Cattitude
Wie wir Katzen in der Tierarztpraxis verstehen und ihnen das Leben leichter machen. Zusatzmaterial online: Protokolle und Besitzerfragebögen
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Im Jahr 2005 gründete das Feline Advisory Bureau (der Vorläufer der International Cat Care) in England ein „Feline Expert Panel“, eine Gruppe von Katzenspezialisten, die sich um die Verbesserung des Katzenwohls in der Tiermedizin bemühen sollten. Diese arbeiteten mit Spezialisten aus der Verhaltenskunde und Praktikern zusammen, um Empfehlungen für die Praxis zu entwerfen, mit deren Hilfe die Tierarztpraxis so katzenfreundlich wie möglich gestaltet werden kann. Dabei ging es auch darum, mit kleinen und preiswerten Veränderungen große Unterschiede für das Befinden der Katze in der Praxis zu erwirken, nicht nur um der Katze selbst willen, sondern auch, um den Katzenbesitzern die Scheu vor dem Tierarztbesuch zu nehmen und deren Bindung an die Praxis zu verbessern.
Ich hörte von diesem Programm ein Jahr später. Auf dem European Symposium on Advances in Feline Medicine in Brüssel im April 2006 hielt Sarah M. A. Caney einen Vortrag über die katzenfreundliche Praxis, der mein berufliches Leben maßgeblich beeinflussen sollte. Ich wusste sofort, dass wir ab nun Katzen anders behandeln würden und dass die Idee der katzenfreundlichen Praxis auf jeden Fall verbreitet werden musste. Seitdem sammle ich Ideen aus der ganzen Welt, um Katzen und Katzenbesitzern den Besuch beim Tierarzt zu erleichtern. Mit mir gibt es weitere deutsche Tierärzte, die die katzenfreundliche Praxis leben und sich um ihre Verbreitung bemühen. Wir halten Vorträge und schreiben Artikel in Fachzeitschriften.
Inzwischen gibt es mehrere von der ISFM (International Society of Feline Medicine) anerkannte Catfriendly Clinics in Deutschland ( Abb. 1-1) und sogar einige reine Katzenpraxen. Seit einigen Jahren kümmert sich die für Tierärzte und TFAs offene Deutsche Gruppe Katzenmedizin darum, die Ideen von International Cat Care nach Deutschland zu bringen. Außerdem konnten wir im Juni 2016 im Rahmen der DGK-DVG (Deutsche Gesellschaft für Kleintiermedizin in der DVG) eine Arbeitsgruppe Katzenmedizin gründen, die regelmäßige Treffen und Fortbildungen anbietet.
Wir wünschen uns im Namen der Katzen in Deutschland mehr Praxen, Tierärzte und TFAs, die nach den Ratschlägen der Katzenexperten arbeiten und den samtpfötigen Patienten den Tierarztbesuch so angenehm wie möglich gestalten.

Abb. 1-1 Das CFC-Logo für katzenfreundliche Praxen wird von der ISFM verliehen.
Um das Verhalten unserer Hauskatzen besser zu verstehen, müssen wir uns mit ihren Vorfahren beschäftigen. Unsere Katze stammt von der Nordafrikanischen Wildkatze (Felis silvestris lybica) ab ( Abb. 2-1). Wildkatzen sind einsame Jäger, die nur zur Fortpflanzung die Gesellschaft anderer Katzen ertragen. Einen Großteil ihrer Zeit verbringen sie damit, ihr Territorium auf der Suche nach Beute zu durchstreifen. Die weibliche Wildkatze muss neben der Jagd auch ihre Jungen aufziehen. Weil das Territorium auf Dauer nicht genug Beute für mehrere Katzen bietet, werden die Jungkatzen von der Mutter vertrieben, sobald sie gelernt haben, selbstständig Beute zu fangen.
Weil Wildkatzen in ihrer Lebensweise auf sich allein gestellt sind, müssen sie Verletzungen, die zu Jagdunfähigkeit führen könnten, verhindern. Aus diesem Grund markieren sie deutlich die Grenzen ihres Territoriums auf unterschiedliche Weise: mit Gerüchen (Kot, Urin), Pheromonen und durch sichtbare Spuren (Kratzmarken). So geben sie Botschaften wie „Mein Territorium, bleib weg!“ oder „Kater gesucht, bin rollig!“ weiter, ohne sich der Gefahr eines Kampfes auszusetzen.
Vor etwa 10.000 Jahren begannen Menschen, Getreidespeicher anzulegen und damit Mäuse anzuziehen. Angelockt durch das große Nahrungsangebot überwanden einige Katzen ihre Scheu vor Menschen und machten die Erfahrung, als Mäusejäger willkommen zu sein. Weil es in diesen menschennahen Territorien Beute im Überfluss gab, erlaubten Katzenmütter ihren weiblichen Nachkommen, bei ihnen zu bleiben. So entstanden rein weibliche Katzenkolonien, in denen sie sich geburtshilflich, in der Kittenpflege und -aufzucht sowie in der Verteidigung gegen Eindringlinge unterstützten ( Abb. 2-2). Auf die Jagd gingen sie allerdings weiterhin alleine und daran hat die Domestizierung während der letzten 10.000 Jahre nichts geändert. Obwohl das Leben in Kolonien ein erhöhtes Risiko für ansteckende Krankheiten (z. B. Viruserkrankungen, Parasiten) bot, überwogen die Vorteile des Gruppenlebens. Katzen, die in der Lage waren, ein soziales Leben in der Nähe der Menschen zu leben, hatten einen deutlichen Fortpflanzungsvorteil. Es entstand die Hauskatze (Felis catus) (
Abb. 2-3). Im Vergleich zum Hund, dessen Vorfahr bereits ein Rudeltier war, ist das Maß der Anpassung und Veränderung für die Katze als vormals überzeugtem Einzelgänger deutlich größer. Und trotzdem hatte die Katze nur 10.000 Jahre Zeit für diese Entwicklung – im Vergleich zum Hund, der nach einigen Quellen schon bis zu 100.000 Jahre mit dem Menschen lebt, eine sehr kurze Zeit. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass der Weg der Katze zurück in das wilde, selbstbestimmte und autarke Leben jederzeit möglich ist.

Abb. 2-2 Noch heute gibt es überall solche Katzenkolonien, die sich dort ansiedeln, wo Futter angeboten wird.
Der größte Unterschied zwischen unseren Hauskatzen und ihren Vorfahren ist ihr Sozialverhalten. Die solitäre Wildkatze benötigt zur sozialen Interaktion nur das Territorialverhalten, das Sexualverhalten und das Aufzuchtverhalten. Katzen, die in Gruppen leben, behalten ihr Sozialverhalten aus der Welpenzeit auch im Erwachsenenalter bei: Stirnreiben, gegenseitiges Putzen, miteinander kuscheln und spielen. Diese Verhaltensweisen sind überflüssig im Leben eines einsamen Jägers, aber sehr wichtig für die Kommunikation in der Katzenkolonie. Heute verhält sich die gut sozialisierte und auf den Menschen geprägte Katze ebenso zu ihren Lieblingsmenschen. Außerdem hat sie gelernt, dass das „Miau“ aus der Welpenzeit bei Menschen manches Herz und manche Dose öffnen kann.
Nachdem wir nun wissen, welche einschneidenden Veränderungen für die Verwandlung von der Nordafrikanischen Wildkatze zur Hauskatze nötig waren, wird uns klar, warum das Leben als Hauskatze immer noch eine große Herausforderung darstellen kann. Wir stellen uns folgende Fragen:
•Muss eine Katze im Mehrkatzenhaushalt glücklich sein?
•Sind zwei oder drei Mahlzeiten im Schälchen katzengerecht?
•Wie kann eine Wohnungskatze ihr Territorialverhalten ausleben?
•Was ist mit Freigängern und ihrem Territorialverhalten, wenn in direkter Nachbarschaft etliche weitere Katzen leben?
•Wie können wir einer Wohnungskatze in Bezug auf Bewegung und Beschäftigung gerecht werden?
•Was tun mit der Bedrohung „Tierarzt“?
Zunächst beschäftigen wir uns mit den Fragen „Was ist Stress?“ und „Wie empfindet die Katze ihre Umwelt?“. Dann erläutere ich die praktischen Aspekte der katzenfreundlichen Praxis: die Einrichtung wie auch die sogenannten „weichen Faktoren“ oder „Soft Skills“, die eine maßgebliche Rolle in der Gestaltung spielen. Wir schauen in das Wartezimmer, den Behandlungsraum, den Operationsraum und die Station.
Am Ende steht das Thema „Education of the Owner“ oder „Welche Tipps kann ich dem Besitzer mit nach Hause geben?“.
3.1Was ist Stress?
Wenn sich die gewohnte Umgebung oder die Lebensumstände ändern, wird der Organismus dies registrieren und versuchen, sich der Veränderung anzupassen. Dies gilt nicht nur für Menschen, sondern auch für Katzen. Je nachdem, wie einfach oder schwierig die Anpassung ist, spricht man von unterschiedlichen Stresslevels. Im englischen Sprachgebrauch unterscheidet man „Stress“ und „Distress“, was im Deutschen dem positiven und negativen Stress gleichkommt. Ob die Anpassung an eine Veränderung vom Organismus als positiv oder negativ wahrgenommen wird, das Stresslevel niedrig oder hoch ist, hängt nicht nur vom Stressor (der Stressquelle) ab, sondern besonders von den Erfahrungen desjenigen, der den Stress empfindet. Hierzu drei Beispiele:
1.Eine gut sozialisierte Katze, die sehr gut an den Umgang mit Menschen gewöhnt ist, wird zum Tierarzt gebracht. Dort sitzt sie eine halbe Stunde lang in einem Wartezimmer direkt neben einem aufgeregten, winselnden Hund. Wenn sie dann im Behandlungsraum aus dem Korb steigt, wird sie kaum in der Lage sein, den Tierarzt als netten Menschen zu akzeptieren. Das Stresslevel ist zu hoch. Die Katze findet keinen Weg, mit der fremden Situation zurechtzukommen.
2.Dieselbe Katze kommt in eine katzenfreundliche Praxis, wartet zehn Minuten in einem ruhigen Katzenwartezimmer und wird dann in den Behandlungsraum gebracht. Jetzt ist das Stresslevel verhältnismäßig niedrig und die Katze hat die Chance, die angebotene Hand des Tierarztes mit einem Stirnreiben zu begrüßen.
3.Eine andere Katze kommt vom Bauernhof, wird dort nur gefüttert, nicht aber gestreichelt. Auch ihre Mutter war schon eine halbwilde Hofkatze. Beide sind den Umgang mit Menschen nicht gewohnt. Diese Katze wird auch in der katzenfreundlichsten Praxis ein Maximum an Stress empfinden und hat keine Mechanismen, mit der Situation zurechtzukommen.
3.1.1Positiver und negativer Stress
Obwohl dem Wort „Stress“ im allgemeinen Sprachgebrauch ein negativer Beigeschmack anhaftet, ist diese normale Reaktion auf Veränderung meistens gut und sinnvoll. Beim Menschen spricht man von positivem Stress, z. B. bei freudigen Überraschungen.

Abb. 3-1 Katze bereit zum Kampf

Abb. 3-3 Erstarrte Katze
Grundsätzlich tritt positiver Stress immer dort auf, wo der Stressempfänger adäquat reagieren kann und mit der Veränderung der Situation zurechtkommt. Auch eine unfreundliche Katzenbegegnung, die in einem kurzen Kampf und dem Rückzug beider Katzen endet, kann als positiver Stress angesehen werden. Typische Strategien der Katze, auf Stressoren zu reagieren, sind die drei „Fs“: Fight, Flight, and Freeze (Kampf, Flucht und Erstarren) ( Abb. 3-1 bis
Abb. 3-3).
Der negative Stress entsteht, wenn der Stressempfänger nicht entsprechend auf die Situation reagieren kann. Ein klassisches Beispiel ist der Tierarztbesuch. Die Katze empfindet Angst und würde flüchten, wenn sie könnte. Daran wird sie gehindert, entweder durch den Katzenkorb, den Besitzer oder eine TFA, die sie festhält.
Der negative Stress geht mit ebenso negativen Emotionen einher wie Angst oder Frustration. Im Zusammenhang mit dem Tierarztbesuch finden wir häufig beide gleichzeitig. Ob die Katze im Katzenkorb eingesperrt ist, auf dem Tisch festgehalten wird oder in der Station in einem Käfig sitzt – Angst vor der ungewohnten Situation und die Frustration, aus dieser Situation nicht entrinnen zu können, sind die bestimmenden Emotionen.
3.1.2Akuter und chronischer Stress
Der akute Stress dauert Sekunden bis Tage an. Ganz kurz ist die Schrecksekunde, in der die Katze einen Hund hinter der nächsten Hausecke entdeckt und die Situation durch eine schnelle Flucht auflöst. Der Tierarztbesuch kann die Katze einige Stunden oder gar einige Tage in Stress versetzen, wenn eine stationäre Unterbringung folgt. Doch auch hier folgt eine Auflösung der Situation, wenn die Katze hoffentlich gesund wieder nach Hause kommt.
Ganz anders sieht der chronische Stress aus. Chronischer Stress entsteht, wenn der Stressor über Wochen und Monate auf den Stressempfänger einwirkt und dieser keine sinnvolle Möglichkeit hat, damit umzugehen. Typische Beispiele sind Probleme im Mehrkatzenhaushalt oder chronische Schmerzen. Dabei kann es zu ständig wiederkehrenden kurzen Episoden von Stress kommen, wie z. B. täglichen kurzen Konflikten mit einer anderen Katze im Haushalt, die den Weg zum Katzenklo verstellt, oder der Stressor ist rund um die Uhr gegenwärtig, z. B. der Arthroseschmerz bei jeder Bewegung.
3.2Folgen von Stress
3.2.1Folgen von akutem Stress
Es beginnt damit, dass der stressauslösende Faktor von der Katze wahrgenommen wird. Dies kann über jedes Sinnesorgan passieren: Augen, Ohren, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Innerhalb von Millisekunden wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Es kommt zu einer Beschleunigung der Atmung und der Herzfrequenz sowie zu einem Blutdruckanstieg. Die Pupillen weiten sich und die Katze ist hellwach. Jetzt fällt die Entscheidung, welche Strategie zu wählen ist – Kampf, Flucht oder Erstarren – abhängig von der Art und der Entfernung des Stressors. Gleichzeitig steigen die Körpertemperatur, der Blutzuckerspiegel und die Cortisolmenge im Blut. Diese Mechanismen sind in der Natur außerordentlich sinnvoll, denn sie versetzen die Katze in die Lage, optimal mit der Situation zurechtzukommen. Sowohl Gehirn als auch Muskulatur werden maximal durchblutet und mit Sauerstoff versorgt, um entweder schnell fliehen zu können oder im Kampf beste Chancen zu haben.
Nicht ganz so sinnvoll sind die körperlichen Folgen von akutem Stress in der Tierarztpraxis. Da die Katze hier nicht flüchten kann, bleibt ihr nur der Kampf oder das Erstarren, beides Strategien, die für die Untersuchung hinderlich sind. Die veränderten Parameter Körpertemperatur, Atem- und Herzfrequenz, Blutdruck und Blutzuckerspiegel erschweren eine Diagnosestellung und der erhöhte Cortisolspiegel im Blut kann Einfluss auf die Heilung oder den Impferfolg haben.
3.2.2Folgen von chronischem Stress
Bei chronischem Stress versagen alle Strategien der betroffenen Katze, die Situation aufzulösen. Weder kann sie vor dem Arthroseschmerz flüchten, noch helfen Flucht, Kampf oder Erstarren, wenn der Kontrahent im eigenen Territorium, nämlich im selben Haushalt wohnt. In diesen für die Katze ausweglosen Situationen kommt häufig eine psychische Komplikation dazu, die man „erlernte Hilflosigkeit“ nennt. Die betroffene Katze versucht nicht mehr, Strategien zur Stressminimierung zu entwickeln, sondern sie gibt auf.
Ein gutes Beispiel für erlernte Hilflosigkeit sind wild geborene Katzen, die von Tierschutzorganisationen eingefangen, „gezähmt“ und vermittelt werden. In den meisten Fällen haben diese Katzen keine Mechanismen, mit der Situation zurechtzukommen. Sie haben das Zutrauen zum Menschen weder durch ihre Eltern genetisch noch durch ihre Umwelt in der sensiblen Phase (zweite bis siebte Lebenswoche) vermittelt bekommen. Werden diese Katzen nun gezwungen, eng mit dem Menschen zusammenzuleben, verfallen sie in eine teilweise lethargische Duldungshaltung. Sie ertragen Zärtlichkeiten stoisch und der liebende Katzenbesitzer bemerkt nicht, dass seine Katze tagtäglich chronischen Stress erlebt.
Dieser chronische Stress kann zu ernsthaften chronischen Krankheiten führen wie der chronischen Zystitis, verschiedene Allergien, Dermatitiden/Alopezie durch übermäßiges Putzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht, Inflammatory Bowel Disease (IBD) und vielem mehr. Diese Krankheiten sind nur schwer zu behandeln und können nicht geheilt werden, solange die Situation des chronischen Stresses anhält. Und weil Krankheit an sich, ob mit oder ohne Schmerz, als Stressor auf den Organismus wirkt, entsteht zusätzlich ein Teufelskreis, der kaum zu durchbrechen ist.
Um sowohl die Tierarztbesuche, als auch das Leben für unsere Samtpfoten zu erleichtern, müssen wir nicht nur verstehen, was Stress bedeutet, sondern auch, wie Katzen ihre Umwelt wahrnehmen( Abb. 4-1). Nur dann können wir uns in sie hineinversetzen und unangenehme Empfindungen vermeiden oder wenigstens reduzieren.

Abb. 4-1 Alle Sinne hellwach
4.1Der Sehsinn
Der Aufbau des Katzenauges unterscheidet sich nicht wesentlich von dem des Menschen. Allerdings ist das Auge der Katze sehr groß im Verhältnis zur Körpergröße ( Abb. 4-2).
Der durchschnittliche Durchmesser des Katzenauges beträgt 22 mm, der unserer Augen 25 mm. Diese Tatsache und die Anordnung der Augen etwas seitlicher an dem kleineren Kopf bewirken, dass Katzen ein sehr weites Gesichtsfeld von 200° haben (Mensch 180°), was ihnen bei der Suche nach Beute zugutekommt. Nur im mittleren Gesichtsfeld (90 bis 100°) haben die meisten Katzen binokulares Sehen. Eine Ausnahme bilden viele Siamkatzen, die erblich bedingt eine verringerte Fähigkeit zum Stereosehen haben. Viele dieser Tiere zeigen deutliches Schielen – ein Versuch, die nicht passenden Bilder des rechten und linken Auges in Übereinstimmung zu bringen.
Der sehr kurze Abstand zwischen Pupille und Netzhaut im Katzenauge stellt sicher, dass möglichst wenig Licht auf dem Weg zur Wahrnehmung verloren geht. In der Netzhaut befinden sich Stäbchen und Zäpfchen, die Lichtreize in Informationen umwandeln, welche über den Sehnerven zum Gehirn weitergegeben werden. Die Zahl der Stäbchen ist bei der Katze etwa dreimal so hoch wie bei uns. Weil die Stäbchen für die Wahrnehmung von Licht verantwortlich sind, kann die Katze auch noch in Dämmerung oder Dunkelheit deutlich mehr sehen als der Mensch. Andererseits ist die Zahl der Zäpfchen bei der Katze deutlich niedriger. Zäpfchen sind für das Farbsehen zuständig. Die Katze hat 16-mal weniger Nervenzellen zum Farbvergleich. Sie wird als dichromatisch eingeschätzt, was bedeutet, dass sie zwei Farben, Gelb und Blau, sowie deren Mischfarben, z. B. Grün unterscheiden kann, während der Mensch zusätzlich Rot zu seinem gesehenen Farbspektrum zählt. Wir können uns eine Welt in Grün nicht gut vorstellen, doch für die Katze sind Rottöne nicht wichtig für die Jagd. Wenn sie die Umgebung in gedämpften Grüngrautönen sieht, kann sie sich umso besser auf geringste Bewegungen, die von Beutetieren stammen, konzentrieren.
Einen weiteren Unterschied zwischen Katzen- und Menschenaugen finden wir im Tapetum lucidum, einer Schicht hinter der Netzhaut. Das Tapetum lucidum der Katze, auch Tapetum cellulosum genannt, reflektiert eingefallenes Licht in hohem Maße zurück zu den Stäbchen, sodass die Lichtabsorption schätzungsweise 40 % höher ist als bei uns. Damit die empfindlichen Stäbchen zwar in Dämmerung und Dunkelheit viel Lichtinformation bekommen, aber im Sonnenlicht nicht überflutet werden, hat die Katze eine besondere Pupillenform. Die Pupille kann extrem geweitet (dreimal größer als beim Menschen), aber auch auf einen winzigen Schlitz verengt werden, um den Lichteinfall maximal zu reduzieren. Dazu kommt, dass die Linse der Katze multifokal ist (Lichtfarben werden im Zentrum anders wahrgenommen als am Rand) und eine schlitzförmige Pupille alle Bereiche der Pupille vom Rand bis zum Zentrum mit Lichtinformation versorgt.
Sehr wichtig bei der Suche nach Beutetieren ist die besondere Empfindsamkeit der Augen für schnelle Bewegungen. Dies wird durch die Fähigkeit der Augen, sehr schnelle Bewegungen zu machen, erleichtert. Sie senden in schneller Abfolge Informationen an das Sehzentrum. Dort werden die Informationen abgeglichen mit den vorhergehenden Bildern. Mit 60 Bildern pro Sekunde senden Katzenaugen ihre Informationen dabei doppelt so schnell an das Sehzentrum wie die des Menschen.
Mit all diesen visuellen Fähigkeiten ist die Katze bestens gerüstet für die Jagd nach kleinen Beutetieren am Tage und in der Nacht. Das einzige Defizit im Sehen der Katze liegt in der Sehschärfe, besonders im Nahbereich. Hier, direkt vor ihrem Gesicht, sieht sie die Dinge nur sehr verschwommen. Deshalb muss sie beim Beutegriff andere Sinne zu Hilfe nehmen, z. B. die Tasthaare ( Kap. 4.4). Hier finden Sie zwei Beispiele, die Ihnen einen Eindruck von der Sehfähigkeit von Katzen vermitteln (
svg.to/sehsinn1 und
svg.to/sehsinn2).
PRAXISTIPP
Weil die Katze im Nahbereich schlecht sehen kann, ist sie häufig nicht in der Lage, die Wasseroberfläche in einer Trinkschüssel zu erkennen, besonders dann nicht, wenn diese aus reflektierendem Material wie Edelstahl gefertigt ist. Idealerweise ist die Wasserschüssel aus Glas und wird bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Dann kann die Katze den Wasserspiegel sehen und läuft nicht Gefahr, die Nase zu weit einzutauchen ( Abb. 4-3).

Abb. 4-3 Die ideale Wasserschüssel
4.1Der Gehörsinn
Jeder von uns hat tausendmal die Ohren einer Katze gesehen, ohne sich Gedanken über deren schnelle Bewegungen zu machen. Diese sind dazu geeignet, alle Geräusche in der Umgebung einzufangen. Die Ohren bewegen sich teilweise unabhängig voneinander, um keinen Ton zu verpassen. Ein Abgleich der Informationen aus beiden Ohren im Gehirn kann Information über die Lokalisation der Geräuschquelle geben.
Durch den Aufbau des Mittel- und Innenohres und durch die gute Versorgung mit Nervenzellen (ca. 30 % mehr als beim Menschen) kann die Katze nicht nur besser hören, sondern hat auch ein breiteres Spektrum. Im Hören von sowohl hohen als auch tiefen Tönen ist sie uns deutlich überlegen (48 Hz bis 85 kHz). Damit ist sie zwar zum Aufspüren von Beutetieren wie Mäusen, die sich im Ultraschallbereich verständigen (30 bis 100 kHz), bestens gerüstet, wird aber häufig von unserer „lauten“ Menschenwelt überfordert.
4.3Der Geruchssinn
Das olfaktorische System ist für die Aufnahme von Gerüchen und Pheromonen zuständig. Dafür benutzt die Katze die Nase und das Vomeronasalorgan (VNO oder auch Jacobson-Organ genannt).
In den Epithelzellen der Nasenschleimhaut werden in erster Linie Gerüche aufgenommen. Die Epithelfläche in der Nase der Katze, d. h. die Oberfläche der Nasenmuscheln, ist durch feinere Fältelung etwa zehnmal so groß wie die des Menschen. Die Gerüche kommen passiv – bei der Atmung – oder aktiv – durch Schnüffeln – zu den Epithelzellen, werden dort aufgenommen und als Nervenreiz zum Gehirn weitergeleitet.
Das Vomeronasalorgan befindet sich in der Maulschleimhaut im harten Gaumen. Die zwei Öffnungen liegen als kaum sichtbare Papillen hinter den oberen Schneidezähnen. Das VNO ist spezialisiert auf Pheromone, tierartspezifische Botenstoffe, die in unterschiedlicher Zusammensetzung von verschiedenen Drüsen produziert werden und sehr genaue Informationen enthalten.
Pheromone und pheromonproduzierende Drüsen
Pheromonproduzierende Drüsen bei der Katze finden wir an den Lippen, dem Kinn, den Wangen und Schläfen, an der Schwanzbasis und am Schwanz (Kaudaldrüsen), im Anal- und Urogenitalbereich, in der Mammaleiste und an den Ballen. Sie geben verschiedene Pheromone ab, um unterschiedliche Informationen zu transportieren. Die Pheromone der Kopf- und Kaudaldrüsen markieren unter anderem eine Art Gruppenzugehörigkeit und damit Katzen, Personen und Orte, mit und an denen sich die Katze wohlfühlt. Die Pheromone der Mammaleiste (produziert in Drüsen rund um die Brustwarzen) haben eine besänftigende Wirkung auf die Welpen. Die Pheromone der Ballen dienen in erster Linie der Territorialmarkierung, während die Pheromone der Anal-/Urogenitalregion unter anderem Informationen zum Sexualstatus weitergeben können.
Katzen haben viele bekannte Verhaltensmuster, bei denen sie Pheromone bewusst platzieren und damit die enthaltenen Informationen an andere Katzen weitergeben, ohne Gefahr zu laufen, in direkten und vielleicht unfriedlichen Kontakt mit Artgenossen treten zu müssen.
Das Wissen um die Bedeutung der Pheromone hat geholfen, einige dieser Botenstoffe zu analysieren und nachzubauen. Heute stehen uns synthetische Pheromone „aus den Wangendrüsen“ (Feliway® Classic), „aus der Mammaleiste“ (Feliway® Friends) und „aus den Ballendrüsen“ (Feliway® Scratch) zur Verfügung, um manchmal das Leben einer Katze leichter zu machen.
Die Pheromone werden von der Katze während eines Vorganges, den man Flehmen nennt, aufgenommen. Flehmen ist auch bei anderen Tierarten, z. B. Pferden, bekannt. Dabei werden der Kopf etwas angehoben, das Maul Richtung Quelle ein wenig geöffnet und die Oberlippen etwas gehoben ( Abb. 4-4). Fast unmerklich lässt die Katze geringe Mengen Luft in die Maulhöhle fließen. Die Pheromonmoleküle gehen dabei im Speichel in Lösung. Auch durch Auflecken können solche Moleküle in den Speichel gelangen. Mit dem Speichel werden sie durch die kleinen Öffnungen hinter den Schneidezähnen zum VNO transportiert. Dort wird die enthaltene Information in Nervenreize umgewandelt und zum Gehirn gesendet. Werden Pheromonmoleküle durch die Nase eingeatmet, können sie im nasalen Schleim gelöst ebenso zum VNO gebracht und verarbeitet werden.
4.4Der Tastsinn
Die Haut der Katze ist nahezu komplett mit Haaren bedeckt (Ausnahme: die Nacktkatze „Sphinx“). Dadurch ist die Empfindung von taktilen Reizen am Körper im Vergleich zum nackten Menschen deutlich reduziert. Allerdings gibt es auch haarlose Bereiche, z. B. die Pfoten. An den Pfoten nimmt die Katze sowohl Temperatur als auch Textur der berührten Oberfläche wahr. Doch ungleich besser ist der Tastsinn der Katze ausgeprägt, sobald die Schnurrhaare und Tasthaare ins Spiel kommen ( Abb. 4-5).
Die ungefähr 24 Barthaare zwischen Lippen und Wangen sowie die Tasthaare über den Augen und auf der Rückseite der Vorderbeine sind zweimal so dick wie das normale Deckhaar und sind tiefer in der Haut verankert. An den Wurzeln befinden sich sensible Nervenenden, die die Stellung der Haare als Information zum Gehirn senden. Dadurch erfährt die Katze viel über ihre Umgebung, auch ohne Sicht. Sie bekommt Informationen über Hindernisse, Abstände, Bewegungen und sogar über Luftdruck und Luftbewegungen. Luftzug und darin enthaltene kleine Fremdkörper wie Sand und Staub lösen auf diesem Weg den Blinkreflex zum Schutz der Hornhaut aus.
Besonders spannend wird die Rolle der Schnurrhaare beim Beutefang. Da die Katze außerordentlich weitsichtig ist und im Nahbereich die Maus nicht erkennen kann, muss sie sich ihres Tastsinnes bedienen, um gezielt zubeißen zu können. Dafür ist sie in der Lage, die langen Barthaare anhand kleiner Muskelfasern an der Wurzel jedes Haares nach vorne zu richten. Sobald die Beute so nah vor dem Gesicht ist, dass sie nicht mehr von der Katze gesehen wird, übernehmen die Schnurrhaare die Führung. Die Funktion der Schnurrhaare beim Beutefang wird sehr anschaulich in diesem Video dargestellt ( svg.to/schnurrhaare_beute).

Abb. 4-5 Die Tasthaare des Katzengesichtes
PRAXISTIPP
Weil die Tasthaare sehr empfindlich sind, sollten die Futter- und Wasserschüssel möglichst flach sein, damit die Schnurrhaare bei der Futter- bzw. Wasseraufnahme nicht irritiert werden ( Abb. 4-6).
Weitere wichtige Tastorgane der Katze sind die Eckzähne und die Papillen auf der Zunge. Die Canini, insbesondere die Oberkiefercanini, sind in der Lage, den Zwischenraum zwischen den Halswirbeln des Beutetieres noch während des Tötungsbisses zu ertasten. Damit wird verhindert, dass auf die Wirbelkörper gebissen wird und die Canini Schaden nehmen. Danach geben die Eckzähne die Information, ob die Beute tot bzw. bewegungslos ist oder weiter festgehalten werden muss.
Die Tastpapillen auf der Zunge, die jeder von uns schon als „Reibeisen“ gespürt hat, finden bei der Fellpflege jeden Floh und jede Verschmutzung. Sie bestehen aus Keratin, sind nach innen gerichtet und reinigen nicht nur das Fell, sondern entfernen Fell oder Federn von der Beute und beseitigen Beutespuren vom Körper der Katze. Außerdem sind sie unerlässlich für die Wasseraufnahme. Die Katze benutzt die Zunge nicht wie der Hund als Löffel beim Wasserschlecken, sondern klappt sie nach unten, um mit den Papillen die Wasseroberfläche zu berühren. Dann schnellt die Zunge nach oben und die Oberflächenspannung lässt eine kleine Wassersäule entstehen. Bevor diese zusammenfällt, kann die Zunge einen Tropfen auffangen. Eine sehr mühselige Art der Wasseraufnahme, sehr schön zu sehen in diesem Video ( svg.to/wassertrinken).
Haut, Pfoten, Tasthaare und Zunge spielen neben ihren Aufgaben in der Reizempfindung und Weiterleitung eine große Rolle im Sozialverhalten, vor allem bei der Weitergabe von Pheromonen, sei es durch Gesichterreiben (Facerubbing), Körperreiben (Allorubbing) oder gegenseitiges Putzen (Allogrooming).

Abb. 4-6 Katze frisst aus der idealen Futterschüssel.
4.5Der Geschmackssinn
Wie beim Menschen liegen auch bei der Katze die Geschmacksknospen auf der Zunge. Verschieden geformte Papillen sind auf dem Zungenrücken verteilt. An der Zungenspitze und an den lateralen Rändern finden sich pilzförmige Papillen, während die Papillen im hinteren Bereich der Zunge zierlicher geformt sind. Die Papillen haben kleine Poren, in denen die Geschmacksknospen enthalten sind. Jede Geschmacksknospe enthält 50 bis 150 Rezeptorzellen, die die Geschmacksempfindung an das Gehirn weiterleiten. Die filliformen (fadenförmigen) Papillen in der Mitte des Zungenrückens enthalten keine Geschmacksknospen, sondern sind in erster Linie für die Fellpflege zuständig. Katzen haben ungefähr 470 Geschmacksknospen, was im Verhältnis zum Menschen mit seinen 9.000 sehr wenig ist. Sie nehmen chemische Botschaften eher mit dem Geruchssinn wahr, weshalb stark riechendes Futter häufig bevorzugt wird.
Wie andere Säugetiere haben Katzen einen Sinn für sauer, salzig, bitter und umami (fleischig, herzhaft). Im Gegensatz zu anderen Lebewesen empfinden sie aber keine Süße. Als obligate Fleischfresser benötigen sie keinen Sinn für den süßen Geschmack, z. B. von Früchten. Wohl aber können sie verschiedene Aminosäuren geschmacklich voneinander unterscheiden und damit die Qualität des Fleisches einschätzen, was für einen Fleischfresser weit sinnvoller ist, als Zucker zu schmecken. Nach dem Tod des Beutetieres bzw. mit abnehmender Frische des Futters steigt auch der Gehalt an Stoffen im Gewebe, die von der Katze vermutlich als bitter wahrgenommen werden (Monophosphatnukleotide). Katzen mögen bitteren Geschmack nicht, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass sie kein Aas fressen und häufig auch die Gallenblase oder andere innere Organe ihrer Beutetiere nicht verspeisen. Eine weitere Besonderheit des Katzengeschmackssinnes ist die Empfindlichkeit für den Geschmack von Wasser. Geringste Änderungen im Mineralstoffgehalt werden wahrgenommen. Empfindliche Katzen zeigen deutliche Präferenzen für bestimmte Wassersorten, sei es Regenwasser, Leitungswasser, frisches oder abgestandenes Wasser.
Wissenschaftler vermuten, dass die Empfindlichkeit der Geschmacksnerven am größten bei 30 °C, in etwa der Temperatur der Zunge, ist. Schlecht fressenden oder kranken Katzen (besonders Katzen mit Schnupfen) könnte man deshalb bevorzugt angewärmtes Feuchtfutter anbieten, damit sie in der Lage sind, das Futter maximal zu „schmecken“.
Zuletzt haben wir noch eine Sensibilität der Maulhöhle zu erwähnen, die zum Tastsinn gehört, aber eine wesentliche Rolle für die Palatabilität oder Schmackhaftigkeit des Futters spielt. Zunge, Gaumen und Zähne empfinden die Textur und die Konsistenz einer Nahrung. Bei der Katze, die nicht mehr vom Mäusefang lebt, spielt der Unterschied zwischen Trocken- und Feuchtfutter aus diesem Grund häufig eine große Rolle. Viele Katzen entwickeln eine Vorliebe für die Konsistenz und Textur eines Trockenfutters, auch wenn vielleicht aus tierärztlicher Sicht ein Feuchtfutter oder gar ein Diätfutter die bessere Wahl wären. An dieser Stelle ist von uns Beratung gefordert, um dem Tierhalter Hilfen zu geben, wie er die Akzeptanz eines bestimmten Futters verbessern kann (z. B. Futter erwärmen, einen anderen Napf verwenden [s. o.], immer frisch in kleinen Mengen anbieten etc.).
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir erfahren, wie die Katze ihre Umwelt wahrnimmt und warum sie negativen Stress empfindet. Wie dieser Stress beim Tierarztbesuch, z. B. durch die Einrichtung, minimiert werden kann, möchte ich Ihnen im nächsten Kapitel zeigen.
Schon beim ersten Besuch einer katzenfreundlichen Praxis fällt dem Besucher ein Unterschied zu anderen Praxen auf. Vielleicht sieht er das Logo an der Tür, vielleicht sieht der Tresen anders aus als in herkömmlichen Praxen oder es gibt nach Tierarten separierte Wartebereiche ( Abb. 5-1).
Versetzen wir uns in die Lage der Katze. Die Realität sah bisher so aus: Bereits zuhause begann der Stress, denn der Katzenkorb wurde vom Dachboden geholt, die Katze wurde eingefangen und in den Korb gestopft. Vielleicht ist die Katze krank und hat Schmerzen. Dann ist eine solche Behandlung zwar unverzichtbar, doch umso unangenehmer. Schon jetzt ist der Stresspegel sehr hoch. Weil die Katze nun in der Transportbox eingesperrt und ihrem Schicksal ausgeliefert ist, kommt Frustration dazu. Und es wird noch schlimmer: Der Transportkorb wird angehoben, durch die Gegend getragen und ins Auto gestellt. Türen knallen, das Auto setzt sich in Bewegung. Hält es endlich an, kommt die nächste Höllenfahrt, nämlich die Ankunft in der Tierarztpraxis. Dort wird der Korb auf den Fußboden gestellt, während sich der Besitzer am Tresen anmeldet. Ein Hund kommt jaulend herein und schnüffelt sofort an dem Katzenkorb mit der inzwischen völlig verzweifelten Katze. Sie kann sich nicht wehren und sie hat keine Möglichkeit zur Flucht. Endlich wird der Korb wieder hochgenommen und der Besitzer setzt sich mit seiner Katze ins Wartezimmer. Auch hier rechts und links Hunde, gegenüber wartet eine Katze, die böse faucht, weil ein Hund ihr zu nah gekommen ist. Ein neuer Patient kommt herein, diesmal ein Welpe, der aufgeregt bellt und die anderen Hunde zum Spielen auffordert.
Wenn unsere Katze endlich aufgerufen wird und sie samt Transportkorb im Behandlungsraum auf dem Tisch landet, ist nicht mehr mit einer Zusammenarbeit zwischen Tierarzt, TFA und Patient zu rechnen. Sie wird entweder in der letzten Ecke des Korbes sitzen und darauf warten, dass eine Hand auf sie zukommt, die sie angreifen kann oder sie versucht, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Eine ausweglose Situation für uns, eine verzweifelte für die Katze. Geht es anders? Ja.
Den Weg zum Tierarzt stressärmer zu gestalten, liegt selbstverständlich in der Hand des Besitzers, doch im Kapitel „Katzenkorbtraining“ ( Kap. 10.1) werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie wir hierbei helfen können.
Unsere Aufgabe ist es nun, unsere Praxis so zu gestalten, dass unsere samtpfötigen Patienten, die aufgeregt und frustriert in ihrem Transportkorb in unserer Praxis ankommen, ihre Angst überwinden, beruhigt werden und dann am besten schnurrend auf dem Behandlungstisch sitzen.
5.1Die Anmeldung
Der Besitzer sollte niemals gezwungen sein, den Transportkorb auf den Fußboden zu stellen. Tut er es dennoch, weisen wir ihn darauf hin, dass es erhöhte Plätze zum Abstellen der Katze gibt ( Abb. 5-2). Bewährt haben sich unterschiedliche Tresenhöhen oder Ablagebretter wie früher für die Handtasche, allerdings mit mehr Tiefe (
Abb. 5-3). Oder einfach ein Stuhl oder ein Tischchen. Der Empfangsbereich sollte auch genug Platz bieten, sodass Hund und Katze nicht nebeneinanderstehen müssen.
Wir bitten unsere Katzenbesitzer immer, ihre Katzen sofort in das Wartezimmer zu tragen und dort auf einen der „Katzenkorbparkplätze“ zu stellen, um sie vor dem Gedränge an der Anmeldung zu schützen.
Dasselbe gilt übrigens auch für das Prozedere nach der Behandlung. Wieder wird der Katzentransportkorb im Wartezimmer geparkt, während der Besitzer am Tresen vielleicht einen neuen Termin vereinbart, eventuell noch Medikamente bekommt und bezahlt.

Abb. 5-2 Breiter Tresen mit Abstellmöglichkeit für Katzenkörbe

Abb. 5-3 Abstellmöglichkeit am Tresen
Seit einiger Zeit gibt es bei uns am Tresen eine Neuerung, die sich sehr bewährt hat.
Im Dezember 2015 habe ich Marie Hoyer in Wien besucht, die dort gerade Österreichs erste reine Katzenpraxis eröffnet hatte. Von ihr habe ich viele Tipps bekommen und später bei mir verwirklicht. Der beste Tipp war, den Katzen Kuscheldecken zu Verfügung zu stellen, die mit einem Spritzer Pheromonspray (z. B. Feliway® Classic Spray) präpariert sind. Seitdem haben wir diese Decken an der Anmeldung liegen und ermuntern die Besitzer, ihren Katzenkorb schon an der Anmeldung damit abzudecken ( Abb. 5-4). Die Katzen lieben unsere besonderen Fleecedecken und auch auf dem Behandlungstisch sind sie inzwischen unverzichtbar (
Abb. 5-5 bis
Abb. 5-7). Die ängstliche Katze kann sich darunter verstecken und fühlt sich geborgen.
Erst beim Verlassen der Praxis geben die Katzenbesitzer die Decke wieder ab. Sie wird gewaschen und erneut eingesprüht.

Abb. 5-4 Schon bei Ankunft in der Praxis wird der Katzenkorb abgedeckt.

Abb. 5-6 Im Wartezimmer schirmt die präparierte Decke von der Umgebung ab.

Abb. 5-7 Auf dem Behandlungstisch bietet die Decke Schutz und Geborgenheit.
PRAXISTIPP
Ein Spritzer Pheromonspray in die Mitte der Decke genügt. Katzen haben sehr feine Nasen für Pheromone. Sprüht man mehr, bekommen die meisten Mitarbeiter der Praxis ein unangenehmes Kratzen im Hals und möglicherweise tränende Augen.
Außerdem sollte man bei Fleecedecken auf das Trocknen im Wäschetrockner verzichten. Sie laden sich statisch auf und die Entladung ist weder für das Personal noch für die Katze angenehm.
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783842690288
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (Juni)
- Schlagworte
- Katze katzenfreundliche Praxis Anmeldung Wartezimmer Behandlungsraum Behandlung Vorbereitung Tierarztbesuch Sinnesorgane Pheromone Wickeltechnik Operationsvorbereitung Operation Kehlkopfmaske Aufwachphase Schmerz Schmerzvermeidung Schmerzerkennung stationäre Unterbringung Medikamentengabe Katzentransportkorb Übergewicht Diabetes mellitus Futterumstellung Veterinärmedizin