Zusammenfassung
Mit den Geschichten in diesem Buch gelingt es dem Autor, einen Bogen zwischen schönen, unterhaltsamen Geschichten und Gesprächsimpulsen zu spannen. Denn die Texte sind nicht nur unterhaltsam, gleichsam regen sie zum Nachdenken und zum gegenseitigen Austausch ein. Kognitiv eingeschränkte Personen können „nur“ die Geschichte an sich genießen, während geistig rege Senioren eingeladen werden, zum jeweiligen Thema weiter zu diskutieren.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Geschichten, die so »bunt wie das Leben« sind, machen Freude, regen zum Nachdenken an und können Impulsgeber für Gespräche zu aktuellen Themen oder zur Erinnerungsarbeit in der Betreuung von älteren Menschen sein. Besonders attraktiv ist es daher, die Geschichten vorgelesen zu bekommen und miteinander zu genießen. So können im Nachhinein ein gemeinsamer Austausch und spannende Diskussionen erfolgen.
Betreuungskräfte haben mit den vorliegenden Geschichten die Möglichkeit, Menschen zu unterhalten, zu Gesprächen oder Erinnerungen zu aktivieren oder einfach zum Genießen oder Nachdenken anzuregen.
Dabei lassen sich die Erzählungen von Ari Dreer in drei Bereiche unterteilen: den »Lebensgeschichten«, die autobiografisch gefärbte Erinnerungen und aktuelle Begebenheiten aufgreifen. Dann folgen die »Traumwelten« mit Ereignissen, die für die handelnden Personen zum Teil wegweisend sind. Abschließend werden in der »Märchenzeit« fantastische Elemente mit ganz realen Fragestellungen und Denkanstößen verknüpft.
Alle Erzählungen sind gleichermaßen für kognitiv gesunde und fitte Lesende und/oder Zuhörende geeignet. Für kognitiv eingeschränkte Menschen sind – je nach Ausprägung – eher die »Lebensgeschichten« zu empfehlen, da in den Geschichten der »Traumwelten« und der »Märchenzeit« eine gewisse Abstraktionsfähigkeit vorhanden sein sollte.
Führen diese Erzählungen in einen regen, nachdenklichen Austausch und ein fröhliches Zusammensein, haben sie ihr Ziel erreicht. Vielleicht wird dann auch schon die nächste »Lesestunde« geplant. In diesem Sinne: Viel Spaß!
Lebensgeschichten
Autoritäten
Einen wesentlichen Teil meiner Kindheit habe ich in Chemnitz auf dem Bauernhof meines Onkels Willy verbracht, dem Lieblingsbruder meiner Mutter. Meine Eltern zogen 1939, als ich vier Jahre alt war, mit mir von Chemnitz nach Berlin. Dort lebte ich bis 1941, bis kurz nach der Einschulung. Nach Ablauf des ersten Schulhalbjahres gaben mich die Eltern, wohl auf mein Drängen hin, zu meinem Onkel Willy.
Sein Hof lag außerhalb der Stadt mitten zwischen Feldern und Wiesen. Es war ein sogenannter Einödhof, die nächsten Nachbarn waren 500 Meter bis einen Kilometer entfernt. Unsere südliche Weide wurde durch einen großen Güterbahnhof begrenzt. Das war ein Verschiebebahnhof, in dem die Züge neu zusammengestellt wurden. Am Zaun des Bahnhofs längs führte der Schwarze Weg. Daran entlang mussten wir Kinder zur Schule gehen. … Eigentlich. Aber meist gingen wir den kürzeren Weg über die Gleise, durch eine »bewegliche« Zaunlatte hindurch. Das war natürlich verboten. Doch für uns machte das einen besonderen Reiz aus. Nicht nur, dass der Weg kürzer war, gleichzeitig konnten wir oft genug dem Zusammenstellen der Güterzüge zuschauen. Das führte wiederum – der Wegersparnis zum Trotz – immer mal wieder zur Verspätungen in der Schule.
Das war aber ein Problem, denn der Hausmeister schloss pünktlich um 8:00 Uhr die Schultür ab. Wer zu spät kam, musste dann läuten und wurde unweigerlich zum Rektor gebracht, um sich eine Standpauke anzuhören. Im Wiederholungsfall gab es einen Eintrag ins Klassenbuch, der dann bei der Zeugnisvergabe zur entsprechenden Bewertung führte. Vorab wurden aber noch die Erziehungsberechtigten informiert, damit sie entsprechend auf das Kind einwirken konnten. Im Klartext hieß das bei den meisten von uns: eine Tracht Prügel! Schließlich sollten wir im Geist der damaligen Zeit alle zu gehorsamen Menschen und späteren Soldaten, im Sinne der Nationalsozialisten, getrimmt, nein »erzogen« werden.
Eines Tages, ich besuchte inzwischen die dritte Klasse, nahm ich mal wieder den verbotenen Schienenübergang zur Schule. Gerade wurden wieder Züge zusammengestellt, was für mich natürlich äußerst spannend war. Denn manchmal, so auch dieses Mal, wurde ein kompletter Zug den sogenannten Ablaufberg hinaufgezogen. Dann koppelte man die jeweiligen Wagons ab und ließ sie von selbst wieder abwärts laufen, um sie an den jeweiligen neuen Zug automatisch anzukoppeln.
Als ich an diesem Tag schließlich die Schule erreichte, war es 8:01 Uhr und der Gang zum Rektor war fällig. Nach der entsprechenden »Ansage« musste ich einen Brief mit nach Hause nehmen und von meinem Onkel unterschrieben am nächsten Tag zurück in die Schule bringen. Ein unangenehmes Unterfangen!
Aber mein Onkel war ein verständiger und lebenskluger Mann. Er hörte sich meine Beichte an und meinte: »Ich unterschreibe den Brief und die Erklärung, dir die Leviten gelesen zu haben. Aber pass’ in Zukunft besser auf, dass so etwas nicht mehr vorkommt! Dennoch will ich dir noch eins sagen – sollte das doch noch mal passieren, dann stell’ dir den Rektor auf dem Klo sitzend vor. Wenn der nämlich die Hosen runter lässt, sieht das nicht anders aus als bei dir. Du wirst dann keine Angst mehr vor ihm oder ähnlichen Leuten haben, die dir in deinem Leben begegnen werden.«
Einige Wochen später gab es wieder eine Situation in der Schule, in der zwei andere Jungs und ich die Leviten gelesen bekamen. Als uns der Hausmeister zum Rektor führte, musste ich plötzlich grinsen. »Was grinst du denn?« herrschte mich der Rektor beim Eintreten an. »Oh, ich musste gerade an einen Witz denken, den mir neulich mein Onkel aus seiner eigenen Schulzeit erzählt hat.«
Die folgende Standpauke habe ich mir dann viel entspannter angehört als je zuvor. Der gute Tipp meines Onkels führte auch dazu, dass ich im späteren Leben keine Angst mehr vor Autoritäten hatte – schon gar nicht vor solchen Menschen, die sich entsprechend aufführten.
Das Kaleidoskop
Daniel hatte schlechte Laune. Schon längere Zeit war er trübsinnig. Wenn er richtig darüber nachdachte, fing es mit der Schlechtwetterperiode letzten Monat im November an. Er war regelrecht deprimiert. »Was war bloß mit ihm los?«, grübelte er. Die richtige Freude am Leben wollte sich nicht mehr einstellen, er empfand alles als Grau in Grau und die anderen Menschen, so schien es ihm, schlichen auch nur so die Straßen und Fußwege entlang.
Heute saß Daniel in seinem Lieblings-Café an einem Fenstertisch und schaute durch die regennasse Scheibe auf die Straße hinaus. Die Menschen hasteten vorbei. »Was ist denn los mit dir?« fragte ihn Annika, die freundliche Bedienung, als sie an seinen Tisch trat, um seine Bestellung aufzunehmen. Da er schon seit längerer Zeit dieses Café regelmäßig besuchte, kannte sie ihn ganz gut. Irgendwann hatten sie angefangen, das »Sie« wegzulassen und sich zu duzen. Daniel seufzte: »Ach, mir geht es nicht so gut. Bin aber nicht krank, es ist eher so die allgemeine Stimmung. Bring mir bitte doch einen Kaffee – vielleicht macht der mich ein wenig munter.« »Wie du meinst«, lächelte Annika freundlich und verschwand wieder hinter der Theke.
Als der Kaffee auf dem Tisch stand, schlürfte Daniel ihn dann doch recht lustlos. »Na, so ist es eben«, dachte er. Als er sich weiter seinem Grübeln hingab, fiel ihm plötzlich ein Wort ein: »Kaleidoskop!« Ein Kaleidoskop hatte er als Kind mal zum Geburtstag geschenkt bekommen. Wie war er begeistert von dem kurzen Rohr aus Pappe mit seiner bunten Füllung. Denn am unteren Ende waren viele bunte Glasscheibchen im Rohr verbaut. Wenn man von oben hinein sah und die Kaleidoskop-Röhre drehte formierten sich die Glassteinchen zu immer neuen Figuren. Ständig veränderten sie sich. »Wo wohl sein altes Kaleidoskop geblieben war«, fragte sich Daniel nun. Vielleicht würde er es in seinem Arbeitszimmer im Schreibtisch oder in seiner alten »Schatzkiste« auf dem Dachboden wiederfinden? Das ließ ihm keine Ruhe – gleich wollte er danach suchen.
Annika war schon erstaunt, als Daniel so plötzlich aufstand, seinen Kaffee bezahlte und hastig das Café verließ. »Ich muss doch mal sehen, ob ich das noch habe.« Er eilte nach Hause und begann sofort im Arbeitszimmer zu suchen. So einige Sachen hatte er noch aus seiner Kindheit aufgehoben in den Schubladen oder in der »Schatzkiste«, einer alten Holzkiste, deponiert.
Daniel war froh, dass niemand sonst zu Hause war: Die Kinder waren wohl noch in der Schule und seine Frau zur Arbeit. Nach einer halben Stunde des erfolglosen Suchens in seinem Büro, stieg er die Treppe zum Dachboden hinauf. Dort wurde er dann schnell fündig und hielt sein altes Kaleidoskop in den Händen.
Rasch ging er wieder hinunter, setzte sich hin und atmete tief durch. Ein irgendwie wohliges Gefühl durchströmte ihn. Lange nicht gehabt. Dann nahm er die kleine Pappröhre und schaute hindurch. Was er da sah, begeisterte ihn immer mehr. Dauernd wechselnde Bilder und manchmal auch irgendwelche Figuren, Tiere oder so. Schließlich stand er auf und ging wieder in ›sein Café‹.
Annika schaute ihm gespannt und auch etwas skeptisch entgegen. »Na, noch’n Kaffee?« »Oh ja, mindestens einen«! Damit setzte er sich wieder an seinen Stammplatz und schaute durch die Scheibe nach draußen. Er hatte sein Kaleidoskop auf den Tisch gelegt. Annika stellte die Bestellung hin und fragte: »Was hast’n da?« Daniel blickte sie vergnügt an und erklärte es ihr. »Hier, guck doch mal selbst«. Sie schaute ganz fasziniert hindurch und gab ständig erstaunte Ausrufe von sich. »Mensch, ist ja klasse! Jetzt geht’s dir offensichtlich besser«.
»Ja«, meinte er. Ihm kam die Welt ganz verändert vor. Die Menschen hasteten zwar immer noch draußen entlang. Aber jetzt, wo er genauer hinsah, bemerkte er plötzlich, dass auch manche langsamer liefen, verschiedenfarbige Sachen an hatten, Radfahrer mit bunter Kleidung vorbei fuhren, Kinder am Fenster vorbei rannten und Faxen machten. Annika sah, dass er ganz begeistert war. »Na, geht’s dir besser«? »Weißt du, mein Kaleidoskop hat mir wieder beigebracht, dass die Welt ganz und gar nicht immer so grau ist, wie ich sie gesehen habe. Man muss nur genauer hingucken!«
»Ja, ich glaube, da hast du recht«, gab sie ihm zurück, »das machen wir viel zu selten«.
Müßiggang
Hannes freut sich, dass er endlich Ferien hat und mit seinen Freunden spielen kann. Sie haben sich im Park gegenüber verabredet. Er nimmt seine Jacke, steckt seine Schlüssel ein und sagt seiner Mutter noch schnell, dass er spielen geht. Auf den Schlüssel ist er besonders stolz. Als er im letzten Monat zwölf wurde, bekam er ihn ganz feierlich von seinem Vater ausgehändigt. Er sei nun groß genug, dass er auch dann aus der Wohnung gehen könne, wenn die Eltern mal nicht da seien!
Als Hannes auf die Straße tritt, verlässt gleichzeitig ein Mann das Nebenhaus, den er vom Sehen kennt. Der Mann läuft die Straße hinunter in Richtung Pestalozziplatz. Hannes hat ihn schon oft gesehen, immer mittwochs. Offenbar hat er keine Eile, denn er schlendert nur so dahin.
Jetzt ist Hannes neugierig geworden. Das Ganze kommt ihm plötzlich merkwürdig vor. Nach einigem Zögern beschließt er, dem Mann hinterher zu gehen. Der biegt an der Straße zum Platz rechts ab, geht die Straße hinunter bis zum Platz, einem kleinen begrünten Ort mit Bänken und einem Spielplatz für kleinere Kinder. Dort setzt sich der Mann auf eine Bank und sieht den Kindern beim Spielen zu.
Die Mütter sitzen an der Seite auf den Bänken und unterhalten sich. Als einem kleinen Mädchen der Ball aus der Hand rutscht und vor dem Mann liegen bleibt, hebt er ihn auf. Das Kind kommt langsam näher, bleibt vor ihm stehen und schaut ihn an. Der Mann sagt etwas zu ihr, was Hannes nicht verstehen kann. Er ist ein ganzes Stück weiter neben einem Baum stehen geblieben, damit der Mann ihn nicht sehen kann. Dieser gibt dem Mädchen den Ball, steht dann auf und geht davon.
So spaziert er langsam durch die Straßen, bleibt mal da oder dort stehen und beobachtet die Leute, die an ihm vorbeihasten. Sie eilen alle so, als ob sie ein bestimmtes Ziel hätten, eine Bahn erreichen müssten, einen Termin irgendwo haben oder was sonst. Auch die, die auf ihr Handy starren, darauf herumtippen und achtgeben müssen, dass sie nirgends gegenrennen. Hannes hat deshalb auch Mühe, den Mann nicht aus den Augen zu verlieren. Ständig kreuzen irgendwelche Leute seinen Weg und nehmen ihm die Sicht.
»Was hat er bloß vor?«, denkt Hannes. Die ganze Sache kommt ihm immer mysteriöser vor. Jetzt will er es erst recht genauer wissen. Er bleibt dem Mann also auf den Fersen.
Dieser geht jetzt in einen Buchladen und verschwindet hinter den Regalreihen. Hannes kann ihn nicht mehr sehen, bleibt aber auf der anderen Straßenseite und beobachtet das Geschäft. Nach einer halben Stunde kommt der Mann endlich wieder heraus und geht langsam weiter. Er trägt einen kleinen Plastikbeutel, in dem sich wohl ein Buch befindet, in der Hand. Als er nach einiger Zeit abbiegt, stellt Hannes fest, dass er offensichtlich nach Hause geht. Er atmet auf. So langsam wird es ihm doch ein bisschen zu langweilig, aber er will ja unbedingt wissen, was es mit dem Mann auf sich hat.
Nachdem sie in die Straße eingebogen sind, in der sie beide wohnen, bleibt der Mann plötzlich stehen, dreht sich um und wartet, bis Hannes ihn eingeholt hat. Hannes bleibt auch stehen und starrt den Mann an. Dieser lächelt ihn an: »Na du, bist du jetzt zufrieden? Nun weißt du wohl, was ich so mache!« Hannes ist so verblüfft, dass er gar nicht weiß, was er antworten soll. Er hatte ihn also doch bemerkt.
Endlich kann er antworten: »Ja, aber Sie sind ja nur durch die Stadt gelaufen und haben meistens nur so rumgeguckt!« Der Mann grinst breit: »Du hast das ganz gut beobachtet.« »Warum machen Sie das?«, entgegnet Hannes.
Der Mann wird ernst: »Weißt du, die Menschen haben den Müßiggang verlernt. Sie rennen und hasten und nehmen die Umgebung mit vielen schönen und interessanten Dingen gar nicht mehr wahr. Und entspannend ist es auch.« Hannes nickt nur. »Sag mal«, meint der Mann, »wie heißt du eigentlich?«. »Hannes, und Sie?« »Klaus-Peter, kannst aber Klaus zu mir sagen.« Dabei gibt er ihm die Hand: »Wenn du Lust hast, kannst du ja mal mitkommen. Immer mittwochs, so um 14:00 Uhr ist bei mir Müßiggang- Zeit.« »Ja, vielleicht«, sagt Hannes, »dann erst mal Tschüss, Klaus«.
Hannes dreht sich um und rennt schnell zum Park gegenüber, wo seine Freunde schon seit Stunden auf ihn warten. »Wo warst du denn so lange?«, rufen sie. »Stellt euch vor, der Mann aus unserem Nachbarhaus ist einfach so durch die Stadt gegangen, einfach nur so!« »Einfach so?«, staunen die Freunde. »Ja, einfach so. Und das nächste Mal kann ich mitgehen, hat er gesagt!« »Einfach so?« »Klar, einfach so!«

Wolfsgeheul
So langsam kam er richtig ins Schwitzen. Christoph lief seine tägliche Joggingtour durch den Wald. Nicht mehr weit, und er wäre bald zu Hause.
Christoph Wendt war Umweltminister im Heideland und musste bald entscheiden, was mit dem streunenden Wolf im Heidekreis, der offenbar keine Scheu vor den Menschen hat, geschehen sollte. Der Wolf war kürzlich einer Frau mit Kinderwagen und Hund im Ort hinterher gelaufen, hatte mit dem Hund kurz Schnauze an Schnauze gestanden und sich dann getrollt. »Glück für den Hund«, dachte Christoph. Er grübelte so vor sich hin, wie er sich entscheiden sollte.
Plötzlich ertönte hinter ihm ein markerschütterndes Geheul. Sofort wusste Christoph: »Das war der Wolf!« Leicht panisch drehte er sich um. Keine 50 Meter von ihm entfernt stand das Tier und heulte noch einmal. Dann setzte es sich langsam in Bewegung und ging auf Christoph zu. Christoph wusste, dass er nicht wegrennen sollte. Aber er wollte auch nicht stehen bleiben und so ging er ruhig aber zügig in Richtung Dorf, wo er wohnte. Ab und zu schaute er sich um, um zu gucken, was der Wolf machte. Dieser lief offenbar kontinuierlich mit zirka 30 Meter Abstand hinter ihm her. Jetzt wurde es Christoph unheimlich und er atmete auf, als er sein Haus durch die letzten Bäume des Waldes schimmern sah.
Erleichtert betrat er den kurzen Weg zur Haustür. Eine Gartenpforte gab es bei ihm nicht. Hätte es eine gegeben, hätte er sie jetzt bestimmt hinter sich geschlossen. Etwas fahrig fingerte er den Hausschlüssel aus der Tasche und steckte ihn ins Schloss. In diesem Moment erscholl wieder das Geheul, dieses Mal ganz dicht hinter ihm. Mit einem Ruck stieß Christoph die Tür auf, und stolperte ins Haus. Dabei sah er sich noch einmal um: Der Wolf saß kaum fünf Meter hinter ihm und heulte schaurig. Christoph stürzte vor Schreck in den Flur, schlug lang hin und stieß mit dem Kopf irgendwo gegen. Bevor er das Bewusstsein verlor, sah er noch die offene Haustür: Kurz vor der ersten Stufe stand der Wolf und sah ihn stumm an.
Als Christoph die Augen wieder aufschlug, schaute er sich verwirrt um. Er war völlig durchgeschwitzt und lag vor seinem Bett. Erst allmählich begriff er, dass alles nur ein Traum war. Erleichtert rappelte er sich auf und ging zum Telefon. Es war zwar noch ein bisschen früh, aber er wollte trotzdem versuchen, seinen Freund Stefan zu erreichen. Er hatte eine Idee. Stefan war Biologe und könnte sich vielleicht auch an diesem Einfall begeistern.
»Ja?« kam es vom anderen Ende der Leitung. Eine Frauenstimme. »Ach, du bist es, Adelheid. Hier ist Christoph, ist Stefan schon wach?« »Ja, ich gebe den Hörer mal an ihn weiter.« Es raschelte ein wenig, dann meldete sich Stefan: »Hallo, Christoph, so früh schon auf den Beinen?« Christoph sprudelte gleich los: »Ja, Stefan, ich muss dir was erzählen.«, Er erzählte ihm von seinem Traum und dann erläuterte er seine Idee: »Wie du weißt, muss ich mich jetzt schnell entscheiden, was mit dem Wolf geschehen soll. Viele Menschen haben Angst oder sind unsicher. Wir müssen also etwas unternehmen. Im äußersten Falle würde das eine sogenannte Entnahme bedeuten. Aber ich will ihn nicht abschießen lassen. Meine Idee ist nun: Du hast dich doch immer schon auch mit der Frage beschäftigt, wie der Wolf zum Menschen kam? Vielleicht könntest du dazu beitragen, das Rätsel zu lösen. Wie wäre es, wenn du den relativ zahmen Wolf dazu bringen würdest, dir zu folgen, um auf deinem Hof zu leben? Vielleicht ist er ja wirklich einer von den Exemplaren, die den Menschen regelrecht suchen, um bei ihm Anschluss zu finden. Quasi der Mensch als Ersatzrudel. Was hältst du davon?« Eine Weile war es still in der Leitung. Dann räusperte sich Stefan und sagte: »Mensch, Christoph, das ist ja eine interessante Idee. Aber ich muss drüber nachdenken, ob das zu realisieren ist.« »Tu das«, meinte Christoph, »ich muss jetzt los. Melde dich bald, viel Zeit bleibt nicht mehr. Tschüss«. Er legte auf und ging ins Bad, um sich seine Joggingsachen anzuziehen und eine Runde durch den Wald zu drehen.
Hannibal
»Waldemar, komm doch mal.« Elfriede stand in der Küche, um das Abendessen vorzubereiten, als sie nach ihrem Mann rief. Waldemar stemmte sich aus seinem Sessel, um in die Küche zu gehen: »Was ist denn los?« Elfriede sah ihn ganz aufgeregt und empört an: »Nun sieh dir das an«, sagte sie und deutete dabei auf den Küchenschrank, dessen untere Türen offen standen. »Siehst du die Bescherung?« Auf den Tellern und Platten in den unteren Regalbrettern des Schrankes lagen Mäuseköttel. »Wie oft habe ich die schon in der letzten Zeit weggemacht!« empörte sich Elfriede. »Du musst endlich was unternehmen. Wir haben eine Maus in der Küche und die muss weg! Meine Geduld und Toleranz sind am Ende!«
Waldemar wiegte bedenklich seinen Kopf. »Da hilft wohl nur noch eine Falle. Armes Mäuschen, anders geht es jetzt nicht.« Damit drehte er sich um und stieg in den Keller hinab, in seine kleine Werkstatt. Ein paar Minuten später betrat er die Küche erneut – dieses Mal mit einer Mausefalle in der Hand. Auf der Anrichte schnitt er ein Stückchen Speck ab und hakte diesen sorgfältig in der Falle fest. Dann stellte er die Mausefalle in den Schrank und schloss die Türen. »Nun bin ich aber gespannt. Du weißt ja, dass es nicht immer gleich klappt«, meinte er noch und ging zurück an seinen Platz im Wohnzimmer.
Als Elfriede am nächsten Tag nach der Falle sah, war sie leer und der Speck war weg. »Ach, so eine bist du«, murmelte sie vor sich hin, »warte nur, wir kriegen dich noch!« Sie war überzeugt davon, dass es lediglich ein paar Tage dauern würde, bis die Maus in die Falle ging.
Doch die Tage vergingen – immer mit dem gleichen Ergebnis. »Waldemar« rief Elfriede Abend für Abend, »es ist immer noch nichts passiert!« Waldemar kam dann in die Küche geschlurft, bestückte die Falle mit frischem Speck und stellte sie wieder in den Schrank. Nach fünf Tagen war aber auch er ratlos. Dann kam ihm eine Idee: »Es heißt zwar, ›mit Speck fängt man Mäuse‹, aber manchmal tut es vielleicht auch Käse.« Er nahm die Falle heraus und legte ein Stück Käse hinein.
Doch auch die nächsten Tage erlebte Elfriede das Gleiche, wie schon zuvor mit dem Speck: Der Käse war weg, die Falle leer geräubert! Es war zum Haare ausraufen!
Am nächsten Sonntag stand Elfriede in der Küche, um das Essen vorzubereiten. Als sie eine Zwiebel auf das Schneidebrett legte, stockte ihr fast der Atem. Vor ihr, ein Stückchen vom Brett entfernt, saß eine Maus. Eine richtige Maus! Sie saß auf ihren Hinterbeinen und blickte Elfriede mit ihren großen Knopfaugen an. Ein Ohr hing traurig herab. Wahrscheinlich hatte sie es bei einem Kampf verletzt oder sie war der Katze gerade noch mal entwischt. Erst wollte Elfriede wieder laut nach ihrem Mann rufen, doch dann hielt sie inne. Ihr kam ein Gedanke: »Hör mal zu, Hannibal«, sagte sie zu der vor ihr sitzenden Maus (der Name war ihr plötzlich wegen des kaputten Ohrs in den Sinn gekommen), »du bist so schlau und tapfer, du sollst leben und zwar draußen im Garten und nicht in meiner Küche! Wir treffen eine Verabredung: Ich stelle dir jeden Tag etwas Futter auf die Terrasse. Dafür bleibst du draußen im Garten, wo du hin gehörst. Dann wirst du sicherlich auch bald eine Gefährtin finden!«
Elfriede ging zur Terrassentür und öffnete sie. Gespannt beobachte sie Hannibal. Der war plötzlich vom Küchenschrank verschwunden und tauchte nun vor der Terrassentür wieder auf. Dort drehte er sich noch einmal um und verschwand im Garten. Elfriede musste sich glatt eine Träne verkneifen, glaubte sie doch, sein Blick sei etwas traurig gewesen. Seitdem stellt sie jeden Tag etwas Futter vor die Terrassentür. Und jeden Tag sind die Teller aufs Neue geleert. Eines Tages machte sie eine besondere Beobachtung: Am Futterteller hockten zwei Mäuse und knabberten gemeinsam am Käse. Das musste sie Waldemar zeigen.
Als sie dann zusammen am Fenster standen zwinkerten sich Waldemar und Elfriede zu und lächelten. Erst jetzt erzählte Elfriede ihrem Mann von ihrer »Vereinbarung« mit Hannibal. Waldemar schüttelte ungläubig den Kopf und ging wieder ins Wohnzimmer. »Viel Glück, Hannibal«, murmelte Elfriede noch leise vor sich hin.
Das Sonntagsessen schmeckte beiden heute besonders gut!
Wartezimmer
Das Wartezimmer war voll. Erna Neumann betrat den Raum und hielt nach einem freien Platz Ausschau. In der linken und der rechten Stuhlreihe gab es noch zwei Plätze, jeweils nebeneinander. Glücklich, nicht stehen zu müssen, ließ sich Erna auf einem der freien Stühle nieder. Nach ihr erschien noch ein älterer Mann, weißhaarig und mit weißem Bart. Er setzte sich ihr gegenüber und grüßte freundlich in die Runde. Einige nickten, aber keiner sagte etwas. Manche blätterten in einer Zeitschrift, andere starrten auf ihr Handy, ein paar stierten nur so vor sich hin.
Minuten später kam eine noch junge Frau mit ihrer wohl 15–16-jährigen Tochter in den Wartebereich. Das Mädchen setzte sich neben Erna Neumann und die Mutter nahm neben dem Weißhaarigen Platz. Alle im Raum schwiegen nun vor sich hin. Erna dachte, »Warum eigentlich?« Aber sie selbst traute sich auch nicht, einfach etwas zu sagen und eine Unterhaltung zu beginnen.
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783842690219
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2019 (November)
- Schlagworte
- Aktivieren Alltagsbegleiter Beschäftigen Seniorenarbeit