Zusammenfassung
Dieses Buch greift gängige komplementäre Verfahren auf, erklärt sie und gibt einen strukturierten Handlungsplan für Pflegekräfte vor, er in die Maßnahmenplanung aufgenommen werden kann.
Jede Intervention wird anhand eines konkreten Fallbeispiels aus der Praxis erläutert und kompakt dargestellt.
Außerdem im Buch: Eine Schmerzvisite, die an viele Dokumentationssysteme anpassbar ist – mit Assessments zur Einschätzung der Schmerzstärke!
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Natürliche Maßnahmen, sanft und ohne Nebenwirkungen, sind in der Schmerztherapie ein nicht zu unterschätzender Faktor, wenn es um den Erhalt der Lebensqualität und Lebensfreude der Betroffenen geht. Wenn Schmerzmedikamente nicht ausreichen oder die Nebenwirkungen von Medikamenten die Behandlung erschweren, besteht mit nicht-medikamentösen Interventionen eine gute Möglichkeit, Schmerzen zu lindern.
Um erfolgreich nicht-medikamentös zu intervenieren, müssen begleitende und unterstützende Personen jedoch über das Wissen des Schmerzgeschehens an sich, über die alternativen Behandlungsmöglichkeiten und die Bandbreite der schmerzverstärkenden Aspekte verfügen. Alles in allem sind also ein umfassender Blick sowie weitreichende Kenntnisse vonnöten. Sind diese vorhanden, können Schmerzen vermieden und somit kann viel Leid gelindert werden.
Daher wendet sich dieses Buch an Sie: an Pflegekräfte, die Menschen pflegen, die unter Schmerzen leiden. Ihren Blick gilt es zu schärfen und Ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Sie mit alternativen, nicht-medikamentösen Methoden effektiv tätig werden können – noch dazu sind viele Interventionen einfach und leicht umzusetzen.
Das Buch ist aus der Sicht der Altenpflege geschrieben und bezieht sich daher meist auf den alten Menschen, der im Pflegeheim lebt. Das bedeutet aber nicht, dass die präsentierten Methoden nur bei Menschen angewendet werden können, die ein höheres Lebensalter aufweisen und in einem Pflegeheim leben.
Selbstverständlich können die nicht-medikamentösen Interventionen bei Schmerzen bei Menschen jeden Alters angewandt werden. Auch in der ambulanten Pflege, denn die Methoden sind überall und jederzeit anwendbar.
Zur guten Nachvollziehbarkeit und um die Materie sinnvoll aufzubauen, gliedert sich das Buch in drei Hauptkapitel:
1. Schmerz
2. nicht-medikamentöse Interventionen zur Linderung von Schmerzen
3. nicht-medikamentöse Interventionen zur Behandlung von begleit- und schmerzverstärkenden Symptomen
Das Kapitel 1 gibt Ihnen einige grundlegende Informationen über die Physiologie und Pathologie des Schmerzes, über Arten und Unterteilungen von Schmerzen sowie diagnostische Methoden zur Schmerzerkennung. Wir schildern auch kurz, wie im interdisziplinären Team mit Schmerzen umgegangen werden kann und wie die Ergebnisse der Schmerztherapie bewertet werden können. Bereits hier finden Sie viele anschauliche Beispiele und Kurzdefinitionen, die Ihnen das Nachvollziehen ganz einfach machen.
Das Kapitel 2 widmet sich dem Thema der Schmerzbehandlung fernab von medikamentösen oder operativen Eingriffen. Unterschiedliche schmerzlindernde Methoden werden gezeigt und erläutert: Wir beschreiben physikalische Maßnahmen, Aromapflege, Wickel und Auflagen, Reflexzonen, Transkutane elektrische Nerven Stimulation (TENS), Akupressur und zentrale Anwendungen zur Linderung von Schmerzen. Auch in diesem Abschnitt unterstützen wir Sie mit prägnanten Beispielen, übersichtlichen Tabellen und knappen aber relevanten Informationen.
Das dritte Kapitel zeigt Ihnen Maßnahmen, die Sie zur Linderung von begleitenden und schmerzfördernden Symptomen anwenden können. Denn häufig »kommt der Schmerz nicht allein« … Begleitende Symptome wie Übelkeit, Appetit- und Schlaflosigkeit gehen mit ihm einher. Umso wichtiger ist Ihr Blick auf den ganzen betroffenen Menschen, damit nachhaltig und effektiv geholfen werden kann.
1.1 Wie entstehen Schmerzen?
Wie funktioniert Schmerz? Wir haben Ihnen ein Grundlagenwissen über den Schmerz zusammengestellt. Denn nur mit einem guten Basiswissen über die Funktionsweise des Schmerzes können Sie auch erkennen, wie wirksam nicht-medikamentöse Interventionen sind.
Definition Schmerz
Die International Association for the Study of Pain (ISAP) definiert den Schmerz wie folgt: »Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- oder Gefühlserlebnis, das mit einer aktuellen oder potenziellen Gewebeschädigung einhergeht, oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.«*
* Classification of Chronic Pain. Second Edition, Part III: Pain Terms, A Current List with Definitions and Notes on Usage. 209–214.
Bevor wir Schmerzen empfinden, findet in unserem Körper in wenigen Millisekunden ein komplexer Reizverarbeitungsprozess statt. Wie bei jedem Reiz brauchen wir zunächst einen Verursacher. Dieser Verursacher muss entweder chemischer (Säure, Lauge etc.), thermischer (Hitze, Kälte) oder mechanischer Natur (Traumata) sein. Diese drei Reizarten werden von den sogenannten Nozizeptoren wahrgenommen.
Nozizeptoren
Nozizeptoren sind freie Nervenfasern mit der speziellen Aufgabe, Gefahrenreize aufzunehmen. Nozizeptoren sind afferente (zum Zentralnervensystem hin aufsteigende) Nervenbahnen. Nozizeptoren finden sich in sehr hoher Dichte in der Haut, in Gelenkkapseln und Organen. Es gibt jedoch auch Organe wie die Leber und das Gehirn, die keine Nozizeptoren haben.
Den Prozess der Reizverarbeitung (Aufnahme, Weiterleitung, Wahrnehmung, Bewertung im Gehirn) nennt man Nozizeption. Der Schmerz entsteht also letztlich im Gehirn.
Nerven bzw. das Nervensystem fungieren als Vermittler von Informationen innerhalb des Körpers. Damit Informationen weitergeleitet werden können, benötigen sie ein Speichermedium – die Nozizeptoren. Innerhalb des Nervensystems werden Informationen in elektrischen Impulsen gespeichert – ähnlich wie bei einem Computer. Es gibt drei Arten von Nozizeptoren:
1. mechanosensible,
2. thermosensible und
3. polymodale.
Info
Mechanosensible Nozizeptoren reagieren auf Druck von außen, z. B. Quetschungen oder Verletzungen (Traumen). Thermosensible Nozizeptoren reagieren auf Wärme oder Kälte. Polymodale Nozizeptoren reagieren sowohl auf thermische Reize als auch auf mechanische und chemische Reize.
Die Nozizeptoren sind dafür verantwortlich, dass chemische, thermische und mechanische Reize in elektrische Impulse umgewandelt werden. Diese elektrischen Impulse nennt man innerhalb des Nervensystems Aktionspotenziale. Je mehr Reize einwirken, desto mehr Aktionspotenziale werden gebildet.
Aktionspotenziale
Aktionspotenziale sind elektrische Impulse, die von Nervenzellen verursacht werden. Ein Aktionspotenzial entsteht, sobald sich die Umgebung eines Axons (aufnehmender Nervenzellfortsatz) so verändert, dass aktivierende positiv geladene Substanzen überwiegen (Natrium). Dadurch wird der ruhende Nerv aktiviert. Er löst einen elektrischen Impuls aus, der über den Dendriten (abgebender Nervenzellfortsatz) zum nächsten Axon weitergegeben wird.
Die Aktionspotenziale beginnen ihre Reise im Nervensystem in Richtung Gehirn, doch müssen sich zuerst auf zwei Nervenbahnen aufteilen und hier wird es jetzt knifflig. Die erste Bahn besteht aus markhaltigen Nervenfasern und ermöglicht eine sehr schnelle Weiterleitung und löst zeitgleich im Rückenmark unsere Reflexe aus. Die andere, marklose, Nervenbahn ist langsamer und leitet kontinuierlich die Aktionspotenziale ins Gehirn ohne das Auslösen von Reflexen.
Nun zur Aufteilung: Grundsätzlich kann gesagt werden, dass ein schneller Anstieg von Aktionspotenzialen dazu führt, dass diese entstandenen Aktionspotenziale die schnelle markhaltige Nervenbahn verwenden. Denn ein neuer Schmerzreiz stellt für den Körper eine potenzielle Gefahr dar. Sobald aber der Anstieg von Aktionspotenzialen beendet ist und stattdessen kontinuierlich die gleiche Anzahl von Aktionspotenzialen gebildet wird (z. B. durch eine Verbrennung), verwenden die Aktionspotenziale die langsame marklose Bahn und lösen fortan keine Reflexe mehr aus. Etwas verständlicher wird die Aufteilung in zwei Nervenbahnen anhand der praktischen Beispiele »Die Hand auf dem Herd« und »Die Hand auf der Heizung«.
Beispiel Die Hand auf dem Herd
Stellen Sie sich vor, Sie legen unabsichtlich Ihre Hand auf eine glühende Herdplatte (natürlich nur in Gedanken). Sobald Ihre Hand die Herdplatte berührt, entsteht ein thermischer Reiz. Diesen nehmen die thermosensiblen und polymodalen Nozizeptoren wahr. Sie bilden Aktionspotenziale aus.
Problem: Bis die Aktionspotenziale im Gehirn ankommen und verarbeitet werden und Sie schließlich Ihre Hand von der Herdplatte wegziehen, haben Sie bereits eine Verbrennung zweiten oder dritten Grades erlitten. Um das zu verhindern besitzt Ihr Körper ein Schutzsystem, das unabhängig vom Gehirn auf den Reiz antwortet und Sie (unbewusst) auf die Gefahr reagieren lässt. Dieses Schutzsystem ist im Rückenmark verankert und verursacht Reflexhandlungen. Das bedeutet: Sie legen die Hand auf die Herdplatte und ziehen Sie sofort wieder zurück, bevor Sie den Schmerz überhaupt spüren (leider werden Sie nach kurzer Zeit trotzdem Schmerzen spüren, aber deutlich geringere als ohne diesen Schutzreflex).
Dass Sie den Schmerz dann doch spüren liegt daran, dass die Aktionspotenziale nämlich weiter ins Gehirn reisen, zum Thalamus. Der Thalamus ist das Tor zum Bewusstsein. Erst wenn die Aktionspotenziale hier angekommen sind, können Sie den Schmerz überhaupt wahrnehmen. Um die Aufgabe des Thalamus zu verstehen müssen wir noch einmal zum Anfang springen, also zu dem thermischen, physikalischen oder chemischen Reiz, der den Schmerzreiz auslöste.
Beispiel Die Hand auf der Heizung
Auch Ihre Hand auf der warmen Heizung löst einen thermischen Reiz aus, der nun aber deutlich schwächer ist als bei der Hand auf dem Herd. Dennoch werden Aktionspotenziale gebildet und wandern bis zum Thalamus. Warum verspüren Sie aber keinen Schmerz wie bei der Herdplatte? Die Antwort liegt in der Schmerzschwelle, die sich im Thalamus befindet. Diese Schmerzschwelle blockiert alle Reize, die nicht genügend Aktionspotenziale aufbringen können, um sie zu überwinden. Somit wird bei der Herdplatte ein Reiz generiert, der groß genug ist, um die Schmerzschwelle zu überwinden. Bei der Heizung hingegen reicht der Reiz nicht aus und Sie empfinden keinen Schmerz.
Der Schmerzreiz wird im Thalamus nun auf eine weitere Reise geschickt. Es gibt kein spezifisches Gehirnareal für Schmerz – verschiedene Gehirnareale verarbeiten den Schmerzreiz, als Ergebnis entsteht der Schmerz, den Sie empfinden.
Wenn Sie Schmerzen empfinden, können Sie diese meist genauestens lokalisieren. Sie wissen also in den allermeisten Fällen genau, wo es wehtut. Diese Lokalisation des Schmerzes übernimmt die Großhirnrinde (somatosensorischer Kortex). Jeder Reiz, der von außen (oder von innen) auf eine Nervenbahn einwirkt, wird an eine bestimmte Stelle in der Großhirnrinde geleitet und lässt Sie genau fühlen, welche Stelle im Körper betroffen ist. Nun wissen wir, wo es weh tut, aber noch nehmen wir keinen schmerzhaften Reiz wahr. Damit dieser entstehen kann, benötigen wir das limbische System, das aus der Gyrus cinguli, Insula, Amygdala und dem Hippocampus besteht. Das limbische System ist zuständig für die Schmerzintensität und die dadurch ausgelösten Emotionen, für unser Stress- und Alarmsystem sowie für unsere Aufmerksamkeit. In diesem Areal wird bestimmt, »wie« wir den Schmerzempfinden. Das limbische System ist sehr empfindlich und kann leicht von außen sowie von Emotionen beeinflusst werden. So empfinden z. B. depressive Menschen Schmerzen oft stärker als nicht depressive Menschen.
Nun fehlt noch der letzte Schritt und zwar die Bewertung des Schmerzes. Hierfür ist das Vorderhirn (Frontalkortex) verantwortlich. In diesem Areal beurteilen wir den Schmerz und lenken dementsprechend unsere Aufmerksamkeit auf den Schmerz. Je nachdem, wie stark bzw. lebensbedrohlich der Schmerz eingeschätzt wird, desto stärker wird er empfunden. Daher empfinden wir Schmerzen, die wir nicht genau einschätzen können, meist stärker als Schmerzen, die wir kennen.
Dies ist – in aller Kürze – der Schmerzprozess. Er läuft ab, wenn ein akuter Schmerz eintritt. Doch was passiert, wenn der Schmerz konstant vorhanden, also chronisch ist?
1.1.1 Das Schmerzgedächtnis
Gerade bei älteren Menschen kommt es oft vor, dass sie jeden Tag unter Schmerzen leiden. Dies hat teilweise sehr negative Folgen. In der Fachliteratur wird hier von der Bildung eines Schmerzgedächtnisses gesprochen.
Definition Schmerzgedächtnis
Das Schmerzgedächtnis ist kein Teil des Kurzzeit- oder Langzeitgedächtnisses, sondern eine Überempfindlichkeit bestimmter Nozizeptoren und Nervenbahnen, die dazu führt, dass selbst kleinste Verletzungen starke Schmerzen auslösen können. »Unzureichend behandelte Schmerzen können Spuren im Zentralnervensystem hinterlassen, die die Empfindlichkeit für Schmerzreize erhöhen und sich klinisch als Hyperalgesie äußern.«*
* https://www.aerzteblatt.de/archiv/29086/Schmerzgedaechtnis-Entstehung-Vermeidung-und-Loeschung
Nervenzellen können sich je nach Beanspruchung verändern. Diesen Vorgang nennt man Neuroplastizität. Das bedeutet, dass Nozizeptoren, die dauerhaft einem Reiz ausgesetzt sind, empfindlicher werden und mehr Aktionspotenziale aussenden, die zu stärkeren bzw. dauerhaften Schmerzen führen. Dieser Vorgang findet nicht nur bei den Nozizeptoren statt, sondern bei allen beanspruchten Nervenbahnen und sogar in den betroffenen Gehirnarealen. Einfach erklärt ist das so: Wenn Sie über eine grüne Wiese laufen und zurückschauen, werden Sie die Stellen erkennen, auf die Sie getreten sind. Doch kurze Zeit später stehen die Grashalme wieder aufrecht. Das wäre vergleichbar mit einem akuten kurzen Schmerz.
Aber wenn nun über 100 Tage täglich 100 Menschen über die gleiche Stelle laufen, entsteht ein Trampelpfad, auf dem kein Gras mehr wächst. Das wäre das Schmerzgedächtnis, hervorgerufen durch die Neuroplastizität – in unserem Fall die vielen Menschen, die tagtäglich über die Wiese laufen. Das Schmerzgedächtnis kann soweit ausarten, dass die Nervenbahnen und Gehirnareale so stark verändert sind, dass es nicht einmal mehr einen Reiz braucht, um Schmerzen zu spüren, da die Bahnen selbstständig einen Schmerzreiz bilden. Ist dieser Zustand erreicht, spricht man von chronischem Schmerz.
Früher sprachen Experten von chronischen Schmerzen, wenn ein Schmerz über einen längeren Zeitraum (drei bis sechs Monate) anhielt. Das wird inzwischen nicht mehr so gesehen. Im Expertenstandard heißt es stattdessen: »Die Chronifizierung von Schmerzen wird … mehr und mehr als fließend und am individuellen Schmerz- und Krankheitserleben ausgerichtet erkannt.«1
1.1.2 Schmerzarten
Grundsätzlich kann der Schmerz in vier verschiedene Kategorien eingeteilt werden2:
1. somatisch
2. viszeral
3. neuropathisch
4. psychogen/somatoform
Der somatische Schmerz ist der klassische Schmerz, der bei einer Verletzung der Haut oder des tieferliegenden Binde- und Muskelgewebes auftritt. Verletzungen der Haut verursachen meist einen hellen, gut lokalisierbaren Schmerz. Verletzungen des Binde- und Muskelgewebes führen meist zu einem dumpfen Schmerz, der in benachbarte Regionen ausstrahlen kann.
Viszeraler Schmerz
Der viszerale Schmerz ist ein dumpfer Schmerz, der bei Verletzungen der inneren Organe auftritt. Er strahlt oftmals in die umliegenden Regionen aus. Zudem verursachen Verletzungen der inneren Organe teilweise Begleiterscheinungen wie z. B. Übelkeit.
Neuropathischer Schmerz
Der neuropathische Schmerz wird nicht, wie der somatische oder viszerale Schmerz, durch einen Reiz von außen ausgelöst, sondern durch eine Schädigung der weiterleitenden Bahnen (Axone). Der neuropathische Schmerz kann auch bei einer Schädigung einer schmerzverarbeitenden Gehirnregion ausgelöst werden, z. B. durch einen Apoplex. Neuropathische Schmerzen können anfallsartig, brennend oder dumpf sein.
Psychogener Schmerz
Psychogener Schmerz ist eine Sonderform. Im Gegensatz zu den anderen Schmerzformen wird der psychogene Schmerz durch seelische und/oder psychische Belastungen hervorgerufen. Vor allem bei chronischen Schmerzen gesellt sich der psychogene Schmerz oft hinzu und trägt zur Chronifizierung des Schmerzes bei. Die Intensität wird durch die Stimmungslage stark beeinflusst. Der psychogene Schmerz als alleiniger Schmerz kommt hingegen selten vor.
Ein weiterer Sonderfall einer Schmerzsymptomatik ist der Phantomschmerz. Hierbei verspüren Betroffene Schmerz in einer Extremität, die amputiert wurde. Wie kommt es zu diesem Phänomen? Um den Phantomschmerz zu verstehen, müssen wir noch einmal zurückspringen zur Neuroplastizität der Nerven und dem Schmerzgedächtnis ( Kap. 1.1.1). Durch die Neuroplastizität verändern sich die Nervenbahnen und Areale im Gehirn, u.a. der somatische Kortex (Großhirnrinde), der für die Lokalisation des Schmerzes zuständig ist. Durch die Veränderung im Bereich der Nerven und des Gehirns verselbständigt sich der Schmerz, d. h. die Nervenbahnen und Gehirnareale erzeugen eigenständig einen Schmerzreiz und bilden somit das Schmerzgedächtnis.
Beispiel Schmerzen trotz Amputation!
Ein Beispiel für einen Phantomschmerz wäre ein Patient mit langjähriger peripherer arterieller Verschlusskrankheit mit schmerzhaften Ulcera im linken Bein. Einige Tage nach der Amputation dieses Beines klagt der Patient über Schmerzen in eben diesem Bein. Die Ursache: Der Patient hatte über mehrere Jahre lang Schmerzen im linken Bein aufgrund der Ulcera. Dies führte zu einer Veränderung der Nervenbahnen und des somatischen Kortex, der für die Lokalisation des Schmerzes zuständig ist. Durch die Amputation ist der schmerzhafte Reiz zwar entfernt worden, doch aufgrund der Veränderung der Nervenbahnen hat sich der Schmerz verselbstständigt. Der Schmerzreiz bleibt, obwohl der Ursprung nicht mehr vorhanden ist.
Der Grund für Schmerzen in der abgenommen Extremität: Schmerzen entstehen immer im Gehirn, genauer, im somatischen Kortex, in dem alle Körperteile abgebildet und in dem alle Reize lokalisiert werden. Das amputierte Bein ist zwar nicht mehr Teil des Körpers, aber das Areal im somatischen Kortex, in dem das Bein abgebildet ist, ist weiterhin vorhanden. Das Gehirn »weiß« nicht, dass das Körperteil fehlt. Durch die Neuroplastizität hat sich zudem das Areal verändert und dadurch entsteht der Schmerz im linken Bein.
1.2 Schmerzen bei alten Menschen
Studien belegen, dass das Alter eines Menschen einen Einfluss hat auf die Menge Schmerzmedikamente, die er erhält. So erhalten Menschen mit 79 Jahren statistisch gesehen eine größere Dosis Schmerzmedikamente als 80-Jährige und das bei gleicher Erkrankung. Und das einfach nur, weil sie statistisch anders erfasst werden und diese Statistiken Grundlage für die Dosisberechnungen sind.3
In den vorangegangenen Kapiteln haben Sie bereits viel über die Physiologie des Schmerzes erfahren. In diesem Kapitel möchten wir nun explizit aufzeigen, warum ältere und hochaltrige Menschen von der nicht-medikamentösen Intervention bei Schmerzen profitieren.
Vorteile der nicht-medikamentösen Schmerztherapie bei älteren Menschen:
•Der Stoffwechsel des alten Menschen ist meist reduziert, je älter desto mehr. Das liegt daran, dass nicht nur die Haut altert und Falten zeigt, sondern auch die Zellregeneration nicht mehr so schnell und effizient abläuft, viele Organe sind bereits geschädigt. Darum kann es von Vorteil sein, wenn mit sanften, den Organismus weniger belastenden Maßnahmen, entstandene Defizite gelindert werden.
•Erkrankungen wie Arthrose, Arthritis, Apoplex, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz etc. können auch bei jüngeren Menschen auftreten, im Alter sind sie jedoch häufiger und werden auch als Alterserkrankungen bezeichnet. Heilbar sind solche Erkrankungen nicht immer, und deshalb gilt die Sorge bei der Pflege auch der der Lebensqualität, die sich oft mit wenig spektakulären Maßnahmen steigern lässt.
•Im Alter wird die Beweglichkeit bei vielen Menschen geringer, die Muskelmasse nimmt bis zu 30 Prozent ab, die Fettmasse steigt dagegen an. So wird Bewegung schwieriger, die Versorgung mit Sauerstoff und die Durchblutung der Gelenke nimmt ab. Es entstehen Defizite, die mit Schmerzen einhergehen. Die Lust und Freude an Bewegung wieder zu gewinnen, ist ein wichtiges Ziel der nicht-medikamentösen Intervention.
•Einflussfaktoren wie Angst, Stress, Isolation und Einsamkeit bilden zusammen mit Schmerz einen Teufelskreis. Sie können mit nicht-medikamentösen Interventionen gemildert werden. Es gilt, den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit zu stärken, wie seit vielen Jahren von Sr. Liliane Juchli gefordert.
•Bei älteren Menschen werden vermehrt unerwünschte Nebenwirkungen von Schmerzmedikamenten festgestellt. Die Behandlung etwa mit nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) kann das Risiko einer gastrointestinalen Ulzeration oder Blutung bei ihnen um bis zu 60 Prozent erhöhen. Ebenso können Obstipation, Kopfschmerzen und kognitive Einschränkungen auftreten.4 Viele Ärzte setzen daher auf eine begleitende Therapie, um Schmerzmedikamente sparsamer zu dosieren.
•Das Coping, die Fähigkeit, mit einer Erkrankung umzugehen, kann reduziert sein. Aus Hilflosigkeit oder dem Gefühl des Ausgeliefertseins kann der Betroffene nicht mehr auf seine früheren Kräfte zurückgreifen.
•Studien (Kunz und Lauterbach 2004)5, bei denen Reize gemessen wurden, belegen, dass ältere Menschen Schmerzen erst später wahrnehmen (Schmerzschwelle). Außerdem sinkt die Schmerztoleranzschwelle, ab der ein Reiz als nicht mehr tolerierbar empfunden wird.
Beispiel Der Schmerz ist vorherrschend
Frau E., 88 Jahre alt, war immer eine sehr energische und entscheidungsfreudige Dame. Sie wurde früh Witwe und hat drei Kinder allein großgezogen. Sie hat selten geklagt und kam auch mit Erkrankungen und Schmerzen gut zurecht. Seit einem Oberschenkelhalsbruch lebt sie im Haus Abendruh. Sie nimmt selten an Aktivitäten im Haus teil.
Sie wird im Rollstuhl gefahren, da sie unsicher beim Gehen ist und einer Begleitung bedarf. Sie klagt häufig über Schmerzen im Rücken. Erklärungen des Hausarztes und der Pflegekräfte, sie benötige mehr Bewegung, lehnt sie ab. Auch ihre Kinder stehen der Situation hilflos gegenüber und können nicht verstehen, dass ihre Mutter sich zurückzieht und nur noch klagt. Durch den Sturz und die folgende Einschränkung, die Schmerzen und den Verlust der Eigenständigkeit kann Frau E. nicht mehr auf ihre Kräfte und Bewältigungsstrategien zurückgreifen. Der Arzt verordnet Novaminsulfon, doch Frau E. klagt nun zusätzlich über Schwindel.
In einem Fall wie der von Frau E. können nicht-medikamentöse Verfahren wie Einreibungen mit einem Schmerzöl, das Zuführen von Wärme, Gespräche und Bewegung in der Gruppe (etwa das Kegeln, das Frau E. früher viel Freude bereitet hat) Hilfe und Linderung bringen. So erhält Frau E. Verständnis, kann an frühere Erfahrungen anknüpfen, erlebt entspannende Anwendungen und Freude bei der Bewegung. Die oben genannten Maßnahmen führen im Erfolgsfall dazu, dass Frau E. einen neuen Weg gehen kann, in dem sie ihre Lebenssituation besser meistert und eine höhere Lebensqualität erfährt.
Definition Schmerzschwelle und Schmerztoleranzschwelle
Die Schmerzschwelle ist der Moment, ab dem ein Reiz als Schmerz wahrgenommen wird.
Die Schmerztoleranzschwelle ist der Moment, ab dem ein Schmerz als nicht mehr tolerierbar wahrgenommen wird.
Dies bedeutet: Wenn ein alter Mensch über Schmerzen klagt, ist die Zeit, die zur Behandlung zur Verfügung steht, kürzer als bei jüngeren Erwachsenen. Man kann davon ausgehen, dass der Schmerz schon weit länger besteht, als der alte Mensch dies sagt. Und damit bestehen auch die Ursachen für den Schmerz schon länger – umso dringender ist es, dass sie nun zügig behandelt werden.
Weitere sieben wichtige Faktoren, die den Schmerz bei alten Menschen beeinflussen:
1. Erkrankungen
2. Neben-/Wechselwirkungen von Medikamenten
3. Polymedikation
4. Veränderungen des Stoffwechsels
5. Komorbidität
6. Unsicherheit und Ängste
7. Erfahrungen
Alte Menschen haben mehrere Erkrankungen, die häufig mit Schmerzen einhergehen. Das bedeutet: mehr Erkrankungen, mehr Schmerzorte gleichzeitig.
2. Neben-/Wechselwirkungen von Medikamenten
Die für den Stoffwechsel besonders wichtigen Organe Leber und Nieren sind im Alter in ihrer Funktion oftmals eingeschränkt. Sei es durch lebenslange Gewohnheiten und/oder durch Erkrankungen und deren Behandlung. Das bedeutet: Neben- und/oder Wechselwirkungen von Medikamenten treten im Alter häufiger auf.
3. Polymedikation
Durch die Polymedikation, die oft schon viele Jahre besteht, kann es zu Organschäden kommen. Da sind z. B. Magenulcera zu nennen, die bei unkritischer Einnahme von oft freiverkäuflichen Schmerzmedikamenten auftreten. Das bedeutet: Der Organismus ist oft geschwächt und so auch besonders empfindlich.
Info
Eine Polymedikation, Polypharmazie oder auch Multimedikation liegt dann vor, wenn Patienten mehrere verschiedene Medikamente parallel als Dauermedikation einnehmen. In der Regel spricht man von einer Polymedikation, wenn ein Patient mindestens fünf Arzneimittel gleichzeitig einnimmt.
4. Veränderungen des Stoffwechsels
Viele Medikamente sind lipophil, das heißt sie benötigen Fett, um wirken zu können. Nun hat der alte Mensch weniger Muskeln und meist mehr Fett als ein junger Mensch. Das bedeutet: Die lipophilen Fette verteilen sich auf viele Fettzellen, daher wäre eine höhere Medikamenten-Dosis nötig, um die gewünschte Schmerzlinderung mit lipophilen Medikamenten zu erreichen.
Andere Medikamente sind hydrophil, das heißt sie benötigen Wasser, um wirken zu können. Der älter werdende Mensch hat jedoch intrazellulär weniger Wasser zur Verfügung als jüngere Menschen. Das bedeutet: Es kann bei hydrophil wirksamen Medikamenten leichter zu Überdosierung kommen.
5. Komorbidität
Eine Komorbidität ist eine Begleiterkrankung. Leidet ein Mensch mit einer akuten Oberschenkelfraktur beispielsweise zudem an einer chronischen Bronchitis, so kann eine notwendige Operation des Oberschenkels leichter zu einer Pneumonie führen als bei einem gesunden Menschen. Das bedeutet: Komplikationen stellen sich leichter bzw. schneller ein, wenn bereits eine Erkrankung vorliegt.
6. Unsicherheit und Ängste
Die Einnahme von vielen verschiedenen Medikamenten (etwa von Blutdrucksenkern) kann vermehrt zu Schwindel und damit zu einer erhöhten Sturzneigung führen. Dadurch besteht die Gefahr des Rückzugs, weil der Betroffene sich nicht mehr traut, die Wohnung oder das Zimmer zu verlassen, um so potenzielle weitere Stürze zu vermeiden. Das bedeutet: Einsamkeit und Isolation können Schmerzen verstärken.6
7. Erfahrungen
Ängste, Unsicherheit, Trauer und andere Gefühle beeinflussen das Schmerzerleben. Dies geschieht hintergründig in Prozessen des Denkens und Fühlens und wird oft nicht bewusst wahrgenommen. Erlebt ein Mensch später im Leben Schmerzen, besteht die Gefahr, dass der aktuelle Schmerz mit negativen Erfahrungen aus der Vergangenheit verbunden und verstärkt wird. Das bedeutet:
– Je häufiger Schmerzen erlebt wurden, denen sich der Betroffene ohnmächtig ausgeliefert fühlte, desto stärker kann sich ein sogenannter negativer Pfad ausbilden. Das bedeutet: Der Schmerz wird als nicht beherrschbar erlebt und kann sich verselbständigen. Dieser Prozess kann zu chronischem Schmerz führen.
– Dieser Prozess geht jedoch nicht nur in die negative Richtung, sondern ist umkehrbar. So kann Schmerz, der in einer positiven Stimmungslage erlebt wird, das Muster des Schmerzerlebens wieder ändern.
Neben den oben genannten Schmerz beeinflussenden Faktoren gibt es zudem noch das Vorhandensein eines somatoformen Schmerzes und die Schmerzmatrix zu bedenken. Was dahinter steckt, erläutern wir im Folgenden:
Somatoformer Schmerz
Das menschliche Gehirn kann nicht unterscheiden, ob ein seelischer oder ein körperlicher Schmerz vorliegt. Deshalb ist in der Definition des Schmerzes auch deutlich gemacht, dass Schmerz eigentlich das ist, was »[…] als solcher empfunden wird.«7 Das bedeutet:
•Auch seelische Schmerzen, die durch Einsamkeit, Geringschätzung und Vernachlässigung entstehen, werden als Schmerz empfunden. Doch sie haben keinen konkreten Schmerzort, der angegeben werden kann.
•Kennen Sie das Zitat »An gebrochenem Herzen sterben«? Es wird immer wieder berichtet, dass ein Partner, der mit einem Menschen lange verbunden war, kurze Zeit nach diesem verstirbt. Das ist sicherlich die höchste Verbundenheit und der maximale Schmerz.
Schmerzmatrix
Matrix wird hier verstanden als ein Handlungsmuster (z. B. Schonhaltung einnehmen, Klagen usw.), das im Kontext zum Schmerzgedächtnis steht, welches wiederum das Erleben des Schmerzes meint. Um nicht immer wieder neu lernen zu müssen, bedient sich jeder Mensch einer Mustervorlage, einer Matrix, die er bei Bedarf konkretisiert. Hat ein Mensch gelernt, dass er Zuwendung erhält, wenn er über Schmerzen und Beeinträchtigungen klagt, so wird er dieses Muster immer dann anwenden, wenn er sich alleingelassen fühlt. Hat der Betroffene einen geliebten Menschen verloren, der an einer schmerzhaften Erkrankung verstorben ist, besteht die Gefahr, dass er Symptome bei sich fehldeutet und der Überzeugung ist, dass er nun selbst auch schwer erkrankt ist und schwere Schmerzen erleiden wird. Das bedeutet:
•Erfahrungen, die Betroffene bei anderen gesehen und erlebt haben, können Schmerzen verursachen und verstärken.
•Menschen, die seit langer Zeit an Schmerzen leiden, bilden häufig ein Schmerzgedächtnis mit begleitender Schmerzmatrix aus.
Beispiel Frau M. und die mangelnde Aufmerksamkeit
Als Kind war Frau M. häufig sich selbst überlassen. Die Eltern hatten eine kleine Landwirtschaft und mussten viel arbeiten. Mit sieben Jahren fiel Frau M. von der Leiter und zog sich einen komplizierten Beinbruch zu.
Sie litt starke Schmerzen, doch die Eltern besuchten sie im Krankenhaus, hatten Zeit für sie und brachten immer ein Geschenk mit. Als der Bruch verheilt war, wandten sich die Eltern wieder ihrem normalen Alltag zu. Leider traten immer wieder Komplikationen an dem verletzten Bein von Frau M. auf und erforderten neue Krankenhausaufenthalte, in denen sie Schmerzen ertragen musste. Jedoch erhielt sie dann auch Aufmerksamkeiten, die sie sonst im täglichen Leben vermisste.
Frau M. heiratete und ihr Mann arbeitete hart für ein gemeinsames Eigenheim. Sie selbst konnte aufgrund der in der Kindheit erlittenen Verletzung nur eingeschränkt arbeiten und war viel zu Hause. Ihr Mann stand ihr bei vielen Erkrankungen zur Seite, übernahm dann Tätigkeiten im Haushalt, damit sie sich auskurieren und schonen konnte. Als ein Arzt Frau M. davon überzeugen wollte, mehr Sport zu treiben, um die Muskulatur in dem betroffenen Bein aufzubauen, lehnte Frau M. entrüstet ab und suchte sich einen anderen Arzt.
Sie können dieses Beispiel selbst weiterdenken:
•Wie wird sich Frau M. wohl verhalten, wenn sie pflegebedürftig ins Heim einzieht?
•Wie aufgeschlossen wird sie gegenüber einer aktivierenden Pflege sein?
1.2.1 Akuter Schmerz bei alten Menschen
Akute Schmerzen entstehen häufig aufgrund von Verletzungen oder neu auftretenden Erkrankungen. Sie sind zu Beginn dem Auslöser entsprechend stark, dauern Sekunden bis Minuten (im Extremfall auch Stunden), lassen mit dem Eintreten der Heilung nach und verschwinden mit der Ausheilung.
Ein kleiner Schnitt an einer Scherbe, der keine großen Gefäße durchtrennt, schmerzt entsprechend weniger, als ein Schnitt mit einem großen Messer, bei dem eine massive Schädigung entsteht. Je heftiger der Körper bedroht ist, desto stärker ist der Schmerz. So wird der Schmerz bei einem Herzinfarkt als sogenannter »Vernichtungsschmerz« beschrieben.
Akute Schmerzen sind klar einem Schmerzort zuzuordnen, mit Ausnahme des Eingeweideschmerzes, bei dem die Lokalisation auch schwerfallen kann.
Akuter Schmerz hat eine Warn- und Schutzfunktion. Er soll anzeigen, dass etwas am/im Körper nicht in Ordnung ist. Denn es bedarf des Schutzes, damit ein verletzter Körperteil Schonung erhält.
Definition Akuter Schmerz
»Akute Schmerzen üben eine für unseren Körper notwendige Warnfunktion aus, um Gewebeschäden zu vermeiden. Das Wort »akut« meint hier einen plötzlich auftretenden Schmerz, der nicht für längere Zeit anhält.«*
* https://www.dgss.org/patienteninformationen/herausforderung-schmerz/akute-undchronische-schmerzen/
In dem Vorwort des Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten Schmerzen steht: »Das Erleben von akuten Schmerzen hat Auswirkungen auf das physische, psychische und auch auf das soziale Befinden von Bewohnern. Die negativen Auswirkungen von nicht oder nicht ausreichend behandelten Schmerzen reichen von einer momentanen Belastung und Beeinträchtigung der Lebensqualität bis zu lang andauernden Einschränkungen der Qualität der Lebenssituation.«8
1.2.2 Chronischer Schmerz bei alten Menschen
Schmerz ist eine vielschichtige Angelegenheit. Er ist nicht real mess- und sichtbar und erschließt sich nicht absolut unserer Beobachtung. Und doch ist es wichtig, dass wir Faktoren, die auf Schmerz deuten, wahrnehmen, damit sich der Schmerz nicht chronifiziert und ein Schmerzgedächtnis ausbildet.
Tab. 1: Akute versus chronische Schmerzen
akuter Schmerz | chronischer Schmerz |
besitzt Warn- und Schutzfunktion | hat keine Warn- und Schutzfunktion mehr |
stimmt mit auslösendem Faktor überein | keine aktuelle Ursache ist erkennbar |
nimmt ab, wenn Heilung beginnt | wird immer schlimmer, katastrophaler |
ist zeitlich begrenzt | dauert länger als 3–6 Monate |
Schmerzort ist gut lokalisierbar | Schmerzort wird diffus, immer größer |
Wer eine nicht heilende, aber schmerzhafte Erkrankung hat, leidet häufig unter chronischem Schmerz. Dazu muss der Schmerz nicht dauerhaft vorhanden sein. Es genügt, wenn er regelmäßig in einem bestimmten Zeitraum wiederkehrt. Und so leiden auch Menschen, die etwa Rheuma haben, unter chronischen Schmerzen, auch wenn sie über Wochen schmerzfrei sein können.
Es gibt viele Faktoren, die es in der Pflege erschweren, Schmerzen zu erkennen und – im interdisziplinären Team – erfolgreich zu behandeln:
•Schmerzen werden verneint: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz.«
•Schmerzen werden ertragen, weil man glaubt, dass sie zum Alter dazu gehören.
•Psychische Erkrankungen wie Depressionen führen zu einer fatalistischen Sicht: »Mir kann nicht geholfen werden.« – »Das ist meine Strafe.«
•Manch Betroffener hat die Hoffnung verloren, dass ihm geholfen werden kann.
•Schmerzen werden nicht geäußert, weil die Betroffenen davon ausgehen, dass die Ärzte ja wissen müssten, dass sie Schmerzen haben.
•Schmerzen werden aus Scham verschwiegen: »Jungen weinen nicht.«
•Bei einer Demenz besteht u. U. die Unfähigkeit, Schmerzen zu verbalisieren.
Es ist wichtig, dass Sie diese Faktoren kennen, denn fast jeder Schmerz hat eine psychische Komponente. Gerade bei lang andauerndem und wiederkehrendem Schmerz besteht die Gefahr, dass die psychische Komponente größer und damit zum Problem wird. Wer jeden Tag oder immer wieder unter Schmerzen leidet und annimmt, dass dies so bleiben wird, verliert leicht an Lebensqualität und Lebensfreude. Diesem Prozess ist Rechnung zu tragen und erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.
Beispiel Teufelskreis des Herrn L.
Herr L., 73 Jahre alt, wohnt seit drei Jahren im Haus Abendruh. Er leidet an einer degenerativen Wirbelsäulenerkrankung, einer Spondylarthrose. Mit dem Rollator ist er selbstständig mobil. Sich zu bücken, ist ihm nicht möglich. So benötigt er Unterstützung bei und die teilweise Übernahme der Körperpflege. Tagsüber ist er mit seiner Schmerzsituation zufrieden. Nachts jedoch kommt er oft nicht zur Ruhe, die Schmerzen quälen ihn. Eine Schlaftablette möchte er nicht nehmen und auch die Schmerzmedikation möchte er nicht ändern. Nachts rechtzeitig zur Toilette gehen zu können, ist ihm sehr wichtig, auch wenn er dadurch vermehrt Schmerzen hat.
Durch die fehlende Erholung in der Nacht ist Herr L. in letzter Zeit gereizt. Er hat nur noch selten gute Laune, und es ist immer schwerer, ihm etwas recht zu machen. Der Hausarzt spricht ihn auf eine Überweisung zum Psychiater an, da er eine Depression vermutet. Doch das lehnt Herr L. ab. »Ich habe Schmerzen – das ist alles.«
Das biopsychosoziale Modell
Bei Herrn L. könnte es helfen, sich der chronischen Schmerzproblematik ganzheitlicher zu nähern. Ein Ansatz zur Problemlösung wäre das biopsychosoziale Modell, das ein Konzept der Körper-Seele-Einheit vertritt: Hier werden die biologisch, körperlichen Aspekte (organisch begründbare Befunde), die psychischen, seelischen Dimensionen (das Denken, Fühlen, Handeln) und das soziale Umfeld (Lebensbedingungen) gemeinsam in den Fokus gerückt. Man geht davon aus, dass biologische Faktoren (z. B. erhöhte Schmerzsensibilität), psychologische Faktoren (z. B. innere Konflikte) und soziale Faktoren (z. B. als belastend empfundene Umgebung) gemeinsam eine Dynamik entwickeln, die das Schmerzerleben beeinflussen kann. Der biopsychosoziale Ansatz bietet somit einen ganzheitlich orientierten Rahmen für die Diagnostik und Therapie von Schmerzgeschehen.
Eine praktische Lösung im Sinne des biopsychosozialen Modells für Herrn L. besteht z. B. in der Beratung, Aufklärung und einigen alternativen Behandlungsansätzen:
•Herr L. erhält Ruheinseln am Tag, einen bequemen Sessel und ein Schild »Bitte nicht stören«, damit auch Ruhe einkehren kann.
•Er bekommt ferner Einreibungen mit schmerzlindernden Ölen,
•das Angebot eines schlaffördernden Tees und
•die Möglichkeit stimmungsaufhellende Öle (Bergamotte oder Grapefruit) als Raumspray zu benutzen.
•Er wird dazu beraten, was er in schlaflosen Situationen tun könnte: z. B. Hörbücher hören, entspannende Musik hören.
•Er erhält die Möglichkeit Entspannungsübungen zu erlernen.
•Ihm werden Lagerungen angeboten, die ihm helfen, wieder in den Schlaf zu finden und
•eine Urinflasche ans Bett gestellt, damit er nicht aufstehen muss.
•Zudem finden regelmäßige, beratende Gespräche statt.
•Mit Herrn L. wird die Möglichkeit erörtert, einer Selbsthilfegruppe beizutreten (evtl. via Internet), vielleicht hat er Interesse an einem Laptop?
•Das Nacht-Café wird ihm vorgestellt, in dem er andere Menschen trifft.
Herrn L. bemerkt so, dass ihm Hilfe angeboten wird. Er wird ernst genommen und kann über seine Probleme sprechen. Die Nächte sind nicht mehr quälend lang und verlieren damit ihren Schrecken. Er ist der Situation nicht mehr hilflos ausgeliefert. Er kann mit den nächtlichen Schmerzen anders umgehen. Wahrscheinlich wird sich auch seine Laune bessern und seine Pflege und Versorgung werden wieder einfacher.
1.2.3 Schmerzen bei Demenz
Im deutschsprachigen Raum leben ungefähr 783.000 Menschen im Heim9. Studien belegen, dass mehr als die Hälfte der über 80-Jährigen von ihnen unter einer Form der Demenz leiden.10 Demenzielle Erkrankungen können z. B. aufgrund vaskulärer oder genetischer Ursache auftreten. Die bekannteste Form ist wohl die Demenz vom Typ Alzheimer. Auch wenn die Demenzformen sich unterscheiden, so gibt es doch eine Fülle von gemeinsamen Merkmalen. Das sind in der Regel Verluste bzw. Begleiterscheinungen der Demenz. Je nach Demenzform und Ausprägung sind die Symptome natürlich unterschiedlich ausgeprägt. Gemein ist ihnen jedoch, dass sie es erschweren können, ein Schmerzgeschehen beim Betroffenen zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren:
•Schon sehr früh ist die Person zumeist in ihrer Orientierung beeinträchtigt, meist zuerst zu Ort, Zeit, Situation, später auch zur Person.
•Sprache und/oder Sprachverständnis können verloren gehen.
•Halluzinationen und Wahn können auftreten.
•Die Propriozeption (die Wahrnehmung der Lage des Körpers) kann beeinträchtigt sein.
•Die Handhabung von Essen und Trinken kann gestört sein.
•Umgebung und soziale Kontakte werden im weiteren Krankheitsverlauf oft nicht mehr erkannt.
•Das Bewegungszentrum kann in Mitleidenschaft gezogen werden, es kommt zu multiplen Stürzen.
Der Mensch in seiner Gesamtheit verliert im Verlauf der Demenz seine Persönlichkeit, sein Wissen um sich selbst, sein Leben, seine vertrauten Menschen etc. Allein diese Faktoren können bereits zu seelischen Schmerzen führen. Erschwerend kommt hinzu, dass Betroffene nicht mehr in der Lage sind, Schmerzen konkret zu benennen. Sie können anscheinend weder Schmerzen richtig wahrnehmen noch sagen, wo es schmerzt und wie stark der Schmerz ist.
Das stellt Pflegekräfte und/oder Pflegepersonen vor große Probleme: Hat der Betroffene Schmerzen? Wenn ja, wo und wie stark? Und was kann ihm helfen?
Wenn es um das Erkennen von Schmerzen geht, sind zwei Dinge besonders wichtig:
1. Die Selbstauskunft des Betroffenen und
2. die Fremdauskunft (einer Pflegekraft, eines Angehörigen etc.)
Gerade zur Selbstauskunft sind viele demenziell erkrankte Menschen nicht oder nur eingeschränkt in der Lage. Eine Hilfe sind hier Skalen, wie z. B. die einfach anzuwendende verbale Rangskala (VRS), in der mit Worten nach der Stärke des Schmerzes gefragt wird. Manche VRS haben auf der Rückseite eine Übersetzung in eine numerische Rangskala – das ist für Pflegekräfte am einfachsten. So können die Worte bei der Übergabe übersetzt werden und alle im Pflegeteam sprechen vom selben Schmerz, nämlich dem des Betroffenen.
Ist jedoch ein Mensch nicht in der Lage, seinen Schmerz selbst zu artikulieren, benötigen Sie eine Fremdauskunft. Dann wird die Pflegekraft und/ oder ein Angehöriger versuchen zu ermitteln, ob der Betroffene Schmerzen haben könnte.
Wir können anhand von Mimik, Verhalten, Körpersprache, Schonhaltung oder Gesten Veränderung sehen und diese mit einem Schmerzgeschehen in Verbindung bringen. Dazu gibt es Checklisten, sogenannte Schmerzassessments. Ein weit verbreiteter Test ist die »Beurteilung von Schmerzen bei Demenz« (BESD). Hier werden die folgenden Parameter strukturiert abgefragt:
•Atmung
•negative Lautäußerung (Stöhnen, Jammern, Klagen)
•Gesichtsausdruck
•Körpersprache
•Reaktion auf Trost
Für alle Items werden zwischen 0 (keine Verhaltensreaktion) und 2 Punkte (stärkste Verhaltensreaktion) vergeben. Es können maximal 10 Punkte erreicht werden. Es gibt jedoch keine Aufforderung, ab wann interveniert werden soll. Dies bleibt den Beteiligten überlassen, da es sich um Hinweise auf Schmerzen handelt, aber nicht um gesicherte Fakten. So kann auch eine Dyskinesie (Grimassieren) auftreten, ohne das Schmerzen die Ursache sind. Eine beschleunigte Atmung kann auf Schmerzen deuten, aber genauso auf eine körperliche Anstrengung oder eine Lungenerkrankung.
Fazit Handlungsbedarf klären
In jedem Fall sollte im Team das Thema »Schmerz« diskutiert werden, wenn bereits 2 Punkte auf der BESD-Skala erreicht werden, ohne dass andere Faktoren als Erklärung dienen.
Es gibt weitere Schmerzassesments zur Anamnese von Schmerzen bei Demenz, wie z. B. die BISAD-Skala. Hier werden die Betroffenen in drei unterschiedlichen Situationen beobachtet: während und außerhalb der Pflege sowie bei Aktivität. Elf Parameter sind zu berücksichtigen. BISAD funktioniert dann am besten, wenn der Betroffene bereits gut bekannt ist. Nur dann kann aus verschiedenen Beobachtungszeiträumen erkannt werden, ob und was sich beim Beobachteten verändert hat.
Ein weiteres Assessment ist die Doloplus-2-Skala, die zehn Parameter berücksichtigt und somatische, psychomotorische und -soziale Aspekte umfasst.
Jedes Assessment braucht Schulung
Viele Pflegeheime haben eigene Beurteilungsbogen. Es ist notwendig, dass von allen Beteiligten derselbe Bogen verwendet wird, damit das Ergebnis nachvollziehbar ist. Außerdem müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Umgang mit der jeweiligen Skala geschult werden.
Hat ein demenziell erkrankter Bewohner Schmerzen bzw. liegt der Verdacht dafür nahe, sollte das Schmerzassessment als Basis für ein erstes Gespräch mit dem Arzt (Hausarzt) dienen. Nun kann versucht werden, ob das Verhalten sich ändert, wenn etwa ein Schmerzmedikament verabreicht wird und/oder eine nicht-medikamentöse Schmerzbehandlung erfolgt. Dies ist ein einfacher Weg, der jedoch voraussetzt, dass Sie den Betroffenen relativ gut kennen.
Viele Pflegekräfte erleben Menschen, die bereits in einem sehr reduzierten Allgemeinzustand zu ihnen in die Einrichtung kommen. Hier ist es schwieriger einzuschätzen, ob ein Verhalten aus der demenziellen Veränderung resultiert oder ob Schmerzen die Ursache dafür sind. Die Grundlage aller Pflege ist das Wohlbefinden der anvertrauten Personen. Dies gilt auch – vielleicht sogar noch in höherem Maße – für Menschen mit Demenz. Wessen Welt sich auflöst, wer keine Orientierung mehr findet, ist in einer extremen Situation. Kommen dann noch unbehandelte Schmerzen dazu, ist es nachvollziehbar, dass Betroffene Verhaltensweisen zeigen, die ihre Versorgung erschweren und den Betroffenen überfordern und stressen.
Schmerz ist ein Warnsignal und bedeutet für den Körper, dass er in Gefahr ist, und das verursacht Stress. Stress beeinträchtigt die Konzentration und das Verhalten. Menschen, die an einer Demenz leiden, verlieren nicht nur ihr Gedächtnis und ihre Persönlichkeit. Sie können auch die Propriozeption (das Gefühl für sich und ihre Position im Raum) und das Zuordnen ihrer Körperteile verlieren. Die Hand schmerzt. Es ist aber nicht möglich, darauf zu zeigen oder den Schmerz konkret zu benennen. Körperteile werden sozusagen »vergessen«, die Schmerzen aber wahrgenommen.
Arthrose, Arthritis, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und weitere chronische Erkrankungen, die mit Schmerzen einhergehen, machen auch vor Menschen mit Demenz nicht halt. Doch diese Menschen erhalten vielfach weniger Schmerzmittel, oft sind ihre Krankheiten gar nicht bekannt. Die Betroffenen selbst können davon nicht mehr berichten, Angehörige fehlen oder haben kein Wissen über Erkrankungen. Und hier liegt es dann ganz besonders in der pflegerischen Kompetenz, Schmerzen der Betroffenen zu erkennen und natürlich auch zu lindern. Wenn eine Pflegekraft vermutet, dass ein demenziell erkrankter Mensch Schmerzen hat, dieses jedoch auf Nachfrage verneint, muss gezielter gefragt werden. Schon das Wort »Schmerz« kann evtl. nicht mehr verstanden werden. Scheuen Sie sich daher nicht, Ihre Sprache/Frage zu vereinfachen: »Tut Ihnen etwas weh?« – »Haben Sie Aua?« Auch wenn das nach Kindersprache klingt … – es zählt, dass es verstanden wird!
Studien zeigen, dass an Demenz erkrankte Menschen auch in akuten Schmerzsituationen weniger Schmerzmittel erhalten, als geistig »Normale « bei gleicher Erkrankung.11
Strukturieren Sie die Maßnahmen, um den Tagesablauf so wenig wie möglich zu verändern. Die tägliche Routine ist wichtig und lindernde Maßnahmen sind flexibel einzubauen.
Beispiel Dem Schmerz davonlaufen …
Frau K. ist vor Jahren aus dem Ausland nach Deutschland gezogen und hat bislang allein gelebt. Wegen einer fortschreitenden Demenz ist sie nun im Pflegeheim, wo sie sich gut eingelebt hat. Sie ist freundlich und zugewandt. Bei der Nahrungsaufnahme und dem Trinken bestehen keine Probleme. Frau K. ist Raucherin und geht gern selbstständig auf die Gemeinschaftsterrasse, um sich dort mit anderen Bewohnern zu unterhalten. Bei einem dieser Gänge stürzt sie und erleidet eine Fraktur des Oberschenkelhalses. Drei Tage nach der operativen Versorgung kommt sie zurück, darf das Bein mit 20 kg belasten, soll aber vermehrt Bettruhe einhalten und Physiotherapie erhalten. Auf Nachfrage verneint Frau K., dass sie Schmerzen habe und erhält daher keine Schmerzmedikamente. Es besteht noch eine mäßige Schwellung im Bereich der OP-Narbe. Die Fäden sind noch nicht gezogen.
Bereits am ersten Tag steht Frau K. ständig auf und geht auf der Station umher. Sie ist noch geschwächt und stark sturzgefährdet. Sie möchte nicht sitzen, isst und trinkt nur wenig. In den nächsten Tagen werden viele Maßnahmen getroffen: Frau K. erhält eine Klingelmatte, Ein- und Ausfuhr werden bilanziert. Es wird versucht, sie im Rollstuhl zu mobilisieren, aber das lehnt sie ab. Das Gehen am Rollator funktioniert zwar, doch Frau K. lässt den Rollator wiederholt stehen und geht allein weiter. Die einzigen ruhigen Minuten hat sie, wenn sie auf der Terrasse rauchen darf. Der Hausarzt lehnt eine Schmerzmedikation ab, da Frau K. keine Schmerzen angibt.
Ein Versuch mit Kälte-Akkus zur Linderung von (vermuteten) Schmerzen scheitert, da Frau K. keine Kälte mag. Das Pflegeteam zieht einen Beurteilungsbogen zur Schmerzeinschätzung hinzu und es ergeben sich klare Hinweise auf Schmerzen. Frau K. wird in ihrer Muttersprache erneut mit einfachen Worten gefragt, ob und wo es weh tut. Daraufhin zeigt sie auf ihr operiertes Bein und den Rücken. Mit diesen Erkenntnissen wird der Arzt nochmals informiert und verordnet 4 × 20 Tropfen eines Schmerzmittels. Außerdem wird versucht, mit einem Quarkwickel die Schwellung zu beeinflussen. Wichtig ist hier, dass der Quark mindestens Zimmertemperatur hat, da Frau K. mit der Kälte nicht zurechtkommt. Als Duftkompresse wird Lavendel angeboten, um Frau K. zu beruhigen und das ständige Gehen etwas zu minimieren. Wenn Frau K. liegt, wird sie entlastend gelagert. Außerdem wird sie regelmäßig zur Toilette gebracht und auch zum Rauchen begleitet.
Bereits nach einem Tag entspannt sich die Lage und Frau K. kommt mehr zur Ruhe. Sie kann sich besser an Absprachen halten und muss ihrem Schmerz nicht mehr davonlaufen.
Wenn es um »Schmerzen bei Demenz« geht, so liegt die Hauptaufgabe darin, den Schmerz überhaupt zu erkennen und zu erfassen. Die Schmerzbehandlung ist bei einem Menschen mit Demenz nicht anders als bei einem nicht an Demenz Erkrankten. Es können also auch alle nicht-medikamentösen Interventionen erfolgen. Dies hat den Vorteil, dass es nicht zu Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, z. B. Psychopharmaka, kommen kann.
Beispiel Abwehr durch Schmerzen
Herr M. zieht in das Haus Abendruh auf die Demenzstation ein. Seine Diagnosen: Demenz Typ Alzheimer, Gonarthrose beidseits, Z. n. Oberschenkelfraktur li.
Herr M. ist tagsüber und abends leicht lenkbar, läuft viel über den Wohnbereich, dabei hinkt er deutlich. Toilettengänge sind gut durchführbar.
Eine Medikamenteneinnahme lehnt er komplett ab, deshalb hat der Hausarzt alle Medikamente abgesetzt. Er isst und trinkt gerne und ausreichend. Herr M. äußert Schmerzen beim Aufstehen und Gehen, aber auch längeres Sitzen fällt ihm schwer. Morgens ist das Aufstehen schwierig und bei der Grundpflege zeigt Herr M. pflegeabwehrendes Verhalten. Bereits vor dem Heimeinzug wurde deshalb ein Versuch mit einem Schmerzpflaster gestartet, doch dann ist Herr M. vermehrt müde und sturzgefährdet. Deshalb möchten Arzt und Angehörige keinen weiteren Versuch in diese Richtung starten.
Das Pflegepersonal entscheidet sich für 15-minütige Anwendungen mit Infrarotlicht am Vor- und Nachmittag:
Herr M. setzt sich in seinen Sessel, die Hose wird nach oben geschoben, sodass die Knie frei sind. Das Licht wird ca. 40 cm vor seinen Knien in Position gebracht. Nach 3–4 Minuten wird überprüft, ob der Abstand groß genug ist. Herr M. versteht als ehemaliger Techniker, dass die Lampe empfindlich ist und akzeptiert sie. Eine Betreuungskraft unterhält sich mit Herrn M. während der Anwendung, danach bleibt er noch ein wenig sitzen und ruht. Er äußert Wohlbefinden und verspürt Linderung.
Morgens werden die Knie vor der Versorgung mit einem schmerzlindernden Öl eingerieben. Herr M. erhält eine Duftkompresse mit etwas Lavendelöl, weil er diesen Duft mag. An manchen Tagen, etwa wenn sich das Wetter ändert, werden diese Anwendungen auch am Abend durchgeführt. So findet Herr M. trotz Beschwerden leichter in den Schlaf.
Herr M. kann die Versorgung besser tolerieren. Er scheint insgesamt gelöster zu sein, das Gehen fällt ihm etwas leichter. Auch die Angehörigen erleben ihn zufrieden und glauben, dass es ihrem Vater besser geht.
Wenn Schmerzen bei Demenz erkannt und behandelt werden, so hat dies nicht nur eine Auswirkung auf den (nachlassenden) Schmerz. Auch unerwünschtes Verhalten wie Umherlaufen etc. ändert sich. Schließlich muss der Betroffene nicht mehr vor dem Schmerz davonlaufen. Zudem wird die Abwehr von Körperpflege reduziert, weil ein Körperteil nun weniger schmerzt.
Nach gelungener Schmerzerfassung und erfolgreicher Schmerzbehandlung ändert sich unerwünschtes Verhalten häufig oder wird leichter lenkbar – wenn die Ursache unbehandelter Schmerz war.
1.3 Der Schmerzbehandlungsprozess
Schmerzen sind ein zentrales Thema in der Pflege bzw. sollten es sein. Allein die Tatsache, dass es für das Schmerzgeschehen zwei Expertenstandards gibt, ist ein Zeichen, dass dies ein komplexes und relevantes Thema für die Pflege ist. Schmerzen sind aufgrund ihrer biopsychosozialen Wirkung ein entscheidender Faktor für die Lebensqualität bzw. das Fehlen eben dieser. Ebenso können Schmerzen zu Einschränkungen in allen Aktivitäten des täglichen Lebens führen. Daher ist es zwingend notwendig, dass die Pflege korrekt mit dem Thema Schmerz umgeht, nicht nur in der Durchführung der Therapie, sondern auch im Erkennen von Schmerzen und dem Evaluieren der Schmerztherapie.
Fazit Erfolgreiche Schmerzbehandlung
Eine erfolgreiche Schmerzbehandlung ist ein Prozess, der mehrere Schritte durchläuft. Er ähnelt im Grunde dem Pflegeprozess.
Die Schmerzbehandlung ist ein Prozess, weil sie ein Vorgang ist, der sich entwickelt und verändert. Dies trifft sowohl auf den Schmerz zu als auch auf dessen Behandlung. Insofern müssen alle im interdisziplinären Team an der Schmerzbehandlung teilnehmen und sie ggf. verändern. In Schmerzkliniken, die auf chronische Schmerzerkrankungen ausgelegt sind, findet sich beispielsweise ein multiprofessionelles Team zusammen: Ärzte verschiedener Fachrichtungen, Pflegekräfte, Psychologen, Ergotherapeuten, Sozialpädagogen und Physiotherapeuten etc. Das besonders Wichtige ist, dass diese Berufsgruppen gemeinsam arbeiten. Jede Meinung, jede Ansicht ist wichtig. Es finden regelmäßig Fallgespräche, auch mit dem Betroffenen zusammen, statt. Die Therapie wird individuell auf den Schmerzpatienten zugeschnitten. Und die Erfolgsquote ist hoch, auch bei Menschen, die bereits lange unter Schmerzen leiden.
Nun ist es im Pflegeheim wohl eher selten, dass ein Bewohner in solch eine Schmerzklinik überwiesen wird, auch wenn sehr viele Menschen davon profitieren würden. Das bedeutet aber umso mehr: Pflegekräfte und alle Professionen, die sich um Menschen kümmern, brauchen Wissen und Zusammenarbeit, um die Lebensqualität von Betroffenen zu stärken.
Der Schmerzbehandlungsprozess bezieht alle Beteiligten mit ein. Er gliedert sich in mehrere Teile, enthält Kontrollmechanismen sowie Hilfsmittel, um einen kontrollierten Prozess zu ermöglichen, der zu einer erfolgreichen Schmerzbehandlung führt:
1. Schmerzanamnese
2. Schmerzeinschätzung
3. Planung der Therapie im interdisziplinären Team
4. Durchführung der Therapie
5. Schmerzvisite
1.3.1 Die Schmerzanamnese
Die Schmerzanamnese ist der Beginn des Behandlungsprozesses und wird dann durchgeführt, wenn ein Bewohner Schmerzen äußert oder der Verdacht besteht, dass ein Bewohner Schmerzen haben könnte. Als Grundlage für eine Schmerzanamnese dient die allgemeine Anamnese des Patienten, denn nur auf dieser Basis kann eine Schmerzanamnese vollständig durchgeführt werden. Die allgemeine Anamnese sollte folgende Themen beinhalten:
•Biografie
•Diagnosen
•Verordnungen
•Einschätzung der Fähigkeiten/Defizite im täglichen Leben
•Vitalwerte
•Tagesstruktur/Gewohnheiten
Können aufgrund kognitiver oder anderer Defizite einzelne Themen nicht erfasst werden, sollten Angehörige dazu befragt werden.
Fazit Allgemeine Anamnese
Die allgemeine Anamnese ermöglicht es oft, die Ätiologie des Schmerzes zu bestimmen und gibt Hinweise auf eventuelle Coping- Strategien des Betroffenen.
Die Schmerzanamnese besteht aus mehreren Teilen12:
•Eigeneinschätzung des Schmerzes
– Selbstauskunft per VRS/NRS (verbale/nummerische Ratingskala)
•evtl. Fremdeinschätzung des Schmerzes
– z. B. BESD ( Kap. 1.3.2), dann notwendig, wenn die Kommunikationsfähigkeit der Person eingeschränkt und Eigenauskunft nicht möglich ist.
•Schmerzbeschreibung
– Lokalisation: Wo befindet sich der Schmerz? Ist der Schmerz nur an einem Punkt oder wandert er?
– Schmerzauslöser: Lösen bestimmte Handlungen den Schmerz aus, wie z. B. Aufstehen? Verstärken bestimmte Handlungen den Schmerz?
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783842690110
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (November)
- Schlagworte
- Altenpflege Ambulante & häusliche Pflege Gesundheitslexika & Medikamentenratgeber Medizin Pflege Pflegemanagement & -planung