Lade Inhalt...

Versorgungsplanung in der letzten Lebensphase

Praxis-Handbuch: Erfolgreiche BVP-Implementierung

von Günther Schlott (Autor:in) Dieter Mank (Autor:in)
320 Seiten

Zusammenfassung

»Behandlung im Voraus planen (BVP)« – mit diesem Projekt müssen sich alle stationären Pflegeeinrichtungen beschäftigen. Die Krankenkassen übernehmen
die Kosten, doch die Umsetzung fordert höchste Kompetenz
von den Teams:
• Wie lässt sich BVP in den Alltag integrieren?
• Welche Qualifikationen brauchen die Mitarbeiter?
• Welche Arbeitsmaterialien haben sich bewährt?
• Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt?

Auf diese – und viele weitere Fragen – geben die Autoren dieses Buches Antworten. Sie stellen ihre Herangehensweise, ihre Arbeitsmaterialien und viele praktische Lösungen vor. Ihr Fazit: »BVP ist ein Win-win-Projekt.
Jeder investierte Cent rechnet sich um ein Vielfaches.«

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort 1

Herzlich willkommen!

Ich freue mich, dass Sie diese Zeilen lesen und mit uns ein wenig Zeit verbringen. Und ich hoffe, Ihr Interesse erlahmt nicht so schnell. Denn wir haben uns wirklich Mühe gegeben, dieses Buch kurzweilig und informativ zu gestalten. Da wäre es doch schade, wenn Sie so schnell aufgeben würden, oder?

Wir wollen Ihnen in diesem Buch den Prozess einer erfolgreichen Implementierung von BVP am Projekt »beizeiten begleiten®« aufzeigen.

Aber wir wollen Ihnen nicht nur das Projekt vorstellen, Prozessschritte erläutern und ein taugliches Rahmenkonzept liefern. Ziel ist auch, unseren Gedanken, Überlegungen und Zweifeln Ausdruck zu verleihen, die sich uns in den vielen Monaten der Ausbildung und der Implementierung aufdrängten. Fragen nach dem Sinn des Ganzen, nach den Beschränkungen des Ansatzes im Allgemeinen und dem Konflikt zwischen Vision und Wirklichkeit. Die Realitätsprüfung unserer Arbeit hat die Teammitglieder unterschiedlich stark mitgenommen, letzten Endes ist unser Team von acht auf sechs aktive Teilnehmer geschrumpft.

Und so ist dieses Buch auch aufgebaut: Von der Frage »Macht das wirklich einen Sinn?« bis hin zu der möglichen Antwort: »Ein durchaus lohnenswertes Projekt!« Gehen Sie mit uns durch die hellen, klaren Visionen und lassen Sie sich anstecken. Aber auch diese klebrigen Zweifel, die nie ganz verschwinden, wollen wir offen ansprechen. Wenn Sie der Virus der Vision erfasst, sehr gut! Wenn wir Sie mit den Zweifeln in Versuchung führen, auch gut. Wenn die Zweifel überwiegen, dann bitte: Nehmen Sie lieber Abstand vom BVP-Projekt. Auch dann hätten wir ein durchaus legitimes Ziel erreicht: die Abschreckung der nur halb Überzeugten. Denn dafür ist der Weg zu lange und man sollte keine Hoffnungen wecken, die man hinterher nicht erfüllen kann.

Dieses Buch ist wie ein kaltes Buffet. Es gibt natürlich die üblichen Standards, wie Prozesse, Konzepte und Listen, aber es gibt auch diverse geistige Schmankerl, manche gesund, manche sehr lecker, aber schwer verdaulich, und manche ein unverhohlener Angriff auf Ihre gute Figur. Dies sind jene, die ein wenig am Selbstvertrauen kratzen und die Psychohygiene durcheinander bringen. Es gibt Anleihen bei Psychologie und Philosophie, kleine Ausflüge ins Exotische und viel zu diskutieren (und natürlich zu kritisieren, das haben wir so eingebaut).

Das Schöne an unserem kalten Buffet ist, dass Sie sich nicht anstellen müssen. Sie können direkt zur Dessertstation laufen, ohne sich zuerst die gewichtigen Hauptgänge einzuverleiben. Sie können sich die besten Sachen herauspicken und sogar noch einen Nachschlag bekommen. Sie können auch alles nacheinander durchprobieren, sofern Sie das Fassungsvermögen dazu besitzen. Aber es ist durchaus legitim, manche Angebote einfach außer Acht zu lassen.

Und so können Sie auch dieses Buch lesen: Von hinten nach vorne, nur die Kapitel, die Sie interessieren, die langatmigen Stellen überspringen oder auch ganz methodisch streng Seite für Seite lesen. In jedem Falle wünschen wir Ihnen viel Spaß. Und so bleibt uns nur eines zu sagen: Das Buffet ist eröffnet.

Ihr
Günther Schlott

Vorwort 2

Erich Kästner pflegte die meisten seiner Bücher mit einem, ja gelegentlich sogar mit zwei Vorworten zu versehen und sah das sogar als dringende Notwendigkeit an. Er hielt das für keine Unart. Gilt das nur für Schriftsteller der heiteren bis wolkigen Muse? Es ist höchste Zeit, dass auch Sachbuchautoren ihre entsprechenden Rechte anmelden! Im Ernst gesprochen – warum soll ein von zwei Autoren geschriebenes Buch nicht auch zwei Vorworte haben? Zumal jeder von uns beiden seine eigene Vorstellung von der Vorgehensweise an dieses ernste Thema hat – wenn auch Günther Schlott wesentlich mehr dazu beigetragen hat als ich. Im Übrigen bedeutet der Umstand, dass sich zwei Autoren an diesem Thema versucht haben, keineswegs, dass wir völlig verschiedene Denkweisen haben und der völlig erschöpfte Leser (oder die Leserin) sich am Ende fragt: Ja, was meinen die denn jetzt eigentlich mit ihrem Buch? Nein – das »Wir« steht im Vordergrund dieser Texte über jenes Projekt, das den etwas sperrigen Titel »Behandlung im Voraus Planen« trägt und das dazu beitragen soll, u. a. der zentralen Problematik einer echten Vorsorge für das eigene Leben und Sterben und den eigenen Tod zu besserem Verständnis und mehr Entscheidungskriterien zu verhelfen, als dies bisher der Fall war.

Ich hoffe, dass Sie meine Beiträge mit ebenso großem Interesse lesen wie die von Günther Schlott und nicht mit Stirnrunzeln sagen werden: Jetzt kommt der schon wieder! Wir haben allein wegen unserer Biografien unterschiedliche Ansätze zu diesem Komplex. Günther Schlott hat u. a. Psychologie studiert und ist schon seit Jahren in den Bereichen der Hotellerie und Altenpflege als Einrichtungsleiter tätig. Ich habe Germanistik studiert, habe es im Berufsleben bis zum Redakteur gebracht und mir im Lauf der Jahre einiges von dem angeeignet, was ich seit rund 30 Jahren als vielseitiger freier Autor nutze. Dazu gehören auch eine über 30-jährige Erfahrung als ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Altenpflege und ein recht umfassender Überblick über die Entwicklungen in der Geriatrie.

Diese durchaus unterschiedlichen Erfahrungen in Studium und Beruf decken schon eine recht große Bandbreite ab. Und wir denken, dass jeder von uns, auch in der Sprache, seine persönliche Sichtweise zum Ausdruck bringen können sollte. Übrigens – auch die »Ansteckungsgefahr« durch dieses Buch wird durch die Tätigkeit zweier Autoren erhöht! Aber das nur nebenbei.

Wichtig ist, dass Sie – an welcher Stelle Sie mit diesem Buch auch immer anfangen – mit der Lektüre einen direkten Zugang zu diesem äußerst schwierigen Thema finden können. Wir als Autoren treten in diesem Buch nicht etwa als Konkurrenten gegeneinander an; nein wir probieren durch eine vielleicht unterschiedliche Sicht auf die Dinge, den Leser zum Nachdenken anzuregen. Denn eines ist gewiss: Nachgedacht wird heute über Themen wie Krankheit, Sterben und Tod in ganz anderen Bahnen als noch vor 20 oder 25 Jahren. Zu dieser Zeit, das nur als Beispiel, wäre ein Gespräch über die diversen Möglichkeiten, Sterbende in der letzten Lebensphase zu begleiten, völlig undenkbar gewesen. Einen Begriff z. B., wie »Letzte Hilfe« (in Ergänzung zur »Ersten Hilfe«), hätte man schlicht und einfach für tabu erklärt, vor allem unter vielen Medizinern!

Es ist an der Zeit, gerade jetzt ein Buch über dieses Thema zu schreiben! Und auch bei diesem sehr ernsten und sehr komplexen Leitgedanken, allen Menschen ein Leben und Sterben in Würde zu ermöglichen – und keine Pflege um jeden Preis –wünschen beide Autoren Ihnen, den Lesern, ein reges Interesse an der Lektüre.

Und dass es nicht nur beim Interesse bleibt, sondern wir Ihnen konkret dabei helfen können wirksame Schritte aus diesem Buch ableiten zu können. In diesem Sinne wünsche auch ich Ihnen viel Freude!

Ihr
Dr. Dieter Mank

Vorwort zur zweiten Auflage

Wir möchten an dieser Stelle all jenen Lesern danken, die uns eine Rückmeldung zu diesem Buch gegeben haben. Erfreulicherweise gab es viele positive Reaktionen, die uns bestärkt und Mut gemacht haben. Aber es gab auch kritische Stimmen, denen wir ebenso aufrichtig danken. Einiges an unserem »Buffet« lag den Lesern dann doch schwer im Magen und war letztlich nicht völlig gar. Fehler, die sich eingeschlichen haben, wurden daraufhin berichtigt, bei einigen Begriffen und Darstellungen die Trennschärfe erhöht und Missverständliches verdeutlicht. Ich hoffe, es ist uns zur Zufriedenheit aller gelungen. Die nur schwer verdaulichen Gerichte wurden aus dem Angebot herausgenommen und das Buffet entsprechend angepasst. Und so wünschen wir auch den Lesern der 2., bearbeiteten Auflage viel Spaß beim Lesen und diskutieren.

Ihr
Günther Schlott

Patientenverfügungen gibt es seit Anfang der 1970er Jahre. Durch das dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechtes wurde das Rechtsinstrument der Patientenverfügung in Deutschland erstmals gesetzlich geregelt. Es wird daher umgangssprachlich auch als »Patientenverfügungsgesetz« bezeichnet und trat am 1. September 2009 in Kraft. Es regelte erstmals, dass Patientenverfügungen Geltung zu verschaffen ist, wenn sie auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffend sind.

Im Prinzip befürworten die meisten Menschen, dass anhand von Vorausplanungen ungewünschte medizinische Anstrengungen zur Lebensrettung und Lebensverlängerung vermieden werden können. Gleichzeitig sind sich die meisten Menschen bewusst, dass Patientenverfügungen seit Jahrzehnten in der realen Welt medizinischer Entscheidungsfindung meist nur eine untergeordnete Rolle spielen. Kritische Entscheidungen in Unkenntnis des Patientenwillens sind an der Tagesordnung – zu Hause, im Altenheim oder auf der Intensivstation.

Seit den 1990er-Jahren hat sich mit Advanced Care Planning (ACP) – deutsch: Behandlung im Voraus planen (BVP) – eine neue Herangehensweise an Patientenverfügungen entwickelt. Sie besitzt das Potenzial, diese Defizite erfolgreich zu kompensieren.

Auch in Deutschland ist das Interesse an diesem Konzept in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen, nicht zuletzt durch das im Dezember 2015 in Kraft getretene Hospiz- und Palliativgesetz (HPG). Mit dem neuen § 132g SGB V können stationäre Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Behindertenhilfe künftig ihren Bewohnern eine »Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase« zulasten der Krankenkassen anbieten. Dies ist für die Einrichtungen der Altenpflege und Behindertenhilfe ein Novum.

Zudem können auch Wünsche und Präferenzen zu anderen künftig relevanten Aspekten geäußert und festgelegt werden, z. B. pflegerischer, psychosozialer oder spiritueller Art. Nicht zuletzt können auch medizinische Indikationen für das Vorgehen im Notfall im Voraus überprüft und ein Handeln gemäß den Regeln ärztlicher Kunst rechtzeitig gebahnt werden.

BVP bewahrt nicht einwilligungsfähige Patienten vor ungewollter Über- oder Unterversorgung und hat darüber hinaus das Potenzial, Angehörige bzw. Bevollmächtigte oder Betreuer sowie Pflegende und Ärzte, die stellvertretend weitreichende Entscheidungen treffen oder mit deren Folgen leben müssen, vor vermeidbaren psychischen Belastungen zu schützen.

image

Info – »beizeiten begleiten®«

Im Rahmen eines BMBF-geförderten Forschungsprojektes (Bundesministerium für Bildung und Forschung, 2009–2011) wurde in enger Anlehnung an internationale BVP-Standards und speziell an das Programm Respecting Choices das regionale BVP-Programm »beizeiten begleiten®« entwickelt2.

In einer international kontrollierten Studie konnte gezeigt werden, dass das Programm geeignet ist, nicht nur die Anzahl, sondern auch die Qualität der Patientenverfügungen (insbesondere Aussagekraft und Validität) im Beobachtungszeitraum signifikant zu steigern.

»beizeiten begleiten®« wurde anschließend – ohne externe Förderung – von zwei der Interventionseinrichtungen in die Regelversorgung übernommen, eine Einrichtung praktiziert es bis heute. Eine zunehmende Anzahl von weiterer Institutionen, Träger und Netzwerke aus ganz Deutschland hat seit dem Jahr 2015 – durchaus mit Blick auf den neuen §132 g SGB V – begonnen, beizeiten begleiten® zu implementieren oder die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen.

1.1 Elemente von »beizeiten begleiten®«

»beizeiten begleiten®« wurde entwickelt als ein Modell für eine regionale Implementierung von Advance Care Planning (image Kap. 2). Kern des Projekts ist ein Gesprächsangebot, z. B. für alle Bewohner der teilnehmenden Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen durch qualifizierte Gesprächsbegleiter und fortgebildete kooperierende (Haus-)Ärzte.

Dabei besteht in ein- bis zweistündigen Gesprächen Gelegenheit, über die eigenen individuellen Behandlungswünsche für zukünftige Behandlungsszenarien nachzudenken. Die persönlichen Festlegungen werden mit Unterstützung der Gesprächsbegleiter auf eigens entwickelten, einheitlichen und aussagekräftigen Patientenverfügungen bzw. Vertreterdokumenten sowie einem Notfallbogen dokumentiert. Neben dem Personal der Pflegeeinrichtungen und den teilnehmenden (Haus-)Ärzten sind u. a. auch die ambulante Hospizbewegung, Angehörige des Betreuungswesens, die Heimaufsicht, der Rettungsdienst und die Leitung sowie das ärztliche und pflegerische Personal des regionalen Krankenhauses involviert.

1.1.1 Aufsuchendes Gesprächsangebot

Bislang blieb die Initiative zur Abfassung einer Patientenverfügung dem Betroffenen selbst überlassen. Dadurch hat nur ein kleiner Teil der Bevölkerung eine Vorausverfügung erstellt. Im Konzept »beizeiten begleiten®« übernehmen die regionalen Akteure im Gesundheitswesen die Verantwortung, auf die jeweilige Zielgruppe (z. B. die Bewohner von Altenpflegeheimen) zuzugehen und ihnen die Möglichkeit und Vorteile einer Vorausplanung von Behandlungsentscheidungen zu erläutern. Sie bieten unverbindlich die Unterstützung durch eine entsprechend geschulte und professionell agierende Gesprächsbegleitung an. Mit diesem aufsuchenden Gesprächsangebot soll die Anzahl von Vorausplanungen in der Zielgruppe deutlich gesteigert werden.

1.1.2 Qualifizierte Gesprächsbegleitung

Das zentrale Element von BVP ist ein qualifizierter Gesprächsprozess, der die Betroffenen bei der Entwicklung und Dokumentation ihrer Wünsche für mögliche künftige Behandlungen unterstützt. Spezifisch hierfür geschultes nichtärztliches und ärztli ches Personal begleitet den Gesprächsprozess, der in der Regel in eine individuelle schriftliche Vorausverfügung mündet. Um den nicht-direktiven Charakter der Unterstützung zu verdeutlichen, wird bei dieser Rolle im Konzept »beizeiten begleiten®« von einem BVP-Gesprächsbegleiter gesprochen, nicht von einem Berater.

1.1.3 Professionelle Dokumentation

Regional einheitliche, aussagekräftige Formulare sollen sicherstellen, dass die im Gesprächsprozess ermittelten Präferenzen so dokumentiert werden, dass sie von allen Akteuren im Gesundheitswesen effektiv umgesetzt werden können. Sie sollten dabei die inhaltliche Struktur des begleiteten Gesprächsprozess abbilden. Insbesondere bei älteren oder chronisch kranken Personen sollten in einem Notfall- oder Krisenbogen Behandlungswünsche für den Fall einer plötzlichen gesundheitlichen Krise mit Verlust der Entscheidungsfähigkeit festgehalten werden.

Auch bei (dauerhaft) nicht mehr einwilligungsfähigen Personen sollte eine Vorausplanung vorgenommen und in einer Vertreterdokumentation festgehalten werden. Neben dem Betroffenen, bzw. dem gesetzlichen Vertreter, unterzeichnen der Gesprächsbegleiter und der ebenfalls spezifisch fortgebildete (Haus-)Arzt das Formular des Notfall- oder Krisenbogens, um damit den qualifizierten Gesprächsprozess zu dokumentieren und die Validität der Vorausplanung für Dritte nachvollziehbar zu machen. Die Unterschrift des behandelnden Arztes ist ausdrücklich erwünscht, aber nicht zwingend notwendig. Das Dokument ist auch ohne Unterschrift des Arztes rechtsgültig.

1.2 Inhalte eines BVP-Gesprächs

Zunächst sollte im freien Gespräch die Einstellung des Betroffenen zum Leben, Weiterleben und generell zum Einsatz medizinischer Maßnahmen bei schwerer Erkrankung ermittelt werden – im Sinne einer Klärung des Lebenswillens generell sowie bedingter Behandlungsziele. Diese Ausführungen dienen zum einen als Grundlage für die dann folgende Planung konkreter medizinischer Entscheidungssituationen, zum anderen im späteren Anwendungsfall als Orientierung bei medizinischen Situationen, die nicht explizit von der Vorausverfügung abgedeckt sind.

Sodann sollten Behandlungspräferenzen für mögliche zukünftige medizinische Entscheidungssituationen geklärt und dokumentiert werden, für die sinnvollerweise die gewünschten Behandlungsmaßnahmen vorausgeplant werden können und sollten. Es erscheint dabei sinnvoll drei Szenarien zu besprechen, die sich durch die jeweils verfügbare Information über die Prognose unterscheiden:

Akute medizinische Krisen mit plötzlichem Verlust der Einwilligungsfähigkeit (es ist keine prognostische Information verfügbar)

Akute schwere Erkrankung mit anhaltender Nichteinwilligungsfähigkeit (ein Spektrum unterschiedlicher Verläufe und Ergebnisse ist möglich) und

Chronische Erkrankungen mit anhaltender Nichteinwilligungsfähigkeit (eine dauerhafte kognitive Einschränkung ist sicher)

Schließlich sollte eine Vertrauensperson ermittelt und benannt werden, die als Stellvertreter für künftige medizinische Entscheidungen bevollmächtigt wird.

1.3 Kernaussagen von BVP

»Behandlung im Voraus Planen« (BVP) verfolgt die übergreifende Zielsetzung, dass Patienten auch dann nach ihren individuellen Wünschen behandelt werden können, wenn sie diese nicht mehr äußern können.

Mit der konventionellen Herangehensweise an Patientenverfügungen ist dieses Ziel nicht zu erreichen. Diese sind nach wie vor zu wenig verbreitet, häufig nicht aussagekräftig formuliert und von fragwürdiger Validität, bei Bedarf nicht zur Hand und sie bleiben vom Gesundheitspersonal oft unbeachtet.

Um die übergreifenden Ziele zu erreichen – effektive Wahrnehmung der Patientenautonomie bei Verlust der Einwilligungsfähigkeit -, weisen BVP-Programme wie »beizeiten begleiten®« zwei konstitutive Elemente auf:3

Eine qualifizierte Gesprächsbegleitung im Sinne einer gemeinsamen Entscheidungsfindung und

eine regionale Implementierung

Im Rahmen eines professionell begleiteten Gesprächsprozesses erhalten Menschen Gelegenheit, eigene Präferenzen für mögliche zukünftige medizinische Behandlungen bei Nichteinwilligungsfähigkeit zu entwickeln, mit Angehörigen zu besprechen und auf aussagekräftigen Formularen zu dokumentieren.

Die in den regionalen Versorgungsstrukturen tätigen Personen werden so geschult bzw. informiert, dass die resultierenden Vorausverfügungen regelmäßig verfügbar sind und zuverlässig beachtet werden.

Internationale Studien belegen, dass mittels umfassender BVP-Programme nicht nur die Selbstbestimmung von Patienten in der letzten Lebensphase effektiv berücksichtigt, sondern auch die Qualität der Versorgung für Patienten und ihre Angehörigen verbessert werden kann.

Der neue § 132g SGB V verschafft nun zunächst den stationären Pflegeeinrichtungen Deutschlands und den Einrichtungen der Behindertenhilfe nach § 43 sowie kooperierenden Institutionen und Akteuren die Möglichkeit, ihren Bewohnern eine BVP zu Lasten der Krankenkassen anzubieten.

Tab. 1: Vergleich herkömmlicher Patientenverfügungen mit BVP-Dokumentationen

Herkömmliche Patentenverfügungen BVP nach »beizeiten begleiten®«
Formulare meist nicht validiert Wirksamkeit überprüft
Viele unterschiedliche Formulare erschweren die Akzeptanz Einheitliches Formular wird durch regionale Vernetzung bekannt gemacht
Jede Verfügung steht isoliert für sich Einbindung der Kooperationspartner im regionalen Netzwerk
Oft ohne qualifizierte Beratung Begleitung durch geschultes Personal
Meist nicht verfügbar Klare Regelungen zur Aufbewahrung
Oft unvollständig ausgefüllt Hilfe beim Ausfüllen
Oft schwer interpretierbar Konkrete und klare Aussagen ohne Interpretationsspielraum
Meist Ankreuzverfahren von vorgegebenen Möglichkeiten Grundbaustein ist die im freien Text erfasste Werteorientierung
Maßnahmenbezogen Wertebezogen
Individueller Ansatz Systemischer Ansatz
Oft nicht wirksam, da nicht alle entscheidungsrelevanten Informationen berücksichtigt wurden Umfassende schriftliche (im Dokument selbst) und mündliche (durch den Begleiter) Information über entscheidungsrelevante Aspekte
Keine ärztliche Konsultation Einbindung des Hausarztes ist vorgesehen
Meist keine Aufklärung und Hintergrundinformation Umfassende Hintergrundinformation/Aufklärung
Mitunter rechtlich bedenkliche Aussagen Dokumentation rechtlich abgeklärt
Oft nur für den Sterbeprozess formuliert (Reichweitenbegrenzung) Verfügung gilt sofort für alle formulierten Szenarien
Statische Beschreibung der Entscheidungen Dynamisch abgestufter Prozess bei den Szenarien
Meist kein Notfallszenario (Ärztliche) Notfallanordnung
Unklare Aussagen zu den Szenarien Mehrere Szenarien werden durchgespielt
Akzeptanzproblem bei Rettungsdiensten und Krankenhäusern Bekanntmachung bei den Akteuren durch Schulung und Information
Keine Fallbesprechungen Fallbesprechung im besonderen Fällen vorgeschrieben
Wird nicht mehr aktualisiert Regelmäßige Überprüfung auf Aktualität
In Sprache und Rechtsprechung oft veraltet Regelmäßige Anpassung an neue gesetzliche Gegebenheiten
Keine Weiterentwicklung Weiterentwicklung nach neuesten Erkenntnissen
Keine Ansprechpartner nach Verfassen Ansprechpartner immer vor Ort

________________

1 In der Schmitten J, Nauck F, Marckmann G (2016): Behandlung im Voraus planen/Advanced Care Planning): ein neues Konzept zur Realisierung wirksamer Patientenverfügungen, Z Palliativmed 2016, 17: 177–195, Thieme Verlag, Stuttgart

2 In der Schmitten J, Marckmann G (2015). Das Pilotmodell beizeiten begleiten. In: Coors M, Jox R, in der Schmitten J (2015) (Hrsg. Advanced Care Planning): Von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung. Kohlhammer Verlag, Stuttgart

3 Nauck F, Marckmann G, in der Schmitten J (2018): Behandlung im Voraus Planen – Bedeutung für die Intensivund Notfallmedizin. AINS 01/2018, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, New York

Wie eingangs geschildert: »beizeiten begleiten®« wurde entwickelt als ein Modell für eine regionale Implementierung von Advance Care Planning. ACP (Advance Care Planning) heißt so viel wie »gesundheitliche Vorausplanung«, und in den angloamerikanischen Ländern ist diese Entwicklung seit den 1990er Jahren auf dem Vormarsch.

»Gesundheitliche Vorausplanung« im Sinne von ACP bedeutet mehr als nur eine Empfehlung, möglichst gesund zu leben. Es geht darum, dass jeder Mensch bei klarem Verstand seine persönlich gewollten Möglichkeiten und Grenzen individueller ärztlicher Maßnahmen lebensverlängernder Behandlung im Voraus so genau wie möglich beschreibt.

Der Mediziner Jürgen in der Schmitten hat in dem für den deutschen Sprachbereich richtungsweisenden Buch »Advance Care Planning«4 festgestellt, dass ACP einen Ausweg aus der Situation verspricht, sich einer für den Laien undurchschaubaren Apparate-Medizin ausgeliefert zu fühlen, die Lebensverlängerung um jeden Preis zu betreiben scheint.

ACP kann in der Tat eine neue, klar umrissene Grundvorstellung schaffen, die erhebliche Unterschiede zu traditionellen Patientenverfügungen aufweist. Mit diesem Buch wollen wir eine zusätzliche Hilfestellung anbieten: ACP wendet sich u. a. an jene Patienten und Angehörige, die es nicht länger hinnehmen, dass ihr Wille als Patienten ignoriert wird.

Im Mittelpunkt dieser Patientenverfügung steht die ständige Kommunikation zwischen Patient (so lange er noch entscheidungsfähig ist), Arzt, medizinischem Personal und entsprechend ausgebildeten Gesprächsbegleitern.

Es waren die US-amerikanischen Autoren Teno, Nelson und Nelson5, die in den USA zum ersten Mal den Begriff ACP auch als Bezeichnung für eine andere Art von »Patientenverfügung « verwendeten. Viele amerikanische Wissenschaftler sind ihren Leitlinien gefolgt. Die Schöpfer des US-amerikanischen ACP-Programms haben damit heute eines der im weltweiten Vergleich beispielgebenden und mit Sicherheit ergebnisreichsten Advance-Care-Planning-Projekte vorgelegt, das sich »Respecting Choices« nennt: Es meint, dass getroffene Entscheidungen (die zu jeder Zeit widerrufen und/oder ergänzt werden können) ohne Wenn und Aber respektiert werden müssen.

Es gibt neben diesem Programm in den Vereinigten Staaten noch eine ganze Reihe anderer Initiativen, die sich ähnliche Ziele gesetzt haben, u. a. Five Wishes6, oder Let me decide7. Auch das POLST-Programm8 zählt dazu. Es gibt in den USA jedoch noch keine übergreifende, nationale Strategie, die den Grundgedanken einer neuartigen Vorgehensweise bei Patientenverfügungen für alle Gebiete und Einrichtungen der USA verbindlich macht.

Andere Länder gehen andere Wege. In Australien hat man sich an den Worten des kanadischen Wissenschaftlers Peter A. Singer orientiert , der 1996 formuliert hat, vorausdenkende Behandlungsplanung sei »ein Prozess, bei dem der Patient im Austausch mit Ärzten, Angehörigen und anderen, für ihn wichtigen Menschen konkrete Entscheidungen über seine zukünftige medizinische Behandlung trifft«9. Offizielle Verlautbarungen der australischen Regierung bekunden ein tieferes Verständnis für die Bestrebungen von ACP und zeigen deutlich, dass auch in zentralen Regierungsstellen eine mit professionellen Gesprächsbegleitern geführte Unterhaltung des Patienten und seiner Angehörigen als zentraler Bestandteil der Hilfsmöglichkeiten des ACP betrachtet wird. Zudem gibt es eine Reihe von regionalen Webseiten, die interessierten Personen einen Zugang zur Auffindung von befähigten Gesprächsbegleitern ermöglichen.

In Neuseeland gibt es eine koordinierte nationale Strategie, welche die Bestrebungen des ACP als Prozess definiert, in dem eine künftige medizinische Behandlung am Ende des Lebens überdacht, besprochen und voraus geplant wird. Das Hauptgewicht liegt auch hier auf dem Miteinander-Reden – zu einer Zeit, in welcher der Patient mit Sicherheit noch bewusst und frei entscheiden kann. Allerdings gibt es in Neuseeland bislang keine regionalen Versuche, ACP systematisch in das bestehende Gesundheitssystem zu integrieren.

Die Kanadier verfügen über eine nationale Initiative, die von der »Kanadischen Gesellschaft für Hospiz- Palliativbetreuung verantwortet wird. Hier wird, wie in Neuseeland, der hauptsächliche Anteil auf das Gespräch zwischen Patient, Arzt, Angehörigen wie anderen für den Patienten wichtigen Personen gelegt. Ein wirkliches nationales Anliegen zur systematischen Verbreitung von ACP besteht auch in Kanada nicht. Die Menschen wissen zwar darüber Bescheid, wie und wo sie sich informieren können – eine wirksame Integration in das bestehende Gesundheitssystem besteht nach wie vor nicht.

In Großbritannien liegt das Problem zunächst darin, dass die Briten seit Jahrhunderten ein Teil Europas sind, dies aber in einer Volksabstimmung – als »Brexit« bekannt – konsequent verneint haben. Dies bringt natürlich auch erhebliche Einschränkungen im gesundheitspolitischen Bereich mit sich; zumal sich das englische Gesundheitssystem seit Jahren schon in erheblichen Schwierigkeiten befindet – so sehr, dass englische Patienten schon in französische Kliniken ausweichen müssen, um sich dort behandeln zu lassen. Eine vom National Health Service (NHS) mit initiierte Ausbildung von ACP-Gesprächsbegleitern sowie der Versuch, die systematische Implementierung von ACP auf regionaler Ebene zu installieren, ist allein auf palliativmedizinische Programme beschränkt.

Wesentlich ist, dass jeder Mensch, der Ärzte und Pfleger im Notfall um Hilfe bittet, individuelle Unterstützung erfährt. Dazu müssen wirksame, gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die Beratungs- und Betreuungsangebote ermöglichen – letztlich also gesetzliche Regelungen, die von Zeit zu Zeit einer behutsamen Aktualisierung bedürfen.

Patientenverfügungen sind ein zentraler Bestandteil dieses großen Vorhabens. In der richtigen Weise eingesetzt, können sie Menschen ein Gefühl der Sicherheit in ihrem zu Ende gehenden Leben vermitteln. Vor allem, weil jederzeit die Möglichkeit besteht, einzelne Punkte dieser Verfügung zu ändern oder aufzuheben.

Eine Patientenverfügung wird nicht allein von alten Menschen verfasst, die krank sind oder bereits im Sterben liegen. Oftmals wenden sich Angehörige an uns und versuchen, die Möglichkeiten des antizipierten Sterbens zu erahnen. Das fällt sehr schwer, aber auch hier müssen wir helfen können.

Es ist nicht so, dass die Mitarbeiter des ACP eine vorgefertigte Liste aus der Tasche ziehen können, um in bestimmten Problemfällen sagen zu können: »So jetzt machen wir das und dann das und dann vielleicht noch jenes!« Nein, gerade bei diesen »letzten Dingen« müssen wir alle uns immer wieder fragen: »Ist das, was ich sage und niederschreibe jetzt auch richtig und behält es für den direkt betroffenen Menschen seine individuelle Gültigkeit?«

Bei dem Versuch, andere Menschen bei der Abfassung ihrer Patientenverfügung zu unterstützen, kann und darf es keine Formulierungen geben wie: »Das kriegen wir schon irgendwie hin«, wobei wir die psychische und mentale Situation unseres Gegenübers angemessen einschätzen müssen, die bei jedem Gesprächspartner völlig anders sein kann.

Selbstbestimmung muss auch so weit gehen, dass Lebensqualität und Sterbequalität nicht voneinander getrennt werden können, sondern unabdingbar zusammen gehören.

Die Schwierigkeit beim Abfassen einer Patientenverfügung, gerade bei jüngeren Menschen, ist die, dass sie sozusagen »in der Blüte ihres Lebens« vorab Entscheidungen treffen müssen, die schlicht und einfach »letzte Entscheidungen« sind. Wobei auch hier wieder betont werden muss, dass Verfügungen jederzeit geändert werden können und müssen.

Mit ACP hat ein Prozess des Umdenkens stattgefunden, ein Kulturwandel, auf den im folgenden Kapitel noch einzugehen sein wird. Wesentlich ist, dass wir die Menschen in diesen letzten und entscheidenden Fragen nicht allein lassen, sondern sie im Bedarfsfall bis zum Ende begleiten. Natürlich ist dies ein Prozess, in dem bei der Auswahl des Hausarztes ebenso sorgfältig vorgegangen werden muss wie bei der Entscheidung, auf welche Gegebenheiten alte Menschen in einem Alten- und Pflegeheim treffen, wo sie erwarten, dass sie auch in der Pflege mit qualifizierten und kompetenten Gesprächspartnern, die keine Ärzte sind, sprechen können.

Wir wollen letztlich eine Situation erreichen, in der die Strukturen unseres Gesundheitswesens so verändert werden, dass in jeder nur denkbaren Konstellation reiflich durchdachte Entwicklungen in den Krankenhäusern und ärztlichen Praxen zu einem Punkt geführt haben, wo sie auch deutlich registriert und umgesetzt werden können.

Für uns in der Bundesrepublik Deutschland verspricht der Status quo sehr viel. Sinnvoll ist es, dass die Beratung – die nach medizinischen und pflegerischen Gesichtspunkten erfolgen soll – von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert wird. Damit wäre ein wesentlicher Punkt unserer Arbeit abgedeckt – Fragen über medizinische Abläufe und über die Grenzen ärztlicher Eingriffsmöglichkeiten können dann im Zuge der Beratung erörtert werden.

Diese Entwicklung, so steht zu hoffen, wird dazu führen, dass für die neuen gesetzlichen Regelungen gilt: Die Patientenverfügungen sind letztlich auch neu bewertet worden. Somit werden sie nach und nach ihren Eingang in einen Alltag finden, der naturgemäß auch von Sterben und Tod bestimmt wird. Das uns eindeutig bewusst zu machen, ist eine Absicht dieses Buches. Sterben und Tod sind keine Begriffe, die auf Dauer von uns verdrängt werden können.

________________

4 Coors M, Jox R. & in der Schmitten, J (2015): Advanced Care Planning. Von der Patientenverfügung bis zur gesundheitlichen Vorausplanung. Kohlhammer, Stuttgart , S. 12

5 Teno JM, Nelson, JH & Lynn L. (1994): Advance Care Planning. Priorities for ethical and empirical research. Hastings Cent Rep 24(6): S. 32–36

6 www.fivewishes.org

7 www.letmedecide.ie/index.php/home

8 www.polst.org

9 zit. n. Coors, Jox & in der Schmitten 2015, S. 79

Ein strukturiertes Umdenken in der Altenpflege, ein Paradigmenwechsel, ist dringend erforderlich. Ein Paradigma ist eine grundsätzliche Denkweise, ein einigermaßen zusammenhängendes und von vielen Wissenschaftlern geteiltes Bündel aus theoretischen Leitsätzen, Fragestellungen und Methoden, das längere Zeit in der Wissenschaft überdauert. Die Ersetzung eines Paradigmas durch ein anderes nennt man Paradigmenwechsel.

Das ärztliche Denken wurde lange von den Ärzten geprägt: »Wir wissen (besser), was gut für dich ist. Daher entscheiden wir besser selbst. Bevor wir den Patienten mit Informationen belasten, die er nicht versteht.« In der Altenpflege galt seit jeher das Prinzip der »Pflege um jeden Preis«. In gutem Glauben wird der kranke und pflegebedürftige Mensch gepflegt bis zum unausweichlichen Ende. Natürlich hat die Altenpflege das primäre Ziel, den Kranken und Schwachen eine gute, fachlich korrekte und vollständige Pflege angedeihen zu lassen. Übernommen hat man dieses Leitbild übrigens von der Medizin. Noch vor zehn Jahren war dieses Leitmotiv beispielsweise in den Köpfen vieler Rettungssanitäter so ausgeprägt, dass es für viele nicht nachvollziehbar war, dass Patienten mittels einer Verfügung in gewohnte medizinische Abläufe eingreifen konnten. Gleiches galt für die stationäre Altenpflege, für Altenpflegeschulen, Hospiz-Vereine, Sozialdienste, Institutionen der Ambulanten Pflege und für weite Teile der Ärzteschaft in Kliniken und für Hausärzte.

Hier findet zurzeit ein Umdenken statt. Der eigentliche Angstauslöser ist nicht der Tod, sondern der Prozess des Sterbens – und das Sterben kann erträglicher gestaltet werden – durch sachkundige und professionelle Hilfe im Rahmen von BVP.

Doch es muss abgewogen werden: zwischen dem Recht auf Autonomie des Patienten und der Fürsorgepflicht von Medizinern, dem Pflegepersonal in Kliniken, Hospiz- Vereinen und vor allem in Alten- und Pflegeheimen10.

Es müssen noch wesentlich genauer akzentuierte, gesetzliche Bestimmungen geschaffen werden, verbunden mit dem Recht des Patienten auf einen wesentlich höheren Stellenwert von Autonomie und dem Recht, das Angehörige (Eheleute oder gesetzliche Vertreter) in Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal und spezifisch geschulten Gesprächsbegleitern haben, mit einer nach den Maßstäben des ACP erstellten Patientenverfügung in den medizinischen Ablauf eingreifen zu können – wenn der Patient nicht mehr fähig ist, selbst am Entscheidungsprozess teilzunehmen.

Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass zur Einwilligung fähige, erwachsene Bewohner, die in Alten- und Pflegeheimen leben, für den Fall ihrer zukünftigen Unfähigkeit, durchaus medizinische Entscheidungen im Voraus treffen können.

Wenn wir also über unsere künftige medizinische Versorgung entscheiden, fassen wir in der Regel keine Entschlüsse über bestimmte Therapien oder Behandlungen; vielmehr eher darüber, in welcher Weise sich bestimmte Gesundheitszustände mit unseren ganz individuellen Wertvorstellungen und Prioritäten decken oder nicht.

Fazit

Vorausplanung auch in medizinischen Fragen bedeutet, jene Punkte festzumachen, an denen sich gegenwärtig oder zukünftig eine Änderung der Ziele der gesundheitlichen Versorgung abzeichnet. Das zu entscheiden ist mit Hilfe einer ausgebildeten Begleitperson durchaus möglich.

Die Rechtsunsicherheit, die bei sehr vielen Bewohnern von Pflegeheimen, noch immer vorherrscht (»Ich hab ja keine Ahnung, was daraus noch alles wird!«) muss unter allen Umständen durch eine weitgehende Rechtssicherheit ersetzt werden!

Die bereits bestehenden Rechtsvorschriften müssen stärker beachtet werden, erste Klagen von Angehörigen aufgrund der Missachtung einer Patientenverfügung mit dem Vorwurf der Körperverletzung sind bereits geführt worden. Die Notwendigkeit, in diesen Fragen umzudenken, ist gerade in Pflegeheimen mit Händen zu greifen und vielfach auch schon umgesetzt worden, gerade wenn das Pflegepersonal vor ganz konkreten Problemsituationen steht.

Dorthin wollen wir letztlich gelangen – im Gespräch mit allen Beteiligten, dem kranken Menschen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen, das ihn in Frieden entlässt.

________________

10 Schulze U, Niewohner S (hrsg. im Auftrag der Forschungsgruppe Pflege und Gesundheit) (2014): Selbstbestimmt in der letzten Lebensphase – zwischen Autonomie und Fürsorge. Impulse aus dem Modellprojekt LIMITS Münster

An dieser Stelle wollen wir die Versorgungsplanung kurz aus medizinethischer Sicht betrachten. In fast allen Kulturkreisen finden sich feierliche Selbstverpflichtungen der Ärzte bezüglich ihrer ärztlichen Kunst, des Verhältnisses zu Patienten und zum eigenen Berufsstand. In Europa dürfte der Eid des Hippokrates (ca. 4. Jahrhundert v. Chr.) am bekanntesten sein. Er wurde im Genfer Ärztegelöbnis (1948, 1968, 1983) zeitgemäß neu formuliert. Im europäischen Mittelalter beruhte die medizinische Ethik vor allem auf theologischer Ethik und die ärztliche Ethik wurde insbesondere durch christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit bestimmt.

Definition Medizinethik

Die Medizinethik hat die Moral in der Medizin zum Gegenstand. Sie untersucht das moralische Denken und Verhalten in Bezug auf die Behandlung menschlicher Krankheit und die Förderung menschlicher Gesundheit und fragt nach dem moralisch Gewünschten und Gesollten im Umgang mit menschlicher Krankheit und Gesundheit. Mit der Wirtschaftsethik unterhält die Medizinethik eine enge Beziehung.11

Jede Bereichsethik weist einen empirischen und einen normativen Teil auf. Die empirische Medizinethik untersucht das moralische Denken und Verhalten in Bezug auf die Behandlung menschlicher Krankheit und die Förderung menschlicher Gesundheit. Die normative Medizinethik befasst sich nach Schöne-Seifert12 mit Fragen nach »dem moralisch Gesollten, Erlaubten und Zulässigen speziell im Umgang mit menschlicher Krankheit und Gesundheit«.

In der normativen Medizinethik kann wie folgt gefragt werden:

Wie ist die Autonomie von Patienten zu bewerten und zu schützen?

Wie steht es um die Zulässigkeit fürsorglicher Fremdbestimmung?

Wie soll mit Patientenverfügungen umgegangen werden?

Was ist ein lebenswertes Leben und welchen Wert hat das Leben an sich?

Wie aktiv oder passiv darf man im medizinischen Kontext sein?

Wie weit darf man in die Natur und in den Körper eingreifen?

Mit der Wirtschaftsethik sollte sich die Medizinethik ständig austauschen, schon weil das Gesundheitswesen unter einem hohen ökonomischen Druck leidet. In angrenzenden Bereichsethiken wie der Altersethik und der Sterbeethik wird z. B. die Kommerzialisierung und Instrumentalisierung von Alterspflege und Sterbehilfe erforscht. Im Zentrum der angewandten Ethik kann man die Informationsethik verorten. Einige Fragen der Medizinethik sind angesichts technologischer Innovationen neu zu stellen: Wie ist die Autonomie von Patienten in der Informationsgesellschaft zu schützen? Wie steht es um die Zulässigkeit fürsorglicher Fremdbestimmung im virtuellen Raum? Mit der Entwicklung von medizinischen Apps, elektronischen Assistenzsystemen sowie Operations-, Pflege- und Therapierobotern sieht sich die Medizinethik vor neuen Herausforderungen. Auch die Verschmelzung von Mensch und Maschine in sogenannten Cyborgs wird ein wichtiges Anwendungs- und Forschungsfeld sein. Mediziner und Medizinethiker müssen sich informationstechnisch weiterbilden, Informationsethiker sich im Medizinischen und Medizinethischen qualifizieren. Bei Erwerb und Nutzung der Apps, Geräte und Roboter ergeben sich informationsund wirtschaftsethische Herausforderungen, etwa hinsichtlich des Missbrauchs von Daten und des Ausschlusses von Risikopatienten von Versicherungsleistungen. Nicht zuletzt muss sich die Medizinethik gesellschaftlichen und politischen Diskussionen öffnen, bspw. solchen um die Beschneidung von Kindern oder die Durchführung von Schönheitsoperationen.

Für die Informationen und das Zahlenmaterial im folgenden Abschnitt danke ich PD Dr. Carola Seifart, Ärztin und Medizinethikerin, Geschäftsführung der Ethikkommission der Universität Marburg sowie Hansjakob Fries, der mir Daten aus seiner noch unveröffentlichten Promotionsarbeit (Arbeitstitel: »Gespräche am Lebensende – haben Ärzte eine ethische Verpflichtung sie zu führen?«) zur Verfügung gestellt hat.

Die Autonomie als medizinethisches Paradigma ist aufgrund von als unethisch empfundenen medizinischen Versuchen im vergangenen Jahrhundert in den USA sehr stark in den Vordergrund gerückt und hat in den letzten 30 Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Die heutige Auffassung von Selbstbestimmung ist die der »Entscheidungshoheit in Fragen persönlicher Belange«.13 Insofern bedeutet Patientenautonomie heute »Respekt vor der Autonomie des Patienten«.14 Dies bedeutet, der Patient kann, darf und soll selbst entscheiden, ob eine medizinische Maßnahme durchgeführt oder unterlassen wird.

Wichtig

Nach den heute gängigen Definitionen ist Patientenautonomie zunächst einmal in erster Linie ein Abwehrrecht!

Auch aus medizinethischer Sicht gibt es hier die bereits bekannten Problemstellungen:

Seit den 1960er Jahren sind die (technischen) Möglichkeiten der Medizin sprunghaft gestiegen.

Patienten werden älter und kommen häufig mit komplexen Komorbiditäten ins Krankenhaus, die Behandlungsverläufe sind oft komplikationsreich.

Dies hat zur Folge, dass mögliche Therapien nicht immer den gewünschten Behandlungen entsprechen, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass manchmal keine Aussicht auf relevante Besserung oder hinreichende soziale Teilhabe besteht.

Oft sind die Betroffenen dann nicht mehr in der Lage, ihre Wünsche zu äußern.

Es gibt ein großes Wissens- und Erfahrungsgefälle zwischen Arzt, den Pflegenden und dem Patienten. Der Arzt und die Pflegefachkräfte sind Experten mit Erfahrung, der Patient nimmt die Rolle des Laien ein.

Der Patient ist möglicherweise nicht in der Lage, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, da ihm die notwendigen Informationen fehlen.

Medizin ist nie schwarz oder weiß, sondern grau. In Bezug auf schwere Erkrankungen und Komplikationen sind Patienten oft überaus schwer verlässlich zu informieren, da die Zukunft nicht vorhersehbar ist.

Der ärztliche Eingriff ist, sofern eine entsprechende Indikation vorliegt, durch das ethische Selbstverständnis der Ärzte, den hippokratischen Eid, legitimiert. In der modernen Medizinethik ist die Indikation jedoch nur eine Säule, auf der die Behandlungsentscheidung fußt. Die zweite Säule ist im Sinne der Patientenautonomie der Patientenwille selbst. Somit ist die Basis das »Voluntas aegroti suprema lex«, das Recht, die Behandlung zu verweigern. Dies ist eine der Normsetzungen in der Medizinethik im Verhältnis zwischen Arzt und Patient.

Es gibt sechs Normsetzungen, die im Gesundheitswesen handlungsleitend sind:

1. Autonomie: Der Patient hat das Recht, die Behandlung zu verweigern (Voluntas aegroti suprema lex)

2. Wohltätigkeit: Der Arzt soll im besten Interesse des Patienten handeln (Salus aegroti suprema lex)

3. Schadensvermeidung: Das Prinzip, zuerst einmal nicht zu schaden (Primum non nocere)

4. Gerechtigkeit: Beschäftigung mit der Verteilung knapper Gesundheitsressourcen, und die Entscheidung, wer welche Behandlung bekommt (Gerechtigkeit und Gleichheit)

5. Respekt: Der Patient (und die Person, die den Patienten behandelt) haben das Recht, mit Würde behandelt zu werden

6. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit: Das Konzept der »informierten Einwilligung« (informed consent)

Vor besonderen Herausforderungen stehen die Medizinethiker im Falle der Entscheidungsunfähigkeit:

Über 80 Prozent der Deutschen sterben an chronischen Erkrankungen, an zuvor diagnostizierten Problemen.

Davon versterben die meisten in der medizinischen Versorgung. Um hier Patientenautonomie zu gewährleisten, müsste eine Entscheidung zur Therapiezieländerung getroffen werden.

Ca. 70 Prozent dieser Patienten können aber nicht mehr selbst entscheiden.

Die Stellvertreter kennen die Wünsche der Patienten oft nicht, da nicht über schwere Erkrankung, Sterben und Tod gesprochen wurde.

Das Selbstbestimmungsrecht bleibt auch im Falle der Entscheidungsunfähigkeit erhalten. Das heißt, die letztendlichen Behandlungsentscheidungen müssen den Wünschen des Patienten entsprechen. Bei der Suche nach einer Lösung für die aufgeworfenen Fragestellungen schlägt auch die Medizinethik die Möglichkeit einer verbindlichen Vorausverfügung und schriftlichen Dokumentation des Patientenwillens vor. 1969 wurde zuerst die Möglichkeit einer Patientenverfügung als vorausverfügter Wille beschrieben. Die traditionelle Patientenverfügung ist ein Schriftstück, meist zum Ausschluss lebensverlängernder Maßnahmen unter bestimmten Umständen. 2009 ist in Deutschland auf Drängen der EU das Patientenverfügungsgesetz verabschiedet worden, welches der Patientenverfügung Rechtsverbindlichkeit zusichert.

Doch die Hürden sind hoch:

Die Patientin hat drei volljährige Töchter, Tochter 1 ist als Bevollmächtigte mit Generalvollmacht eingesetzt. Es existiert eine christliche Patientenverfügung. Darin ist festgehalten: »Dagegen wünsche ich, dass lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben, wenn medizinisch eindeutig festgestellt ist, dass ich mich

unabwendbar im Sterbeprozess befinde, bei dem jede lebenserhaltende Therapie das Sterben oder Leiden ohne Aussicht auf Besserung verlängern würde, oder

dass keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht, oder

dass aufgrund von Krankheit oder Unfall ein schwerer Dauerschaden des Gehirns zurückbleibt, oder ...

Die Bevollmächtigte und die behandelnde Hausärztin sind übereinstimmend der Auffassung, dass der Abbruch der künstlichen Ernährung gegenwärtig nicht dem Willen der Betroffenen entspricht. Dem gegenüber vertreten die beiden anderen Töchter die gegenteilige Meinung. Der Streit wurde dem Gericht vorgelegt.

An dieser Stelle möchte ich Sie fragen: Wie würden Sie entscheiden?

Die Festlegungen in der Patientenverfügung scheinen eindeutig und auf diesen Fall exakt zuzutreffen. Es ist keine Besserung in Sicht, es besteht keine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins, und ein schwerer Dauerschaden des Gehirns liegt vor … Das Gericht fällte am 06. Juli 2016 folgenden Beschluss (XII ZB 61/16): »Die schriftliche Äußerung, »keine lebensverlängernden Maßnahmen« zu wünschen, enthält für sich genommen nicht die für eine bindende Patientenverfügung notwendige konkrete Behandlungsentscheidung des Betroffenen. Die insoweit erforderliche Konkretisierung kann aber gegebenenfalls durch die Benennung bestimmter ärztlicher Maßnahmen oder die Bezugnahme auf ausreichend spezifizierte Krankheiten oder Behandlungssituationen erfolgen.«

Das Gericht verwies hier sehr klar auf einen Mangel der traditionellen Patientenverfügung: Die Nichtbeachtung des Konkretisierungsgebotes kann zu einer Unwirksamkeit der Patientenverfügung führen. Diesem Umstand wurde im Konzept »beizeiten begleiten®« versucht abzuhelfen.

4.1 Was Patienten sagen

In einer Studie15 wurden 344 Teilnehmende, teils kurative Patienten, teils palliative Patienten, gebeten, an einer Befragung über die medizinische Versorgung am Lebensende teilzunehmen.

Kurativ (»heilend«) bedeutet hier, dass der behandelnde Arzt von einer vollständigen Genesung der Krankheit ausgeht. Palliativ (»ummantelnd«) bedeutet hier, dass der ärztliche Ansatz nicht auf Heilung ausgerichtet ist, sondern darauf, Symptome zu lindern und nachteilige Folgen zu reduzieren.

Erstes erstaunliches Ergebnis war, dass 146 Personen, palliativ wie kurativ zur Hälfte, nicht an der Befragung teilnehmen wollten. Nur 57 Prozent (196 Personen) waren bereit, über die medizinische Behandlung in ihrer letzten Lebensphase zu reden.

In der Studie wurden den Patienten verschiedene Aussagen vorgelegt, zu denen sie ihre persönliche Zustimmung geben sollten. Die Mehrheit der Patienten stimmte folgenden Aussagen zu (in Klammer die jeweiligen Prozentzahlen für palliativ bzw. kurativ behandelnde Patienten):

»Es ist mir wichtig, selbst über mich zu bestimmen.« (82 Prozent palliativ/79,4 Prozent kurativ)

»Das Recht auf Selbstbestimmung muss auch für den Zeitpunkt des Todes gelten.« (79,5 Prozent palliativ/72,9 Prozent kurativ)

»Ich möchte, dass Entscheidungen darüber, welche medizinische Behandlung ich in meiner letzten Lebensphase erhalte,

… nur durch mich getroffen werden.« (33 Prozent palliativ/34,6 Prozent kurativ)

… von meinem Arzt und meinen Angehörigen gemeinsam getroffen werden.« (23 Prozent palliativ/5,6 Prozent kurativ)

… von mir, meinen Angehörigen und meinem Arzt gemeinsam getroffen werden.« (71,9 Prozent palliativ/72,9 Prozent kurativ)

»Es ist mir wichtig, über die medizinische Versorgung am Lebensende zu sprechen.« (57,7 Prozent palliativ/43,4 Prozent kurativ)

»Ich möchte, dass mich jemand auf das Thema medizinische Versorgung am Lebensende anspricht.« (23,3 Prozent palliativ/32,7 Prozent kurativ)

Diese Diskrepanz zwischen der (theoretischen) Einstellung zu Patientenautonomie und dem Handlungswunsch in der Realität ist beachtlich. Menschen haben offenbar sehr stark den Wunsch nach Autonomie, werden jedoch zögerlich, wenn es darum geht, darüber zu sprechen. Die Hemmschwelle, in einem ausführlichen Gespräch der Möglichkeit des eigenen Todes zu begegnen, ist offenbar sehr groß. Doch wie sieht die Realitätsprüfung bei dieser Probandengruppe aus?

67,6 Prozent der kurativen Patienten haben selten oder nie nach ihrer Diagnose über ihre Wünsche in der letzten Lebensphase gesprochen, und über 45 Prozent der palliativen Patienten.

Eine überwältigende Mehrzahl der Patienten hat offenbar nicht mit ihrem Arzt über die letzte Lebensphase gesprochen, sogar 61,4 Prozent der palliativen Patienten, die im Schnitt noch eine Lebenserwartung von rund einem Jahr hatten.

Eine überwältigende Mehrzahl der Patienten (62,9 der palliativen und 73,8 Prozent der kurativen Patienten) hat keine Patientenverfügung erstellt.

Wie ist dieser Befund zu erklären? Ist es wirklich nur die große Hemmschwelle, sich mit dem eigenen Tod zu befassen? Haben die Patienten kein Vertrauen in eine Patientenverfügung? Scheuen Sie vielleicht die Gesprächssituation? Wollen Sie sich nicht einer paternalistischen Einstellung eines Arztes aussetzen? Glauben Sie, sie hätten sowieso zu wenige Informationen, um solche schwerwiegende Entscheidungen zu treffen? Oder zweifeln Sie an der Ehrlichkeit und der Aufrichtigkeit ihrer Gesprächspartner?

In jedem Falle zeigt die Studie, auf welche Situationen sich ein Gesprächsbegleiter einstellen muss. Eine theoretische Zustimmung zum gemeinsamen Gespräch gibt es schon, aber praktisch eher ein Vermeidungsverhalten. Die Studie zeigt ebenso, wie wichtig es ist, bereits im Vorfeld eines Gesprächs eine Atmosphäre der Offenheit und des Vertrauens zu schaffen. Vielleicht erweist es sich als Vorteil, als Gesprächsbegleiter ein »unbeteiligter Dritter« zu sein, nicht der Arzt oder die engsten Verwandten (auch wenn man diese später nach Möglichkeit in das Gespräch einbinden sollte). Die Studie weist darauf hin, welch große Bedeutung die kommunikativen Fähigkeiten der Gesprächsbegleiter in diesem Kontext haben.

In BVP-System müssen genau diese Gegebenheiten geschaffen werden. Dies wird BVP von der traditionellen Patientenverfügung unterscheiden. Das BVP-System muss:

die Autonomie von Patienten und Angehörigen respektieren,

den Betroffenen fundiert informieren,

komplexe Fragen und Entscheidungen gemeinsam reflektieren,

den Entscheidungsprozess des Einzelnen im Gespräch bestmöglich unterstützen,

Personen des sozialen und medizinischen Umfeldes mit einbeziehen,

die Wünsche des Patienten im Ernstfall klarer erkennen lassen.

Die Ergebnisse der Studie decken sich auch mit meinen praktischen Erfahrungen. Die Gedanken und Interpretationen der Ergebnisse werden sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch ziehen.

Es besteht ein wesentlicher Zusammenhang zwischen BVP und der Kultur der Palliativen Pflege in einer Einrichtung der Altenpflege. Pflegekräfte sollten in der vorausschauenden Vorsorgeplanung geschult werden, eine interdisziplinäre Zusammenarbeit ist Grundvoraussetzung und unverzichtbar. Nachfolgend sind die Erfordernisse und Argumente für eine Implementierung in Bereich der Stationären Altenpflege aufgeführt:

Sechs Punkte sprechen für die Implementierung von BVP in Altenpflegeheimen:

1. die effiziente interdisziplinäre Zusammenarbeit

2. eine verbesserte Kommunikation

3. der Vorteil der Reduktion sinnloser Krankenhauseinweisungen

4. die Möglichkeit, dass Sterben am gewünschten Ort möglich wird

5. die erhöhte Selbstwirksamkeit von Pflegepersonen

6. das Ermöglichen von Wünschen am Lebensende

________________

11 Definition nach Prof. Dr. Oliver Bendel, Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Hochschule für Wirtschaft, Institut für Wirtschaftsinformatik

12 Schöne-Seifert B (2007): Grundlagen der Medizinethik. Kröner Verlag, Stuttgart.

13 Schöne-Seifert 2007

14 1. Prinzip der Prinzipienethik von Beauchamp L, Childress JF (2012): Principles of Biomedical Ethics. 7. Aufl. Oxford University Press, Oxford

15 Seifert et al. 2017

5.1 Ein unzufälliger Vorfall

Günther Schlott

Im Altenpflegeheim »An den Platanen« in Neu-Isenburg fanden wir, mehr durch Zufall im Anfang 2016 Kontakt zur Idee der BVP. Eine Praktikantin war »schuld«: Kirsten Wolf absolvierte im Rahmen ihres Studiums »Case Management« ein Praktikum in unserem Hause. Hauptberuflich war sie zu der Zeit Leiterin des 2016 gegründeten Würdezentrum Frankfurt gUG. Kirsten Wolf stellte uns die Idee von »beizeiten begleiten®« vor und fragte, ob wir Interesse hätten, mehr über dieses Projekt zu erfahren.

Zu dem Zeitpunkt kannten wir den § 132 g SGB V, das Hospiz- und Palliativgesetz, das zum 1. Januar 2017 in Kraft treten sollte. Wir wussten also von den Änderungen im § 132 g, aber dies betraf uns im Grunde nicht. Die Idee war schon lange überfällig, aber wo sollte der Weg hingehen?

Über Kirsten Wolf kamen wir in Kontakt mit dem Würdezentrum gUG, namentlich Boris Knopf, dem zweiten Geschäftsführer des Würdezentrums. Als Gesundheitsnetzwerker sozusagen die Personifizierung von BVP, ein unbelehrbarer Visionär, der ungeachtet ökonomischer Überlegungen an seiner Idee festhält, den Menschen in der letzten Lebensphase das Leben und das Sterben zu erleichtern, ihnen Hilfe anzubieten und mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Ich gebe zu, dass ich dieses achtenswerte Engagement zunächst wohlwollend belächelte. Aber diesem Mann ist es gelungen, den Funken überspringen zu lassen. Plötzlich interessierte mich, was ihn und andere Menschen antreibt, woher sie trotz widriger Umstände die Motivation und Energie nehmen, ein lobenswertes, aber sehr schwieriges Ziel so hartnäckig zu verfolgen.

Kirsten Wolf bot uns die Teilnahme an einem Pilotprojekt an. Wir seien das ideale Haus für so ein Projekt. Wir bekämen die Chance auf eine Pionierarbeit, natürlich zu günstigen Konditionen, teils gesponsert durch das Würdezentrum selbst.

Zu diesem Zeitpunkt war ein Curriculum für zertifizierte Gesprächsbegleiter gerade erarbeitet, die ersten Ausbildungslehrgänge hatten ungeachtet einer noch ausstehenden Rahmenvereinbarung mit dem GKV-Spitzenverband bereits stattgefunden und einige Plätze für den nächsten Kurs waren noch frei.

Kurzum: Insgesamt acht Mitarbeiter des Hauses traten der rund einjährigen Ausbildung zum zertifizierten Gesprächsbegleiter nach dem Konzept »beizeiten begleiten®« bei – nach den Vorlagen der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. in der Schmitten. Dies war der Anfang eines langen, mitunter auch steinigen Weges.

Dieses Buch beschreibt die Implementierung der Versorgungsplanung in der letzten Lebensphase nach § 132g SGB V, wie sie im Haus »An den Platanen« unter der Trägerschaft von Mission Leben im Jahr 2017 umgesetzt wurde. Mission Leben ist ein diakonisches und gemeinnütziges Sozialunternehmen und der Diakonie von Hessen und Nassau zugeordnet. Schon seit über 169 Jahren wendet sich Mission Leben den Menschen zu, die Hilfeleistungen benötigen. Mission Leben engagiert sich in zahlreichen Einrichtungen in der Alten- und Behindertenhilfe, der Wohnungslosenhilfe sowie in den Bereichen Ambulante Dienstleistungen und berufliche Bildung. Schwerpunkt ist die Altenhilfe mit derzeit 16 Einrichtungen in Hessen und Rheinland-Pfalz.

Im Pflegeheim »An den Platanen« werden insgesamt 123 alte, pflege- und hilfebedürftige Menschen in den Pflegegraden 2–5 nach dem Bezugspflegesystem und dem Pflegemodell von Monika Krohwinkel betreut und gepflegt. Mission Leben hat bereits sehr früh die Notwendigkeit der Versorgungsplanung in der letzten Lebensphase im Rahmen eines Palliativ-Konzeptes erkannt und dies als Modellprojekt im Haus »An den Platanen« gefördert und unterstützt.

In den folgenden Abschnitten gibt es viele Berührungspunkte mit den Ergebnissen dieser Arbeit und dem geistigen Eigentum von Mission Leben. Die Erwähnung dieser Informationen geschieht mit freundlicher Genehmigung von Mission Leben, um anderen Mitstreitern auf diesem Weg Hilfe und Rat zu ermöglichen. Die Urheberschaft bestimmter Abschnitte bleibt davon unberührt. Die angesprochenen Passagen werden gekennzeichnet und als geistiges Eigentum von Mission Leben im Text kenntlich gemacht. Die Autoren bedanken sich bei Mission Leben für die Unterstützung an diesem Praxis-Handbuch.

5.2 Wie kommen Gedanken in Köpfe? Voraussetzungen einer Implementierung

Günther Schlott

Unsere Entscheidung, sich an diesem Projekt zu beteiligen, war gefallen, seine Zielrichtung abgeklärt. Zunächst stellte sich die Frage: Wie fangen wir das Ganze überhaupt an? Zunächst musste den Mitarbeitern der Paradigmenwechsel bewusst werden. Der Wunsch nach einer Neuausrichtung, nach einem besonderen Aspekt in der täglichen Arbeit, sollte geweckt werden. Wenn es mir gelänge, die Mitarbeiter für das Thema zu interessieren, würde es nicht lange dauern, bis sich die Idee zu einer Teilnahme an BVP aus der Basis heraus selbst entwickeln würde. So war meine Hoffnung.

5.2.1 »Letzte Hilfe« und »Palliative Praxis«

Kirsten Wolf berichtete mir von sogenannten »Letzte Hilfe«-Vorträgen, die sehr gut angenommen wurden. Dies sind kurze drei- bis vierstündige Schulungen für Mitarbeiter in der Pflege und Sozialdienst, bei denen den Teilnehmern der Umgang mit Sterbenden in der letzten Lebensphase näher gebracht wurde.

Die Teilnehmer lernten Hilfsmittel kennen, um Durst und Schmerzen zu lindern und sich in die Lage der Sterbenden zu versetzen. In diesem Angebot erkannte ich den Ansatz zum ersten Schritt. Wir boten den Mitarbeitern zwei solcher Einführungen an, die mit wenig Zeitaufwand und geringen Kosten verbunden waren und dennoch auf reges Interesse stießen. Gleichzeitig boten wir diese Kurse auch den Angehörigen unserer Bewohner an, was ich auf den regelmäßig stattfindenden Angehörigen-Abenden explizit empfahl. Das Interesse war groß, die Teilnehmer waren begeistert. Ebenso wurde vom PalliativTeam Frankfurt ein Schnuppertag »Palliative Care« veranstaltet, der gossen Anklang fand. Die Multiplikatoren waren gefunden, es wurde von Mitarbeitern und Angehörigen viel und positiv darüber gesprochen.

image

Info – Der »Letzte Hilfe-Kurs«

Der Notarzt und Palliativmediziner Dr. Georg Bollig16 entwickelte 2015 zusammen mit einer internationalen Arbeitsgruppe aus Deutschland, Dänemark und Norwegen auf der Grundlage bereits bestehende Curricula einen »Letzte Hilfe«-Kurs mit vier Unterrichtseinheiten. Der Kurs beinhaltet 4 Module à 45 Minuten zu den Themen

Begleiten und Umsorgen Sterbender (Sterben ist ein Teil des Lebens. Wann beginnt das Sterben? Was passiert beim Sterben? Wie erkennt man Sterben?),

Vorsorgen und Entscheiden (Reaktionen auf begrenzte Lebenszeit; Rechtlicher Rahmen; Medizinische und ethische Entscheidungen; Sicherheit der geteilten Unsicherheit),

Symptome lindern (Herausforderungen rund ums Sterben; Belastende Beschwerden und Symptome; Symptomlinderung durch Medikamente; Nichtmedikamentöse Symptomlinderung; Flüssigkeitsgabe und Ernährung am Lebensende; Mundpflege) und

Abschied nehmen (Rituale; Bestattung und Bestattungsformen; Trauern ist normal; Tod und Trauer in verschiedenen Kulturen).

Ein beachtlicher Teil der Teilnehmer äußerte den Wunsch, mehr zum Thema zu erfahren und einen Vertiefungskurs zu besuchen. Auch hier konnte das Würdezentrum helfen. Es wurde ein Kursus »Palliative Praxis« angeboten, der die Thematik nun in einem einwöchigen Lehrgang intensiver behandelte. Dieser Kurs wurde in den internen Fortbildungsplan aufgenommen. Die Mitarbeiter des Hauses nahmen gern teil, wieder mit sehr positiver Resonanz.

Die Themen »Letzte Hilfe« und »Palliative Praxis« waren nun im Haus bekannt und positiv aufgenommen worden. Zwei Mitarbeiter äußerten sogar den Wunsch, noch tiefer einzusteigen und brachten die einjährige Ausbildung zur Palliativ-Fachkraft17 ins Spiel. Dieses Ansinnen fand natürlich sofort meine Zustimmung. Ich fand es sehr gut und für das Projekt förderlich, zwei Palliativ-Fachkräfte in den eigenen Reihen zu haben, noch dazu auf deren eigenen Vorschlag hin. Der Anstoß zu einer Änderung in der Palliativ-Kultur des Hauses war gegeben. Ich musste nur dafür sorgen, dass die Mitarbeiter auch darüber sprachen und sich austauschten.

Der nächste logische Schritt war die Anschaffung eines Pflegewagens, der vielfältige Hilfsmittel und Literatur zur palliativen Versorgung in der letzten Lebensphase enthielt und allen interessierten Mitarbeitern – nach einer Schulung – zur Verfügung stand.

Zusammenfassend boten wir unseren Mitarbeitern (und zum Teil auch Angehörigen) folgende, aufeinander aufbauende, bzw. sich ergänzende Bausteine zur Entwicklung einer Palliativ-Kultur (image Abb. 4).

5.2.2 Flankierende Maßnahmen

In der Folge baten wir Boris Knopf vom PalliativTeam Frankfurt, bei einer Mitarbeiter- Versammlung einen Vortrag über ACP (Advanced Care Planning) zu halten und die derzeitigen Erfolge der deutschsprachigen Variante BVP (»Behandlung im Voraus Planen«) aufzuzeigen.

So konnte das Interesse an der palliativen Praxis vertieft werden und die Mitarbeiter kamen in Kontakt mit den Thema BVP. Zeitnah wurde der Vortrag auch auf einem Angehörigen-Abend wiederholt. Das PalliativTeam Frankfurt wurde nun ebenso wie das Würdezentrum Frankfurt fester Partner des Hauses in der palliativen Versorgung, ein Kooperationsabkommen mit dem SAPV-Team wurde geschlossen. Mitarbeiter und Angehörige waren nun mehrmals in Kontakt mit dem Thema gekommen, es war nichts Neues und Unbekanntes mehr. Der Grundstein für das weitere Vorgehen war gelegt.

5.2.3 Externe Vernetzung

Parallel zu dieser Entwicklung nahmen wir Kontakt zur Leiterin des »Fachbereich Soziales« der Stadt Neu-Isenburg auf. Es gelang uns, das Projekt als Gewinn für die soziale Infrastruktur darzustellen und über den Fachbereich die Sozialarbeiter der Stadt zu erreichen. Auch diese Mitarbeiter der Stadt, die in der Quartiersarbeit (Betreutes Wohnen) schon mehrmals auf die Probleme beim Thema Patientenverfügung gestoßen waren, konnten schnell und unkompliziert gewonnen werden. Wir luden alle Sozialarbeiter der Stadt zu den oben beschriebenen (natürlich kostenfreien) Schulungen ein. Die Resonanz war erstaunlich gut.

In Neu-Isenburg und im Kreis Offenbach gibt es ein »Forum Stationäre Pflege«, ein »Forum für psychische Erkrankungen im Alter« sowie ein Netzwerkforum der Stadt selbst, das sich mit dem Thema »Lebensqualität im Alter in Neu-Isenburg« beschäftigt. Auf allen Foren wurde das Thema »BVP nach § 132g / Patientenverfügungen« platziert. Alle drei Foren zeigten Interesse und das Bemühen endete in Vorträgen über das Thema durch das Würdezentrum oder in Vorträgen seitens des Hauses »An den Platanen« über das laufende Projekt.

5.2.4 Das Mandat: Es gibt keinen König ohne Volk

Auf der nächsten Mitarbeiter-Versammlung sprachen wir das Thema BVP in Form der Erstellung von Patientenverfügungen erneut an und baten um Abstimmung, ob wir uns dieses Themas annehmen sollten. Die Resonanz war sehr positiv und man erteilte uns die Zustimmung. Somit hatte ich das Mandat der Mitarbeiterschaft, mich um das Thema zu kümmern.

image

Tipp

Nehmen Sie Ihre Mitarbeiter mit! Ohne Mandat der Mitarbeiterschaft werden Sie keine fundamentalen Umwälzungen im Betriebsklima und in der Kultur der Einrichtung vorantreiben können. Davon bin ich aufgrund meiner Erfahrungen, auch mit kläglich gescheiterten Projekten, überzeugt. Eine grundsätzliche Zustimmung der Mitarbeiter muss vorliegen, die inhaltliche und organisatorische Feinarbeit wird dann vom BVP-Team erledigt.

Wenn die Führungskraft mit ihren Gedanken und Plänen keine Akzeptanz findet, kann ein Projekt sicherlich trotzdem durchgeführt werden. Aber ich wage zu behaupten, dass ein BVP-Projekt aufgrund der lang andauernden, nachhaltig geplanten Anlage im Sande versickert, wenn an der Basis kein Interesse zur Auseinandersetzung damit besteht. Es gibt keinen König ohne Volk …

5.2.5 BVP ist Leitungssache

Es war klar, dass der bisher erarbeitete Schwung des Projektes sehr schnell an Fahrt verlieren würde, wenn nur einzelne Mitarbeiter auf eine lang andauernde Schulung geschickt würden. Bevor die Ausbildung beendet wäre, hätte der Großteil der Mitarbeiter die »Initialzündung« wieder vergessen. Eine Arbeitsgruppe »AG BVP« musste gegründet werden. Also besprachen wir uns in der Abteilungsleiter-Runde, wer an dieser Arbeitsgruppe teilnehmen sollte. Die Auswahl fiel nicht schwer. Aufgrund unserer Vorarbeit hatte einige Mitarbeiter bereits Interesse angemeldet.

Insofern stand der Teilnehmerkreis fest:

Einrichtungsleitung (als Motivator, Moderator und Kämpfer an vorderster Front)

Pflegedienstleitung (als Vorbild für alle Mitarbeiter in der Pflege und Multiplikator)

Drei Mitarbeiter aus dem Sozialen Dienst (die wohl am ehesten mit dem Thema betraut werden würden)

Drei Mitarbeiter aus der Pflege (die die Sorgen und Nöte der Bewohner wohl am besten verstanden)

Sieben Teilnehmer kamen auf diese Weise freiwillig und mit Affinität zum Thema schnell zusammen. Aber ich wollte aus Gründen der Nachhaltigkeit möglichst viele Mitarbeiter begeistern. 10 Prozent der Mitarbeiterschaft waren mein Ziel. Da wir rund 100 Mitarbeiter haben, war es mein Ziel, zehn Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe zu haben. Bitte folgen Sie mir nicht in dieser Zielvorstellung! Sie ist unrealistisch, viel zu teuer und, wie Sie sehen, mit grundlegenden Fehlern behaftet. Wir konnten eine Mitarbeiterin überzeugen, an diesem Projekt teilzunehmen. Sie willigte zwar ein, ihr waren die Bedeutung und die Dauer der Ausbildung aber nicht wirklich bewusst. Sie begann die Ausbildung, führte erste Gespräche, und begriff, welchen Aufwand es bedeutete, sich dem Projekt zu widmen. Der Spagat zwischen täglicher Arbeitsroutine, dem Eingespanntsein in die Dienstzeiten und den Bedürfnissen des Privatlebens, die eigene Familie und Selbstorganisation wurde zu groß.

Diese Mitarbeiterin war die erste, die mitten in der Ausbildung unser Projekt wieder verließ. Der Fehler lag bei uns: Man kann zu einem solchen Projekt keine Mitarbeiter »zwangsrekrutieren«. Dies ist vielleicht ein etwas zu starkes Wort für unsere Bemühungen um ein ausgewogenes Verhältnis in der Arbeitsgruppe. Aber es trifft den Kern der Sache.

Theoretisch wusste ich vorher von den Gefahren eines solchen Vorgehens, aber ich habe die Bedenken meinen Zielen untergeordnet. Positiv zu bewerten ist trotzdem die Tatsache, dass diese Mitarbeiterin weiterhin von der Sinnhaftigkeit unseres Projektes überzeugt ist und als »Botschafterin in Sachen BVP« unsere Sache unterstützt. Hier wird die Bedeutung der genau geplanten Vorarbeit sichtbar.

Hat man bei der Gründung der Arbeitsgruppe zu wenige Interessenten, so hat man die Vorarbeit vernachlässigt, die Idee hat die Basis nicht vollständig erreicht, oder aber ganz bitter: Die Idee passt leider nicht zu den Personen, die sie später umsetzen müssen. Das wäre das Ende des Projektes schon vor dem Beginn. Auch eine etwas kleinere, aber dafür durch Eigenmotivation geprägte Arbeitsgruppe wäre schon ein Erfolg. In diesem Fall waren wir einfach zu ehrgeizig.

5.3 Schon wieder eine Arbeitsgruppe? Aufbau und Nachhaltigkeit

Werfen Sie einen Blick auf die Organisationskultur in Ihrer Einrichtung:

Wie organisieren Sie Arbeitsprozesse?

Gibt es bereits andere Arbeitsgruppen in ihrer Einrichtung? Vielleicht eine AG Hygiene, eine AG Renovierung, eine AG Dienstplan, eine AG zur Vereinfachung der Pflegedokumentation, eine AG Betriebsausflug oder was auch immer.

Arbeitsgruppen erfordern, um nachhaltig und erfolgreich zu sein, ein hohes Maß an Ausdauer und Disziplin. Dies stellt die größte Hürde in einem Dienstleistungsbetrieb dar, in dem Aufgaben und Probleme sich täglich ändern können, Prioritäten wöchentlich neu gesetzt werden und es sehr schwierig wird, eine Motivation über einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten.

Unterschätzen Sie bitte nicht den inneren Widerstand der Mitarbeiter gegen eine Arbeitsgruppe! Eine Arbeitsgruppe bedeutet für die Mitarbeiter immer ein Herauslösen aus der lieb gewonnen Alltagsroutine. Zunächst ist dies spannend und die Kollegen sind neugierig, sehen sicherlich auch die Möglichkeit, dazu zu lernen und sich zu profilieren. Mit der Zeit kann die AG aber zur lästigen Pflicht werden, erfordert Vor- und Nachbereitung, zusätzliche Aufgaben und Engagement.

Dies ist in der Regel der Moment, in dem das Interesse nachlässt, die Motivation sinkt und die ersten Mitglieder nicht mehr voll bei der Sache sind.

Die Arbeitsgruppe sollte nicht in einer strengen Arbeitsatmosphäre stattfinden, sondern eher ein kreativer Think-Tank sein. Die Mitglieder müssen sich einbringen können, immer wieder Selbstbestätigung erfahren und ihre Ideen verwirklicht sehen. Als Moderator einer Arbeitsgruppe besteht Ihre Hauptaufgabe nicht in der Arbeit an den Inhalten, sondern in der Bereitstellung der Rahmenbedingungen und den strukturellen Aspekten.

Da BVP Leitungssache ist, muss die Leitung in jeder Arbeitsgruppensitzung anwesend sein. Die Einrichtungsleitung muss aber nicht zwangsläufig die Leitung der AG übernehmen, dies könnte sogar kontraproduktiv sein. Die Rolle eines zurückhaltenden, reflektierenden Moderators wäre geeigneter.

Die Arbeitsgruppe ist ein Team auf Augenhöhe. Stellung in der Organisation oder Profession dürfen keine Rolle spielen. Jedoch darf es keine schweigenden Mitglieder geben, jeder muss zu Wort kommen und seine Erfahrungen in die Arbeitsgruppe einbringen können.

Aufgabe der Einrichtungsleitung ist es, zu schweigen, zuzuhören, finanzielle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, Ressourcen, gleich welcher Art, zur Verfügung zu stellen, zu ermuntern, zu motivieren, zu reflektieren und die Ergebnisse zusammenzufassen. Alles andere sollte idealerweise von den Teilnehmern kommen: Ideen generieren, Problemstellungen erkennen, Lösungen erarbeiten und umsetzen.

Im Haus »An den Platanen« einigten wir uns angesichts der Dauer der Ausbildung auf einen Rhythmus in den Sitzungen der AG von sechs Wochen. Die Sitzungen fanden nicht im Büro der Einrichtungsleitung statt, sondern in einem Schulungsraum, der Abgeschiedenheit vom Alltagsgeschäft und etwas Neutralität gewährleistet. Jede Sitzung sollte nicht länger als 90 Minuten dauern, um größtmögliche Konzentration und Effektivität zu gewährleisten.

Die Struktur der Sitzungen wurde festgelegt:

Rückschau auf die vergangene Periode (Moderator)

Bericht über das Erreichte (Mitglieder)

Aktuellen Status Quo zusammen fassen (Moderator)

Problembereiche erkennen, Schwierigkeiten benennen (Mitglieder)

Lösungsvorschläge erarbeiten (Mitglieder)

Aufgaben abstimmen und bis zur nächsten Sitzung verteilen (Moderator)

Zunächst hielten wir eine konstituierende Sitzung ab, besprachen oben angeführte Punkte und legten das Prozedere und die Protokollfrage fest. In den folgenden Sitzungen befassten wir uns mit der Ausbildung, dem Workshop beim Würdezentrum Frankfurt. Wir besprachen die Ausbildungsinhalte, welche Schwierigkeiten uns aufgefallen waren, welche Schlussfolgerung wir daraus zogen und wie wir weiter damit umgehen sollten.

________________

16 Bollig G, Kuklau N (2015): Der Letzte Hilfe-Kurs – ein Angebot zur Verbesserung der allgemeinen ambulanten Palliativversorgung durch Information und Befähigung von Bürgerinnen und Bürgern; Z Palliativmed 16/2015: 210-216

17 Palliativ-Fachkräfte können seit Mitte 2018 zusätzlich zum Personalschlüssel separat mit den Kostenträgern verhandelt werden!

6.1 Die Qual der Wahl: Organisation der Versorgungsplanung

Jede Einrichtung, die an einem BVP-Projekt teilnehmen möchte, sollte sich einige grundlegende Fragen gleich zu Anfang stellen:

In welchem Rahmen soll das Projekt aufgezogen werden?

Was ist die Zielrichtung des Projektes?

Wird das Projekt auf eine Einrichtung, auf mehrere Einrichtungen oder gar als Geschäftsmodell als externer Partner der Einrichtungen ausgerichtet?

image

Info – Die Refinanzierung

Die »Rahmenvereinbarung nach § 132g Abs. 3 SGB V über Inhalte und Anforderungen der gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase vom 13.12.2017« der GKV gibt folgende Rahmenbedingungen für die refinanzierbare Versorgungsplanung vor:

§ 7 Organisation der gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase

(2) (…) Zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgungsplanung sind folgende Varianten möglich:

a) Durchführung durch das qualifizierte eigene Personal

b) Durchführung durch das qualifizierte Personal des Einrichtungsträgers im Rahmen von Kooperationen mehrerer vollstationärer Einrichtungen (…) Dies ist auch trägerübergreifend möglich. (…)

c) Durchführung in Kooperation mit externen regionalen Anbietern. (…)

Jeder BVP-Interessierte kann also unter den drei, bzw. vier obigen Varianten wählen:

1. Durchführung durch das qualifizierte eigene Personal: Ist man ein Einzelkämpfer in Sachen BVP nur für seine eigene Einrichtung, bleibt nur Variante 1. Beim Refinanzierungsrahmen von 1/8-Stelle pro 50 Leistungsberechtigten (nur Versicherte der GKV, keine privat Versicherten, Anteil i. d. R. 10 Prozent) sollte überlegt werden, wie viele Mitstreiter sich auf eine Ausbildung zum qualifizierten Gesprächsbegleiter einlassen sollten. Die Ausbildungskosten betragen als reine Kursgebühren bei verschiedenen Anbietern derzeit ca. 2500 €, hinzukommen die Ausfallkosten für die Kurstage und die Gesprächsbegleitungen, die Ausbildung dauert je nach Engagement sechs bis zwölf Monate. Kann man den Ausfall des Mitarbeiters intern durch eine andere Verteilung der Aufgaben kompensieren oder wird eine zusätzliche GfB-Stelle nötig sein? Nimmt nur ein Mitarbeiter die Ausbildung auf, weil man z. B. nur 100 Leistungsberechtigte für die Refinanzierung in der Einrichtung hat, so besteht die Gefahr, dass das ganze Projekt sich im Nichts auflöst, sobald dieser Mitarbeiter die Einrichtung wechselt oder langfristig erkrankt. Der Nachfolger wäre erst nach einem knappen halben Jahr einsatzbereit, je nachdem, wann die Qualifizierungsmaßnahmen angeboten werden (gegenwärtig in Frankfurt etwa zweimal im Jahr)! Dies wäre ein herber Schlag für die Motivation zu BVP. Es ist fraglich, ob dann noch die Lust besteht, das ganze Projekt nochmals von vorne aufzuziehen. Also sollte man sicherheitshalber etwas größere Brötchen backen, auch wenn dies mit den doppelten Kosten verbunden ist. Die beiden Kollegen könnten trotzdem gut zusammenarbeiten, auch wenn nur eine Stelle refinanzierbar ist. Hier wäre eine Zusammenarbeit der Mitarbeiter idealerweise im Bereich Sozialer Dienst denkbar (siehe unten: Ausbildungsvoraussetzungen beachten!). Man könnte bei einem Wegfall eines Teammitglieds den Stellenanteil auf das andere Mitglied übertragen und ein weiteres Teammitglied in die Ausbildung schicken.

2. Durchführung durch das qualifizierte Personal des Einrichtungsträgers im Rahmen von Kooperationen mehrerer vollstationärer Einrichtungen: Ist die Einrichtung unter dem Dach eines Trägers mit mehreren Einrichtungen, so fällt die Entscheidung schon leichter: Man sollte mit der Geschäftsführung abklären, ob man das Projekt nicht nur für die eigene Einrichtung plant, sondern

ob man ein regional tätiges BVP-Team anvisiert und alle Stellenanteile aller räumlich nahe beieinander liegenden Einrichtungen auf das regionale Team konzentriert. Entsprechend groß wäre das BVP-Team. Unter Berücksichtigung des »natürlichen Schwundes« würde ich hier für sechs Teammitglieder plädieren. (Beispielrechung: Bei Mission Leben – Im Alter gGmbH wären dies vier Einrichtungen im Kreis Offenbach mit rund 400 Anspruchsberechtigen = 1 VK-Stelle = zwei bis vier Stellenanteile zu je 50 Prozent oder auch 25 Prozent. In Zahlen bei diesem Beispiel wären rund 45.000 € Personalkosten und rund 6.750 € Overheadkosten refinanzierbar. Dem stünden Ausbildungskosten von rund 6 x 2500 € = 15.000 € gegenüber). Die Stellenanteile, d. h. das BVP-Team, muss nicht unbedingt in einer Einrichtung konzentriert werden, sondern kann auch dezentral in allen Einrichtungen arbeiten und sich nur zu den Arbeitsgruppen treffen;

ob man ein überregional tätiges BVP-Team plant, komplett von anderen Aufgaben nur für BVP freigestellt mit Zusammenfassung aller Stellenanteile aller beim Träger verfügbaren Leistungsberechtigten. Dies funktioniert natürlich nur bei großen Trägern mit genügend Einrichtungen in Fahrtnähe. Bei denkbaren 2000 Leistungsberechtigten wären dies fünf VK-Stellen mit einem refinanzierungsfähigen Entgelt von rund 250.000 € pro Jahr. Dem stünden Ausbildungskosten von rund 25.000 € gegenüber. Sie sehen, je größer das Team angelegt wird, desto günstiger wird der Invest.

Sollte die Anzahl der Leistungsberechtigten der Einrichtungen beim eigenen Träger für solche Überlegungen nicht ausreichen, so ist auch eine Kooperation mit einem anderen BVP-interessierten Träger denkbar. Zum Beispiel zwei kirchliche Träger schließen eine Kooperationsvereinbarung und legen die refinanzierungsfähigen Stellenanteile zusammen. Man kann gemeinsam an dem Projekt arbeiten oder aber ein Träger entschließt sich für Möglichkeit drei.

3. Durchführung in Kooperation mit externen regionalen Anbietern: Ist ein Träger an der Verfügbarkeit einer Versorgungsplanung interessiert, möchte aber nicht selbst die Mühen eines BVP-Projektes auf sich nehmen, so kann er eine Kooperationsvereinbarung mit einem externen BVP-Team schließen. Er überträgt die Stellenanteile an den externen Partner, der nun handlungsfähiger und professioneller agieren kann. Der Träger kann den Service anbieten, vermarkten und im QM-System verankern, die Gesprächsbegleiter kommen aber als bestellte Dienstleister von außen. Dieses Geschäftsmodell wäre auch eine Chance für Hospizvereine, Ethiknetzwerke, soziale Beratungsstellen oder sonstige Institutionen, für BVP tätig zu werden, auch wenn sie aufgrund der internen Struktur nicht genug oder gar keine Leistungsberechtigten vorweisen kann. Ich denke, hier ist bewusst eine Marktöffnung für neue Unternehmensmodelle im Sozialen Markt geschaffen worden.

Die Rahmenvereinbarung bietet mehr Möglichkeiten, sich zu engagieren, als Sie auf den ersten Blick vielleicht annehmen. Ich glaube, dass dies auch bewusst so erfolgte, um den Gedanken der Versorgungsplanung schneller und weiter voranzutreiben und die Umsetzungsprozesse zu erleichtern.

6.2 Es geht ums Geld: Die Refinanzierung

In der Präambel der Vereinbarung nach § 132g Abs. 3 SGB V über Inhalte und Anforderungen der gesundheitlichen Versorgungsplanung wird ganz offen angesprochen, dass – mit Ausnahme von einigen Projekten (z. B. »beizeiten begleiten®«) – in Deutschland bislang kaum Erfahrungen mit der gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase vorliegen.

Aufgrund der Neueinführung dieser Leistungen fehlen Erfahrungswerte, insbesondere mit Blick auf die Inanspruchnahme, die Anzahl der durchgeführten Beratungen je Beratungsprozess sowie der Dauer der Gespräche je Beratungsprozess. Deshalb erfolgt in einer Übergangszeit eine Datenerhebung in den vollstationären Pflegeeinrichtungen, um auf dieser Grundlage die vereinbarte Vergütungssystematik zu überprüfen und weiterzuentwickeln.

image

Info – Bis Ende 2021 wird pauschal vergütet

Für eine Übergangszeit bis 31.12.2021 erfolgt zunächst eine pauschale Vergütung. Diese gilt bis zum Abschluss einer neuen Vergütungsvereinbarung fort. Abrechnungsfähig sind die im Zusammenhang mit der Beratung entstehenden Personalkosten sowie die Sach-, Overhead- und Regiekosten der Einrichtung.

Es erfolgt eine Datenerhebung bis 31. Dezember 2020 über Struktur, Dauer, Anzahl und zeitlichem Aufwand bei den Beratungsgesprächen, um die Höhe der pauschalen Vergütung zu überprüfen. Bis dahin gibt sich der GKV-Spitzenverband recht vorsichtig und zugeschnürt. Die Kalkulation der pauschalen Vergütung erfolgt unter der Annahme, dass pro 50 Versicherte in der Einrichtung ein Anteil von 1/8 Stelle erforderlich ist. Für Sach-, Overhead- und Regiekosten wird ein Anteil von 15 Prozent der Personalkosten (Arbeitgeberbrutto) berücksichtigt. Dabei tragen die Krankenkassen nur die notwendigen Kosten, vergüten also nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit.

Dies bedeutet, die veranschlagten Löhne müssen dem Tariflohn eines durchschnittlichen Gesprächsbegleiters entsprechen. Gehen wir davon aus, dass eine Stelle für einen BVP-Mitstreiter je nach beruflicher Vorqualifikation mit 2.700–3.300 € Arbeitnehmerbrutto dotiert ist und rechnen wir mit einem Arbeitgeberanteil von 26,5 Prozent, so ergeben sich zwischen 42.000 und 50.000 € AG-Brutto-Personalkosten pro Jahr. Zusätzlich rechnen wir mit 15 Prozent Overheadkosten, also zwischen 6.300 und 7.500 € pro Jahr. Bei einer durchschnittlichen Einrichtung mit 100 Leistungsberechtigten (= eine 25 Prozent-Stelle) ergibt dies eine Spanne von ca. 1.000–1.200 € für die monatliche pauschale Refinanzierung. Wie sich die Kostenträger in der konkreten Verhandlungssituation verhalten werden, ist bis dato unbekannt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist meines Wissens noch keine Verhandlung nach § 132g abgeschlossen worden. An den Ausbildungskosten beteiligt sich der GKV leider nicht.

Wir erachten die pauschale Vergütung mit einer 1/8-Stelle für 50 Leistungsberechtigte als eindeutig zu gering. Nach unseren Erfahrungen müsste die Vergütung doppelt so hoch liegen, um die tatsächlichen Kosten zu refinanzieren und eine effektive BVP-Arbeit in einer Einrichtung zu gewährleisten. Denn es geht nicht nur um die Anzahl und die Dauer der Gespräche, sondern in erster Linie um die beständige interne und externe Netzwerkarbeit.

Einen BVP-Mitstreiter mit zehn Stunden die Woche einzustellen, halte ich für undurchführbar. Eine 25 Prozent-Stelle wäre entweder ein »Aufstocker«, also ein Mitarbeiter, der in BVP die Chance sieht, seine Teilzeitstelle um 25 Prozent zu erhöhen. Oder aber es besteht die Chance zur »Umwidmung«. Dies hieße, der Mitarbeiter bleibt insgesamt bei seinem bisherigen Stellenanteil, reduziert aber seine ursprüngliche Aufgabe und widmet sich dafür 25 Prozent der Versorgungsplanung. Dann könnte man sich einen Tag pro Woche dem Thema BVP widmen. Durchführbar. Montag bis Donnerstag Pflegefachkraft oder Sozialdienstmitarbeiter, Freitag dann BVP-Beauftragter der Einrichtung. Oder jeden Tag zwei Stunden? Unrealistisch. Dies könnte dazu führen, dass das Thema BVP in der Alltagsroutine untergeht, der BVP-Stellenanteil könnte sozusagen vom Hauptinhalt der Stelle aufgefressen werden. Das übliche Schicksal der Sonderbeauftragungen innerhalb einer Anstellung.

Die Lösung scheint in diesem Dilemma tatsächlich im regionalen Zusammenschluss von mehreren Einrichtungen zu liegen, die dann einen hauptberuflichen BVP-Beauftragten mit einer 50 Prozent oder 75 Prozent-Stelle beschäftigen können, der mit Koordination und Gesprächsbegleitung befasst ist.

6.3 Qualifikation der Mitarbeiter

Ihre zweite Überlegung sollte den verfügbaren Personalressourcen gelten. Nicht jeder Mitarbeiter, der sich in einem BVP-Projekt engagieren möchte und eine große Affinität zum Thema hat, bietet auch die Möglichkeit zur Refinanzierung. Die Rahmenvereinbarung setzt hier klare Regeln.

image

Info – Anforderungen an die Qualifikation der BVP-Beauftragten

Abgeschlossene Berufsausbildung als Examinierter Fachpfleger, d. h. Gesundheits- und Krankenpfleger, Altenpfleger, Kinderkrankenpfleger, Heilerziehungspfleger, Heilpädagoge, Erzieher (oder vergleichbare Ausbildung)

Einschlägiger Studienabschluss der Gesundheits- und Pflegewissenschaften, Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften (Pädagoge, Heilpädagoge, Sozialarbeiter, Sozialpädagoge, Psychologe, Theologe)

3-jährige einschlägige Berufserfahrung mit mindestens einer 50 Prozent- Stelle innerhalb der letzten acht Jahre

Sollte der zum Thema affine und sehr engagierte Mitarbeiter in der Alltagsbegleitung, der aber nicht obige Ausbildungsvoraussetzungen erfüllt, in das BVP-Team aufgenommen werden und der Betrieb die Ausbildungskosten tragen, obwohl keine Refinanzierung möglich ist? Diese Frage muss sich jeder Betrieb im Hinblick auf seine Größe und seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit selbst beantworten.

Wichtig Vorsicht vor Demotivation!

Interessierte und affine Mitarbeiter von der Teilnahme am BVP-Projekt auszuschließen, ist der Motivation der anderen Mitarbeiter nicht unbedingt zuträglich. Das BVP-Projekt trägt sich in erster Linie durch die Nachhaltigkeit und die Zustimmung der Mitarbeiter im eigenen Betrieb.

Wenn einige der am meisten begeisterten Mitarbeiter nicht teilnehmen dürfen, weil der Betrieb die zusätzlichen Ausbildungskosten scheut, so ist dies keine gute Werbung für die Unternehmenskultur, die Sie mit diesem Projekt ja verändern wollen.

Andererseits: In unserem Hause haben wir auch Mitglieder (eine Pflegehilfskraft und eine Alltagsbegleiterin) in das BVP-Team aufgenommen. Von den Ausbildungsvoraussetzungen für die Refinanzierbarkeit wussten wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Die Folge war eine herbe Enttäuschung für diese Mitarbeiterinnen, als bekannt wurde, dass sie wahrscheinlich nicht ihre Stellenanteile aufstocken und künftig als Gesprächsbegleiter arbeiten können.

Die Pflegehilfskraft verließ das Projekt, für die Alltagsbegleiterin mit Potenzial (sie hat eine Ausbildung als Lehrerin) war dies der Anstoß, ein schon länger geplantes berufsbegleitendes Studium zu beginnen. Zumindest für diese Mitarbeiterin wurde die Ausbildung zur zertifizierten Gesprächsbegleiterin zur Grundlage für Überlegungen über ihren künftigen beruflichen Werdegang. Ich bin sicher, diese Mitarbeiterin wird in absehbarer Zeit zu einer tragenden Rolle im BVP-Team werden und dadurch auch den Sprung von der Alltagsbegleiterin zur Sozialarbeiterin schaffen wird.

6.4 Personale Kompetenzen

BVP-Gesprächsbegleiter sollen, befolgt man den Wortlaut der Rahmenvereinbarung, nicht nur über bestimmte fachliche Voraussetzungen hinsichtlich der Berufsausbildung und Berufserfahrung verfügen, sondern zudem noch bestimmte personale Kompetenzen und Beratungshaltungen aufweisen.

image

Info – Personale Kompetenzen

§ 12, (3) Die personale Kompetenz zeichnet sich durch eine Gesprächsführungskompetenz und Beratungshaltung aus. Sie ist:

kooperativ

kommunikativ

selbstreflektierend

verantwortungsbewusst

respektvoll und

empathisch

Hier ist die Rahmenvereinbarung vielleicht einen Schritt zu weit gegangen. Selbstverständlich wird eine Einrichtungsleitung nicht versuchen, ausgerechnet jene Mitarbeiter ins BVP-Team zu werben, die introvertiert, maulfaul und unreflektiert durchs Leben gehen. Ich bin sicher, dass jene Mitarbeiter auch das geringste Interesse an einer Mitarbeit im BVP-Projekt haben. Diese Gefahr ist also durch natürliche Selektion schon weitgehend gebannt. Ebenso ist ein Mitarbeiter, den die Jahre in der Pflege mit einem Rückenleiden beschenkt haben, und der nun nach einer weniger anstrengenden Tätigkeit sucht, nicht automatisch für die anspruchsvolle Aufgabe der Gesprächsbegleitung geeignet. Aber bitte halten Sie auch nicht nach den rhetorischen Überfliegern in ihrem Betrieb Ausschau. Geben Sie Ihren Mitarbeitern eine Chance.

In der Ausbildung selbst wird sehr viel über Kommunikation gesprochen und gelehrt. Dies ist einer der Schwerpunkte des Kurses. Selbst wenn sich ein Mitarbeiter später entschließt, die Ausbildung doch nicht abzuschließen, geht er dennoch mit einem guten Gefühl und bleibt ein wertvoller Mitarbeiter, der um einige Erfahrungen reicher ist.

Weiterbildungsbemühungen müssen immer auf die Basis ausgerichtet sein. Die Mitarbeiter müssen gleichwertig behandelt werden und sich auf einer Stufe stehend verstehen können. BVP sehe ich nicht als Spezialausbildung einzelner Leistungsträger, sondern als Teil der Unternehmenskultur, die die ganze Einrichtung »infizieren« muss, um erfolgreich und nachhaltig zu sein.

6.5 Das Curriculum

Die Rahmenvereinbarung hat sich sehr intensiv mit dem Curriculum befasst (image Tab. 2).

Tab. 2: Das Curriculum lt. Rahmenvereinbarung

Die Weiterbildung gliedert sich in zwei Teile.

Sie umfasst im ersten Teil mindestens 48 Unterrichtseinheiten theoretischen Unterricht (mit Diskussionen, Rollenspielen, Intensivtraining in Kleingruppen etc.) und 12 UE bestehend aus

1. zwei Beratungsprozessen mit insgesamt vier Gesprächen (mit Supervision),

2. einschließlich Vor- und Nachbereitung und Dokumentation durch den Berater.

Lehrgangsinhalte der 48 Unterrichtseinheiten (rechte Spalte) theoretischer Natur sind:

(Die Inhalte in der linken Spalte sind von Kurs zu Kurs verschieden und stellen einen Vorschlag dar)

Einführung in die gesundheitliche Versorgungsplanung (4 Unterrichtseinheiten)

Einführung ACP: Entwicklung und aktueller internationaler Stand

Konzept der gesundheitlichen Vorsorgeplanung

Definition der Zielgruppen der gesundheitlichen Vorsorgeplanung

Kulturentwicklung in Stationären Einrichtungen

Auftrag Rolle und Grenzen des Gesprächsbegleiters

Bedeutung von BVP für die Betroffenen und deren Angehörigen

Erörterung Medizinischpflegerischer Sachverhalte (8 Unterrichtseinheiten)

Ausmaß und Intensität sowie Möglichkeiten und Grenzen:

Herz-Lungen-Wiederbelebung

Künstliche Ernährung

Möglichkeiten der Beatmung

Formen der Dialyse

Palliative Versorgung

Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen (8 Unterrichtseinheiten)

Juristische Rahmenbedingungen

Die Vorsorgevollmacht

Die Betreuungsverfügung

Die Patientenverfügung

Möglichkeiten der Versorgung am Lebensende

Bewertung gesundheitlicher Situationen

Behandlungsstrategien

Konsequenzen und Grenzen individueller Wertvorstellung

Umgang mit Zweifeln an der Einwilligungsfähigkeit

Kommunikationsstrategien im Beratungsprozess (16 Unterrichtseinheiten)

Erörterung von Gesprächstechniken

Altersgerechte Kommunikation

Erkennen von Suggestion und unbewusster Manipulation im Beratungsgespräch

Bezugssysteme analysieren

Non-direktive Kommunikation

Barrierefreie Kommunikation

Willensäußerungen bei kognitiver Einschränkung

Moderationstechniken

Dokumentation und Vernetzung (4 Unterrichtseinheiten)

Anforderungen an eine rechtssichere Dokumentation

Ziel und Zweck von Notfalldokumenten

Vorgaben der Dokumentenechtheit

Änderungsprozesse der Vorsorgeplanung

Netzwerkarbeit intern und extern

Öffentlichkeitsarbeit und Ehrenamtseinbindung

Partnerschaften und Kooperationsmöglichkeiten

Kleingruppentraining (8 Unterrichtseinheiten)

Einübung von Gesprächssituation

Der Wertebogen/Die Standortbestimmung

Der Notfallbogen/Die Akutsituation

Stat. Behandlung im Krankenhaus bei Einwilligungsfähigkeit unklarer Dauer

Behandlung bei dauerhafter Einwilligungsunfähigkeit

Praxisteil 1 (12 Unterrichtseinheiten in maximal 3 Monaten)

Supervision in der Real-Situation

Durchführung von drei Beratungsprozessen mit mindestens 6 Gesprächen unter Fachbegleitung in der Einrichtung

Feedback und Reflexion der Gesprächssituationen

Erarbeitung von individualisierten Gesprächsstrategien

Praxisteil 2: Alleinverantwortlich geplante, vorbereitete durchgeführte und dokumentierte Beratungsprozesse

Sieben Beratungsprozesse zur gesundheitlichen Versorgungsplanung, alleinverantwortlich durchgeführt

Teilnahme an Coaching-Gesprächen, Plenararbeit oder organisiertem Austausch zwischen den Weiterbildungsteilnehmern durch den Anbieter

Wichtig Die Praxisteile

Nach Abschluss des ersten Praxisteils sind die Gesprächsbegleiter berechtigt, refinanzierbare Leistungen zu Lasten der Krankenkassen zu erbringen. Der zweite Praxisteil dient der Sammlung weiterer Praxiserfahrung und umfasst mindestens sieben Beratungsprozesse, die alleinverantwortlich innerhalb eines Jahres durchgeführt werden und während dieser Phase durch den Weiterbildungsanbieter begleitet werden.

Kein Mitarbeiter muss Angst haben, dass er die Anforderungen nicht bewältigen kann. Zudem ist keine »Abschlussprüfung« vorgesehen. Die Teilnahme allein ist entscheidend.

Bei dem einen oder anderen Teilnehmer wird der Trainer aufgrund der Supervisionen vielleicht zu der Auffassung gelangen, dass der Trainingseffekt noch unzureichend ist und weitere Übungsgespräche empfehlen oder fordern, bevor er das Zertifikat ausstellt. Das ist sinnvoll und dient dem Ziel, die Gesprächsbegleiter nicht zu früh auf die Menschheit los zu lassen. Aber auch das ist für jeden Teilnehmer zu verkraften.

Allerdings gibt es derzeit bei der DiV-BVP konkrete Überlegungen, wie nicht nur die Qualität in der Ausbildung, sondern auch die persönliche Eignung der Absolventen zum Gesprächsbegleiter gewährleistet werden kann. Geplant ist hier eine Einschätzung der Ausbilder nach jedem der drei Lehrgangsblöcke in Form eines Ampelsystems. Bei einer Einschätzung »Rot« wird nach jedem Block ein Gespräch mit dem künftigen Gesprächsbegleiter geführt, auf Mängel hingewiesen und entsprechende Unterstützung angeboten. Sollte sich nach den drei Blöcken herausstellen, dass der Gesprächsbegleiter nicht die qualitativen Anforderungen der DiV-BVP erfüllen kann, so erhält er zwar eine Teilnahmebescheinigung für den Kurs, aber kein Zertifikat als Gesprächsbegleiter.

Im Curriculum gibt es nichts, was völlig unbekannt wäre, außer vielleicht dem Terminus »Barrierefreie Kommunikation« (image Kap. 6.6). Ich denke, man sollte die Anforderungen an die Mitglieder im BVP-Team nicht allzu hoch ansetzen. Für mich ist BVP Basisarbeit, nicht Expertentum. Es geht um einen Paradigmenwechsel, eine Änderung in der Unternehmenskultur, und diese geht niemals ohne die breite Unterstützung und das Engagement der Basis.

6.6 Strategien zur barrierefreien Kommunikation

Dieter Mank

In der Rahmenvereinbarung nach § 132g zur gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase heißt es:

image

Info – § 6 Barrierefreie Ausgestaltung der gesundheitlichen Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase

(1) Die gesundheitliche Versorgungsplanung muss den individuellen Bedarfen einer barrierefreien Kommunikation Rechnung tragen.

(2) Vor einem Beratungsprozess sind die behinderungsspezifischen Bedarfe für barrierefreie Kommunikation individuell und in Bezug auf die medizinisch- pflegerischen Themen der gesundheitlichen Versorgungsplanung zu identifizieren. (…) Insbesondere bei der Begleitung von Leistungsberechtigten mit Schwerstmehrfachbehinderungen oder kognitiven Einschränkungen können Übersetzungsleistungen durch Vertrauenspersonen der Leistungsberechtigten/des Leistungsberechtigten erforderlich sein. (…)

(3) Die Heterogenität des Personenkreises erfordert ein Spektrum unterschiedlicher barrierefreier Kommunikationsformen. Barrierefreie Kommunikation umfasst den Einsatz von »leichter Sprache«, Gebärden, unterstützter Kommunikation, grafischen Symbolen oder anderen Hilfsmitteln.

(4) Weiterhin sind die Ergebnisse des Beratungsprozesses für den jeweiligen Leistungsberechtigten barrierefrei zu dokumentieren.

Wie sind die Vorgaben der Rahmenvereinbarung im konkreten Gesprächsprozess und dessen Dokumentation umzusetzen? Mit einer endgültigen Lösung können wir leider nicht aufwarten, da die in unserem Projekt »beizeiten begleiten®« verwendeten Dokumente nicht barrierefrei ausgestaltet sind.18 Dennoch haben wir erste Anhaltspunkte für Sie zusammengestellt.

Definition Barrierefreiheit

Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen definiert den Begriff Barrierefreiheit wie folgt:

»Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.«

Im Klartext: In dem Gesetzestext steht im Grunde nichts anderes, als dass bauliche Anlagen, Systeme der Informationsverarbeitung und Einrichtungen zur Kommunikation für behinderte Menschen problemlos zugänglich sein müssen.

»Barrierefreie Kommunikation« befasst sich also mit dem uneingeschränkten Zugang zu Computern und Internet. Ein Bereich, der gerade für behinderte Menschen von zentraler Wichtigkeit sein kann, ist der Einsatz von unterstützenden Computertechnologien. Dazu gehören u. a. »Augensteuerung« und die Verwendung einer »Mundmaus« – die also mit dem Mund gesteuert werden kann. Bei entsprechenden physischen Einschränkungen kann auf diese Weise die Nutzung des Computers ermöglicht werden. Auf die gleiche Weise wird der Screenreader verwendet. Das ist nichts anderes als eine Software, die blinden und sehbehinderten Menschen eine alternative Möglichkeit bietet, die anstelle der üblichen Textwiedergabe genutzt werden kann.

Die Wiedergabe bezieht alle grafischen Elemente wie Fenster, Menüs oder Symbole mit ein. Es gibt ein externes Gerät, das an den PC angeschlossen wird. Die Sprache wird unabhängig von dem benutzten Computer erzeugt. Dieser hat dann nur noch die Aufgabe, das Ausgabemedium mit den auszulesenden Informationen zu versorgen.

Zum anderen – es gibt noch die wesentlich unkompliziertere Möglichkeit, mit einem Programm, das viele Screenreader längst integriert haben – die synthetische Sprache herzustellen und sodann über PC-Lautsprecher oder Kopfhörer wiederzugeben. Es ist also längst nicht mehr so, dass die synthetische Sprache von einer Maschine erzeugt wird und nicht immer angenehm und harmonisch zu hören ist.

Screenreader ermöglichen auf diese Weise auch das Lesen und Bedienen von Webseiten. Bei visuellen Inhalten wie Grafiken, Animationen und Videos werden deren Alternativtexte vorgelesen. Ein Text, der von einem Bildschirmlesegerät zutreffend wiedergegeben werden soll, muss klar strukturiert sein und sprachlich korrekt formuliert sein – zusätzliche Audiodateien werden somit überflüssig. Akustische Sprachsignale wiederum werden als Textdateien – wie Untertitel oder Texttafeln – ausgegeben.

Hinter diesen Möglichkeiten steht die Stiftung barrierefrei kommunizieren! Sie wurde 2005 von der Technischen Jugendfreizeit (tifbg) und der Cisco Systems GmbH, Siemens AG errichtet. Aus der Idee heraus hat sich der Gedanke entwickelt, die barrierefreien und chancengleiche Kommunikation in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen und dort nachhaltig zu verankern. Das Projekt wurde bereits 2007 durch die Initiative »Deutschland – Land der Ideen« unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten ausgezeichnet.

Die oftmals als Selbstverständlichkeit betrachtete hohe Medienkompetenz und die gestiegenen Fähigkeiten zur Verarbeitung von Informationen – Fähigkeiten, die man »eigentlich« auch von Menschen mit Behinderung erwartet – stehen hier im Vordergrund. Die Stiftung will die entsprechenden Handlungsstrategien umsetzen und das vielfältige Engagement auf den öffentlichen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt zivilgesellschaftlichen Rahmen konzentrieren. Mit diesen Maßnahmen soll der Inklusionsgedanke gefördert werden.

In Kreisen von Sozialarbeitern und Altenpflegern gilt Inklusion zwar als allgemein akzeptierter und verstandener Begriff. Allzu leicht gerät so in Vergessenheit, dass viele Menschen nicht so ganz genau wissen, was eigentlich dahinter steckt. Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch, egal wie er aussieht, ob er Englisch oder Schweizerdeutsch spricht, ganz natürlich dazu gehört. Er – oder sie – kann dabei sein – überall. Beim Wohnen, am Arbeitsplatz oder in der Freizeit, im Job, in der Familie, in Schulen – und in der Altenpflege. Das ist der Inklusionsgedanke.

Inklusion im Bereich der Altenpflege ist heute ein fester Bestandteil des Handelns. So kann eine Strategie zur barrierefreien Kommunikation auf dem mit Sicherheit recht steinigen Weg aussehen – die Kommunikation für Menschen mit kognitiven Einschränkungen und Sprachschwierigkeiten allmählich zu einer Ebene zu erweitern, in der sie teilhaben können an den rasanten Entwicklungen. Aber diese Gruppe sind keineswegs sogenannte »geistig Behinderte« mit sprachlichen und sozialen Defiziten. Sie bilden jedoch eine besonders heterogene Gruppe.

Auch Menschen im Alter können wegen einer schleichenden Demenz oder schlicht wegen ihres hohen Alters mit der zunehmenden Digitalisierung im Alltag und dem Umgang mit moderner Technik relativ wenig anfangen. Viele Menschen, die die deutsche Sprache nur rudimentär beherrschen, strecken vor komplex vermittelten Sachverhalten zumeist die Waffen.

An dieser Stelle versucht die Stiftung Barrierefrei kommunizieren! zu greifen. Sie arbeitet überwiegend praxisorientiert. Aber nicht nur Menschen mit kognitiven Einschränkungen wie Lernschwierigkeiten sind auf eine leichte Sprache angewiesen. Vorteile davon können auch andere Gruppen ziehen. Dazu gehören u. a.:

alte Menschen

Menschen mit demenziellen Erkrankungen

Menschen, die unzureichend Deutsch sprechen

Menschen mit legasthenischen Schwächen

Der Umstand, dass die Stiftung Barrierefrei kommunizieren! im Ansatz praxisorientiert ist, erlaubt es, dass die entsprechenden Strategien sich auf die folgenden Verfahrensweisen konzentrieren – zum einen stellt das Testen unterschiedlicher Technologien einen wesentlichen Punkt dar. Das Potenzial, Menschen mit Behinderung in ihrer Kommunikation zu unterstützen, muss ausgeschöpft werden. Grundvoraussetzung dazu ist allerdings ein reger Austausch mit Technik- und Medienexperten, Programmierern und Pädagogen, sowie natürlich mit den Betroffenen19.

Dieses Wissen stellt die Grundlage einer ausführlichen Beratung dar. Eine Übersicht über die vorhandenen Techniken gibt es in einer ganzen Reihe von Broschüren, Nachschlagewerken und Datenbanken20. Zudem werden ständig Weiterbildungen und Workshops abgehalten, um z. B. Pädagogen oder Arbeitgeber über barrierefreie Kommunikation zu unterrichten.

Letztlich ist es das große Ziel dieser Stiftung, die Gesellschaft für dieses Thema zu gewinnen. Wichtigstes Handlungsfeld hierbei ist die Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Ein ständiger Dialog muss hier geführt werden mit öffentlichen und staatlichen Institutionen, Unternehmen in Wirtschaft und im Dienstleistungsbereich, Vereinen und Verbänden, Parteien und Nichtregierungsorganisationen sowie betroffenen Bürgern und ihren Angehörigen.21

Zur weiteren Förderung gesellschaftlichen Einverständnisses wurde ein »Erlebnisparcours « geschaffen22, in dem verschiedene unterstützende Technologien sozusagen spielerisch getestet werden können. So werden Berührungsängste gegenüber Themen wie »Behinderung« und neuer und neuester Technik abgebaut! Dieser »Parcours « ist weitgehend mobil und kann somit regelmäßig an anderen Örtlichkeiten aufgebaut und ausgestellt werden23.

Zudem ist die Stiftung barrierefrei kommunizieren! mehr oder weniger regelmäßig auf Veranstaltungen anzutreffen, um ihre Anliegen zu vertreten.24

Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass in diesem Abschnitt wirklich sämtliche Fragen nach den Strategien, die sich aus dieser Thematik ergeben, beantwortet werden konnten. So sind zum Beispiel barrierefreie Websites vielleicht nur unzureichend angesprochen worden, obwohl diese ja immer häufiger eine zentrale Rolle spielen. Die Zugänglichkeit (Accessibility) zu digitalen Inhalten wird immer wichtiger.

Eine barrierefreie Website ist Ausdruck von Kompetenz in Sachen Kommunikation und Technik. Sie – die Website – setzt ein deutliches Signal für die Ernsthaftigkeit, mit der man sich um Kunden kümmern will und bietet zugleich nahezu unendliche Möglichkeiten für die verschiedensten Sinneseinschränkungen. Und, wie bereits erwähnt, die gewonnene Barrierefreiheit können wirklich alle Internetuser nutzen. Von motorisch behinderten Nutzern, über alte Menschen bis hin zu Seh- und Hörbehinderten können wirklich alle darüber verfügen.

Eine solche Website muss für alle diese Menschen vier Kriterien erfüllen:

1. Sie muss konkret wahrgenommen werden können.

2. Sie muss leicht zu bedienen sein.

3. Sie muss verständlich sein.

4. Sie muss robust sein.

Das sind Grundprinzipien des barrierefreien Zugangs, die eine einfache und klare Struktur gewährleisten.

Da es nur wenige Menschen gibt, die nur über einen Sinn verfügen, werden die Infos der Website dergestalt angeboten, dass sie in jedem Fall über zwei unterschiedliche Sinne wahrgenommen werden können. So werden akustische Signale visualisiert. Text muss als Sprache angeboten werden – und umgekehrt.

6.6.1 Barrierefreie Kommunikation für Menschen mit kognitiven Einschränkungen

Günther Schlott

Alterseingeschränkte Menschen hören schwer, sehen schlecht, haben oft eine eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit und eine geringe Aufmerksamkeitsspanne. Viele ältere Menschen leiden unter einer Demenz, sie sind kognitiv eingeschränkt. Für all diese Menschen sind die Digitalisierung im Alltag und der Umgang mit moderner Technik eher Hürden denn Hilfe.

Die größte Hürde für diese Menschen sind die kommunikativen Barrieren, die das Erkennen und Verstehen von Inhalten behindern. Das sind schwer verständliche Texte mit vielen Fremdwörtern, Vorträge und Filme, komplexe Formulare und Fragebögen, Gebrauchsanleitungen oder Programme, etwa am Computer. Menschen mit kognitiven Einschränkungen haben oft auch Einschränkungen in ihrem Abstraktions- und Erinnerungsvermögen. Sie benötigen spezielle Kommunikationsmedien oder Medien im Sinne von Design für alle, nämlich einfach und allen verständlich. Ein Beispiel sind Gebrauchsanleitungen, die mit vielen Abbildungen, einfachen Erklärungen und lesbarer Schrift allen eine verständliche Hilfe sind.

Aufgrund der meist geringeren kognitiven Ressourcen sollten Sie bei den Gesprächsbegleitungen darauf achten, dass Sie keine unnötigen Barrieren aufbauen. Wenn nur eine bestimmte Konzentrationsspanne zur Verfügung steht, sollten Sie diese nicht mit zu kleinen Texten, schwieriger Sprache (Fremdworten) und abstrakten Vorstellungen zusätzlich belasten. Barrieren beim Verstehen erschweren die Kommunikation.

6.6.2 Leichte Sprache

Günther Schlott

Menschen mit altersbedingten Einschränkungen brauchen eine leichte Sprache.

Es profitieren:

Alte Menschen

Menschen mit einer Krankheit wie Demenz

Menschen, die schlecht Deutsch sprechen

Menschen mit Leseschwäche

Texte in leichter Sprache haben einen einfachen Satzbau. Jeder Satz hat nur eine Aussage.

Es werden keine Querverweise oder Fußnoten verwendet.

________________

18 Die DiV-BVP erarbeitet derzeit neue Formulare, die auch diesen Anforderungen genügen, die dann aber nicht mehr unter »beizeiten begleiten®« firmieren.

19 http://barrierefrei-kommunizieren.de/front_content.php?idcat=90

20 http://www.bildungsserver.de/Barrierefreie-Kommunikation-und-neue-Medien-4781.html

21 http://barrierefrei-kommunizieren.de/front_content.php?idcat=9

22 http://www.barrierefrei-kommunizieren.de/front_content.php?idcat468

23 http://stiftung-barrierefrei-kommunizieren.de/front_content.php?idcat=29

24 http://www.berlinerstiftungswoche.eu/adressen?projekt_stiftung=B

Wenden wir uns nun von den theoretischen Überlegungen ab und der eigentlichen Arbeit in unserer BVP-Gruppe zu. Am Anfang stand die Einsicht, dass man BVP nicht im Hau-Ruck-Modus in unserem Hause implementieren könne. Wir mussten die einzelnen Schritte festlegen und dokumentieren.

Deshalb erarbeiteten wir einen »Prozessleitfaden«, in dem wir unsere Überlegungen dokumentierten und verbindlich festlegten. Dieser Leitfaden sollte uns daran erinnern, was zu tun war und wo wir aktuell stünden. Unser Prozessleitfaden gilt zunächst nur für unser Haus. Das QM unseres Trägers »Mission Leben« hat bereits Bedenken angemeldet, ob unser Leitfaden tauglich ist, wenn dieser auch auf andere Einrichtungen übertragen werden sollte. Der Leitfaden müsste dann in einigen Punkten überarbeitet werden, um den größten gemeinsamen Nenner zu finden. Ich bitte dies bei der Lektüre zu berücksichtigen, denn es könnte auch für Ihre (regionale) Implementierung von Vorteil sein.

7.1 Der rote Faden: Erarbeitung eines Prozessleitfadens

Ein schriftlicher Prozessleitfaden gibt Auskunft über die Gedanken und Absichten, die man sich bei der Planung der BVP-Implementierung vorab gemacht hat. Dies reicht von der Beschreibung der Ausgangslage über das geplante Vorgehen bis hin zur Zielvalidation.

Im Nachfolgenden möchte ich Ihnen unseren Prozessleitfaden detailliert vorstellen und auch mit nachträglichen kritischen Gedanken kommentieren. Ich würde mich freuen, wenn Sie hieraus nützliche Gedanken für ihre eigene Arbeitsgruppe ziehen könnten.

Die Ausgangslage:

Die überwiegende Mehrzahl der Bewohner in stationären Pflegeheimen verfügt nicht über eine valide und rechtssichere Patientenverfügung.

Die vorhandenen Patientenverfügungen sind häufig nicht aussagekräftig formuliert, oder sind bei Bedarf oft nicht zur Hand und bleiben vom medizinischen Personal aus den genannten Gründen nicht selten unbeachtet.

Die primären Ziele:

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842690257
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Altenpflege Medizin Pflege Pflegemanagement & -planung

Autoren

  • Günther Schlott (Autor:in)

  • Dieter Mank (Autor:in)

Günther Schlott ist Einrichtungsleiter im Altenpflegeheim »An den Platanen« in Neu-Isenburg. Dieter Mank ist freiberuflicher Journalist und Autor.
Zurück

Titel: Versorgungsplanung in der letzten Lebensphase