einer ansonsten zufriedenstellenden, suffizienten Schmerzbehandlung der Dauerschmerzen.

Somatoformer Schmerz

Ferner kennen wir den somatoformen Schmerz (d. h. der Schmerz »sieht nur so aus, als ob er eine körperliche Ursache hätte«), bei dem die Patienten auf psychosoziale Stressoren mit körperlichen Beschwerden/Schmerzen reagieren. Oft finden sich somatische Bagatellbefunde, die aber das Ausmaß der vom Patienten geklagten Schmerzen nicht erklären.

»Ich habe Schmerzen« kann bedeuten:

Zahnprobleme

Appendizitis

Angina pectoris

Ich habe Krebs.

Ich brauche Dich.

Ich hasse Dich.

Ich bin deprimiert.

Ich will Tabletten.

Ich brauche Aufmerksamkeit und Fürsorge.

Ich komme mit meinem Leben nicht zurecht.

Meine Tochter starb.

Ich bin allein.

Ich fürchte mich vor dem Tod.

1.5Diagnostik

Eine symptomatische Schmerztherapie sollte nicht ohne Kenntnis der exakten Diagnose erfolgen. Eine sorgfältige und umfassende Anamnese und eine gründliche körperliche Untersuchung mit neurologischem Status sind Basis der Schmerzdiagnostik. Viele Patienten mit chronischen Tumorschmerzen haben nicht nur somatische Beschwerden, sondern sind auch psychisch belastet.

Das Ausmaß der apparativen Diagnostik richtet sich nach Krankheitsstadium und Allgemeinzustand des Patienten. Treten neue Schmerzen auf oder kommt es zu einer deutlichen Schmerzverstärkung, sollte immer an ein Tumorrezidiv und Metastasen gedacht werden, was zwingend abgeklärt werden sollte. Das genaue diagnostische Vorgehen, die Indikation für bestimmte apparative Untersuchungsmethoden (wie Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Szintigraphie, Angiographie) und die daraus abzuleitenden therapeutischen Konsequenzen sollten immer in Kooperation mit Onkologen und Radiologen erfolgen.

Als hilfreiches, minimales anamnestisches »Instrumentarium« haben sich die »6 Ws« erwiesen:

1.Was schmerzt?

2.Wann?

3.Wie?

4.Wohin strahlt es aus?

5.Was beeinflusst den Schmerz?

6.Welche Symptome treten im Zusammenhang mit den Schmerzen noch auf?

Folgende Fragen sind für die Schmerztherapieplanung von großer Relevanz:

Welche physischen oder psychischen Symptome bestehen zusätzlich?

Welche Begleiterkrankungen oder Organfunktionseinbußen (z. B. Leberinsuffizienz bei Metastasenleber, Nierenversagen, Knochenmarkinfiltration/- suppression) liegen dauerhaft oder intermittierend vor?

Welche Bedeutung hat der Schmerz für den Patienten in seinem Alltag?

Was kann der Patient aufgrund der Schmerzen/der Schmerzbehandlung nicht mehr machen?

Wie sind die aktuellen psychischen, sozialen und spirituellen Ressourcen des Patienten, um sich mit den Schmerzen/der Erkrankung auseinandersetzen zu können?

Liegen negative Prädiktoren für das Gelingen einer Schmerztherapie vor, wie Durchbruchschmerzen, vorausgegangene oder aktuelle Suchterkrankung, neuropathischer Schmerztyp, raschester Dosisanstieg der Opioidmedikation ohne adäquates organisches Korrelat, ungelöste psychosoziale Konflikte?

Folgende Fragen sind vor einer Schmerztherapie zu beantworten:

Welches ist das individuelle Therapieziel des Patienten; ist es realistisch?

Was ist das größte Bedürfnis des Patienten (z. B. nicht schmerzbedingt gestörter Nachtschlaf, schmerzarmes Sitzen/Stehen/Liegen/Schlucken, schmerzarme Defäkation)?

Gibt es spezifische Therapien, die eine langfristige Analgesie bei zumutbarer Toxizität erlauben (Radiatio, Operation, Radionuklid-, Chemooder Hormontherapie)?

Gibt es nicht medikamentöse Verfahren, die zur Schmerzlinderung beitragen können (Orthesen, Prothesen, optimierte Lagerungsbedingungen, Lymphdrainage, physikalische Therapie, Wund-/Dekubitusbehandlung)?

Ist eine intensivierte psychosoziale und/oder spirituelle Begleitung erforderlich, und wie ist sie organisierbar?

Welche erkrankungsbedingten Komplikationen und/oder Nebenwirkungen sind wahrscheinlich und müssen vorausschauend mit eingeplant werden (z. B. Schluckunfähigkeit, Koma, Hyperkalzämie, Obstipation bis zur nicht operablen enteralen Obstruktion)?

Was ist der optimale Applikationsweg oder die optimale Zubereitungsform für diesen Patienten?

Wie viele Medikamente/Einnahmezeiten sind für den Patienten (noch) zumutbar?

Ist die Medikamenteneinnahme/-gabe durch den Patienten allein möglich oder braucht er professionelle Hilfe?

Schmerzskalen und weitere Instrumente der Schmerzerhebung finden Sie in Kapitel 2 »Umsetzung eines fundierten Schmerzassessments von Meike Schwermann (image Kap. 2).

1.6Schmerztherapie

Auch und gerade in der Schmerztherapie gilt als oberstes Therapieprinzip: Do not harm – Füge niemals Schaden zu. Es ist strafbar, einen Patienten gegen seinen Willen zu behandeln. Vor jeder Behandlung muss der tatsächliche oder ggf. mutmaßliche Wille des Patienten eruiert werden. Er muss verständlich aufgeklärt sein über Wirkungen und Nebenwirkungen der Therapie, er muss die Therapiealternativen kennen, er muss wissen, was geschieht, wenn er die Therapie ablehnt. Der Patient hat auch das Recht, eine uns sinnvoll erscheinende Therapie abzulehnen.

1.6.1 Kausale Schmerztherapie

Die Therapie der Wahl ist die kurative, ursächliche Beseitigung von Schmerzen, soweit das bei einer Tumorerkrankung überhaupt möglich ist. Bei bekannter Tumordiagnose müssen zunächst alle kausalen Behandlungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die zu einer Beseitigung oder Verkleinerung des Tumors führen oder zumindest zur palliativen Tumortherapie eingesetzt werden können, wenn der Patient dies wünscht. Ursachenerkennung und Ursachentherapie bedingen, dass auch der Schmerztherapeut onkologische Therapiekonzepte zu überdenken und an den Patienten gegebenenfalls entsprechend weiterzuleiten hat.

1.6.2 Symptomatische Schmerztherapie

Grundregeln für die medikamentöse Schmerztherapie in der Palliativmedizin:

Die Schmerztherapie bei Palliativpatienten folgt im Prinzip den Grundregeln der Therapie chronischer Schmerzen, das heißt, die Basis des medikamentösen Konzepts bilden langwirkende retardierte Analgetika. Dabei sollten der Applikationsweg, solange dies möglich ist, nichtinvasiv sein und in erster Linie orale Medikamente zum Einsatz kommen. Gegebenenfalls muss bei Schluckstörungen auf transdermale oder subcutane Applikationsformen ausgewichen werden, wo diese zur Verfügung steht.

Grundsätzlich soll die Medikation nach einem festen Zeitschema und individuell nach Schmerzstärke gegeben werden. Dadurch soll eine gleichmäßige, den Patienten zufrieden stellende Schmerzlinderung über 24 Stunden angestrebt werden. Dies ist bei einem weitgehend gleichmäßigen Schmerzniveau allein durch lang wirkende Medikamente zu erreichen.

In der Realität kommt es jedoch spontan, ohne erkennbaren Grund, oder zum Beispiel abhängig von Belastungen oder therapeutischen Maßnahmen (wie Verbandwechsel oder Lagerungsmaßnahmen) im Laufe des Tages immer wieder zu Schmerzspitzen und Durchbruchschmerzen, die zusätzliche Maßnahmen erfordern (Durchbruchschmerz).

WHO-Richtlinien zur medikamentösen Tumorschmerztherapie

orale Therapie (by the mouth)

nach Stufenplan (by the ladder)

nach der Uhr (by the clock)

individuelle Titration der Dosis (for the individual)

start low, go slow

Anwendung von Koanalgetika

beachte die jeweiligen Besonderheiten (look for the details)

adjuvante Therpieverfahren zu jeder Zeit

Wesentliche Ursachen für die schmerztherapeutische Unterversorgung von Tumorschmerzpatienten:

Schmerzdiagnose unkorrekt

Schmerzintensität unterschätzt

Analgetika-Dosierungsintervall zu lang

Analgetika-Dosierung zu niedrig

Bevorzugung schwacher Opioide

Angst vor Toleranz

Angst vor Abhängigkeit

Angst vor Entzug

Betäubungsmittelverschreibungsverordnung

Koanalgetika nicht eingesetzt

spezielle Verfahren nicht bedacht

1.6.3 Stufenschema der Tumorschmerztherapie

1986 wurden von der World Health Organization (WHO) erstmals Empfehlungen zur Tumorschmerztherapie herausgegeben, die für Drittweltländer ohne funktionierende Gesundheitsstrukturen konzipiert waren. In großen Fallserien wurde die Effektivität dieser WHO-Empfehlungen nachgewiesen und eine zufrieden stellende Schmerzreduktion bei 80 Prozent der Patienten aufgezeigt. An diesen Empfehlungen orientierte sich die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft im Jahr 2000 bei der zweiten Auflage ihrer Empfehlungen zur Tumorschmerztherapie.

Die Grundlage aller Empfehlungen war das Stufenschema der WHO zur Krebsschmerztherapie: Gemäß dem WHO-Stufenschema werden bei leichteren Schmerzen Nicht-Opioidanalgetika eingesetzt (WHO-Stufe-I). Reicht die analgetische Wirkung nicht aus, wird das Nicht-Opioidanalgetikum mit einem schwachen Opioid kombiniert (WHO-Stufe-II). Bei weiterhin unzureichender Analgesie wird das Nicht-Opioidanalgetikum mit einem stark wirksamen Opioid kombiniert (WHO-Stufe-III). Ein eventuell vorhandener Durchbruchsschmerz (Bewegung, Husten, Defäkation) sollte auf allen Stufen mit schnell anflutenden Opioiden behandelt werden (zum Beispiel unretardierte Morphintabletten 10–20 mg oder die Fentanyllutschtablette 200–1 600 μg).

Daraus ergeben sich Kombinationsmöglichkeiten: Entweder werden Substanzen der Stufe 1 und 2 verabreicht oder Substanzen der Stufe 1 und 3. Die Wahl dieser Kombinationen ist abhängig von der Stärke der Schmerzen. Bei sehr starken Schmerzen sollten schon zu Beginn der Therapie stark wirksame Opioide verabreicht werden. Niedrigdosierte stark wirksame Opioide haben weniger Nebenwirkungen als hochdosierte schwach wirksame Opioide.

1.6.4 Mechanismen-orientierte Schmerztherapie

Das WHO-Stufenschema verliert mit zunehmender Kenntnis der Pathomechanismen der Schmerzentstehung immer mehr an Bedeutung. Bei der aktuell seit einigen Jahren favorisierten mechanismen-orientierten Schmerztherapie richtet sich die Auswahl des Analgetikums primär nach der Schmerzursache: Zum Beispiel werden hier bei entzündungsbedingten Schmerzen primär antientzündlich wirksame Analgetika wie NSAR (Nicht steroidale Antirheumatika) wie z. B. ASS oder Ibuprofen, bei visceralen kolikartigen Schmerzen das spasmolytisch wirksame Novaminsulfon, oder bei neuropathischen Schmerzen die nervenmembran-stabilisierenden Antikonvulsiva oder das schmerzdämpfende System aktivierende Antidepressiva gegeben. Es gibt heute Diskussionen darüber, inwieweit der Einsatz schwach wirksamer Opioide überhaupt notwendig ist. Studien zeigen, dass eine sofortige Einstellung auf stark wirksame Opioide sicher und effektiv möglich ist. Ebenso gibt es die Diskussionen, dass die Opioide wegen ihrer fehlenden Organtoxizität sicherer als die Nicht-Opioidanalgetika sind, weshalb auf WHO-Stufe-I und II verzichtet werden könnte und nur dann, wenn durch die Opioide allein keine zufriedenstellende Analgesie erreicht werden kann, zusätzlich mechanismenorientiert Nichtopioidanalgetika gegeben werden sollten.

Folgende Grundregeln sollten aber bei der medikamentösen Therapie von Tumorschmerzen eingehalten werden:

Es erfolgt primär eine nichtinvasive Applikation (oral, bei Schluckstörung: transdermal), um die Selbstständigkeit des Patienten zu erhalten.

Die Dosisintervalle richten sich nach der Wirkungsdauer des verwendeten Präparates (zum Beispiel Hydromorphin retard alle (8 bis) 12 (Palladon®) bis 24 (Jurnista®) Stunden, Novalgin alle 4 Stunden, Ibuprofen alle 8 Stunden.

Es sollten soweit wie möglich retardierte Opioide oder Präparate mit einer langen Wirkungsdauer eingesetzt werden. Wenn die Schmerzen immer wieder auftreten, bevor die nächste Dosis fällig ist (»End of Dose Pain«), sollte die Dosis der Dauermedikation erhöht werden. Eventuell muss das Dosisintervall verkürzt werden. Bei der Wahl der Einnahmezeiten sollte man den individuellen Lebensrhythmus des Patienten berücksichtigen (zum Beispiel erste Einnahme nach dem Erwachen, dann weiter alle 4 bzw. 6 bzw. 8 bzw. 12 Stunden).

Für viele Medikamente gibt es zwar Standarddosierungen. Es sollte aber immer eine individuelle Titration erfolgen. Die individuelle Titration orientiert sich an Wirkung und Nebenwirkung des verwendeten Präparates.

Auftretende Nebenwirkungen müssen prophylaktisch behandelt werden (beispielsweise Übelkeit und Erbrechen in der Einstellungsphase – Antiemetika, Obstipation bei jeder Anwendung von Opioiden – Laxanzien).

Gerade bei Tumorpatienten ist es erforderlich, für eine ausreichende Analgesie zu sorgen. Bei den Opioiden können daher keine Höchstdosierungen angegeben werden. Die Höchstdosis der Opioide wird limitiert durch deren eventuelle Nebenwirkungen (Ausnahme: Buprenorphin).

Die Wirkung und besonders auch die Nebenwirkungen einer medikamentösen Schmerztherapie müssen regelmäßig kontrolliert und auch dokumentiert werden.

1.6.5 Applikationswege

Die orale Applikation ist für die meisten Patienten einfach und unkompliziert. Auch eine Zufuhr über eine Ernährungssonde ist mit vielen der heute verfügbaren Präparate möglich. In den Fällen, in denen die orale Therapie an ihre Grenzen stößt (zum Beispiel bei Schluckstörungen), kommen alternative Applikationswege infrage.

Vorteile der transdermalen Applikation (Fentanyl®, Buprenorphin®) sind die wenig belastende Anwendung und die lange Wirkungsdauer der Pflaster (48–72 Stunden bei Fentanyl, 3⅓–7 Tage bei Buprenorphin). Nachteilig ist die schlechte und eher zähe Dosisfindung und -anpassung (voller Wirkungseintritt erst nach 12–24 Stunden), die mangelhafte und oft unsichere Resorption in der Finalphase, bei Kachexie, Schwitzen. Immer muss bei den transdermalen Systemen eine Bedarfsmedikation mit bedacht werden (s. c., i. v., sublingual, nasal, buccal, orotransmukosal).

Für die rektale Applikation stehen in Deutschland keine retardierten Präparate zur Verfügung, sodass Morphin-Suppositorien alle vier Stunden appliziert werden.

Die subkutane oder seltener die intravenöse Gabe über eine patientenkontrollierte Pumpe mit Bolusfunktion ist in einzelnen Fällen sehr sinnvoll, zum Beispiel, um ein schnelles Anfluten des Analgetikums bei Durchbruchsschmerzen zu ermöglichen, zur schnellen Dosisfindung, bei sehr instabilen Schmerzzuständen, um dem Patienten mehr Autonomie zu ermöglichen, wenn er die Medikamente anders nicht mehr zu sich nehmen kann.

Es gibt grundsätzlich keine Indikation für die intramuskuläre Gabe von Opioiden bei Tumorschmerzen, da die subkutane Applikation einfacher und weniger schmerzhaft ist. Allerdings sollten möglichst keine wiederholten Einzel-Injektionen durchgeführt werden, stattdessen ist eine subkutane Dauerinfusion ggf. mittels einer PCA- Pumpe sinnvoll.

Die Indikation für eine rückenmarknahe Applikation von Opioiden sollte äußerst zurückhaltend und nur in Ausnahmefällen gestellt werden, dann aber von erfahrenen Schmerztherapeuten.

Gründe für eine rückenmarknahe Applikation können sein:

Terminalstadium der Erkrankung

Stärkste Schmerzen, die mit anderen Applikationsformen nicht beherrschbar sind

Gravierende, nicht behandelbare Nebenwirkungen bei anderen Applikationswegen

1.6.6 Koanalgetika

Eine Monotherapie mit Opioiden ist bei vielen Schmerzsyndromen nicht ausreichend effektiv. Auf allen Stufen können die Analgetika mit Koanalgetika zur Behandlung verschiedener Symptome der Tumorerkrankung kombiniert werden

Antidepressiva (zum Beispiel Amitriptylin, Doxepin, Remergil) sind sinnvoll zur Behandlung neuropathischer Schmerzen und schmerzhafter Dysästhesien. Die analgetische Wirkung von Antidepressiva lässt sich auf die Steigerung der Funktion inhibitorischer Transmitter durch Hemmung ihrer Wiederfreisetzung in Neurone zurückführen. In der Schmerztherapie werden Antidepressiva deutlich niedriger dosiert als in der psychiatrischen Behandlung. Wichtig ist die langsame Dosistitration beginnend bei Amitriptylin im Einzelfall mit 2 Tropfen = 4 mg zur Nacht (Amitryptilin-Tropfenlösung: 1 ml = 20 Tropfen = 40 mg) besonders bei alten Patienten.

Antikonvulsiva (Pregabalin, Gabapentin, Carbamazepin) unterdrücken eine erhöhte synaptische Impulsübertragung und steigern hemmende Einflüsse auf Neuronenaktivität in verschiedenen Gebieten des Zentralnervengebietes. Sie werden vor allem bei neuropathischen, einschießenden, elektrisierenden Schmerzen eingesetzt und können auch bei peripheren Neuropathien verwendet werden. Auch bei den Antikonvulsiva gilt: Therapiebeginn mit der niedrigst verfügbaren Dosis, dann langsame Dosissteigerung bis zur maximal zulässigen Tagesdosis oder bis der Patient über nicht tolerable Nebenwirkungen klagt oder er mit dem Therapieeffekt zufrieden ist.

1.6.7 Kombinationen

Oft müssen insbesondere bei »Mixed Pain« Antidepressiva plus Antikonvulsiva plus Opioide kombiniert werden, um eine zufrieden stellende Schmerzdämpfung zu erreichen. Bei Knochenmetastasen sollten unbedingt Bisphosphonate (Ibandronat, Zoledronat) oder Denosumab zum Einsatz kommen. Bisphosphonate hemmen unter anderem die Interaktion der Tumorzellen mit den Osteoklasten und Osteoblasten und erreichen so eine Schmerzreduktion. Denosumab hemmt die Differenzierung und Reifung von Osteoklasten aus den Vorläuferzellen und stört Funktion und Überleben dieser knochenabbauenden Zellen. In der Folge nimmt die Knochenresorption deutlich ab. Corticosteroide vermindern das (peri-)neurale Ödem und den Druck im und auf das Nervengewebe und führen so zur Schmerzlinderung. Die Nebenwirkungen der Steroide wie Appetitsteigerung, Gewichtszunahme und Stimmungsaufhellung werden von den Tumorpatienten häufig als positiv empfunden. Benzodiazepine sind zur Schmerztherapie nicht geeignet.

1.7Weitere Substanzen in der Schmerztherapie

1.7.1 Tapentadol

Tapentadol die erste Neuentwicklung im Bereich zentral wirksamer Analgetika seit 25 Jahren. Tapentadol gehört zu den Opioiden. Vitro zeigte es eine um den Faktor 50 schwächere Affinität zum μ-Rezeptor als Morphin. Tatsächlich wirkt es aber ähnlich gut. Dies liegt an einem weiteren Target: Tapentadol wirkt nicht nur antinozizeptiv am μ-Rezeptor, sondern hemmt auch die Wiederaufnahme von Noradrenalin im synaptischen Spalt. Tapentadol ist somit ein Molekül mit zwei synergistischen Wirkmechanismen: Zum einen wirkt es nach dem klassischen Opioid-Prinzip, nämlich als μ-Rezeptor-Agonist (MOR) sowohl prä- als auch postsynaptisch. Damit hemmt es die Schmerzweiterleitung, den nozizeptiven Schmerz. Gleichzeitig verlangsamt es über den präsynaptischen α2-Rezeptor die Wiederaufnahme von Noradrenalin (NRI) aus dem synaptischen Spalt, das somit ausgeprägter wirken kann. Letztere Komponente trägt vor allem zur Linderung chronisch neuropathischer Schmerzen bei.

Durch die im Vergleich zu Morphin geringere μ-Rezeptoraffinität hat Tapentadol ein positiveres Nebenwirkungsprofil. Dies bestätigen die klinischen Studien, in denen sich Tapentadol in einigen Punkten besser verträglich als Oxycodon zeigte. Trotzdem ist mit typischen Opioid-Nebenwirkungen wie Übelkeit, Verstopfung, psychiatrischen Störungen und Atemdepression zu rechnen. Ein Anstieg kardialer Nebenwirkungen durch die NRI-Komponente war in den klinischen Studien nicht zu beobachten. In der Klinik war zwar kein Gewöhnungseffekt zu sehen, das heißt nach Auftitrierung konnte die schmerzlindernde Dosis konstant gehalten werden. Es besteht jedoch ein Abhängigkeits- und Missbrauchspotenzial. Daher ist der Wirkstoff nur mit einem Betäubungsmittelrezept erhältlich.

Cave: Tapentadol darf nicht mit anderen Opioide kombiniert werden und muss langsam langsam auftitriert werden. Als Einstiegsdosis wird für opioidnaive Patienten 50 mg Tapentadol retard alle 12 Stunden empfohlen. Nicht immer ist die Wirkdauer der Tapentadoleinzeldosis 12 Stunden – dann sollte das Einnahmeintervall von Tapentadol auf 8-stündlich verkürzt werden. Für opioidvorbehandelte Patienten werden in Abhängigkeit vor der Opioidvordosis sehr variable bis zu 200 mg alle 12 Stunden empfohlen. Die maximale Tagesdosis beträgt 550 mg. 100 mg Tapentadol haben in etwa die gleiche analgetische Potenz von 30–60 mg Morphin. Die 8-stündliche Applikation kann im Einfall Vorteile haben. Tapentadol steht als nichtretardierte Tropfenlösung, als nichtretardierte und als retardierte Tablette zur Verfügung.

1.7.2 Cannabinoide in der palliativen Schmerztherapie

Cannabinoide können in der Palliativmedizin wegen ihrer antiemetischen, appetitsteigernden und spasmolytischen Wirkungen sowie eines gewissen analgetischen Effektes von Nutzen sein. Die antiemetische Wirkung ist bei völlig verschiedener Rezeptoraffinität vergleichbar mit derjenigen von MCP, Haloperidol oder den Pheneothiazinen. Dabei scheint die Inzidenz der teils unerwünschten psychotropen Nebenwirkungen allerdings höher zu sein.

Der Einsatz der Cannabinoide als Analgetikum ist umstritten, der analgetische Effekt ist nur etwa so stark wie der des Codeins aber nicht immer vorhersehbar.

Die Hauptnebenwirkungen sind: Müdigkeit, Konzentrationsstörung, Koordinationsstörung, Halluzinationen, Psychosen.

Am häufigsten werden Cannabinoide bei AIDS und MS verwendet. Cannabinoide unterliegen der Betäubungsmittelverordnungsvorschrift: BtM-VV: Höchstverschreibungsmenge für 30 Tage: 500 mg. Dronabinol® (Delta-9- Tetrahydro-cannabinol) ist als Kapsel oder Lösung zu beziehen. Therapiebeginn: 2 × 2,5 mg, dann langsame Dosistitration. Maximal Tagesdosis: 2,5–40 mg/6–12 h.

Sativex® (THC- und CBD-(Cannabinol-)haltiges Mundspray) – seit Juli 2011 ist Sativex in Deutschland zugelassen zur symptomatischen Verbesserung von moderater bis schwerer Spastik bei MS-Patienten, die auf andere Antispastika nicht zufriedenstellend reagieren. In Kanada ist es auch als zusätzliches Analgetikum bei Erwachsenen zugelassen, die trotz hochdosierte Opioidtherapie unter starken bis stärksten Dauerschmerzen leiden. Dosierung: Für die Tumorschmerztherapie werden bis zu 12 Sprühstöße Sativex® täglich orotransmucosal an die Wangenschleimhaut oder unter die Zunge empfohlen.

1.8Die Behandlung von Schmerzattacken

Neben der Dauermedikation brauchen viele Tumorschmerzpatienten eine Bedarfsmedikation zur Behandlung von Schmerzattacken (»Breakthrough Pain«).

Ursachen für Schmerzattacken sind zum Beispiel:

Bewegungen/körperliche Belastungen zum Beispiel bei Knochenmetastasen

Nahrungsaufnahme

Stress

Spontane Schmerzen, ohne erkennbare Ursache

Ebenso wie bei den Dauerschmerzen muss bei den Schmerzattacken zwischen nozizeptiven und neuropathischen Schmerzen differenziert werden.

Bei nozizeptiven Schmerzattacken (Knochen und Weichteilschmerzen, viszerale Schmerzen) wird ein ultraschnellwirkeinsetzendes Fentanyl (Actiq®, Effentora®, Abstral®, Instanyl®, PecFent®) genutzt. Es sollte zunächst immer die geringstverfügbare Dosis verabreicht werden, da kein Wirk-Dosis-Zusammenhang zwischen der Retardierten Opioiddauerdosis und der benötigten »Breakthrough-Pain-Fentanyl-Dosis« besteht.

Bei neuropathischen Schmerzattacken sollte zusätzlich erwogen werden, die Antikonvlusiva oder Antidepressivadosierung einzusetzen bzw. zu erhöhen.

Nicht zu verwechseln mit dem »Breakthrough Pain« ist der »End of Dose Pain«, der bei unzureichender Behandlung der Dauerschmerzen kurz vor der nächsten Medikamentengabe auftritt.

Bei der unzureichenden Behandlung des Dauerschmerzes muss die Basistherapie angepasst werden, dabei sollte eine Dosiserhöhung der Retardpräparation, und nur im Einzelfall die Verkürzung der pharmakologisch sinnvollen Applikationsintervalle angestrebt werden

1.9Opioidwechsel

Mit fortschreitendem/r Tumorwachstum und Metastasierung und damit zunehmenden Schmerzen kann im Laufe der Schmerztherapie eine Dosissteigerung der verwendeten Opioide erforderlich werden. Dosislimitierungen sind für Opioide (mit Ausnahme des Buprenorphins) nicht bekannt. Nicht tolerable Nebenwirkungen können aber eine weitere Dosissteigerung verhindern. Mit Wechsel auf ein anderes Opioid besteht die Chance, dass sich Nebenwirkungen reduzieren und die Schmerzlinderung verbessert wird. Auch der Wechsel des Applikationsweges kann Nebenwirkungen möglicherweise verringern. Vor jedem Opioidwechsel ist zu prüfen, ob die Nebenwirkungen nicht auf andere Ursachen zurückzuführen sind (etwa Übelkeit und Erbrechen bei Subileus/Ileus; Verwirrtheit bei Hyperkalzämie; Übelkeit durch Chemotherapie).

Wichtig Achtung: Dies sind Näherungswerte,

die sehr stark von den individuellen Dosierungserfordernissen abweichen können! Beim Opioidwechsel immer mit 50 Prozent der errechneten Äquivalenzdosis des neuen Opioides beginnen und ggf. temporär bis zur endgültigen Retarddosisfindung mit der nichtretardierten Applikationsform des neuen Opioides bedarfsweise supplementieren.

Buprenorphintageshöchstdosierungen sind zu beachten! Mehr als 70 μg Buprenorphin/h bzw. mehr als 2,4 mg sublingual werden ausdrücklich nicht empfohlen.

1.10Nebenwirkungen4

Die Langzeitanwendung von NSAR wie Diclofenac und antipyretischen Analgetika wie ASS wird häufig durch schlechte Verträglichkeit und gastrointestinale Ulzerationen, Blutungen oder Wassereinlagerungen limitiert. Auch sind bei den NSAR unbedingt die vielen Medikamenteninteraktionen zu beachten. Die Nephrotoxizität kann bei älteren Patienten ebenfalls die Langzeitanwendung einschränken. Bei einem schlechten Allgemeinzustand sind die Patienten anfälliger für die Nebenwirkungen der NSAR. Neue COX-2-selektive NSAR (Celecoxib®) verursachen weniger gastrointestinale Nebenwirkungen, scheinen aber eine geringere Effektivität und ein höheres kardiovaskuläres Risikoprofil als die älteren nichtselektiven NSAR zu haben. Für die Behandlung von Tumorschmerzen sind die COX2-Hemmer nicht zugelassen.

Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hat für die Verordnung von Coxiben folgende Empfehlungen ausgesprochen:

Kontraindikation bei allen kardiovaskulären Risikopatienten

Strenge Indikationsstellung bei Patienten über 65 Jahren aufgrund der allgemein erhöhten kardiovaskulären Risiken

Anwendung nur so lange wie nötig: intermittierend drei bis maximal sechs Monate

Keine Anwendung vor oder unmittelbar nach chirurgischen Eingriffen,

Bei Patienten mit kardiovaskulären und gastrointestinalen Risiken Einsatz von traditionellen nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAR) plus niedrig dosierte Acetylsalicylsäure plus Protonenpumpenhemmer, nichtsaure NSAR (Metamizol, Paracetamol), Opioide.

Eine gastroprotektive Begleitmedikation, z. B. mit Protonenpumpenhemmstoffen, ist nicht bei allen Patienten erforderlich. Unbedingt notwendig ist die Gabe von Gastroprotektiva bei Risikopatienten und wenn eine gleichzeitige Gabe von Corticosteroiden durchgeführt wird. Bei Metamizol treten deutlich seltener Nebenwirkungen auf, die zum Abbruch der Therapie führen. Leberzellschädigungen unter Paracetamol treten schon ab 3 g/Tag auf. Unter Opioiden können eine Reihe gastrointestinaler und zentralnervöser Nebenwirkungen auftreten. Häufige Nebenwirkungen sind Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit. Obstipation tritt fast immer auf. Neurotoxische Nebenwirkungen wie Albträume, Halluzinationen, Myoklonien oder Hyperalgesien werden seltener beobachtet.

Für viele Nebenwirkungen besteht eine selektive Toleranz: Inzidenz und Schwere der Nebenwirkungen nehmen im Verlauf der Therapie ab. Im Gegensatz dazu nimmt die Obstipation im Therapieverlauf zu. Bei nicht beherrschbaren Nebenwirkungen sollte an einen Opioidwechsel/Opioidrotation gedacht werden.

Übelkeit und Erbrechen sollten zu Beginn der Opioidtherapie immer prophylaktisch mit Antiemetika behandelt werden. Es können Antihistaminika, Neuroleptika, Anticholinergika, prokinetische Substanzen, 5-HT3-Antagonisten und eventuell Glucocorticoide verwendet werden. Die Mittel der ersten Wahl sind Metoclopramid in einer Dosierung von 10–20 mg alle vier bis fünf Stunden oder Haloperidol 0,3–0,5 mg alle 8–12 Stunden.

Eine Obstipation ist die häufigste Nebenwirkung von Opioiden. Bei vielen Patienten ist mit Beginn der Opioidtherapie eine forcierte Behandlung der Obstipation erforderlich.

Es können Quellstoffe, osmotisch wirkende Substanzen, antiresorptiv, sekretagog wirkende Substanzen (Stimulanzien) oder Gleitmittel, auch in Kombination, eingesetzt werden. Eine ballaststoffreiche Ernährung und eine ausreichende Trinkmenge (mehr als 2 Liter pro Tag) erleichtert die Obstipationsprophylaxe.

1.11Besonderheiten in der Schmerztherapie

1.11.1 Invasive Verfahren

Neben der medikamentösen Schmerztherapie kann die Möglichkeit von Nervenblockaden oder Neurolysen in Abhängigkeit von der Prognose und dem allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten bedacht werden.

Klassische Indikationen bestehen in der Therapie viszeraler Abdominalschmerzen und neuropathischer Schmerzen. Beim Pankreaskopfkarzinom kann eine Plexus-coeliacus-Blockade oder eine Neurolyse für Wochen bis Monate zur Schmerzfreiheit führen. Bei neuropathischen Schmerzen an der oberen Extremität und am Kopf können Opioidapplikationen am Ganglion cervicale superius oder Stellatumblockaden sinnvoll sein. Neuropathische Schmerzen an der unteren Extremität können mit einer Grenzstrangblockade beziehungsweise Grenzstrang-Neurolyse behandelt werden. Bei streng perianal begrenzten Schmerzen zum Beispiel bei Rektumkarzinomen kann eine S4/S5-Neurolyse zu einer deutlichen Schmerzreduktion bis hin zur Schmerzfreiheit führen. Invasive schmerztherapeutische Verfahren sollten ausschließlich von speziell ausgebildeten Therapeuten durchgeführt werden.

1.11.2 Schmerztherapie in der Finalphase

Das Schmerzmedikament der Wahl in der Finalphase ist Morphin bedarfsadaptiert (5–10–20 mg) subcutan verabreicht, ggf über eine subcutane Dauerkanüle. Morphin subcutan in der Finalphase ist anxiolytisch wirksam, entspannt, lindert sicher die Luftnot und den Schmerz. Die Häufigkeit der Applikation bestimmt alleine der Patient bzw. das Wiederauftreten des Symptoms.

Pflastersysteme sind in der Finalphase gänzlich ungeeignet, da mangelndes Unterhautfettgewebe, Kachexie, Zirkulationsstörungen, Schwitzen eine Resorption des Inhaltsstoffe nicht mehr zuverlässig zulassen, das TTS-System sehr träge ist, der Analgetikabedarf in der Finalphase aber sehr variabel ist.

1.12Die Arzt-Patient-Beziehung

In der Tumorschmerztherapie ist eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung besonders wichtig. Die Patienten erleben neben der Bedrohlichkeit der Schmerzen auch Bedrohungen durch zum Teil unausweichliche physische, psychische und soziale Verluste, die zu Trauer, Ängsten und depressiven Verstimmungen führen können. Das Schmerzerleben kann hierdurch wiederum beeinflusst werden.

Eine offene, empathische und aktiv zuhörende Gesprächsführung innerhalb eines ausreichenden Zeitrahmens sollte die Basis der Kommunikation sein. Bagatellisieren, Generalisieren, Monologisieren sollte unbedingt vermieden werden. Anstatt dogmatisch eine Therapie vorzugeben, ist es besser, den Patienten zu fragen, was er sich wünscht, worauf er sich einlassen kann und womit er einverstanden ist.

1.13Die »beste« Therapie

Die beste Behandlung ist die ambulante Therapie, die der Patient selbstständig zu Hause durchführen kann, und die ihm die Unabhängigkeit von seinem Therapeuten gewährt. Die Einstellung und Überwachung der oralen medikamentösen Therapie wird durch eine Beschränkung auf wenige Monosubstanzen (mechanismenorientiert) erleichtert. Damit ist die orale und bei Schluckstörungen die transdermale Opioidtherapie nicht nur die beste, sondern auch die einfachste und damit sicherste Therapie; sie kann über viele Jahre angewendet werden, ohne dass – bis auf die Obstipation – gravierende Nebenwirkungen auftreten müssen. Nicht für alle Patienten ist die orale oder transdermale Medikation geeignet. Für die verbleibenden Patienten stehen alternative Techniken zur regionalen Lokalanästhetikaoder Opioidapplikation sowie neurolytische Blockaden oder neurochirurgische und palliative strahlentherapeutische Maßnahmen zur Verfügung. Erfolgreich wird eine Tumorschmerzbehandlung aber nur dann sein, wenn Patienten und Angehörige über die Prinzipien und den Sinn der Therapie ausreichend informiert sind und sie verstehen sowie wenn eine regelmäßige Therapiekontrolle und -anpassung durchgeführt wird.

Für die medikamentöse Tumor-Schmerztherapie gelten grundsätzlich folgende Regeln:

1. Regel: Die Schmerzmittel und Koanalgetika sind entsprechend der Schmerzursache gezielt auszuwählen.

2. Regel: Die Einzeldosis wird so festgesetzt, dass die Schmerzmittel auch ihren Zweck erfüllen, d. h. sie dürfen nicht unterdosiert werden, aber wegen ihrer Nebenwirkungen auch nicht überdosiert werden.

3. Regel: Analgetika und Koanalgetika sind nach einem festgesetzten Zeitschema einzunehmen, nicht nach Bedarf! Der zeitliche Abstand zwischen den Einzeldosen richtet sich nach ihrer Wirkungsdauer.

4. Regel: Aufgrund ihrer gleichförmigen und langanhaltenden Wirkung sind retardierte Analgetikapräparationen generell vorzuziehen. Die nicht-retardierten Zubereitungen sind zur Dosistitration, die ultraschnellwirksamen Fentanylapplikationen ausschließlich zur Koupierung von gelegentlichen Schmerzspitzen oder Durchbruchschmerzen einzusetzen.

5. Regel: Sollten sich mit der oralen Applikationsform keine zufrieden stellende Schmerzlinderung einstellen oder die Nebenwirkungen nicht beherrschbar sein, ist frühzeitig auf andere Applikationswege auszuweichen.

6. Regel: Keine Mischpräparate oder sinnlose Kombinationen einsetzen.

7. Regel: Nicht jeder Schmerz beim Tumorpatienten ist ein Tumorschmerz.

8. Regel: Nicht immer der Schmerz ist es, der das Leben so unerträglich macht, manchmal ist es auch das Leben, das den Schmerz so unerträglich macht.

_________________

3International Association for the Study of Pain

4Siehe hierzu auch Kapitel 2

2.1Schmerzen erfassen

Um vom Bewohner objektive Informationen über die erlebten Schmerzen zu erfahren, müssen diese anhand eines objektiven Schmerz-Assessment- Instruments erfasst werden. Der zuverlässigste Messwert für den Schmerz und das Leid, das ein Betroffener erfährt, sind seine eigenen Angaben. Entscheidend ist, dass die Schmerzerfassung anhand spezifischer Instrumente gemessen und dokumentiert wird. Als wesentliche Instrumente sollten hierfür zum einen die Schmerz-Ersteinschätzung, die Schmerzintensitätsmessung und das Schmerzprotokoll hinzugezogen werden.

Als meist genutzter Schmerz-Ersteinschätzungsbogen wird in der klinischen Praxis der McGill-Pain-Questionnaire hinzugezogen, der in vollständiger Form im Expertenstandard des DNQP (erstmals 2005) dargestellt ist. In den folgenden Expertenstandards »Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten und bei chronischen Schmerzen« (DNQP 2011; DNQP 2014) behält er Gültigkeit.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842689985
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Ethik Hospiz Schmerztherapie Spiritualität Kommunikation Palliativgesetze Schmerz Qualität Sterbehilfe Suizidalität Trauer Symptome Altenheim Pflegende Sterben Altenpflege Palliative Care

Autor

  • Jochen Becker-Ebel (Herausgeber:in)

Prof. Dr. Jochen Becker-Ebel ist Diplom-Theologe, Professor f. Palliative Care, Supervisor DGSv, Organisationsberater und Trainer.
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Titel: Palliative Care in Pflegeheimen und -diensten