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Gesund mit heimischen Heilpflanzen

Mit 10 Heilkräutern 100 Beschwerden und Erkrankungen behandeln. Mit Beiträgen vom Extrembotaniker Jürgen Feder. Zertifiziert von der Stiftung Gesundheit

von Anne Wanitschek (Autor:in) Sebastian Vigl (Autor:in)
240 Seiten

Zusammenfassung

Generationen von Heilkundigen nutzten die Heilkräuter vor ihrer
Haustür. Besonders heutzutage brauchen Pflanzen, die in unserer Nachbarschaft wachsen, besondere Widerstandskräfte. Dafür entwickeln sie Inhaltsstoffe, die uns zur Genesung dienen können.
Anne Wanitschek und Sebastian Vigl zeigen, welche Heilpflanzen sich für Tees, Salben und Tinkturen eignen. Sie stellen eine Hausapotheke mit nur 10 Heilpflanzen vor, die leicht zu finden und anzuwenden sind. Auf rein pflanzlicher Basis lassen sich mit ihnen die häufigsten Beschwerden und Erkrankungen behandeln. Der als Autor und durch Fernsehauftritte bekannte „Extrembotaniker“ Jürgen Feder ergänzt die Heilpflanzenporträts mit persönlichen Texten und Pflanzenfotos.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

auf der Suche nach Heilmitteln durchforsten Wissenschaftler extreme Lebensräume und finden dort Lebewesen, die Strategien entwickelt haben, um den Widrigkeiten zu trotzen. Die Wirkstoffe, die sie dafür bilden, können uns bei Krankheiten helfen. Der Biochemiker Giuseppe Brotzu entdeckte 1945 beispielsweise einen Pilz in einem sardischen Abwasserrohr. Dieser produziert einen Stoff, der bis heute in einzelnen Antibiotika zu finden ist und jedes Jahr viele Menschenleben rettet.

Lassen Sie uns gemeinsam einen extremen Lebensraum besuchen und dort nach Heilmitteln Ausschau halten: menschliche Siedlungen. Für uns sind diese recht komfortabel, doch Pflanzen stellen sie vor große Herausforderungen. Will eine Pflanze zum Beispiel auf einem Gehsteig gedeihen, braucht sie starke Widerstandskräfte. Hitze, Dürre, Überschwemmungen und der Tritt unserer Füße schwächen ihren Organismus. Die Pflanze schützt sich mit besonderen Inhaltsstoffen, die uns wiederum zur Genesung dienen können.

Viele unserer bekanntesten Heilpflanzen leben in menschlichen Siedlungen – wir begegnen ihnen jeden Tag! Vielleicht haben Sie bislang keine davon oder nur einzelne wahrgenommen; das möchten wir mit diesem Buch ändern. Wir stellen Ihnen zehn Heilpflanzen vor, die in Ihrer Nachbarschaft leben – ob Sie nun auf dem Land oder in der Stadt wohnen. Wir zeigen Ihnen, wie Sie mit diesen zehn Heilpflanzen eine komplette Hausapotheke zusammenstellen und mit ihr gerüstet sind gegen 100 der häufigsten Beschwerden und Krankheiten.

Das Wissen von Generationen von Heilkundigen konnte die moderne Wissenschaft inzwischen zu großen Teilen bestätigen. Auch in unserer Praxis und auf unseren Heilpflanzenführungen in Berlin profitieren Patienten heute von den Heilmöglichkeiten der einheimischen Pflanzenwelt. Wer den Pflanzenheilkundler Klaus Krämer gekannt hat, der begegnet seinem Geist und Wissen bei der Lektüre dieses Buches: Der 2016 verstorbene Heilpraktiker hat die Therapie mit Heilpflanzen in Deutschland durch die Verbindung von moderner Forschung und traditionellem Wissen belebt. Unsere Kenntnis und unsere Begeisterung für Heilpflanzen verdanken wir den Lehrjahren in seiner Schule und seiner Praxis.

Und jetzt sind Sie an der Reihe! Wir laden Sie ein, in die lange Tradition von Heilpflanzenkundigen einzutreten und Ihr Leben mit der Pflanzenheilkunde zu bereichern. Die Beschäftigung mit ihr ist nicht nur heilsam, sondern auch spannend. Daher haben wir für Sie interessante Porträts der einzelnen Heilpflanzen angefertigt – und dafür den „Extrembotaniker“ Jürgen Feder um seine Mitarbeit gebeten. Vielleicht kennen Sie Deutschlands bekanntesten Pflanzenexperten schon durch seine Auftritte im Fernsehen oder seine unterhaltsamen Bücher. Möge sein liebevoller, kenntnisreicher und humorvoller Blick auf die Pflanzenwelt und unser praktisches Wissen dieses Buch zu einem echten Gewinn für Sie und Ihre Lieben machen.

Wir wünschen Ihnen anregende und spannende Lesestunden und natürlich: Alles Gute für Ihre Gesundheit.

Die Heilpraktiker Anne Wanitschek und Sebastian Vigl

ZEHN HEILPFLANZEN VOR IHRER HAUSTÜR

Manche Nachbarn lernt man erst im Laufe der Zeit kennen, schätzen und lieben. Oft erst dann, wenn man plötzlich auf ihre Hilfe angewiesen ist. Solche Nachbarn stellen wir Ihnen in Ihrer Ortschaft vor. Dabei lernen Sie einige von einer neuen Seite kennen. Jemand, der Sie vielleicht bei der Gartenarbeit schon zur Weißglut gebracht hat, kann Ihnen Ruhe und Gelassenheit verschaffen. Ein bissiges grünes Wesen lindert Ihre Schmerzen. Eine der lieblichsten Pflanzen unserer Vorgärten und Parks kratzt Sie im Hals. Begleiten Sie uns auf eine spannende Entdeckungsreise zu den heilsamen Überraschungen der heimischen Pflanzenwelt.

Grüne Heiler sind nah – Heilpflanzen in unserer Nachbarschaft

Heilpflanzenführungen in Siedlungen sind ein Kinderspiel, denn auf zehn Metern Wegstrecke begegnen wir oft genau so vielen Heilpflanzen. Manche kriechen zwischen den Pflastersteinen, andere sprengen sich durch den Asphalt oder klettern an Laternen empor. Sie wachsen dort wegen uns: Sie kamen schon immer, wenn der Mensch sich ansiedelte und dabei die natürliche Vegetation störte.

Der Weg der Natur zurück zum Wald

„Wie sähe es hier wohl ohne uns Menschen aus?“ Zu diesem Gedankenexperiment laden wir manchmal auf unseren Führungen ein. Denn dabei lernen wir viel über die Heilpflanzen in unserer Umgebung. Sie kennen sicher den Alexanderplatz in Berlin. Täglich laufen über 300.000 Menschen über den mit Granit gepflasterten Platz. Wie sähe es hier aus, wenn wir Menschen nicht wären? Statt des von Einkaufszentren und Sehenswürdigkeiten wie Fernsehturm und Nikolaiviertel eingefassten Platzes stünde dort wahrscheinlich ein Buchenurwald. Wenn wir Menschen plötzlich nicht mehr da wären, würde es gar nicht so lange dauern: Dann stünden Buchen rund um den Alexanderturm.

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In einer Welt ohne Menschen wäre die Gegend von Berlin wahrscheinlich ein Buchenurwald.

Unweit des Alexanderplatzes gab es bis vor Kurzem noch einige Brachflächen, Relikte der bewegten Geschichte Berlins. Dort ließ sich sehr gut beobachten, welchen Weg die Natur nimmt, wenn wir sie gedeihen lassen. Auf den ersten Blick mag so eine Brache immer gleich aussehen: Irgendetwas Grünes wächst da. Wer die Brache über einen längeren Zeitpunkt beobachtet, sieht, wie sie sich verändert. Jedes Jahr stehen neue Pflanzen auf ihr, andere verschwinden. Zunächst siedeln sich kleine, meist einjährige Pflanzen an. Dann gesellen sich etwas höhere, mehrjährige Kräuter dazu und in ein paar Jahren bilden sich schon kleinere Büsche. Zum Schluss stehen die ersten Bäume auf der Brache. Dies ist die natürliche Vegetationsentwicklung an zunächst pflanzenfreien Standorten: Zuerst kommen die ganz kleinen und kurzlebigen. Dann kommen die etwas größeren und ausdauernden, bis zum Ende ein Wäldchen dasteht. Auf den Brachen Berlins besteht es häufig aus Pappeln, Weiden, Birken, Götterbäumen oder Robinien.

Heilpflanzen in menschlichen Siedlungen

Unter natürlichen Bedingungen wäre der größte Teil Deutschlands mit Buchen oder Buchenmischwäldern bedeckt. Die Buche wäre die dominante Pflanzenart – wenn wir Menschen nicht wären. Lassen Sie uns 5000 Jahre zurückreisen in der Zeit: Wir befinden uns in der Jungsteinzeit und gründen irgendwo im heutigen Deutschland eine Siedlung an einem Fluss. Zunächst müssen wir Platz schaffen und jede Menge Buchen fällen. So schaffen wir uns Raum für unsere Wohnstätten, unsere Felder und die Weideflächen unserer Tiere. Nach ein paar Jahren leben wir ganz gut in unserer Siedlung. Wir haben dort sogar eine Frau, die sich mit Heilpflanzen auskennt. Zu ihr schleppen wir uns, wenn wir Fieber haben. Zu ihr laufen wir mit verschleimten Lungen oder blutenden Armen, wenn wir uns beim Fällen der harten Buchen verletzen. Wir könnten sie Eir nennen, nach der Göttin der Heilkunde der nordischen Mythologie. Wenn wir ihr zeigen, wo es uns schmerzt, nickt sie. Sie gibt uns zu verstehen, dass sie gleich wieder bei uns ist und macht sich auf die Suche nach der Heilpflanze, die uns helfen wird. Lange müssen wir mit unseren blutenden Armen oder fiebrigen Kindern nicht warten. Eir tritt keine gefährliche Reise an ein entlegenes Moor oder eine heilige Quelle in den Bergen an. Sie muss nicht an magischen und verwunschenen Orten nach seltenen Heilpflanzen suchen. Wenn sie eine Heilpflanze nicht vorrätig hat, tritt sie kurz vor die Tür. Sie denken vielleicht, sie hätte einen Kräutergarten angelegt? Das musste sie gar nicht! Alle Heilpflanzen, die sie braucht, wachsen direkt in unserer jungsteinzeitlichen Siedlung.

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Heilpflanzen an einer Kreuzung in Berlin

In den letzten 5000 Jahren hat sich viel ereignet – wenn wir den Zeitraum aus der Perspektive der Menschen betrachten. Käme Eir gleich morgen zu Besuch, sie würde ganz schön staunen! Viele der Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind, könnten wir ihr gar nicht erklären: Wie wir heute mithilfe von fossilen Energieträgern aus der Dinosaurierzeit in kurzer Zeit einmal um den Globus reisen. Oder wie wir das Manuskript dieses Buches in einer Datenwolke in Sekunden auf verschiedenen Servern in der ganzen Welt speichern.

Gewisse Dinge haben sich in den letzten 5000 Jahren sehr wenig verändert. Wir sehen etwas anders aus, doch unsere Körper funktionieren nach dem gleichen Bauplan. Eir weiß sicher, was Fieber ist und dass Wunden versorgt werden müssen. Wenn wir husten, wüsste sie uns zu helfen. Wir könnten mit ihr mitten in Berlin einen Spaziergang machen und sie würde viele Pflanzen wiedererkennen. Sie haben dieselben Inhaltsstoffe und damit auch dieselbe Wirkung. Schon im Umkreis von 20 Metern rund um unser Haus mitten in Berlin würden wir viele verschiedene Heilpflanzen finden. Neun der zehn Heilpflanzen, die wir Ihnen in unserem Buch vorstellen, finden sich allein an der Kreuzung, an der wir wohnen.

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Der Hopfen klettert an einem Zaun empor, der den Spielplatz umgibt. In dessen schattiger Ecke tummeln sich Nelkenwurz und Brennnessel. Das Gänseblümchen und der Spitzwegerich fühlen sich in einem Rasen wohl. Der Holunder wächst inmitten von Sträuchern. Die Schafgarbe blüht in den geschützten Bereichen am Gehsteig rund um Fahrradständer und Mülleimer. Der Löwenzahn mag Stellen, an denen Hunde ihr Geschäft verrichten. Der Breitwegerich steht exponiert mitten am Gehsteig. Um eine Weide zu finden, müssten wir nur ein paar Schritte laufen. Dann hätten wir alle Heilpflanzen beisammen, die wir Ihnen in diesem Buch vorstellen – mitten in Berlin. Unweit Ihrer Haustüre wachsen dieselben Pflanzen, egal ob Sie auf dem Land oder in der Stadt wohnen. Sie wachsen wild, niemand hat sie gesetzt und sie fühlen sich in unseren Siedlungen offenbar wohl.

Eine Skizze von der näheren Umgebung Ihres Hauses kann auch für Sie hilfreich sein. Darauf können Sie jede Heilpflanze eintragen, die Ihnen begegnet. So lernen Sie die Bestandteile unserer Hausapotheke kennen. Zum Sammeln der Heilpflanzen eignen sich Siedlungen meist aber nicht. Wie Sie die Hausapotheke bestücken, zeigen wir Ihnen im zweiten Teil dieses Buches.

Wie viele der zehn Heilpflanzen finden Sie? Die folgende Tabelle verrät, wo Sie suchen müssen.

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Hier finden Sie die Heilpflanzen aus diesem Buch

HEILPFLANZE VORLIEBEN HÄUFIG ZU FINDEN
Hopfen (Humulus lupulus) Eher sonnig, sehr nährstoffreiche und feuchte Böden An Hecken, Bäumen oder Gebüschen kletternd
Gemeine Schafgarbe (Achillea millefolium) Sonnig, eher trockene Böden Auf Fußwegen, Weidewiesen, Trockenrasen und Baumscheiben
Silber-Weide (Salix alba) Nährstoffreiche, sehr feuchte Böden An Ufern von Seen oder Flüssen, in Gräben und Parks
Große Brennnessel (Urtica dioica) Eher feuchte und sehr nährstoffreiche Böden Auf Baumscheiben und Schutt- und Müllplätzen, an Weg- und Straßenrändern, in Hecken, auf Weideplätzen, an Häuserwänden
Gewöhnlicher Löwenzahn (Taraxacum officinale) Sonnige und nährstoffreiche Böden Auf Fußwegen und Baumscheiben, an „Gassiplätzen“, auf Fettwiesen, Weiden, Park- und Gartenrasen
Breitwegerich (Plantago major) Sonnig, trockene oder feuchte, mäßig fruchtbare bis nährstoffreiche Böden Auf Fußwegen und Baumscheiben, an Straßen, auf stark benutzen oder feuchten Rasen und Wiesen
Spitzwegerich (Plantago lanceolata) Sonnig In Wiesen, Weiden und an Weg- und Straßenrändern
Echte Nelkenwurz (Geum urbanum) Schattig, nährstoffreiche Böden In lichten Baumbeständen, an Waldrändern
Schwarzer Holunder (Sambucus nigra) Sonnig, eher feuchte und sehr nährstoffreiche Böden Auf fruchtbaren, frischen Böden, in Hecken, Gebüschen und Gärten
Gänseblümchen (Bellis perennis) Sonnig, mäßig fruchtbare bis nährstoffreiche Böden, regelmäßiges Mähen Auf Fettwiesen, Weiden, Park- und Gartenrasen

Tradition trifft moderne Forschung

Eir wüsste mit den Heilpflanzen an unserer Kreuzung wahrscheinlich einiges anzufangen. Es wäre interessant, bei diesem Spaziergang noch mehrere Pflanzenheilkundler aus verschiedenen Epochen dabeizuhaben. Zum Beispiel den griechischen Gelehrten und Militärarzt Pedanios Dioskurides aus dem ersten Jahrhundert. Oder den deutschen Arzt und Apotheker Jacobus Theodorus Tabernaemontanus, der im 16. Jahrhundert lebte. Als Jugendlicher verdiente er sich sein Geld als Heilpflanzensammler, nach Abschluss eines Medizinstudiums lehrte er als Professor für Heilpflanzenkunde. Aus der heutigen Zeit würden wir gerne die Professorin Karin Kraft mitnehmen, die an der Universität Rostock lehrt und Heilpflanzen erforscht. Unserer Gruppe würde es nicht leicht fallen, sich zu verständigen. Wir müssten viel gestikulieren und uns vielleicht mit ein paar Brocken Latein behelfen. Was die Anwendungsmöglichkeiten der einzelnen Heilpflanzen betrifft, wären wir uns aber einig: Wir würden übereinstimmen, dass zum Beispiel die Schafgarbe gegen Bauchschmerzen hilft und der Löwenzahn bei Blasenentzündung eine gute Wahl ist. Die Pflanzenheilkundler früherer Epochen verdanken ihr Wissen der praktischen Anwendung und der genauen Pflanzenbeobachtung. Die Professorin Karin Kraft könnte davon sprechen, wie wir uns heute die Wirkung der Heilpflanzen durch ihre Inhaltsstoffe erklären. Pflanzliche Inhaltsstoffe werden mittlerweile intensiv beforscht, denn sie können unsere Körpervorgänge beeinflussen. Wissenschaftler nehmen sie unter anderem als Vorbilder, um neue Medikamente zu entwickeln. Viele der Chemotherapeutika, die Ärzte bei Krebsleiden einsetzen, sind zum Beispiel pflanzlichen Ursprungs.

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Heilpflanzen wachsen an extremen Standorten

In allen Kulturen haben die Menschen zunächst die Pflanzen kennengelernt, die vor ihrer Haustüre wuchsen. Die kamen nicht plötzlich, sondern so, wie auf der Brache auf Seite 10 beschrieben: Der Mensch lässt sich nieder und zerstört dabei die ursprüngliche Vegetation wie den Wald. Doch vertreiben lassen sich die Pflanzen nicht! Zunächst kommen die kleinen einjährigen zurück. An ungestörteren Ecken wachsen dann die mehrjährigen Kräuter und die busch- oder baumbildenden Pflanzen.

Nur bestimmte Pflanzen nehmen an dieser Rückeroberung teil. Denn Pflanzen, die in menschlichen Siedlungen wachsen, sind Überlebenskünstler und hart im Nehmen. Sie müssen mit widrigen Umständen zurechtkommen, wie die folgende Tabelle zeigt.

Der Einfluss des Menschen auf die wild lebenden Pflanzen in den Siedlungen

VORAUSSETZUNGEN FÜR DAS PFLAN-ZENWACHSTUM NEGATIVER EINFLUSS DES MENSCHEN
Luft Belastung durch Schwefeldioxid und Ozon. Hohe Feinstaubwerte erschweren den Wasserhaushalt von Pflanzen.
Wasser Meist wasserarme Böden, Grundwasserspiegel oft abgesenkt, das Regenwasser fließt sehr schnell ab. An exponierten Stellen oft längere Dürreperioden.
Boden Übersättigt mit Nährstoffen, basisch durch den Kalk von Bautätigkeiten, belastet mit Schwermetallen oder Chemikalien. Durch die Last von Gebäuden und Fahrzeugen verdichtet sich der Boden und ist damit nicht leicht zu bewurzeln.
Standort Einflüsse wie Tritt, Rasenmähen, das Streuen von Salz oder Bauvorhaben stören das Wachstum. Der Belag von Straßen und Gehsteigen erhitzt sich schnell und kann für sehr hohe Temperaturen in Bodennähe sorgen.

Die meisten Pflanzen sind diesen Bedingungen nicht gewachsen. Die unwirtlichen Begebenheiten schwächen das Wachstum und machen sie anfällig für Krankheiten. Pflanzen, die trotzdem wild in unseren Siedlungen gedeihen, zeichnen sich durch besondere Widerstandskraft aus. Diese Widerstandskraft spiegelt sich in ihren Wirkstoffen wider, die wir wiederum für Heilzwecke verwenden. Nehmen wir zum Beispiel den Breitwegerich, die Nelkenwurz und die Schafgarbe. Das sind drei der Pflanzen, die wir in diesem Buch vorstellen. Der Breitwegerich kann einiges einstecken. Er wächst mitten auf unseren Gehsteigen und wir fügen ihm mit unseren Tritten Schaden zu. Eine zarte Orchideenart hätte da keine Chance! Die Verletzungen am Wegerich müssen schnell versorgt werden, Bakterien und Pilze infizieren sonst das Blatt und dann die ganze Pflanze. Der Breitwegerich bildet daher zum Eigenschutz stark antibakterielle und pilzwidrige Stoffe aus. Diese nutzen uns Menschen, wenn wir von Bakterien oder Pilzen befallen sind. Die Nelkenwurz wächst in unseren Siedlungen an schattigen Stellen, an denen der Boden durch Abfall oder Hundekot überdüngt ist. Das Überangebot an Nährstoffen macht Pflanzen anfällig für Krankheitserreger. Denen hält die Nelkenwurz wirkungsvolle antivirale, antibakterielle und pilzwidrige Wirkstoffe entgegen. Dasselbe gilt für die Schafgarbe, darum empfehlen wir sie Ihnen bei verschiedenen Infektionen. Ihre kraftvollen Abwehrstoffe lassen sie selbst an Stellen gedeihen, die durch Dürre und Schwermetalle stark belastet sind.

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Von Göttern, Geistern und Inhaltsstoffen

Die Pflanzenheilkunde ist mehrere Jahrtausende alt. Im Laufe dieser Zeit fanden Menschen unterschiedliche Erklärungen für die Heilkraft der Pflanzen. Viele Naturvölker vermuteten Pflanzengeister am Werk – spätere Kulturen ihre Götterwelt. Würden wir die oben erwähnten Heilpflanzenexperten aus unterschiedlichen Epochen befragen, bekämen wir unterschiedliche Antworten. Moderne Antworten könnte uns die Professorin Kraft liefern: Die Heilpflanzen wirken aufgrund ihrer Inhaltsstoffe. Diese beeinflussen unseren Organismus. Die Inhaltsstoffe der Brennnessel sorgen zum Beispiel dafür, dass wir mehr Harn bilden. Das kann bei Entzündungen der Harnwege hilfreich sein, denn häufiges Wasserlassen spült Bakterien einfach aus dem Körper. Bestimmte Inhaltsstoffe beeinflussen unser Innenleben und können heilend wirken. Doch warum bildet die Pflanze sie? Warum reguliert sie unseren Stoffwechsel? Bei der Beantwortung dieser Fragen werden uns keine Götter und keine Pflanzengeister begegnen … wir werden aber eine sehr mächtige Kraft kennenlernen, eine Kraft, die alles Leben auf diesem Planeten geschaffen hat!

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Warum Pflanzen heilen – Gesundheit aus der Apotheke Darwins

Warum heilen uns Pflanzen? Warum sie bei Infektionen helfen, haben wir schon erklärt: Auch sie haben mit Viren, Bakterien und Pilzen zu kämpfen und produzieren wirksame Stoffe dagegen. Heilpflanzen beeinflussen aber auch das Zusammenspiel unserer Botenstoffe, regulieren Entgiftungsorgane oder fördern Schlaf und Appetit. Warum machen sie das? Diese Frage beschäftigte Heilpflanzeninteressierte aller Epochen. Sie wollen unsere Antwort jetzt schon wissen? Also gut: Sie können uns heilen, weil sie nicht laufen können. Wer sich nicht bewegen kann, muss eben die Welt um sich herum bewegen!

Auf dem Planet der Pflanzen

Erinnern Sie sich an den erfindungsreichen Serienhelden McGyver? Mit einem Schweizer Taschenmesser, ein paar Büroklammern und Kaugummi bestand er jedes Abenteuer. Pflanzen sind die McGyvers unter den Lebewesen. Sie benötigen vier Zutaten für die unglaubliche Gestaltungsvielfalt und die Produktion komplexer chemischer Verbindungen: mineralischen Boden, Luft, Wasser und Sonnenlicht. Mithilfe eines Verfahrens, der sogenannten Photosynthese, verwandeln sie die Energie der Sonne in energiereiche Stoffe. Sie ernähren sich, indem sie ihre Blätter in die Sonne halten. Die Wurzeln versorgen sie mit Mineralien und Wasser und mit der Blattunterseite nehmen sie Kohlendioxid auf. Wäre das nicht großartig: sich einfach ein Weilchen in die Sonne stellen, und wir wären satt? Uns ist das leider nicht vergönnt, wir müssen Nahrung zu uns nehmen, und ohne die Pflanzen wären wir dabei aufgeschmissen. Denn jedes Nahrungsmittel, das wir zu uns nehmen, gäbe es ohne die Schaffenskraft der Pflanzen nicht. Das gilt auch für Fleisch oder Molkereiprodukte. Sie stammen von Tieren, die Pflanzen aßen oder die Tiere verspeisten, die wiederum Pflanzenfresser waren. Ohne Pflanzen hätten wir nicht nur nichts zu beißen: sie liefern außerdem den Sauerstoff für unsere Atemluft und bilden den Rohstoff für Kleidung, Möbel, Bausubstanzen, Treibstoff, Medikamente oder das Papier für dieses Buch. Wir sind von Pflanzen abhängig – und damit sind wir nicht allein.

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Neben den Pflanzen betreiben nur ein paar Bakterien Photosynthese. Alle anderen Lebewesen decken ihren Energiebedarf durch den Verzehr von Pflanzen, beziehungsweise von Lebewesen, die Pflanzen verzehrt haben. Seit mehreren Milliarden Jahren fressen die einen, die kein Sonnenlicht verwerten können, die anderen auf, die das eben können. Und dennoch sind die, die gefressen werden, immer noch in der Überzahl. Wenn wir das Gewicht aller Lebewesen auf diesem Planeten addieren, entfallen auf die Pflanzen 80 Prozent. Wie können sie so erfolgreich sein, obwohl sie dem Rest des Planeten als Futter dienen?

Die Evolution der Lebewesen

Der britische Naturforscher Charles Darwin veröffentlichte 1858 eine Theorie, an der er 20 Jahre gefeilt hatte. Die Zeit war gut investiert, denn seine Gedanken waren revolutionär und entsprachen nicht dem vorherrschenden religiösen und wissenschaftlichen Weltbild. Darwin sah hinter der Entstehung aller Lebewesen einen dynamischen Prozess, den er Evolution nannte. Heute lässt sich seine Theorie wissenschaftlich belegen. Mithilfe der Evolution können wir erklären, dass alle Lebewesen dieser Erde die gleichen Vorfahren haben. Aus kleinen Einzellern entwickelte sich die immense Vielfalt an Tieren, Pilzen, Bakterien und Pflanzen. Die heute lebenden Arten sind das Resultat eines vier Milliarden Jahre langen Prozesses, bei dem immer die Spezies überlebt, die sich am besten an ihre Umweltbedingungen anpasst. Ständige Mutationen sorgen dafür, dass dem Prozess der natürlichen Selektion nicht der Treibstoff ausgeht. Durch Mutation veränderten sich die Flossen von einzelnen Fischen. Die erlaubten es ihnen, kurze Landgänge zu unternehmen. Aus den veränderten Flossen wurden schließlich Beine, die uns und den meisten anderen Landtieren die Bewegung ermöglichen. Durch Bewegung können wir uns Dingen nähern, die uns anziehen und interessieren, oder vor Gefahren fliehen. Bewegung bringt die Maus zum nahrhaften Käse und schnell weg von der hungrigen Katze.

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In Zeiten von Lieferservices und Online-Handel können wir uns viele Wege in ein Geschäft oder Restaurant ersparen. Wir bestellen bequem aus dem heimischen Sessel und unsere Nahrung kommt zu uns. Andere erledigen die Wegstrecke für uns. Dafür geben wir ihnen Geld. Eine Maus, die diesen Service in Anspruch nehmen könnte, müsste nicht mehr zum Käse laufen – der Käse käme zu ihr.

Pflanzen, die Meister der Chemie

Reife Holunderbeeren und deren Samen, die einfach zu Boden fallen, haben im Schatten des Mutterbaumes wenig Aussicht, selbst einmal groß zu werden. Der Holunder ist fest verwurzelt und er kann nicht einfach um den Block laufen, um seine Nachkommen zu verteilen. Diese Arbeit erledigen Vögel für ihn: Sie essen die Beeren und scheiden deren Samen wieder aus. Für diesen Lieferservice bekommen sie die Nährstoffe der Beeren. Das ist ein gutes Geschäft für beide Seiten, bei dem die Farbstoffe der Beeren eine wichtige Rolle spielen. Sie locken die Kuriere, sobald die süßen Früchte reif sind.

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In der Nähe des Holunders stehen gerne Brennnesseln. Ihre Blätter wären für viele Tiere sehr nahrhaft, denn pflanzliche Proteinquellen sind selten und Brennnesselblätter sind reich an Eiweiß. Kommen hungrige Tiere angeflogen oder angelaufen, kann die Brennnessel nicht davonlaufen. Ihre Wurzeln stecken tief in der Erde. Doch sie weiß sich anders zu helfen. Der chemische Cocktail ihrer Brennhaare ist perfekt auf den Körper von Säugetieren abgestimmt. Gerät er unter deren Haut, sorgt er für anhaltenden Brennschmerz. Kleinere Tiere, die das Problem umgehen, kann sie mit dem Alkaloid Nikotin vertreiben, wie wir im Porträt der Brennnessel noch sehen werden.

Wie andere Pflanzen haben Holunder und Brennnessel keine Beine. In einer Welt, in der die anderen Lebewesen Beine oder Flügel haben, kommen sie ohne aus. Sie bewegen nicht sich selbst, sie bewegen die Welt um sich herum. Der Holunder lockt die Vögel, die Brennnessel macht den hungrigen Mäulern Beine. Auch die anderen Heilpflanzen, die wir Ihnen vorstellen, handhaben das so. Sie locken und vertreiben. Dabei benutzen sie eine besondere Sprache. Wir hören die Brennnessel nicht brüllen: „Hau bloß ab!“ Sie spricht in speziellen Formeln, es sind nicht magische Formeln, es sind chemische Formeln, denn die grünen McGyvers bilden aus Erde, Wasser, Luft und Sonnenlicht eine unglaubliche Vielzahl an chemischen Stoffen. Viele ähneln sich und doch hat jede Pflanze ihren eigenen Bausatz. Manche dieser Stoffe sind so komplex, dass Chemiker selbst heute noch Schwierigkeiten haben, diese nachzubauen.

Jede Pflanze bastelt ihren eigenen Cocktail aus mehreren Dutzend chemischen Wirkstoffen. Nach ihrer Funktion können wir diese grob unterteilen in Lockstoffe und Abwehrstoffe. Von beiden werden wir einige kennenlernen. Die Schafgarbe lockt Insekten zum Beispiel mit gewissen ätherischen Ölen und Farbstoffen. Sie weisen ihnen den Weg zur Blüte. Die Silber-Weide und die Nelkenwurz schlagen Schädlinge mit Gerbstoffen in die Flucht. Viele Abwehrstoffe wirken auch gegen Krankheitserreger wie Viren, Pilze und Bakterien.

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Heilpflanzen beeinflussen unseren Organismus

Die Effektivität ihrer Wirkstoffe verdanken die Pflanzen der Evolution. Im Laufe von Millionen von Jahren haben diejenigen Pflanzen überlebt, deren Stoffe Wirkung zeigen. Welche Stoffe wirken besonders gut? Es sind die, die perfekt auf die Bedürfnisse und die Körperchemie der anderen Lebewesen abgestimmt sind. Die Brennnessel enthält zum Beispiel Gewebshormone von Tieren und ihr Nikotin beeinflusst deren zentrales Nervensystem. Die Farbstoffe von Holunderbeeren schützen ihre gefiederten Kuriere vor viralen Infektionen.

Uns lassen die Wirkstoffe der Pflanzen nicht kalt, schließlich sind wir auch nur Tiere. Wer es genau wissen will: Wir zählen zur Ordnung der Trockennasenaffen.

Menschliche Embryos sind in frühen Stadien kaum zu unterscheiden von den Embryos der Vögel, Frösche oder Hunde. Die Entwicklung im Mutterleib zeigt unser gemeinsames evolutionäres Erbe. In der späteren Entwicklung unterscheiden wir uns durch die Leistung unserer Gehirne, andere Organsysteme bleiben sich ähnlich. Unser Stoffwechsel gleicht dem anderer Tiere und darum funktioniert auch unsere Körperchemie ähnlich. Pflanzliche Wirkstoffe, die die Körperchemie von Tieren beeinflussen, wirken auch auf unser Innenleben ein. Da der Hopfen das Hormonsystem seiner Fressfeinde beeinflusst, kann er auch in das Zusammenspiel unserer Hormone eingreifen.

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Zusammengefasst: Pflanzen können nicht laufen. Das müssen sie auch gar nicht. Sie machen einfach allen anderen „Beine“. Sie locken und vertreiben. Dafür bilden sie chemische Stoffe, mit denen sie andere Lebewesen beeinflussen – und damit auch uns. Diese Stoffe verdanken sie der Evolution. Im Laufe von Milliarden Jahren haben sich jene Pflanzen durchgesetzt, deren chemischen Formeln an andere Lebewesen angepasst waren. Zu diesen Pflanzen zählen insbesondere die zehn Heilpflanzen, die wir Ihnen vorstellen.

Heilsame Begegnungen mit der einheimischen Pflanzenwelt

Eine Hausapotheke aus den bekanntesten Heilpflanzen unserer Siedlungen hat viele Vorteile, denn die getrockneten Pflanzen kann man günstig und flott in Apotheken oder Kräuterläden kaufen. Dazu haben sie sich alle in der Anwendung bewährt und sie sind gut erforscht. Durch ihre Präsenz in Ihrem Wohnort werden sie Ihnen auch schnell vertraut werden. Freuen Sie sich auf erfrischende, lehrreiche und heilsame Begegnungen!

Pflanzenbegegnungen als grüne Pause im Alltag

Heilpflanzen beleben nicht nur mit ihren Inhaltsstoffen. Die bloße Beschäftigung mit den grünen Nachbarn kann wohltuend sein und lässt uns den Ort, an dem wir leben, mit neuen Augen erleben. So sehen Sie plötzlich am Mülleimer an der Bushaltestelle oder am Eingang zum Supermarkt viele kleine Lebewesen sitzen. Mutig und selbstbewusst strecken sie ihr zerbrechliches Zellgerüst zur Sonne. Wir gehen davon aus, dass sie kein Bewusstsein haben wie wir. Doch sicher ist das nicht. Sie nehmen ihre Umwelt genau wahr und registrieren dabei auch Dinge, für die wir blind sind. Wenn wir sie betrachten, halten wir inne. Wir lösen uns von unserem alltäglichen Stress und befreien unseren Kopf. Wir freuen uns über diese grünen Wunder.

Brennnesseln am Straßenrand in Berlin. Ist das eine männliche oder eine weibliche Pflanze? Dazu später mehr.

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Je mehr Sie sich mit Pflanzen beschäftigen, desto mehr werden sie sich Ihnen zeigen. Sie werden Ihnen bei jedem Schritt außerhalb Ihrer Wohnung begegnen. Uns erzählen Menschen, dass sie unterwegs weniger auf ihr Smartphone starren, um jetzt Pflanzen zu entdecken. Statt dem „Buch der Gesichter“, Facebook, widmen sie sich jetzt dem „grünen Buch des Lebens“.

Wir sind die Ahnen von Pflanzenkundlern

Der Mensch greift erst seit Kurzem in Kühlschränke, wenn er Hunger hat. Oder er fährt mit der U-Bahn zur Apotheke, wenn etwas seinen Körper zwickt. 99 Prozent der Zeit verbrachten wir Menschen als Jäger und Sammler auf diesem Planeten, und wer über Pflanzen Bescheid wusste, war klar im Vorteil. So sieht das auch der Neurowissenschaftler Steven Pinker, denn er meint: Ein Pflanzenkenner konnte besser für sich und seine Nächsten sorgen. Er erkannte, welche Ansprüche eine spezielle Nahrungspflanze zum Wachsen stellte. So wusste er, an welchen Standorten er sie fand. Er konnte Nahrungspflanzen an ihrer Blüte erkennen und suchte im Herbst Plätze auf, an denen er im Frühling Obstbäume oder Beerenbüsche blühen gesehen hatte. Jene, denen solche Zusammenhänge verborgen blieben, hatten in der menschlichen Evolution wahrscheinlich das Nachsehen. Laut Steven Pinker waren das Wissen über Pflanzen und das Gespür für die grünen Geschöpfe klare Überlebensvorteile.

Genauso gut war das Wissen über die Kraft der Heilpflanzen ein evolutionärer Vorteil. Wer sich mit Pflanzen behandeln konnte, blieb länger gesund und konnte mehr Nachkommen zeugen. Wie haben unsere Vorfahren Pflanzenheilkunde gelernt – ohne Bücher und ohne Internet? Vermutlich beobachteten sie einfach die besseren Kenner der Materie: die Tiere. Viele Tiere nutzen Pflanzen, um zu gesunden. Sie profitieren von den Inhaltsstoffen der Pflanzen, die aus dem Zusammenspiel von Tier und Pflanzen entstanden sind. Als wir Menschen auf der Bildfläche des Planeten erschienen, war dieses Zusammenspiel bereits perfektioniert. Viele Tiere hatten ein Gespür dafür bekommen, welche Pflanzen sie von Beschwerden befreien können. Unsere Vorfahren beobachteten dann die Tiere bei ihrer Selbstmedikation.

Wir stellen uns unsere Ahnen oft als brutale, etwas einfältige Jäger vor, die nur aufgrund ihrer muskulären Kraft überlebt haben. Das Pflanzenwissen spielte aber eine entscheidende Rolle in der frühen Geschichte der Menschheit: Wer sich mit Pflanzen auskannte, setzte mehr Nachkommen in die Welt. Es ist also denkbar, dass viele von uns die Ahnen von Pflanzenkundlern sind. Vielleicht hat der eine oder andere sogar ein Gespür für Pflanzen vererbt bekommen.

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Hat sich Pflanzenwissen in Form von Gelüsten vererbt?

Wie könnte sich ein vererbtes Gespür für Heilpflanzen äußern? Das Wissen über Heilpflanzen eignen wir uns heute durch Bücher wie dieses an. Wir lernen von denen, die bereits über etwas Wissen verfügen. So machen es wahrscheinlich auch die Tiere, sie gucken den Älteren über die Schulter. Doch scheint sich das Wissen über Heilpflanzen auch zu vererben. Auf dieses Wissen greift der Körper zurück, wenn ihm etwas fehlt. Dieses äußert sich zum Beispiel in Form von Gelüsten. Dieses Phänomen lässt sich nicht nur bei Schwangeren beobachten, deren Körper intuitiv das verlangt, was benötigt wird. Menschen mit Magen- oder Gallenleiden haben zum Beispiel plötzlich Lust auf Bitteres. Sie greifen zu bitteren Lebensmitteln wie Radicchio oder Chicorée. Sie trinken genüsslich bittere Heilkräutertees, die sie vor ihrem Leiden nie im Leben getrunken hätten. Radicchio oder Chicorée sind übrigens aus einer Heilpflanze, der Gemeinen Wegwarte (Cichorium intybus) gezüchtet.

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Dieses Phänomen wird Ihnen auch begegnen, je mehr Sie sich mit Heilpflanzen beschäftigen. Eine bestimmte Pflanze wird Sie besonders anziehen. Vielleicht ist es ihr Geruch, ihre Farbe, ihre Form oder ihr Geschmack? Bei anderen Pflanzen wird Ihnen vielleicht übel. Unsere Erfahrung zeigt, dass es sich lohnt, sich mit beiden zu beschäftigen. Mit Pflanzen, die Sie locken und faszinieren und mit solchen, die Sie abstoßend finden. Es kann gut sein, dass sich ein Teil Ihres genetischen Erbes an diese Pflanzen erinnert. Dieses gespeicherte Wissen könnte auf Pflanzen reagieren, die für Ihre Gesundheit gerade eine Rolle spielen.

Auf Entdeckungstour mit dem Extrembotaniker

Wir lernen am besten, wenn wir inspiriert sind, und wenn ein Mensch seine Mitbürger für Pflanzen begeistern kann, dann ist es Jürgen Feder! Der gelernte Landschaftsgärtner und Diplomingenieur für Landespflege, Flora und Vegetationskunde ist Ihnen vielleicht als „Extrembotaniker“ bekannt. Mit dieser Bezeichnung tritt er regelmäßig im Fernsehen auf, unter anderem in Reportagen und Wissensendungen des NDR und WDR oder beim Frühstücksfernsehen auf SAT.1. Er ist ein beliebter Gast bei Talk-Shows wie „DAS! Talk auf dem roten Sofa“, bei Markus Lanz oder bei „Frank Elstner Menschen“. Vielleicht kennen Sie seine legendären Auftritte bei Stefan Raab, bei denen der deutsche Spaßkönig etwas blass neben dem leidenschaftlichen und lebendigen Botaniker wirkt. Der NDR widmete Jürgen Feder mit „Die Nordstory: Unterwegs mit dem Pflanzenjäger“ ein einstündiges Porträt.

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Sein Pflanzenwissen teilt er mittlerweile auch als Autor. Im Rowohlt Verlag sind vier Bücher von ihm erschienen, eines davon stellen wir Ihnen im Anhang vor. Als Deutschlands bekanntester Pflanzenexperte kennt er die Pflanzen nicht nur: Engagiert und leidenschaftlich streitet er im echten Leben und auf Facebook für Naturschutz und gegen das Artensterben.

Wir fühlen uns geehrt, dass er unser Buch mit seiner Begeisterung und seinem Wissen bereichert. Jürgen Feder ist ein Spezialist für seltene Arten, doch seine Leidenschaft gilt auch den gewöhnlicheren Pflanzen. Mit charmanten und lebendigen Einblicken, Geschichten und Bildern ergänzt er unser Buch. Er betrachtet die Heilpflanzen aus der Sicht des Botanikers und Gärtners und wir bringen Ihnen ihre Heilkraft näher.

Bei den Heilpflanzenporträts stellen wir Ihnen jeweils ein oder zwei charakteristische Aspekte der Pflanzen vor. Wie die Pflanzen bei den einzelnen Heilanzeigen wirken, können Sie dann im zweiten Teil nachlesen. Mit einer Auflistung von chemischen Formeln werden wir Sie nicht langweilen. Sie lernen jeweils einen charakteristischen Pflanzenwirkstoff kennen. Die Kenntnis dieser grundlegenden Pflanzeninhaltsstoffe ist für Ihre Beschäftigung mit Heilpflanzen hilfreich.

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Unsere Hausapotheke aus zehn Heilpflanzen ergänzen wir durch die pflanzlichen Präparate Angocin und Eleu-Curarina. Auch die stellen wir Ihnen kurz vor. Doch zunächst widmen wir uns ausführlich dem Hopfen. Diesen Kletterer wollen wir Ihnen besonders ans Herz legen. Chronischer Stress ist mittlerweile eine der größten Herausforderungen für unsere Gesundheit. Um am Stress nicht zu erkranken, haben wir den Hopfen bitter nötig. Wir haben sogar sein „Bitteres“ bitter nötig!

Mit dem Hopfen zur Ruhe kommen

Der Hopfen (Humulus lupulus) sorgt gleich zweimal für Alarm. Zunächst in bayrischen Hopfenanbaugebieten und dann in unserem Körper. Sein Geschmack löst ein uraltes System für Gefahrenabwehr in uns aus. Teile unseres Körpers gehen vom Schlimmsten aus. Das klingt Ihnen zu aufregend, Sie haben schon genug Stress in Ihrem Leben? Dann ist der Hopfen genau richtig! Hopfen ist ein bewährtes Beruhigungsmittel, genau richtig für unsere hektische Zeit.

Wie Pflanzen sich Hilfe holen

Die Hallertau in Bayern ist das größte zusammenhängende Hopfenanbaugebiet der Welt. Von dort stammt rund ein Drittel der weltweiten Hopfenernte. Seit dem achten Jahrhundert rammen die Bauern dort lange Stöcke in den Böden, an denen der Hopfen jedes Jahr hochklettert. Auch sonst kümmern sich die Leute in der Region viel um ihren Hopfen, so auch der Biologe Florian Weihrauch. Er untersucht unter anderem Strategien, die Hopfenpflanzen auf natürliche Weise vor Schädlingen wie der Hopfenblattlaus und der Gemeinen Spinnmilbe zu schützen.

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Kletternder Hopfen mit reifen Zapfen.

Die Hopfenschädlinge der Hallertau sind nicht ohne Grund so zahlreich. Denn die Feinschmecker gelten selbst als Delikatesse. Rund 85 verschiedene Insektenarten bedienen sich am Schädlingsbuffet. Dazu zählt auch die grüne Florfliege mit ihren hungrigen Larven: In zwei Wochen verspeist eine Larve bis zu 500 Blattläuse und 10.000 Larven und Eier der Spinnmilbe.

Doch wie soll die Einsatztruppe die Hopfenpflanze finden, die gerade befallen ist? Die Hallertau ist fast dreimal so groß wie Berlin. Wenn die werdende Florfliegenmutter jede einzelne Hopfenstaude nach Schädlingsbefall untersuchen muss, wird das nichts mit dem Nachwuchs.

Im Laufe der Evolution haben Hopfen und Florfliege Wege gefunden, sich zu verständigen. Die Hopfenpflanze verströmt den Duftstoff Caryophyllen, wenn Schädlinge an ihr knabbern. Die Florfliege nimmt dies wahr und kommt angeflogen.

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Der Hopfen wirkt auf das Endocannabinoid-System

Nicht nur für Florfliegen riecht Caryophyllen verheißungsvoll, auch Drogenspürhunde sind darauf trainiert, den scharfen und pfeffrigen Geruch zu erschnüffeln. Hopfen und Cannabis sind miteinander verwandt, beide sind Mitglieder der botanischen Familie der Hanfgewächse (Cannabaceae). Wie bei Cannabis werden auch vom Hopfen die weiblichen Blüten genutzt. Und wie Cannabis und seine Hauptwirkstoffe THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) wirkt auch Hopfen auf das sogenannte Endocannabinoid-System. Dieser Komplex aus speziellen Botenstoffen (sogenannten Endocannabinoiden) und entsprechenden Rezeptoren findet sich fast überall in Ihrem Körper. Die schönste Beschreibung dieses Systems stammt wohl vom amerikanischen Professor Michael Pollan: Es sei genau das, was Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies gebraucht haben – eine Art Entschädigung für das Ende der paradiesischen Zustände und den Beginn des alltäglichen Leidens.

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Auch wir werden immer wieder aus „paradiesischen“ Zuständen vertrieben. Denken wir nur einmal daran, wie schön es wäre, an einem stressigen Tag einfach im Bett liegen zu bleiben. Wie wäre es, wenn wir uns aus der Umarmung eines geliebten Menschen nicht lösen müssten? Das Endocannabinoid-System hilft uns, trotz all der Widrigkeiten unseren Frieden zu finden. Es sorgt dafür, dass wir uns durch Schlaf regenerieren und unliebsame Erinnerungen vergessen. Es verschafft uns eine gute, ausgeglichene Laune und macht Schmerzen erträglicher. Zudem reguliert es das Abwehrsystem und die Verdauung. Caryophyllen – der Hilferuf des Hopfens – gilt neuerdings als Cannabinoid. Es interagiert wie die Wirkstoffe des Cannabis mit den Rezeptoren des Endocannabinoid-Systems. Dabei entfalten sich seine entzündungshemmenden, schmerzstillenden, angstlösenden und antidepressiven Wirkungen.

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In der heutigen Zeit ist das Endocannabinoid-System belastet. Einseitige Ernährung, mangelnde Bewegung, Chemikalien in Lebensmitteln und Stress setzen ihm zu. Dann und gerade bei Stress kann der Hopfen hilfreich sein – und nicht nur durch das Caryophyllen.

Entspannung mit Hopfen in wenigen Minuten

Die European Scientific Cooperative on Phytotherapy (ESCOP) wollte es genau wissen. Dass Hopfenzapfen entspannen, war schon lange bekannt. Sie werden mindestens seit der Antike bei Schlafstörungen, nervöser Unruhe und Ängsten eingesetzt. Das in Deutschland so beliebte Feierabendbier beruhigt nicht nur wegen des Alkohols. Die beiden Hopfenbitterstoffe mit den lustigen Namen Humulon und Lupulon aktivieren im Gehirn Nervenrezeptoren, die entspannt und gelassen machen. Diese Wirkung tritt nach den Studien der ESCOP schon nach zwei Minuten ein.

Aufgrund dieser Eigenschaften empfehlen wir Hopfen als Beruhigungsmittel bei starken Schmerzen, Ängsten, Schlaflosigkeit oder stressbedingten Beschwerden. Hopfen ist besonders bei Personen hilfreich, die nachts nicht zur Ruhe kommen und tagsüber müde sind. Bisweilen empfehlen wir den Hopfen in Form unserer „hopfigen Beruhigungstropfen“.

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Hopfen ist genau richtig, wenn wir uns nach einem anstrengenden Tag nicht entspannen können. Daran erinnert uns auch seine Erscheinung: Im Frühjahr sprießt der Hopfen rasant aus seinem Wurzelstock. Dann beginnt die alljährliche Kletterei, der Hopfen will nämlich hoch hinaus. Seine kraftvollen Schlingen verschaffen sich mit Widerhaken Halt. Damit klettert der Hopfen schnell und kraftvoll an Mauern, Zäunen oder anderen Pflanzen empor – auch mal gerne bis zu zehn Meter hoch. Hat der Hopfen seine gewünschte Höhe erreicht, lässt er sich nach unten hängen – ganz so, als wäre er von der anstrengenden Kletterei erschöpft.

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So entspannend der Hopfen als Heilmittel ist, als Pflanze raubt er manchem Gartenbesitzer den letzten Nerv. Schließlich durchkreuzt er mit seinen vielen Trieben ungefragt und hartnäckig dessen Begrünungspläne. Mehr dazu weiß Jürgen Feder.

Mit Jürgen Feder auf Kräuter-Safari

„Schon dieser lateinische Name: Humulus lupulus – einfach zum Schießen und unvergesslich! Der Hopfen ist in den letzten Jahrzehnten auf Abwege gegangen: Er wurde von einer Auen- und Feuchtwaldpflanze zu einer ausgeprägten Siedlungspflanze. Überall sieht man im Spätsommer bis Herbst diese wenige Zentimeter langen weiblichen Zapfen an Buschwerk, Hecken, Mauern und Zäunen baumeln, bis sie nach den ersten Frösten einfach so zerbröseln. Der Hopfen ist zwei häusig und damit „diözisch“, sagen wir Botaniker. Das bedeutet, dass Männlein und Weiblein auf getrennten Pflanzen unterwegs sind. Männliche Pflanzen, mit ihren nur rund fünf Millimeter breiten Blütchen in kleinen Trauben, sieht man viel seltener als ihre weiblichen Pendants. Der Hopfen kann sich zu einer echten Nervensäge mausern, denn ihm ist in Hecken und an Solitärgehölzen kaum noch beizukommen. Selbst Jungpflanzen rutschen einem in Randbeeten, den Rabatten, regelrecht durch die Finger! Die Rinde hat man zwar gegriffen, die Pflanze aber eben nicht. Und wartet man zu lange, ist alles zu spät! Zu tief wurzelt der Hopfen und oft ist noch nicht mal klar, an welcher Stelle er eigentlich so aus dem Boden sprießt. Auch ist der Hopfen tatsächlich die einzige Pflanze, von der ich jemals Hautausschlag bekam: Mit seinen feinen Widerhaken und den rauen Blätterner ist einfach unglaublich!“

Wie uns angeborene Geschmacksvorlieben krank oder gesund machen

Über Geschmack lässt sich nicht streiten: Was uns schmeckt, muss anderen nicht schmecken. Wir mögen zum Beispiel den bitteren, aromatischen Geschmack von Hopfen. Das geht nicht jedem auf Anhieb so. Hopfenaroma ist nicht lieblich. Empfindsamen Naturen mag es sogar so vorkommen, als wehre sich ihr Körper gegen den Geschmack. Was passiert da?

Kinder lernen von ihren Eltern, was genießbar ist und was nicht. Das ist sehr wichtig. Bis zum Alter von etwa zwei Jahren halten sie generell alles für essbar und ekeln sich vor nichts. So ganz scheint die Evolution den Eltern nicht zu vertrauen. Die Reaktionen auf zwei Geschmäcker sind angeboren: Alles Süße schmeckt köstlich, alles Bittere nicht. Das mit dem Süßen macht auf den ersten Blick Sinn, vor allem für unsere Vorfahren. Muttermilch ist süß und die meisten süßen Früchte in der Natur sind bekömmlich und nahrhaft.

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Heute schadet uns unser angeborenes Verlangen nach Süßem, denn Süßes ist alles andere als selten und kostbar. Zucker ist allgegenwärtig und wir können nicht genug davon kriegen. Die Lebensmittelindustrie bedient das schamlos. Alles schmeckt uns, wenn nur genügend Zucker in der Rezeptur steckt. Auch Herzhaftes wie Salzstangen, Pizza und Würste werden ordentlich gezuckert. Darum leiden schon die Kleinsten unserer Gesellschaft an den Folgen eines übermäßigen Zuckerkonsums. Dazu zählen unter anderem Konzentrationsstörungen, Fettleibigkeit, Diabetes oder Karies. Wer zu zuckerarmen Nahrungsmitteln greift, wird nicht selten getäuscht. Statt des Haushaltszuckers süßen die Hersteller diese oft mit Fruktose oder Glukosesirup. Das sind keine wirklichen Alternativen, auch sie wirken sich negativ auf den Blutzuckerspiegel aus. Wer gesund süßen will, nimmt besser mit Xylit, Stevia, Ahornsirup oder Kokosblütenzucker Vorlieb.

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Unsere Lust auf Süßes, die wir der Evolution verdanken, beschert uns also eine Menge Probleme. Für unsere Vorfahren war sie ein Überlebensvorteil, uns schadet sie, denn sie kann uns krank machen. Anders verhält es sich bei unserer angeborenen Reaktion auf Bitteres. Auch diese verdanken wir der Evolution. Sie macht nicht krank, sie kann heilend wirken.

Bitterstoffe aktivieren die Verdauung und das Immunsystem

Für unsere Vorfahren war die angeborene Reaktion auf Bitteres sehr sinnvoll. Wer als Steinzeitmensch in eine bittere Frucht biss und einfach weiter aß, der hat den nächsten Abend wahrscheinlich nicht erlebt. Oder er krümmte sich vor Schmerzen mit Übelkeit und Durchfall am nächtlichen Feuer. Denn zahlreiche giftige Pflanzen schmecken bitter. Ob die Giftattacke dem Körper schadet, hängt von der eingenommenen Menge ab.

Was würden wir dem Steinzeitmenschen also raten, der in eine bittere und vermeintlich giftige Frucht gebissen hat? „Wirf die bloß weg und spuck alles aus. Du hast schon was geschluckt? Dann schieb dir Finger in den Rachen und würg alles hoch!“ Wir müssen ihm das aber nicht sagen, denn sein Körper sorgt dafür, dass er entsprechend handelt. Der bittere Geschmack ist eine natürliche Essbremse, die nur dann funktioniert, wenn wir ihn nicht erwartet haben. Wenn unser Butterbrot plötzlich bitter schmeckt, hören wir sofort auf zu essen. Irgendetwas stimmt da vielleicht nicht. Wenn wir in eine Grapefruit beißen, erwarten wir den bitteren Geschmack bereits. Die warnende, natürliche Essbremse funktioniert dann nicht.

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Wenn der Steinzeitmensch der evolutionären Essbremse trotzt und weiterisst, wird sich in seinem Körper Folgendes abspielen: Das Immunsystem wird aktiviert, die Galle ergießt sich in den Dünndarm, davon wird ihm schlecht und er übergibt sich. So wird der Körper das potenziell giftige Mahl los. Der Magen-Darm-Trakt wird durchblutet und seine unzähligen Drüsen entleeren ihre Verdauungssäfte. Dazu zählen der Speichel im Mund, der Magensaft, die Galle und der Saft der Bauchspeicheldrüse. Alle vier Flüssigkeiten sind für unsere Verdauung wichtig. Sie bilden zusammen einen Wasserfall aus bis zu sieben Litern Flüssigkeit, der jeden Tag durch uns plätschert.

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Bittere Heilpflanzen, wie der Hopfen, aktivieren den Verdauungstrakt. Damit können sie bei vielen Beschwerden und Erkrankungen sinnvoll sein, bei denen dieser schwächelt. Auf eine gewisse Weise ist jede Form der Genesung eine Erneuerung. Wenn wir gesunden wollen, braucht unser Erneuerungsprozess die notwendige Energie und Bausteine. Dafür ist das Fließen der Verdauungssäfte wichtig.

Bitter im Mund, für den Körper gesund

Ein Geheimnis eines gesunden und langen Lebens ist die Zellerneuerung. Wenn Sie diesen Absatz zu Ende gelesen haben, ist Ihr Körper schon nicht mehr der gleiche. Im rasenden Tempo werden alte Zellen ab- und neue aufgebaut. Innerhalb von drei bis vier Tagen erneuert sich Ihre ganze Dünndarmschleimhaut. Das allein ist schon beachtlich, schließlich ist deren Oberfläche größer als die eines Tennisplatzes. In unserem Magen werden alle Zellen alle sieben Tage komplett ausgetauscht. Durchschnittlich alle zehn Jahre bekommen wir ein komplett neues Skelett. Das Material für diesen Erneuerungsprozess liefert die Verdauung. Sie spaltet die Nahrung in ihre Grundbausteine, aus denen unser Körper neu aufgebaut wird. Es ist daher nicht nur entscheidend, was wir essen, sondern auch wie.

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In unserem modernen und oft stressigen Alltag hat die Verdauung es nicht leicht. Finden Sie genug Zeit zum Essen? Oder geschieht das oft nebenbei, während der Arbeit oder im Gehen? Unser Verdauungstrakt tut sich dann schwer. Er bekommt nicht ausreichend Blut und damit zu wenig Energie für seine Arbeit.

Wer wie viel Blut bekommt, entscheidet das vegetative Nervensystem. Wir können es uns wie einen Schalter vorstellen. Auf der einen Seite des Schalters ist der Ruhe-, auf der anderen der Aktivitätsmodus. Bei tatsächlichen oder gefühlten Belastungen wie dem Stress auf der Arbeit aktiviert das vegetative Nervensystem den Aktivitätsmodus, auch Sympathikus genannt. In Ruhephasen wird sein Gegenspieler aktiviert. Der Sympathikus versetzt den Körper in Einsatzbereitschaft, der Parasympathikus in den Regenerationsmodus. Der Sympathikus verbrennt Energien, der Parasympathikus füllt die Speicher wieder auf. Ist der Parasympathikus aktiviert, werden die Kraftwerke unserer Zellen, die Mitochondrien, wieder beladen.

Der Parasympathikus kommt heute meist zu kurz, denn ausführliche Regenerationszeiten im Alltag fehlen den meisten Menschen. Bitterstoffe wie aus dem Hopfen kommen dann gerade recht. Sie aktivieren den Parasympathikus und damit die Regenerationskraft des Körpers. Damit schonen sie unser Herz, steigern die Selbstheilungskräfte und helfen dabei, Stress besser zu verarbeiten.

In der Pflanzenheilkunde setzen wir bittere Heilpflanzen wie den Hopfen auch wegen ihrer antidepressiven und kräftigenden Wirkungen bei Verstimmung, Erschöpfung und Müdigkeit ein. Bitterstoffe scheinen laut Untersuchungen der US-Universitäten von Yale und New Jersey auch vor Darmkrebs und Übergewicht zu schützen. Sie sorgen also zunächst für einen kurzen Alarm im Körper, dann ermöglichen sie Entspannung, Genesung und Regeneration.

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Die Heilkraft des Bitteren ist eine der wichtigsten Wiederentdeckungen der letzten Jahre. Wir empfehlen unseren Patienten, bittere Lebensmittel in die Ernährung zu integrieren. Dazu zählen Artischocken, Rucola, Chicorée, Radicchio, Grapefruit, Löwenzahn und Kaffee (ungesüßt). Leider werden aus Gemüse und Obst Bitterstoffe oft herausgezüchtet. Auf Bio-Höfen und Bauernmärkten gibt es aber oft noch alte Obst- oder Gemüsesorten, die kaum verändert wurden und noch viele Bitterstoffe enthalten.

Bitter schmecken wir im Mund. Wir haben jedoch auch an vielen anderen Stellen Bitterrezeptoren – unter anderem im Darm und auf der Haut. Über diese Rezeptoren können wir Bitterstoffe zwar nicht bewusst wahrnehmen, eine Wirkung entfalten sie dort trotzdem. Kommt unsere Haut mit Bitterstoffen in Kontakt, wird ihre Barrierefunktion gestärkt, wie deutsche Wissenschaftler im Jahr 2018 berichteten. Bitterstoffe stimulieren unter anderem die Bildung von Hautfetten. Dies könnte Patienten mit entzündlichen Hauterkrankungen wie der Neurodermitis oder der Psoriasis und älteren Menschen zugutekommen. Die volksheilkundliche Anwendung von Hopfen bei Hautkrankheiten und trockener Haut erscheint damit plausibel. Heute findet sich Hopfen bisweilen in Hautpflegemitteln wie dem Dr. Hauschka Pflegeöl Mandel Johanniskraut. Es wird bei sensibler und trockener Haut empfohlen.

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Die Mönche und das Bier – die hormonelle Wirkung von Hopfen

Seit dem frühen Mittelalter kultivieren viele Klöster den Hopfen. Seine antibakteriellen und schimmelwidrigen Eigenschaften nutzten Mönche, um Getränke zu konservieren. Dazu zählt vor allem das Bier. Vielen jungen Mönchen wurde dessen Konsum nahegelegt, damit sie eine der großen Herausforderungen des klösterlichen Lebens besser ertrugen: das Zölibat. Die verpflichtende Ehelosigkeit fiel den Mönchen mit dem Genuss des Hopfens tatsächlich leichter. Hopfen kann nämlich übermäßige Libido dämpfen. Wie kommt es dazu?

Viele Pflanzen beeinflussen die Fruchtbarkeit von anderen Lebewesen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass damit potenzielle Fressfeinde an ihrer ungezügelten Vermehrung gehindert werden. Ein Schädling, der tüchtig Hopfenblätter gegessen hat, hätte also weniger Lust sich fortzupflanzen. Damit gäbe es in Zukunft schon ein paar weniger Schädlinge. Dies gelingt, weil einzelne Farbstoffe des Hopfens auf das Hormonsystem der Tiere wirken – und damit auch auf das des Menschen. Die sogenannten Flavonoide des Hopfens binden an Östrogenrezeptoren in unserem Körper. Damit können sie eine östrogene Wirkung entfalten. Dies ist bei Östrogenmangel und in den Wechseljahren hilfreich.

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Männer brauchen sich übrigens keine Sorgen machen, dass das Trinken eines Hopfentees ihnen die körperliche Lust raubt. Hopfen wirkt ausgleichend auf die Libido. So wird er traditionell sowohl bei gesteigertem sexuellem Verlangen als auch bei Lustlosigkeit angewandt.

Apropos Bier: Es macht die Menschen geselliger, das ist bekannt. Natürlich nur, wenn keiner über seinen Durst trinkt. Dafür ist der Hopfen mitverantwortlich. Wie wir gesehen haben, aktiviert Hopfen den Parasympathikus, dieser wiederum schaltet – wie Forschungen zeigen – ein „System des sozialen Engagements“ im Gehirn an. Dieses System erlaubt uns, andere Menschen zu verstehen und zu achten. Erst wenn wir entspannt sind, fühlen wir uns mit anderen Menschen verbunden. Es mag ein Grund sein, warum Kommunikation innerhalb der Gesellschaft gerade so schwierig ist, denn Stress und Ärger verschließen unser Verständnis für die Positionen anderer Menschen. Der Hopfen kann die nötige Gelassenheit schaffen, um uns mit Mitgefühl den anderen Menschen zu öffnen. Auch wenn diese eine andere Meinung vertreten als wir.

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Zusammenfassung

Wir haben versucht, Ihnen den bitteren Hopfen schmackhaft zu machen. Hoffentlich ist uns das gelungen, denn Hopfen ist eine wertvolle Heilpflanze, die uns gerade in unserem stressreichen Leben hilfreich sein kann. Der Hopfen ist ein körperliches und seelisches Verdauungsmittel. Er regt die Aktivität des Magen-Darm-Traktes an und sorgt dafür, dass wir unsere Lebensmittel optimal verwerten. Zudem hilft er uns dabei, seelische Anspannungen zu „verdauen“. Hopfen ist ein bewährtes Mittel bei Unruhe, Schlafstörungen und stressbedingten Beschwerden. Dadurch stärkt er unsere Regenerationskraft und unsere Fähigkeit, in Ruhephasen Energie zu tanken.

Seine verschiedenen Inhaltsstoffe wirken auf verschiedene Körpersysteme.

So wirkt der Hopfen

WIRKORT WIRKUNG
Psyche Schlaffördernd, entspannend, beruhigend, stresslindernd, angstlösend
Verdauung Appetitanregend, krampflösend
Hormonsystem Östrogene Wirkung, reguliert die Libido
Immunsystem Hemmt Entzündungen und das Wachstum von Bakterien und Pilzen
Nervensystem Schmerzlindernd

image Wir empfehlen den Hopfen bei den folgenden Erkrankungen und Beschwerden:

Ängste, Appetitlosigkeit, Arthrose, Burnout, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Erschöpfung und Müdigkeit, Gürtelrose (Post- Zoster-Neuralgie), Kopfschmerzen, Magenschleimhautentzündung, Migräne, Myome der Gebärmutter, Nervenschmerzen, Polyneuropathie, Reizblase, Regelschmerzen, Reizmagen, Rückenschmerzen, Heißhunger, Inkontinenz, Rheuma, Schlafstörungen, Stress, Trigeminusneuralgie, Unruhe und Nervosität, Wechseljahresbeschwerden

Frieden stiften mit der Schafgarbe

Hätte ein Glas Schafgarbentee den Tod eines griechischen Sagenhelden verhindert? Der Schafgarbe kann man ruhig einiges zutrauen. Wie unser Lehrer Klaus Krämer einmal meinte: „Ihr jungen Phytotherapeuten nehmt die energischen Heilpflanzen, die exotischen Rinden und kräftigen Wurzeln. Wir alten Hasen nehmen die Schafgarbe.“ Bei der Zusammenstellung der Hausapotheke folgen wir seinem Beispiel und nehmen eine der vielseitigsten Heilpflanzen mit ins Sortiment.

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Heiß und trocken: kein Problem für die Schafgarbe.

Die Wundheilpflanze in einem antiken Superhelden-Blockbuster

Troja ist bis heute eine umstrittene Stadt. Vor rund 3000 Jahren sollen griechische Heere sie belagert haben. Und noch heute debattieren Historiker, ob und wo es diese Stadt gab, und den Krieg, der sie zehn Jahre in ihrem Bann gehalten haben soll. Ob die Geschehnisse um Troja nun wahr sind oder nicht, sie liefern gute Geschichten. Diese sind so fesselnd, dass laut dem Schriftsteller Homer selbst die griechischen Götter dem Spektakel beiwohnten. Die Tribüne soll sich auf dem baumfreien Gipfel des Ida-Berges befunden haben. Die göttlichen Zuseher hielt es aber selten auf ihren Plätzen. Sie griffen in das Drama ein, wenn ihre favorisierte Seite oder ihr Lieblingsheld in Nöten war. Selbst der gutmütige Gott Apollon, der Hüter der Musik, der Dichtkunst, der Medizin und der Mäßigung (!), konnte sich nicht beherrschen. Seine Hand soll den tödlichen Pfeil auf die einzige Schwachstelle des ansonsten unverwundbaren Achill gelenkt haben. Während Achill das Schlachtfeld von Troja verließ, eroberte seine Namensvetterin die vom Krieg gezeichnete Landschaft: Die Schafgarbe, die in Erinnerung an den Helden den Namen Achillea millefolium trägt. Die Schafgarbe zählt zu den ältesten Arzneipflanzen. Auch vor Troja kam sie laut Homer als Wundheilmittel zum Einsatz, doch ihre Heilkraft war schon lange davor bekannt. Ausgrabungen im irakischen Teil Kurdistans legen nahe, dass die Neandertaler sie bereits vor 60.000 Jahren verwendet haben.

Mit der Schafgarbe versorgten die Griechen ihre Verletzungen aus dem Schlachtgetümmel. Die Schafgarbe stillt Blutungen, zieht das Wundgewebe zusammen und reinigt es durch ihre antibakteriellen Eigenschaften. Ihre entzündungshemmenden Inhaltsstoffe regulieren den Heilungsprozess und die Narbenbildung.

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Während des zehnjährigen Gemetzels müssten die Soldaten wohl große Mengen von Schafgarbe gesammelt haben, um Hiebe und Stiche zu kurieren. Dennoch dürfte sie nach dem Krieg aufgeblüht sein. Zum einen fielen beim Transport von gesammelter Schafgarbe in die Lager sicher viele Samen in den Boden. Zum anderen veränderte der Krieg die Landschaft und schuf der Pflanze ideale Wuchsbedingungen. Homer beschreibt, wie die Griechen weite Waldgebiete während der tödlichen zehn Jahre abholzten und geschlossene Grasflächen nackter, zertrampelter Erde wichen. So schufen sie ideale Lebensräume für die Schafgarbe. Wie viele andere Pflanzen in diesem Buch, zählt sie zu den sogenannten Pionierpflanzen. Sie besiedelt Standorte, deren Vegetation empfindlich gestört oder zerstört wurde. Darum finden wir sie so häufig in unseren Siedlungen.

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Farbstoffe als Resultat einer süßen Symbiose

Der trojanische Krieg lässt sich nicht eindeutig historisch belegen. Wohl aber viele andere blutige Auseinandersetzungen in der Geschichte der Menschheit. Die Eigenschaft des Menschen, Konflikte immer wieder mit Gewalt zu lösen, sei ganz natürlich, argumentieren manche. In der Natur herrsche nun mal „Fressen und Gefressen werden“. Naturdokumentationen zeigen immer wieder eindrucksvoll, wie die eine Spezies auf Kosten der anderen lebt. Tatsächlich überwiegt in der Natur aber das Miteinander, und nicht das Gegeneinander. Die meisten Lebensformen auf diesem Planeten arbeiten mit anderen zusammen, sie bilden Symbiosen. Eine der sprichwörtlich süßesten Symbiosen ist jene zwischen Blüten und Insekten. Die Pflanze bietet zuckerhaltigen Nektar. Das Insekt trägt dafür den Pollen von Blüte zu Blüte und bestäubt diese, wenn es nach dem Nektar langt.

Von der „süßen“ Symbiose zwischen Schafgarbe und Insekten profitieren auch wir. Bienen besuchen Schafgarben gerne und so landet ihr Nektar auch in unserem Honig. Neben dem Honig beschert uns die Symbiose auch diverse heilkräftige Farbstoffe, die unter anderem unseren Gehirnstoffwechsel beeinflussen. Die Farbstoffe sind für die leuchtend weiße Blüte der Schafgarbe verantwortlich, mit der sie sich auch in der Dämmerung und in der Nacht bemerkbar macht. Dann ist sie ein beliebter Treff für verschiedene hungrige Nachtfalter.

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Eine hitzetolerante Heilpflanzen für hitzige Gemüter

Als um Troja endlich Frieden einkehrte, erblühte wahrscheinlich die Schafgarbe auf dem von Gewalt gezeichneten Landstrich in der Mittelmeerregion der heutigen Türkei. Ähnlich wie ihre Inhaltsstoffe Verletzungen heilen, schlossen ihre weißen Blüten als Zeichen des Friedens die Narben in der Vegetation. Die Schafgarbe kann auch uns helfen, wieder Frieden zu finden, wenn wir emotional aufgewühlt sind. Wenn etwas nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, reagieren wir schnell verärgert. Ärger kann hilfreich sein, um in einer bedrohlichen Lage entscheidende Energien zu aktivieren. Ärger und seine große Schwester, die Wut, zerstören aber auch viel. Sie erschweren Kommunikation und Verständigung, sie können die Gesundheit beeinträchtigen und den Körper unter Stress setzen. Andauernder Ärger ist Studien zufolge für das Herz mindestens so gefährlich wie Rauchen oder Bluthochdruck. Er schwächt das Abwehrsystem und verstärkt depressive Stimmungen und Schlafstörungen.

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Die Schafgarbe wirkt besänftigend, wenn der Ärger in uns tobt. Aus Sicht der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) ist diese Ansicht nachvollziehbar, denn schließlich wirkt die Schafgarbe sanft und entspannend auf Leber und Gallenblase ein. In den Organen kocht und entlädt sich der Ärger nach den Vorstellungen der TCM. Die europäische Naturheilkunde bringt unterdrückte Wut und Ärger ebenfalls mit Gallenproblemen in Verbindung.

Eine weitere mögliche Erklärung für die besänftigende Wirkung der Schafgarbe bietet der Farbstoff Apigenin. Es bindet sich an sogenannte Benzodiazepin-Rezeptoren in unserem Gehirn. Das sind Rezeptoren, über die auch die Benzodiazepine wirken, Beruhigungsmittel, die bei diversen Erregungszuständen verordnet werden.

Eine Heilpflanze, die bei hitzigen Gemütern hilfreich sein kann, mag es passenderweise auch gerne heiß. Mehr weiß Jürgen Feder darüber.

Mit Jürgen Feder auf Kräuter-Safari

„Immer wieder halten unkundige Zeitgenossen diesen trivialen Korbblütler für Giersch oder andere Doldengewächse. Da muss ich dann immer mit meinem botanischen ABC ganz von vorne anfangen. Die Gewöhnliche Schafgarbe schlägt irgendwann noch alle Rekorde – gerade im Jahrhundertsommer 2018 und dem darauffolgenden sommerlichen Herbst. Überall im Oktober und November stand sie noch voll in Blüte, obwohl der Rasen total verbrannt war. Kennt diese Art denn gar keine Trockenheit? Allem Anschein nach nicht! Dass sie eine Wucherpflanze vor dem Herrn ist, war mir als Landschaftsgärtner mit guten Augen schon immer bekannt. Fummeln Sie mal diese unermüdlich unterirdische Ausläufer treibende Pflanze aus irgendwelchen Pflaster- oder Plattenritzen herausdas ist eine Arbeit zum Verzweifeln. Es gelingt Ihnen nicht! Im nächsten Jahr ist sie wieder da. Mit ihrem typischen scharfen Geschmack und ebensolchem Geruch ist die Gewöhnliche Schafgarbe eine altbekannte Würzpflanze. Doch sie leistet auch gute Dienste gegen Bettwanzen, Kopfläuse oder Mücken, getrocknet in Kopfkissen und Matratzen oder im Bündel von der Zimmerdecke baumelnd. Und von wegen „Sie gedeiht nur auf mageren Böden“! Richtig monströse Blätter kann dieses 20 bis 120 Zentimeter hohe Gewächs entwickeln. Darum ist sie in Deutschland auch so weit verbreitet, an nährstoffreichen Straßenrändern genauso wie an Böschungen, in Magerweiden sowie auf Verkehrsinseln. Von den Nordseedeichen bis hoch in die Alpen auf 2000 Metern Höhe wächst sie. Die Gewöhnliche Schafgarbe und ihre Verwandten erfreuen mich mit ihrem Schneeweiß schon seit Kinderzeiten.“

 

In der mythischen Schlacht vor Troja starb Achill, weil der Gott Apoll sich ärgerte. Ob ihn ein Glas Schafgarbentee besänftigt hätte? Die Griechen und andere frühe Kulturen schlossen zumindest nicht aus, dass Heilpflanzen sie vor dem Zorn ihrer Götter schützen. Meist versuchten sie dies in Form von Räucherungen. Schafgarbe war Teil solcher Räuchermischungen, die die Götterwelt besänftigen sollten. Auch heute wird dies noch praktiziert. Der Rauch macht wahrscheinlich keine Götter, wohl aber uns Menschen ruhig und gelassen.

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Zusammenfassung

Die Schafgarbe ist der Tausendsassa in unserer Hausapotheke. Bei den meisten Alltagsbeschwerden ist es nicht verkehrt, ein Glas Schafgarbentee zu trinken. Sie wirkt sanft, aber sie wirkt. Selbst bei chronischen Erkrankungen und starken Beschwerden kann sie hilfreich sein. Dafür sprechen ihre Wirkungen auf viele Organsysteme. Frieden stiften kann die Schafgarbe auch bei Krämpfen aller Art. Sie ist ein gutes Schmerzmittel bei krampfhaften Beschwerden des Bauchs und des Unterleibs.

So wirkt die Schafgarbe

WIRKORT WIRKUNG
Immunsystem Entzündungshemmend, antiallergisch, antiviral, antibakteriell
Glatte Muskulatur Entkrampfend
Verdauung Appetitanregend, fördert die Verdauung und den Gallenfluss
Haut und Schleimhaut Wundheilend
Herz-Kreislauf-System Blutstillend, entkrampfend auf arterielle Gefäße
Zentrales Nervensystem Angstlösend, entspannend

image Wir empfehlen die Schafgarbe bei den folgenden Erkrankungen und Beschwerden:

Akne, Ängste, Ärger, Appetitlosigkeit, Asthma, Bauchschmerzen, Bettnässen, Blähungen, Blasenentzündung, Blutfettwerte (erhöhte), Bluthochdruck, chronische entzündliche Darmerkrankungen, depressive Verstimmung, Durchfall, Fettleber, Fieber, Fasten, Frühjahrsmüdigkeit, Hämorrhoiden, Heuschnupfen, Krebs (Nebenwirkungen behandeln), Magen-Darm-Erkrankung, Magengeschwür, Magenschleimhautentzündung, Magenübersäuerung, Migräne, Mundgeruch, Myome der Gebärmutter, offenes Bein, Regelschmerzen, Reizdarm, Reizmagen, Sodbrennen, Verstopfung, Völlegefühl, Winterblues, Wunden und Verletzungen, Wundliegegeschwüre, Zyklusstörungen

Heilsamer Baumfunk: die Silber-Weide

Mit dem Hopfen haben wir eine Heilpflanze für seelische Alarmzustände kennengelernt. Auch unser Immunsystem kann mit Fieber und Entzündung ordentlich für Krawall sorgen. Unser Nervensystem hat mit dem Schmerz eine Alarmglocke in petto, um unsere Ruhe zu stören. Doch gegen Schmerz, Entzündung und Fieber gibt es doch etwas ... von fast jedem Pharmariesen. Leider sind deren Mittel schlecht bekömmlich und allein an den Nebenwirkungen von Aspirin sterben jedes Jahr circa 4000 Menschen in Deutschland. Da ist eine gut verträgliche und wirksame pflanzliche Alternative dringend notwendig. Das Pharmaunternehmen Bayer gibt uns freundlicherweise auf seinen Packungen einen Hinweis, wo wir suchen müssen. Doch zunächst blättern wir in einer alten Ausgabe der New York Times.

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Silber-Weiden (Salix alba)

Wie die Weide Raupen den Geschmack verdirbt

Wer es in den Leitartikel der New York Times schaffen will, muss die Welt bewegen. Oder zumindest einen großen Teil ihrer Bewohner. Am 7. Juni 1983 handelt der Leitartikel von einem Baum, noch dazu von einem ziemlich gewöhnlichen. Zudem hatte dieser nichts Besonderes geleistet. Er hatte nichts anderes getan als die Jahre und Jahrtausende davor. Doch 1983 wurde uns Menschen etwas bewusst, was unsere Sicht auf Pflanzen veränderte: Sie hocken gar nicht schweigsam auf dem Planet Erde herum, sie kommunizieren miteinander.

Die Wissenschaftler David Rhoades und Gordon Orians müssen damals einige Zeit unter Silber-Weiden (Salix alba) verbracht haben. Dabei fiel ihnen auf, dass von gefräßigen Raupen befallene Bäume ihr Umfeld zu warnen schienen. Benachbarte Bäume bereiteten sich auf einen möglichen Raupenangriff vor, indem sie den Gerbstoffgehalt ihrer Blätter erhöhten.

Gerbstoffe sind heilkräftige Pflanzeninhaltsstoffe, Sie werden sie näher im Porträt der Nelkenwurz kennenlernen. Zunächst genügt uns die Tatsache, dass Gerbstoffe Raupen tüchtig den Appetit verderben. Zum einen schmecken sie nicht besonders, zum anderen stören sie die Verdauung. Sie hindern Verdauungssäfte am Fließen und deaktivieren Verdauungsenzyme. Die Raupe wird sich wundern. Ein leckeres Blatt der Silber-Weide wird während des Essens ungenießbar und liegt schwer im Magen. Stellen Sie sich vor, Ihr leckeres Frühstücksbrötchen würde mit jedem Bissen bitterer und bereitete Ihnen plötzlich Magenschmerzen!

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Interessant für uns ist jetzt, wie die Silber-Weiden sich gegenseitig warnen und was dies mit der Heilkraft der Pflanze zu tun hat.

Das pflanzliche Aspirin

Zerriebene Rinde oder Blätter vieler Weiden riechen nach Wintergrünöl. Dies liegt am Stoff Methylsalizylat. Methylsalizylat zählt zu den ätherischen Ölen, die Pflanze setzt es bei Verletzungen frei. Es schützt die Wunde vor dem Befall von Mikroorganismen wie Bakterien. Es dringt in deren Zellinneres ein und randaliert dort. Es schwächt die Zellwand und stört die Reparaturmechanismen der Mikroorganismen. Zudem wirkt Methylsalizylat innerhalb der Pflanze wie eine Alarmanlage. Nicht befallene Blätter nehmen den Geruch wahr und innerhalb kurzer Zeit ist der ganze Baum gewarnt. Seine Blätter produzieren Gerbstoffe, um Fressfeinden den Appetit zu verderben. Auch benachbarte Weiden werden durch den Geruch alarmiert.

Auch unser Körper reagiert auf Methylsalizylat. Bei uns hat der Stoff aber eine gegenteilige Wirkung: Die Weiden versetzt er in Alarmzustand, er aktiviert ihr Abwehrsystem. Bei uns hingegen dreht er die Alarmanlage leiser, wenn sie unerträglich laut schrillt.

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Wenn wir uns verletzen, beginnt das betroffene Gewebe nicht zu duften wie die Weiden. Es teilt seine Not auf anderem Wege mit. Schmerz und Entzündungsfaktoren sind für uns das, was Methylsalizylat für die Weide ist. Der Schmerz macht uns die Verletzung bewusst, die Entzündungsfaktoren aktivieren das Abwehrsystem und bei Bedarf das Fieberzentrum im Gehirn. Schmerz, Entzündung und Fieber sind unser Alarmsystem. Sie sind überlebensnotwendig, können aber zur Belastung werden. Sie kennen das wahrscheinlich von einer Erkältung. Vom Treiben der Erkältungsviren kriegen wir gar nichts mit. Wir leiden nicht darunter, dass sie in unsere Zellen eindringen und deren Innenleben für ihre Zwecke manipulieren. Wir leiden an den Abwehrreaktionen unseres Körpers. Sobald wir erkältet sind, wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass Schmerzen, Fieber und Erschöpfung bald vergehen. Kein Wunder, dass entzündungshemmende Medikamente wie Aspirin zu den am meisten verkauften Medikamenten in Deutschland zählen! Aspirin beruhigt unser Alarmsystem, es hemmt Schmerz, Entzündung und Fieber. Das kann bei vielen akuten und chronischen Erkrankungen Linderung bringen. Leider geht seine Einnahme mit Nebenwirkungen einher. Dazu zählen die gefürchteten Magenblutungen, die oft tödlich enden. Eine 2017 veröffentlichte Studie kommt zum Ergebnis, dass in England jährlich 20.000 Fälle von inneren Blutungen durch den Wirkstoff Acetylsalizylsäure verursacht werden. 3000 davon enden tödlich. Andere Schmerzmedikamente sind da keineswegs harmloser. Sie schädigen Organe wie Leber oder Niere und können zu Abhängigkeit führen. Zum Glück sind wir für unsere Hausapotheke nicht auf Aspirin angewiesen. Wir haben dafür eine natürliche Alternative. Denn Aspirin fiel nicht vom Himmel, eher aus den Bäumen.

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Warum wir auf die Wirkung der Weide etwas warten müssen

Der Name Aspirin verweist darauf, dass hinter dem bekannten Medikament einst eine Pflanze stand, das sogenannte Mädesüß. Die in feuchten Wiesen, Laubwäldern und an Bach- sowie Grabenufern beheimatete Pflanze riecht, wie viele Weiden, nach Methylsalizylat. Diesen Geruchstoff bilden Pflanzen aus Salizylsäure. Mittlerweile trägt das Mädesüß die botanische Bezeichnung Filipendula ulmaria, früher hieß sie noch Spirea ulmaria. In „Aspirin“ finden wir den Namen Spirea wieder. Er lehnt sich an die lateinische Bezeichnung „a spirea“ an, auf Deutsch hieße das: „Aus der Spirea/aus dem Mädesüß“. Bayer schreibt also auf jede Packung, wem sie den jährlichen Milliardenumsatz zu verdanken hat: einer Pflanze. Vor der Markteinführung des Aspirins wurde Salizylsäure aus Weiden oder dem Mädesüß gewonnen.

Es spricht auch heute nichts dagegen, Aspirin bei Schmerzen, Fieber und Entzündungen durch Mädesüßkraut oder Weidenrinde zu ersetzen. Wir brauchen dafür nur ein wenig mehr Geduld. Die modifizierte Salizylsäure aus der Tablette wirkt sofort; auf die Wirkung von Weidenrindentee müssen wir zwei bis drei Stunden warten. So lange dauert es nämlich, bis Bakterien unserer Darmflora das natürliche Salizin der Weidenrinde in die für uns wirksame Salizylsäure verändern. Diese beeinflusst dann unsere Körperchemie. Sie hemmt spezielle Enzyme, die die sogenannten Prostaglandine bilden. Diese Gewebshormone sorgen dafür, dass wir fiebern und unser Gewebe schmerzt und sich entzündet. Gefährliche Nebenwirkungen wie bei Aspirin treten bei Weidenrindentee keine auf. Die natürliche Salizylsäure ist anders aufgebaut als der Wirkstoff des Medikaments.

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Kopfschmerzen für Botaniker

Weidenrinde aus der Apotheke oder aus Kräuterläden stammt nicht immer von der Silber-Weide. Für die medizinische Anwendung eignen sich auch andere Weidenarten, so unter anderem die Purpur-Weide (Salix purpurea), die Reif-Weide (Salix daphnoides) und die Bruch-Weide (Salix fragilis). Sie alle weisen vergleichbare Mengen an Salizin auf. Leider besitzt davon unsere häufigste, dazu auch noch am leichtesten zu erkennende Sal-Weide (Salix caprea) deutlich weniger.

Die anderen Heilpflanzen unserer Hausapotheke sind eher leicht zu erkennen. Bei den Weiden ist das schon etwas trickreicher. Sie sind sehr anpassungsfähig. Dafür nehmen sie es mit der „Reinrassigkeit“ nicht so genau. Nah verwandte Weidenarten können sich gegenseitig befruchten. Das Resultat sind sogenannte Weiden-Bastarde. Für die Weiden ist das prima. Sie tauschen ihr Erbgut aus und schaffen laufend neue Arten. So bleiben sie flexibel und können sich schnell an veränderte Umstände anpassen. Aber Experten bereiten ausgerechnet die schmerzstillenden Weiden Kopfschmerzen. Denn die Bastarde sind sehr schwer zu bestimmen. Die gilt auch für die bekannte Silber-Weide, wie uns der Botaniker Jürgen Feder verraten hat.

Mit Jürgen Feder auf Kräuter-Safari

„Nicht alles, was bei Weiden silbern-silbrig glänzt, ist auch gleich eine Silber-Weide! Hat man mal so einen Weiden-Silberling vor sich, wird man am besten zur Prüfung direkt handgreiflich: Bricht der Zweig oder bricht er nicht? Das ist hier die Frage. Silber-Weiden brechen nicht, allenfalls mal im Orkan, doch niemals lassen sie sich mit den Händen brechen. Sie sind nämlich zäh wie Leder und hart im Nehmen. In unseren Flussauen ist das von großem Vorteil, wenn sich hier Sturm, Wasser und vor allem Eisgang so richtig austoben. Alle Naturgewalten gehen durch Silber-Weiden hindurch oder einfach mal über sie hinweg. Und jeder dieser Zweige ist bereit, im Nu zu einem Baum zu werden. Dazu braucht nur ein Zweig auf einen nassen Boden zu fallen. Selbst im schieren Sand, etwa bei uns an Elbe, der Oder und der Weser: Ruckzuck steht dann ein neuer Silber-Weidenwald da! Von uns Botanikern wird er sehr kompliziert auch „Weichholzaue“ genannt. Echte Weicheier sind die Silber-Weiden dann doch irgendwie, denn ihr Holz ist weich und darum eben sehr biegsam. In der Weichholzaue gibt es dafür keine hölzernen Konkurrenten (es sei denn, sie macht sich selbst Konkurrenz). Dort gibt es immer lecker Nährstoffe, auch mal Basenschübe, Wasser und Hochwasser von Flüssen und Strömen. Ab und zu kommt auch mal tierischer Besuch von Biber, Fischotter oder Nutria vorbei.“

Zusammenfassung

Schmerz, Entzündung und Fieber sind überlebensnotwendig. Schmerz macht uns auf bedrohliche Situationen aufmerksam und zwingt uns zum Handeln. Wir würden die Hand nicht von der heißen Herdplatte nehmen oder mit einer Blinddarmentzündung nicht zum Arzt gehen – erlitten wir keinen Schmerz. Ohne Entzündung und Fieber wäre unser Immunsystem machtlos. Sie aktivieren unsere Immunzellen und erleichtern deren Arbeit. Bisweilen werden Schmerz, Entzündung und Fieber selbst zum Problem. Dann ist die Weidenrinde hilfreich.

So ist das zum Beispiel bei chronischen Rückenschmerzen. Der Schmerz sorgt für muskuläre Verspannungen und verleitet uns dazu, uns zu schonen. Beides ist kontraproduktiv und erschwert den Ausweg aus dem Leiden. Dann ist ein Schmerzmittel sinnvoll, umso besser ist es dann, wenn es gut verträglich ist wie die Weidenrinde. Deren Hauptwirkstoff ist das Salizin. Aber auch ihre Gerb- und Farbstoffe tragen zu den folgenden Wirkungen der Weidenrinde bei.

So wirkt die Weidenrinde

WIRKORT WIRKUNG
Immunsystem Entzündungshemmend, fiebersenkend, antibakteriell, schmerzstillend
Haut Hemmt die Schweißbildung

image Wir empfehlen die Weidenrinde bei den folgenden Erkrankungen und Beschwerden:

Arthritis, Arthrose, Erkältung, Fieber, Hüftschmerzen, Knieschmerzen, Kopfschmerzen, Migräne, Mittelohrentzündung, Morbus Bechterew, Nervenschmerzen, Ohrschmerzen, Psoriasis-Arthritis , Rheuma (entzündliches), Rückenschmerzen, Schweißfüße, Sonnenbrand, Zahnschmerzen

Die Brennnessel, die Therapeutin mit den Spritzen

Die Brennnessel (Urtica dioica) ist essbar, aber im rohen Zustand beißt sie zurück, wenn wir unvorsichtig in sie hineinbeißen. Nur wenige Menschen haben den Biss der Brennnessel nicht am eigenen Leib erfahren. Deswegen halten wir respektvoll Abstand von der Pflanze. Respekt gebührt ihr auch wegen ihres großen Beitrags zu unserer Gesundheit. Dass sie sich im rohen Zustand wehrt, ist kein Nachteil, im Gegenteil!

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Die Brennnessel lässt sich auch prima auf dem Balkon anbauen.

Präzisionswaffen verteidigen die nahrhafte Pflanze

Die Brennhaare der Brennnessel bieten einen guten Schutz vor Pflanzenfressern, insbesondere vor Säugetieren, denn sie sind wahre Präzisionsinstrumente. Ihr Ende ist spröde wie Glas und bricht bei leichtem Kontakt, dabei entsteht eine scharfe Bruchkante, die problemlos unsere Haut durchdringt und einen schmerzhaften Cocktail freisetzt. Wenn die Brennhaare nur die ätzende Ameisensäure enthielten, wäre der Schmerz kurz und erträglich. Der Schmerzcocktail ist jedoch perfekt auf den Körper von Säugetieren abgestimmt, seine Stoffe Histamin und Acetylcholin sorgen für ein längeres Vergnügen. Histamin lässt das betroffene Areal anschwellen und Acetylcholin reizt die Nervenfasern, der Schmerz wird verstärkt und hält länger an. Histamin und Acetylcholin wirken deshalb so gut, da wir und andere Säugetiere diese beiden Stoffe auch selbst produzieren. Sie spielen eine Rolle bei der Entstehung von Entzündungen, allergischen Reaktionen und Schmerzen.

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Trotz der abschreckenden Brennhaare begegnen wir immer wieder angeknabberten Brennnesselblättern. Dafür sind vor allem die Raupen zahlreicher Schmetterlinge verantwortlich, wie der farbenprächtige kleine Fuchs. Sie fressen um die Brennhaare herum und profitieren vom sehr hohen Eiweißgehalt (4 Gramm Eiweiß auf 100 Gramm im frischen Zustand) der Brennnesselblätter.

Auch den Raupen ist die Brennnessel nicht schutzlos ausgeliefert. Wenn es ihr zu viel wird, produziert sie Nikotin. Sie kennen den Stoff sicher: er ist für die Suchtwirkung von Tabak verantwortlich. Sie wissen sicher auch, dass Nikotin appetithemmend wirkt. Wer viel raucht, hat weniger Hunger. So ergeht es auch den Raupen. Plötzlich verlieren sie den Appetit. Essen sie trotzdem weiter, lähmt das Nikotin ihre Muskulatur. Uns macht das bisschen Nikotin nichts aus und wir sollten die Brennnessel regelmäßig unserem Speiseplan hinzufügen.

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Die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Brennnesselpflanzen kennt der Extrembotaniker Feder ganz genau:

Mit Jürgen Feder auf Botanik-Safari

„An der Großen Brennnessel entflammen die Gemüter! Für die einen ist es ein überaus lästiges Unkraut und gehört deshalb, zumindest im Garten, mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Für die anderen (und die wissen es oft besser) ist es eine wichtige Heil-, Nahrungs- und Trachtpflanze für allerlei Insekten und Schmetterlinge. Zugegeben, ich gehörte früher auch zur ersten Gruppe, aber inzwischen habe ich dazugelernt. Wo man nur kann, da lässt man diese nur unscheinbar von Juni bis Oktober blühende Pflanze stehen und erfreut sich an ihrer Vielseitigkeit. Und was nur wenige Menschen wissen: Die Große Brennnessel trägt männliche und weibliche Blüten auf verschiedenen Pflanzen. Die weiblichen Blüten hängen im Quirl immer herab. Die dünnen Männlichen stehen zumindest waagerecht ab – wie immer, wenn es beim Mann noch gut läuft. Zudem kann man diese vielen Brennhaare durch kräftiges Aufwärtsstreichen unschädlich machen und so die jüngsten Sprossteile schon an Ort und Stelle als wertvolle Nahrungsergänzung nutzen. Da sie salzig schmecken, kann man sich den Kauf von Gewürzsalz auch noch sparen. Die Große Brennnessel hat noch eine schmal- bzw. langblättrige Unterart, die aufgrund fehlender Brennhaare auf der Haut nicht brennen kann. Die findet man in reichlicher Anzahl vor allem in den großen Stromtälern, besonders längs von Elbe, Havel, der Oder und Saale. Dort spiele ich dann gerne den vermeintlich Mutigen und ziehe mir ein paar Pflanzen quer durchs Gesicht – ohne dass irgendwas passiert.“

Von der Wehrhaftigkeit der Brennnessel profitieren auch andere Pflanzen, wie zum Beispiel die Taubnessel (Lamium album) und der Wald-Ziest (Stachys sylvatica). Ihre Blätter imitieren Brennnesselblätter, was ihnen laut dem italienischen Botaniker Stefano Mancuso Schutz vor Pflanzenfressern verschafft. Auch wir können von der Abwehrstrategie der Brennnessel profitieren.

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Die Injektionstherapie mit Brennhaaren

Ist Ihnen schon einmal auf einer Wanderung ein Mensch begegnet, der mit frischen Brennnesseln seine nackte Haut schlägt? Es könnte sich hierbei um eine besondere Form des Masochismus handeln. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich jemand mit frischen Brennnesseln behandelt – und sich damit etwas Gutes tut:

Das Nesselpeitschen: eine brennende Therapie

Vielen Rheumapatienten ist die Therapie mit frischen Brennnesseln bekannt. Sie ist generell bei Schmerzen der Gelenke, der Muskulatur und der Wirbelsäule eine Option. Beim Nesselpeitschen wird der schmerzende Körperteil mit frischen Brennnesseln beklopft. Dabei entladen die Brennhaare ihren Cocktail unter der Haut. Ihr Acetylcholin und Histamin verstärken lokal die Durchblutung. Dies kann die Muskulatur entkrampfen, die Beweglichkeit erhöhen und sich positiv auf Entzündungsprozesse auswirken. Der gesteigerte Zustrom an Blut spült zudem entzündungsfördernde Stoffe vom Entzündungsherd weg.

Zu den Effekten des Nesselpeitschens wurden bereits mehrere Studien durchgeführt. Ausschlaggebend war eine kleine Studie mit 18 Teilnehmern, die unter Muskel- und Gelenkschmerzen litten. 17 davon gaben an, noch keine Therapie hätte ihnen so gut geholfen wie das Nesselpeitschen. Die positiven Ergebnisse bestätigten sich in einer zweiten Studie. Hierbei wurde einmal täglich die schmerzende Stelle mit einem frischen Brennnesselblatt für 30 Sekunden betupft.

Das Nesselpeitschen ist bei Schmerzen der Gelenke, der Muskulatur und der Wirbelsäule auf jeden Fall einen Versuch wert. Sie müssen ja nicht gleich peitschen; das Betupfen mit einem frisch geernteten Blatt reicht. Lassen Sie es langsam angehen, damit Sie ein Gefühl für die richtige Dosierung entwickeln. Wenn sich nach der Behandlung ein Wärmegefühl einstellt, haben Sie alles richtig gemacht.

Das Nesselpeitschen kann auch zur Stärkung des Immunsystems verwendet werden. Reizen Sie hierfür den oberen Rücken oberhalb der Lungenflügel mit frischen Brennnesseln.

Feuer löschen mit der entzündungshemmenden Brennnessel

Die Blätter der Brennnessel setzen äußerlich und in frischem Zustand angewandt eine künstliche Entzündung. Diese ist bei verschiedenen Schmerzzuständen hilfreich. Wenden wir die Brennnessel innerlich an, zeigt sich ein gegenteiliger Effekt: Sie hilft, wenn es im Körper brennt. Bei vielen chronischen Erkrankungen sind Entzündungsherde ein Problem, sie werden von Botenstoffen, sogenannten Entzündungsmediatoren, entfacht. Die Wirkstoffe der Brennnessel dämmen deren Wirkung ein. Gut untersucht ist dies bei Patienten mit rheumatischen Gelenkerkrankungen. Besonders aussagekräftig ist eine Anwendungsbeobachtung mit fast 9000 Teilnehmern. Beinahe 40 Prozent der Teilnehmer konnten ihre Schmerzmittel um die Hälfte reduzieren, weitere 20 Prozent brauchten durch die Einnahme von Brennnessel keine Schmerzmittel mehr.

Auch bei anderen entzündlichen Erkrankungen wie dem Heuschnupfen oder den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen kann die Brennnessel hilfreich sein.

Die Brennnessel beruhigt unser Immunsystem, wenn es übereifrig ist und schädliche Entzündungsherde unterhält. Die Brennnessel kann aber auch anders. Sie stimuliert unsere Immunantwort, wenn wir uns mit Krankheitserregern auseinandersetzen müssen. Daher ist sie zum Beispiel Teil unserer Erkältungsmischung, die wir im zweiten Kapitel vorstellen.

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Zusammenfassung

Die Menschen und die Brennnessel haben eine lange gemeinsame Geschichte. Jahrtausende lang nutzen wir sie für die Herstellung von Stoffen, Nahrung und Heilmitteln. Auch von uns hat wohl jeder eine persönliche Leidensgeschichte mit dem brennenden Gewächs. Wer ihr noch nicht verziehen hat, der sollte dies lieber rasch tun und ihre vielen positiven Seiten kennenlernen.

So wirkt die Brennnessel

WIRKORT WIRKUNG
Immunsystem Entzündungshemmend, immunstimulierend, antirheumatisch, antiallergisch
Niere Steigert die Harnmenge und die Ausscheidung von Harnsäure
Hormonsystem Beeinflusst den Östrogen- und Testosteronstoffwechsel
Herz-Kreislauf-System Blutdrucksenkend, blutstillend

image Wir empfehlen die Brennnessel bei den folgenden Erkrankungen und Beschwerden:

Arthritis, Arthrose, Blasenentzündung, Blutarmut, Bluthochdruck, Bronchitis, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Diabetes mellitus, Erkältung, Fasten, Frühjahrsmüdigkeit, Heuschnupfen, Hüftschmerzen, Insulinresistenz, Inkontinenz, Knieschmerzen, Prostatavergrößerung, Zyklusstörungen

Löwenzahn: der Stickstoff-Liebhaber für den Stoffwechsel

Löwen sind Fleischfresser – der Gewöhnliche Löwenzahn (Taraxacum officinale) bleibt seinem Namensgeber treu, auch er mag Fleisch. Genauer gesagt: Er profitiert davon, dass wir so viel Fleisch essen. Wenn wir unsere Landschaft mit Ausscheidungen der Tiere belasten, findet er das gut. Wenn wir unseren Stoffwechsel belasten, sollten wir wiederum den Löwenzahn gut finden. Denn er sorgt für Linderung und heilsamen Schwung im rechten Oberbauch.

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Der Löwenzahn strotzt vor Vitalität.

Gelb blühen die Güllewiesen – der Löwenzahn mag Stickstoff

Wer in Deutschland lebt, verzehrt laut Statistik rund 600 Tiere im Leben und 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Das ist eine ganze Menge. Unser Fleischhunger wirkt sich auf unsere Landschaft aus, denn die rund 40 Millionen Schweine und Rinder in Deutschland produzieren ein gigantisches Ausmaß an Gülle, die der Landwirtschaft als Düngemittel dient. Doch fällt bei der Tiermast mehr Gülle an, als die Felder vertragen. Laut der Süddeutschen Zeitung landet jedes Jahr mehr Gülle auf deutschen Feldern als der Konzern Coca-Cola im selben Zeitraum weltweit an Getränken verkauft!

Die stickstoffhaltigen Nitrate der Gülle sickern ins Grundwasser und gelangen damit wieder in die Haushalte. Je höher der Nitratwert im Trinkwasser, desto höher ist Studien zufolge das Darmkrebsrisiko. Aus diesem Grund wird der Nitratgehalt des Trinkwassers genau überwacht. Ein Fünftel des Grundwassers weist bedenklich hohe Nitratwerte auf. Die Wasserversorger schaffen es jedoch noch, die gesetzlichen Grenzwerte einzuhalten. Im Kapitel „Abwarten und Tee trinken“ beschreiben wir, wie Sie sich vor krebserregenden Nitrosaminen schützen und Ihrer Darmflora etwas Gutes tun können.

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Wenn wir im April und Mai an mit Gülle gedüngten Feldern vorbeifahren, ahnen wenige von dem Schlamassel. Im Gegenteil, viele denken sich: „Oh, wie schön.“ Die Güllewiesen blühen dann in einem dichten gelben Teppich, geknüpft aus den Blüten des Löwenzahns. Er ist fast die einzige Pflanze, die auf stark gedüngten und regelmäßig geschnittenen Wiesen blüht. Der Löwenzahn hat kein Problem mit der Gülle und ihrem Stickstoff. Ihm machen die hohen Stickstoffwerte im Boden nichts aus. Auch in unseren Siedlungen lässt sich das beobachten. Dort schmückt der Löwenzahn die Gassiplätze der Hunde.

 

Korpulente Gewächse: Übersättigung mit Stickstoff

Alle Pflanzen benötigen Stickstoff, um Eiweiße und diverse Pflanzeninhaltsstoffe aufzubauen. Er fördert das Pflanzenwachstum und die Ausbildung vieler Früchte. Stickstoff sorgt für eine satte, dunkelgrüne Färbung der Blätter. Fehlt er der Pflanze, wächst sie kümmerlich und ihre Blätter werden schnell gelb. Sie verzichtet auf Wachstum und verwendet ihre ganze Energie darauf, möglichst schnell zu blühen. Bekommen Pflanzen mehr Stickstoff als sie benötigen, dann werden sie „korpulent“ und dabei unnötig groß und breit. Durch das übertriebene Wachstum schwächen sie sich und werden dadurch anfälliger für Krankheiten.

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Einige Pflanzen tolerieren hohe Stickstoffmengen im Boden. Besonders vielen davon begegnen wir in menschlichen Siedlungen. Darunter sind auffallend viele Heilpflanzen. Fünf davon lernen wir in diesem Buch genauer kennen: die Brennnessel, den Holunder, die echte Nelkenwurz, den Hopfen und den Löwenzahn. Andere stickstoffliebende Heilpflanzen aus unseren Siedlungen sind die Knoblauchrauke, der echte Steinklee, die Vogelmiere, das Kletten-Labkraut, der Gundermann und der bittersüße Nachtschatten. Stickstoffliebende Heilpflanzen können bei verschiedenen Erkrankungen hilfreich sein. Interessanterweise besteht bei diesen eine Verbindung zu unserer Ernährungsweise und unserem Lebensstil, besonders beim Löwenzahn.

Der Löwenzahn und die Überernährung

Der Löwenzahn gedeiht prächtig an überdüngten Stellen. Die meisten anderen Pflanzen können mit dem Überfluss an Stickstoff nichts anfangen, er lässt sie nicht gedeihen oder macht sie krank. Hier lassen sich interessante Parallelen zu unserer Lebensweise bilden. Wir leben in einer Überflussgesellschaft. Die „Überdüngung“ mit Kalorien ist ein ernstes Problem. Eine Studie der Krankenkasse DAK kam 2016 zum Schluss, dass bereits jeder vierte Deutsche stark übergewichtig ist. Meist hängt dies mit zu viel und vor allem falscher Ernährung und mangelnder Bewegung zusammen. Übergewicht geht mit teilweise erheblichen Belastungen und gesundheitlichen Risiken einher. Es ist ein Risikofaktor für die Entstehung von vielen schweren chronischen Erkrankungen. Dazu zählen Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs oder Arthrose.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783869100692
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (November)
Schlagworte
Hausapotheke Heilkräuter Jürgen Feder Krankheiten natürlich behandeln Tinkturen

Autoren

  • Anne Wanitschek (Autor:in)

  • Sebastian Vigl (Autor:in)

Die Heilpraktiker Anne Wanitschek und Sebastian Vigl führen eine eigene Praxis in Berlin und haben sich u.a. auf die naturheilkundliche Behandlung von chronischen Schmerzen, hormonellen Störungen und Erkrankungen des Darms spezialisiert. Hauptschwerpunkt ihrer Tätigkeit ist die Pflanzenheilkunde. „Gesund mit heimischen Heilpflanzen“ ist das fünfte gemeinsame Buch. Bereits erschienen sind die Titel „Pflanzliche Antibiotika richtig anwenden“, „Die Leber natürlich reinigen“, „Naturheilkunde bei Krebs“ und „Cannabis und Cannabidiol (CBD) richtig anwenden“. Ihr Wissen geben sie auch auf Seminaren und Führungen weiter.
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Titel: Gesund mit heimischen Heilpflanzen