Zusammenfassung
„Er hat aber angefangen!“ – „Mama, ich will das auch!“ – „Raus aus meinem Zimmer!“: Zwischen Geschwistern herrscht manchmal eher Krieg als Friede-Freude-Eierkuchen. Für Eltern sind diese Streitigkeiten nicht nur nervig, sondern auch extrem anstrengend. Mit diesem Ratgeber wird der Familienalltag endlich leichter: Bloggerin und Dreifachmama Sabrina Heinke zeigt, was Geschwister wirklich brauchen, um ein tolles Team zu werden, warum die Gleichbehandlungen von Kindern nicht funktioniert und was Eltern sagen können, wenn der Streit zwischen Geschwistern doch mal wieder richtig hochkocht.
Entspannter Familienalltag ohne Schimpfen, Drohen und Bestrafen
Sympathisch, kurzweilig und alltagstauglich: In ihrem Ratgeber gibt Sabrina Heinke eine Anleitung für eine entspannte Erziehung von Geschwistern im Alter von 0-12 Jahren. Sie liefert praktische Tipps und Hilfestellungen, um Geschwisterbeziehungen zu stärken, Konflikte schnell zu lösen und die Bedürfnisse aller Familienmitglieder unter einen Hut zu bekommen. Für alle, die keine Lust mehr auf Stress und Überforderung im Familienalltag haben.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
In fast der Hälfte aller Familien in Deutschland leben Geschwister und damit Kinder, die einen beachtlichen Teil ihres Lebens intensiv miteinander verbringen. Für diese Geschwister wurde ein unsichtbares Band geknüpft, das sich nie wieder lösen wird.
Für Mehrkindfamilien bedeutet das zugleich, Problemen, Sorgen, Ängsten, aber auch wunderschönen Momenten ausgesetzt zu sein, die sie nur erleben, da sie ein zweites (oder drittes …) Kind bekommen haben. Auch wir leben in einem Fünfpersonenhaushalt mit drei Kindern und durchleben damit alle Höhen und Tiefen, die der Alltag mit sich bringt. Spätestens als der erste große Streit zwischen meinen Kindern entbrannte – und ich schwöre, so lange lässt dieser nicht auf sich warten – wollte ich die Geschwisterthematik näher beleuchten.
Meine elementare Frage kreiste häufig darum, wie man es als Eltern wohl schafft, keinem der Kinder das Gefühl zu geben, benachteiligt oder schlechter als der/die andere zu sein. Aus der Suche nach einer Antwort entstanden viel größere Fragen: Wieso verstehen sich manche Geschwister im Erwachsenenalter nahezu blind, während andere sich nicht einmal eines Blickes würdigen? Welche elementare Rolle spielen wir Eltern dabei? Warum streiten Kinder so oft? Hat unsere eigene Erfahrung und Kindheit eine Bedeutung? Um die Antworten zu finden, musste ich mir Wissen aneignen. Also las ich Bücher, hörte Podcasts, befragte erwachsene Geschwister, führte Interviews mit Psychologen und schaute mir Studien und Blogbeiträge zum Thema an. Leider bemerkte ich schnell, dass ich mir tiefergehende Informationen mühselig zusammensuchen musste und viele Empfehlungen einfach nicht praxistauglich waren. Floskeln wie „Ein Kind ist kein Kind“ oder „Das Dritte läuft einfach so mit“ waren mir genauso wenig eine Hilfe wie „Dann schenken Sie doch beiden Kindern immer genau das Gleiche, um dem Ärger vorzubeugen.“
Ich schrieb deshalb häufig auf meinem Blog www.mamahoch2.de über Erziehungsthemen, die mich bewegten, und startete zeitgleich einen Podcast für Mütter. Heute ist Mamahoch2 einer der beliebtesten Familienblogs in Deutschland, und bei Facebook leite ich eine eigene Gruppe für Mütter, in der sich 26000 Frauen über Erziehungsthemen und Tipps rund um den Alltag mit Kind austauschen. Zusätzlich schreibe ich regelmäßig Kurzbeiträge bei Instagram, um über Erziehungsfragen zu diskutieren. Mein Ziel ist es, den Alltag von Eltern zu entzerren und so Lösungen aufzuzeigen, wie das Zusammenleben innerhalb der Familie harmonisch laufen kann – ohne erhobenen Zeigefinger. Ich bin weder Psychologin noch Erziehungswissenschaftlerin. Ich bin eine ganz normale Mutter, die den einfachen Wunsch danach verspürt, mit ihrem Partner und ihren Kindern ein respektvolles, liebevolles, gewaltfreies und gleichwürdiges Leben zu teilen.
Das hast du von diesem Ratgeber
Besonders im Alltag mit mehreren Kindern sehe ich auf Eltern eine zusätzliche Last zukommen. Es gilt mehreren Kindern gleichermaßen gerecht zu werden, ohne sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren. Dieses Buch soll dir dabei helfen, deine Kinder als Geschwister besser zu verstehen und Konfliktmomenten souverän gegenüberzutreten. Ich möchte Stolperfallen aufzeigen und Missverständnisse auflösen. Ich will, dass du dich nach dem Lesen bestärkt fühlst und erkennst, dass es nicht das Ziel ist, alles perfekt zu machen, sondern den eigenen Blick in eine gewisse Richtung zu öffnen. Aus diesem Grund greife ich auf Situationen zurück, die ich selbst erlebt habe oder die meine Leser an mich herangetragen haben. Ich möchte dir damit Anregungen bieten und die Möglichkeit, dir eigene Gedanken zu machen. In einigen Bereichen meines Buches findest du zudem Eindrücke und Erfahrungen meiner LeserInnen. Es ist mir ein Anliegen, dass ihre Empfindungen in dieses Buch einfließen und dieses Projekt damit zu einem Gemeinschaftswerk wächst.
Geschwister zu sein ist härter als jede Ehe. Eine Scheidung ist unmöglich. Es ist eine Beziehung auf ewig. Grund genug, sich ein paar Dinge bewusst zu machen.
Ich sitze bei meinen Bekannten am Frühstückstisch und streichle über meinen dicken Bauch, während ich mit der anderen Hand versuche, den Tee elegant zu meinem Mund zu führen. Ich muss es einfach loswerden: „Wisst ihr, ich mache mir manchmal Sorgen, wie das so funktionieren soll mit zwei Kindern. Ich meine, ich fühle mich jetzt schon mit meinen Kräften am Ende. Und überhaupt, ist es nicht egoistisch von mir, ein weiteres Kind einfach so in die Welt zu setzen? Ich meine, wir haben Paul gar nicht gefragt.“ Meine Bekannte Tina schaut mich lächelnd an: „Ach, mach dir da doch keine Sorgen. Ein Kind ist wie kein Kind, und bei zweien läuft das Erste einfach so mit. Paul kannst du zudem auch nicht fragen. Überleg doch mal. Er ist gerade zweieinhalb Jahre alt.“ „Stimmt“, raune ich und trinke weiter meinen Tee. Doch innerlich lässt mich dieses unsichere Gefühl auch die kommenden Monate nicht los. Natürlich hatte ich viel darüber gelesen, welche Vorteile Geschwisterkinder mit sich bringen, aber auf was wir uns als Familie einlassen, konnte ich damals nur schwer abschätzen. An die ersten Tage mit einem Säugling erinnerte ich mich noch recht gut, aber die Vorstellung von zwei kleinen Kindern fühlte sich wie eine Reise ins Ungewisse an. Ich stellte mir Worst-Case-Szenarios vor: Nächte, in denen das eine Kind das andere wachschrie, oder das eine Kind auf dem Klo, während das andere gestillt wird. Und überhaupt: Wie soll man abends ein Kind ins Bett bringen und ihm die nötige Aufmerksamkeit schenken, während das andere quasi 24 Stunden Nähe und Zuwendung benötigt? Ich machte mir wahnsinnig viele Gedanken und hatte vor allem vor der Zeit Respekt, in der ich mit den Kindern ohne Partner zu Hause sein würde.
Geschwisterkinder: Rollenbild mit Ansage
Wie sehr ein zweites Kind die Familie verändern würde, merkte ich bereits in puncto Geburtsplanung. Schon in diesem Moment, wenn sich das Geschwisterchen auf den Weg macht, gilt es das erstgeborene Kind zu berücksichtigen und dessen Betreuung zu gewährleisten. Hinzu kommt diese ungeheure Angst, nicht beide Kinder lieben zu können, oder vielmehr die Frage, ob es überhaupt möglich ist, mehrere Kinder gleich zu lieben. Ich machte mir Gedanken darüber, wie die nächsten Jahre wohl sein werden, und erwischte mich dabei, mir die Zukunft auszumalen, bis ich auf einen nicht zu missachtenden Fakt stieß: Die Beziehung hört nie auf! Egal welche Wege die Kinder einschlagen werden: Sie sind miteinander verbunden, Scheidung unmöglich.
Als mir bewusst wurde, was Geschwister zu haben und Geschwister zu sein eigentlich bedeutet, erkannte ich die Tragweite und auch die Verantwortung, Mutter mehrerer Kinder zu sein. Es werden zwei Menschen, egal ob sie charakterlich zueinander passen oder nicht, gleich ob sie harmonieren oder nicht, egal ob sie es wollen oder nicht, in einen Verbund geboren, der sie für die nächsten Jahre zwingt, miteinander zu leben und auszukommen. Aber es geht noch weiter: Die Verbindung lässt sich auch dann nicht lösen, wenn die Kinder ausgezogen sind und ihre eigenen Wege gehen, nicht einmal durch den Tod der Eltern. Ihre Beziehung besteht auch dann, wenn der Kontakt auf Eis liegt. Egal wie sehr man versucht, Geschwister aus seinem eigenen Leben zu verbannen – sie werden ein Leben lang einen Zugang tief in unser Innerstes haben. Genau dieser Umstand macht es Geschwisterkindern – egal welchen Alters – auch so schwer: Sie werden in eine Situation hineingeboren und wirken aufeinander.
Hinzu kommen eine Reihe Erwartungen, wie zum Beispiel gegenseitige Rücksichtnahme, Beistand in Notsituationen oder auch das Teilen der Fürsorge für die Eltern, wenn diese ins Alter gekommen sind. Über all die Zeit treten unzählige Konfliktmomente auf, die es zu meistern gilt, denn wie bereits festgestellt: Weder eine Scheidung noch eine Kündigung ist möglich.
Ein wesentlicher Fakt ist auch, dass in den Kindheitstagen eine räumliche Distanz nicht infrage kommt, da in der Regel die Familie in den ersten Jahren zusammen unter einem Dach lebt. Geschwister verbringen damit einige intensive Jahre miteinander. Laut Studien ab dem dritten Lebensjahr sogar mehr Zeit als mit der eigenen Mutter. Auch wenn der Kontakt mit dem Erwachsenwerden abflaut, so treten unsere Geschwister häufig wieder in unser Bewusstsein, sobald wir selbst Eltern werden. Kurzum: Man kommt aus dieser Nummer nicht mehr heraus. Ehepartner können geschieden werden, Geschwister nicht.
Empathie lernen von den kleinen Geschwistern
Kanadische Forscher haben herausgefunden, dass Geschwisterkinder ihre Empathiefähigkeit gegenseitig beeinflussen, und zwar unabhängig vom Erziehungsstil der Eltern, von sozioökonomischen Verhältnissen oder ihrem Verhältnis zueinander. Dabei profitierten die älteren Kinder von jüngeren Familienmitgliedern. Der Verbund zwischen Geschwistern geht sogar so weit, dass sich Geschwisterkinder unbewusst erkennen und damit instinktiv wissen, dass sie miteinander verwandt sind. Dies fand die US-Psychologin Debra Lieberman von der University of Santa Barbara gemeinsam mit Kollegen heraus. Halbgeschwister oder auch Geschwister, die frühzeitig getrennt wurden, berichten selbst nach etlichen Jahren, dass sie eine tiefe Verbundenheit spüren, Gemeinsamkeiten feststellen und Ähnlichkeiten im Äußeren. Geschwister werden durch uns Eltern zu Geschwistern gemacht. Wir legen den Grundstein dafür, dass sich ein unsichtbares Band zwischen ihnen knüpft, das sie ein Leben lang begleiten wird.
Natürlich kann diese Beziehung nicht gänzlich ohne den einen oder anderen Konflikt verlaufen. Es ist aber so, dass die Bewältigung dieser Konflikte die Bindung der Kinder wachsen lassen kann und für die Zukunft elementare Grundpfeiler bildet. Wenn du dir in diesem Buch also eine Pauschalantwort auf das Geschwistergeheimnis erwartest, muss ich dich leider enttäuschen: So verschieden wir Menschen sind, so unterschiedlich und einzigartig ist jede Familie und umso klarer wird dabei, dass auch Geschwisterbeziehungen ganz verschieden aussehen können. Dennoch können wir Fallstricken ausweichen und aus Fehlern lernen, die Eltern vor uns gemacht haben.
Mehr Kinder = mehr Stress?
Mir stellte sich bei meiner Recherche lange die Frage: Warum bekommen wir überhaupt mehrere Kinder, wenn wir schon von vornherein wissen, dass das zusätzliche Konflikte, Stress, Geld und Nerven von allen Familienmitgliedern fordert? Ich glaube die Antwort liegt darin, dass wir als Eltern mit dem Wunsch durch unser Leben gehen, dass unsere Kinder jemanden an ihrer Seite wissen, vielleicht auch dann, wenn wir selbst nicht mehr da sein können. Blutsverwandtschaft ist in unseren Köpfen eine Art Garantieschein für die Zukunft, nicht allein zu sein, egal wie viele Stricke reißen mögen.
Ein weiterer Grund könnte aber auch plump gesagt unser natürlicher Drang sein, Nachkommen zu zeugen. Es erhöhen sich damit einige Wahrscheinlichkeiten. So steigt die Chance auf Enkel. Es gibt potenzielle Erben. Wir tragen unsere Erbmerkmale in mehreren Kindern weiter. Und zeitgleich sind da zwei Hände mehr, die anpacken und der Familiensippe zuträglich sein können. Kurzum: Wir sichern uns und unser Fortbestehen ab. Fest steht, dass schon viele Generationen vor uns auf Geschwisterkinder gesetzt haben. Hätte sich dieser Umstand als „nicht tragbar“ erwiesen, wären wir längst davon abgekommen und lebten in einer Welt voller Einzelkinder.
DIE KINDER KÖNNEN NICHTS DAFÜR | ![]() |
Geschwister führen eine in Stein gemeißelte Beziehung, aus der sie sich nicht vollkommen lösen können. Diese beeinflusst sie nachhaltig. Die Beziehung kann nicht beendet werden, weder durch Kontaktabbruch noch durch räumliche Distanz. Es spielt dabei nicht einmal unbedingt eine Rolle, in welchem Verhältnis die Kinder zueinander stehen. Konflikte lassen sich innerhalb einer Familie nicht vermeiden, aber sie haben das Potenzial, dass alle Parteien daran wachsen und sich die Beziehung dadurch positiv entwickelt.
Geschwister müssen keine Freunde sein
Was verbindest du mit dem Begriff „Geschwister“? Was ist das Erste, das dir im Zusammenhang damit einfällt? Genau das war die Frage, die ich vor einiger Zeit in Vorbereitung auf dieses Buch meinen Lesern stellte. Es kamen mehr als 200 Antworten, und doch gab es nur drei Aussagen, die sich häuften:
•Auf Platz 1 mit großem Abstand: bedingungslose Liebe
•Platz 2: Freud und Leid
•Platz 3: Liebe
Ich habe lange gegrübelt, ob sich Geschwister wirklich bedingungslos lieben können, und komme zu dem Schluss, dass ich diese Vorstellung eher verneinen würde. Keine Frage, die Illusion der bedingungslosen Geschwisterliebe ist wunderschön und ehrenwert, aber doch zeigen sämtliche Studien und auch mein Alltag, dass die Liebe zwischen Geschwistern eine vollkommen andere ist als die zu uns Eltern. Der Hauptunterschied liegt für mich vor allem darin, dass sie nicht essenziell abhängig voneinander sind, von uns Eltern hingegen schon. Geschwister müssen einander nicht gefallen – sie müssen sich miteinander arrangieren, um im Familienbund leben zu können. Wir Eltern sind in der Lage, eigene Interessen zurückzustellen, und handeln in dem Moment für unsere Kinder und damit gegen uns selbst. Bei Kindern können wir diesen Weitblick nicht voraussetzen, sodass wir sie fälschlicherweise als egoistisch wahrnehmen. In Wirklichkeit handeln sie dabei einfach für sich selbst und können die sich ergebenden Nachteile für Dritte schlicht nicht abschätzen.
Zwischen Liebe und Missgunst
Im Zusammenleben von Geschwistern treffen positive wie negative Gefühle permanent aufeinander. Liebe, Zuneigung, gemeinsame Interessen treffen auf Rivalität, Hass, Missgunst und Eifersucht. Geschwisterkinder sind auf der ständigen Suche nach Gleichwertigkeit, und zeitgleich suchen sie die Abgrenzung.
Müssen Geschwister Freunde sein?
„Eigentlich nicht, weil na ja – sie sind ja schon Geschwister.“
mein Sohn Paul (8)
Seit Urzeiten ist das Sinnbild von Geschwistern die gegenseitige Unterstützung, das Füreinander-da-Sein und das Sich-Halt-Geben. Wir stellen uns vor, wie bedingungslos diese Beziehung aussehen kann. Wir verbinden das Gefühl von Scheitern damit, wenn unsere Kinder sich streiten oder in späteren Jahren sogar ablehnen. Die Realität zeigt uns jedoch, dass nicht alle Geschwister ein Herz und eine Seele sind. Im Gegenteil. Es wirkt auf uns, als würde sich die Masse in zwei Hälften spalten: Geschwister, die sich auch als Erwachsene noch leiden können, und Geschwister, die sich lieber aus dem Weg gehen.
Verständlicherweise trübt uns als Eltern der Gedanke, dass sich unsere Kinder einst nicht mehr verstehen könnten, und vielleicht möchten wir umso mehr an unserer Idealvorstellung der sorgenfreien Geschwisterbeziehung festhalten, schließlich wurden sie als Einheit in die Welt gesetzt und stehen für den Zusammenhalt einer Familie. Wir wünschen uns Harmonie, und wenn wir ganz ehrlich zu uns selbst sind, versuchen wir mit unserer Erziehung auch dahingehend zu wirken. Wir denken dabei an unsere Moral und übernehmen Werte und Vorstellungen unserer Vorfahren: „Blut ist dicker als Wasser“, „Geschwister müssen füreinander da sein.“ Das ist keinesfalls verwerflich, und doch müssen wir ehrlich zu uns sein und uns eingestehen, dass wir keine Freundschaft zwischen Geschwistern verlangen, voraussetzen oder erzwingen können.
Wir haben es nicht in der Hand, dass aus unseren Kindern enge, sich liebende Geschwister werden. Wir sind jedoch nicht völlig machtlos, denn als Eltern können wir durchaus dafür sorgen, dass die Rivalität zwischen unseren Kindern nicht überschäumt und sich zu Hass entwickelt. Und vielleicht ist der erste Schritt bereits damit getan, sich von diesem Gedanken zu verabschieden, dass Geschwister sich mögen und stützen müssen.
Der perfekte Altersunterschied bei Geschwistern
Ich hätte gerne so etwas geschrieben, wie „Feel free, das Alter spielt keine Rolle.“ Das wäre jedoch nur die halbe Wahrheit. Schaut man sich um, so könnte man meinen, es gibt zwei Standpunkte. Die einen sagen „Besser dicht nacheinander, dann spielen sie schön miteinander“, die anderen: „Lieber ein großer Altersunterschied und so mehr Zeit für jedes Kleinkind.“ Beide Parteien haben mit ihren Aussagen recht. Es kommt auf den Blickwinkel an, und eine Menge Faktoren nehmen auf unsere schlussendliche Entscheidung Einfluss. Die gute Nachricht: Es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich möchte den Blick in Bezug auf das Alter zwischen Geschwisterkindern zunächst jedoch vor allem auf die Kinder selbst richten und weniger darauf, wie es sich für uns Eltern anfühlt.
Wir Menschen kommen als sehr soziale Wesen auf die Welt, und doch sind unsere Fähigkeiten nicht vollends ausgebildet. Es ist hinlänglich bekannt, dass Empathie wie ein Samenkörnchen in uns wächst und im Laufe der Kindheit immer weiter verfeinert wird. Schon im Kleinkindalter verhalten sich Kinder kooperativ. Einige Wissenschaftler gehen sogar davon aus, dass sie es von Natur aus sind. Im Alter ab ungefähr vier Jahren sind sie in der Lage, die Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen und zu deuten. Sie können Rückschlüsse auf die Ursache bilden und sind sich dessen bewusst, dass Gefühle wechseln können. Sie können sich „in den anderen hineinversetzen“. Ab etwa sechs Jahren sind Kinder in der Lage, Konsequenzen abzuschätzen, die sich aus dem Handeln ergeben.
Der kanadische Entwicklungspsychologe Prof. Dr. Gordon Neufeld vertritt die Annahme, dass Kinder erst mit etwa fünf bis sieben Jahren in der Lage sind, differenzierte Gefühle zu empfinden. Diese sind in der Geschwisterbeziehung von elementarer Bedeutung, wenn es um die Konfliktlösung geht. Ein schönes Beispiel ist: „Ich bin sauer, weil meine Schwester mein Spielzeug kaputtgemacht hat, aber ich mag sie trotzdem.“ Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sind Kinder erst dann in der Lage, in echte Selbstregulation zu gehen („Ich beruhige mich selbst.“). Das Gehirn macht in diesem Alter noch einmal einen deutlichen Sprung in Bezug auf das logische Denken, sodass nun auch der Aufschub eigener Bedürfnisse besser gelingt.
Gefühle lesen ist nicht angeboren
Ein Säugling (Kind unter einem Jahr) steht im völligen Gegensatz dazu. Er ist kaum in der Lage, die eigenen Gefühle von denen seiner Umwelt zu differenzieren. Ein Baby spiegelt die Gefühle seines Gegenübers. Es kann jedoch nicht dessen Perspektive übernehmen. Es hat noch nicht gelernt, Situationen einzuschätzen und Folgen zu erkennen. Es gelingt ihm meist nicht, die eigenen Gefühle von denen der Außenwelt zu differenzieren. Und es kann sich natürlich auch noch nicht durch Worte ausdrücken. Es weint also oder quietscht, es strampelt fröhlich oder drückt über seine Mimik seinen Zustand entsprechend aus. Für Geschwister kann es je nach Alter schwierig sein, dies „zu lesen“. Kleinkinder sehen sich wiederum bereits als eigenständige Persönlichkeiten. Sie erkennen Gefühle und beginnen zum Beispiel im Spiel damit zu trösten, genauso wie sie ihre Wut deutlich zeigen können. Trotzdem ist die Empathiefähigkeit noch nicht gänzlich ausgereift.
Mit etwas unter zwei Jahren fangen Kinder an, ihre Sachen aktiv zu verteidigen. Dieser Prozess ist mit dem oben erwähnten Perspektivwechsel verknüpft. Sie erkennen nun, dass sie abgegrenzt von ihren Mitmenschen agieren. Zu verstehen, warum der Bruder oder die Schwester aber nun weint, wenn man etwas weggenommen hat, fällt zu schwer. Kommen wir nun mit dem belehrenden Zeigfinger um die Ecke und ermahnen: „Das gehört deinem Bruder. Du kannst doch nicht einfach hauen und das Auto wegnehmen. Jetzt ist er deinetwegen traurig“, dann fühlt es sich für uns vielleicht richtig an, etwas gesagt zu haben. Das bedeutet aber nicht zugleich, dass unser Kleinkind den komplexen Zusammenhang versteht. Es ist fraglich, ob es in dem Moment die Folgen abschätzen kann, es handelt für sich.
Mir als Mutter wurde die unterschiedliche Wahrnehmung vor allem in den Momenten bewusst, in denen das Kleinkind zurückstecken musste, weil es die Situation nicht anders zugelassen hat. Ein schönes Beispiel war, als ich meinen Sohn (5) trösten wollte. Er hatte sich verletzt und hielt sich das Bein. Mein großer Sohn (8) wartete dabei ganz selbstverständlich an der Seite, nahm sich zurück und drückte sein Mitgefühl aus, indem er leise ein „Ach du Armer“ flüsterte und ihm über den Arm streichelte. Meine kleine Tochter (2) setzte sich hingegen direkt auf meinen Schoß und wollte mir ein Buch zeigen. Das Verständnis dafür, dass die Verletzung des Bruders Priorität hatte, war einfach noch nicht da.
Der Altersunterschied verschwimmt irgendwann
Geschwisterbeziehungen sind in den Kindheitsjahren weniger asymmetrisch als die Beziehung zwischen Kind und Eltern. Asymmetrisch bedeutet, dass ein Macht- oder Kompetenzgefälle zwischen den Geschwisterkindern besteht. Gleichzeitig sind sie jedoch weniger symmetrisch als beispielsweise die Beziehung zwischen gleichaltrigen Freunden. In Untersuchungen wurde beobachtet, dass ältere Geschwister nicht nur Spielgefährten sind, sondern tatsächlich lehrende oder helfende Verhaltensweisen an den Tag legen: Jüngere Geschwister ordneten sich nicht nur unter, sie forderten zum Teil sogar ein, dass die Großen über sie bestimmten. Es waren vor allem die älteren Schwestern, die eine betreuende Funktion übernahmen, während ältere Brüder stärker den Wettbewerb mit ihren Geschwistern forcierten. Je älter die Kinder wurden, desto symmetrischer wurden die Verhaltensweisen und umso unbedeutender wurde der Altersunterschied empfunden.
Viele heute erwachsene Geschwisterkinder empfinden den Altersabstand als unerheblich, wenngleich sie wissen, dass es in den Kindheitstagen häufig Ärger gab. Woran liegt das aber?
Hier komme ich immer wieder zu dem Schluss, dass die Gehirnreife und das Erkennen und Abschätzen von Tragweiten ein entscheidender Schlüssel ist.
Genauso spielt es natürlich eine Rolle, wie viel Zeit Geschwister miteinander verbringen und wie eng das Familienverhältnis ist. Die Entspannung im Jugendalter liegt nicht zuletzt daran, dass unsere Kinder allmählich flügge werden und ihre Kernzeit weniger innerhalb der Familie verbringen.
Der Drahtseilakt zwischen nahezu Gleichaltrigen
Aber nicht nur das, auch positive Verhaltensweisen der Eltern gegenüber ihren Kindern sind der Geschwisterbeziehung zuträglich. Gespräche mit dem älteren Kind über die Bedürfnisse und Gefühle des jüngeren Kindes fördern positive Zuwendung. Darüber hinaus ist es bei unterschiedlich weit entwickelten Kindern unerlässlich, dass wir Eltern dem jüngeren Kind ein wenig mehr Unterstützung bieten. Dies bedeutet Fingerspitzengefühl: Schenken wir dem Jüngsten Aufmerksamkeit über das Maß hinaus, fördern wir Rivalität und Konkurrenzdenken. Dieser Drahtseilakt ist besonders dann schwierig, wenn beide Kinder von der Entwicklung und vom Alter her eng beieinander liegen und wir mit liebevollen Erklärungen und Vermittlungsversuchen nicht durchdringen können. Besonders im Grundschulalter zeigen sich damit ein höheres Konfliktpotenzial und der Wunsch nach Abgrenzung. Zudem wurde festgestellt, dass kleinere Kinder von älteren Geschwistern profitieren, und das besonders dann, wenn der Altersabstand mehr als vier Jahre beträgt.
So schlecht der dichte Altersabstand den Studienergebnissen zufolge nun scheint, so hat er auch seine Vorzüge. Geschwister mit engem Altersunterschied haben vielleicht mehr Konfliktpotenzial, das sie überwinden müssen. Die Beziehung ist jedoch oftmals inniger, und es werden mehr Zärtlichkeiten ausgetauscht. In meinen eigenen Umfragen war es auffallend, dass tatsächlich die Geschwister mit sehr geringem Altersunterschied auch im Erwachsenenalter noch ein sehr inniges Verhältnis pflegen.
Würde man die Frage abschließend anders formulieren und danach stellen, ob der Altersunterschied eine wesentliche Rolle spielt, so wäre die Antwort: Nein! Wesentlicher sind die Geschlechterkonstellation, das jeweilige Temperament, aber vor allem unser Umgang mit unseren Kindern und unserem Partner.
Es gibt weder den perfekten Altersunterschied noch die perfekte Kinderanzahl oder den perfekten Zeitpunkt, um Kinder zu bekommen. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass jede Konstellation und jeder Altersunterschied Vor- und Nachteile mit sich bringen können. Unsere Aufgabe ist es, Rivalitäten nicht zu fördern. In erster Linie sollten wir deshalb vor allem mit größeren Kindern offen über die Gefühle, Bedürfnisse und auch die Fähigkeiten eines kleineren Geschwisterchens sprechen.
Genauso wichtig ist es, die Kinder nicht in Rollen zu zwängen. Eine große Schwester ist genauso wenig Kindermädchen wie der kleine Bruder der „freche Raufbold der Familie“. Laut Statistik ist die Gefahr für Rivalitäten im Kindesalter bei geringem Altersunterschied und gleichem Geschlecht erhöht. Zeitgleich geht man aber davon aus, dass gerade dann eine besonders enge Beziehung zwischen den Geschwistern wachsen kann.
„Bedienungsanleitung“ für Erstgeborene, Nesthäkchen und Sandwichkinder
Spielt es eine Rolle, ob man Erstgeborener, Nesthäkchen oder auch das sogenannte „Sandwichkind“ ist? Wissenschaftler beschäftigen sich schon viele Jahre damit, ob die Reihenfolge, in der die Kinder in ihre Familie geboren werden, eine nachweisliche Auswirkung auf ihre Persönlichkeit hat. Vor allem den Erstgeborenen werden dabei typische Eigenschaften nachgesagt. Einige davon sind sehr naheliegend. Es ist der Regelfall, dass vom ältesten Geschwisterkind mehr erwartet wird als von den jüngeren Kindern. Da spielen Begriffe wie Rücksichtnahme, Vorbildfunktion oder Verantwortung eine große Rolle.
Wie ist das Besondere, wenn man der Große ist?
„Man ist älter als seine Geschwister und kann deshalb besser an Gegenstände herankommen, und man kann seinen Geschwistern beibringen, wie man sich benimmt, weil man das ja schon weiß.“
mein Sohn Paul (8)
Doch auch für die jüngsten Kinder der Familie gelten Vorurteile. Ein Forscherteam hat in Untersuchungen herausfinden wollen, ob jüngere Geschwister im Vergleich zu den älteren Kindern von „Natur aus“ risikobereiter wären.
Diese Annahme ist naheliegend, da sogenannte Nesthäkchen als wagemutiger wahrgenommen werden und ihnen auch häufig von den Eltern selbst mehr Eigenständigkeit im Vergleich zu den anderen Kindern nachgesagt wird. Für die Studie wurden mit mehr als 1000 Erwachsenen Tests durchgeführt, unzählige Datensätze erhoben und zugleich ein Blick auf bekannte Persönlichkeiten in der Vergangenheit geworfen, die als besonders risikobereit galten. Das Ergebnis zeigte, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Reihenfolge der Geburt und der Risikobereitschaft gibt. Es wird vermutet, dass kleinere Kinder dem größeren Bruder oder der Schwester nacheifern und dadurch von ihrem Umfeld als mutiger oder ungestümer wahrgenommen werden.
Es ist wissenschaftlich belegt, dass der IQ bei den Erstgeborenen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit im Schnitt etwas höher ist als bei Folgekindern. Man kann darüber denken, was man möchte. Das Netz ist voll von unterschiedlichsten Studien, die sich zum Teil sogar widersprechen. Nicht wegwischen lässt sich meiner Meinung nach vielmehr, dass auf alle genannten Faktoren das unmittelbare Lebensumfeld und die eigene Prägung Einfluss nehmen. Zudem spielt es augenscheinlich eine Rolle, wann schlussendlich Kinder zu Geschwistern werden. Umso wichtiger ist es vielleicht, dass wir Eltern nicht dazu übergehen, Kinder aufgrund ihrer Reihenfolge in Schubladen zu stecken, sondern offen für ihre Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse sind, ihnen die Individualität schenken, die sie auch als Einzelkind bekommen hätten. Ein „Stell dich nicht so an. Du bist der Große“ ist im ersten Moment vielleicht nett gemeint, kann in der Häufung jedoch nachteilige Folgen haben. Ein „Jetzt du nicht auch noch“ kommt uns leicht über die Lippen, birgt aber die Gefahr, dass wir Rollendenken verschärfen.
Ich habe mir die Mühe gemacht und die einzelnen Rollen einmal im Detail beleuchtet. Interessant war für mich dabei auch, wie heutige Erwachsene ihre Position in der Familie rückblickend empfinden. Fest steht, dass jede Position in der Familie Vor- und Nachteile mit sich bringt und im Endeffekt keiner als „absoluter Sieger“ hervorgeht. Aus Elternsicht ist es gut zu wissen, dass wir unsere Kinder also nicht mit der Geburtenfolge in eine bestimmte Rolle pressen, sondern vielmehr unser Zusammenleben und der Umgang miteinander den Grundstein legen.
Erstgeborene – das ehemalige Einzelkind
Als ich diesen Abschnitt über Erstgeborene schrieb, wollte ich ihn ursprünglich „Das Leid der Erstgeborenen“ nennen. Das klingt hart, aber tatsächlich trifft die Großen der Umstand verhältnismäßig härter, Geschwisterkind zu werden. Irgendwann kam ich jedoch an den Punkt, an dem ich feststellte, dass ich selbst als große Schwester und ältestes Kind meiner Familie aufgewachsen bin und meine Position keinesfalls als „pures Leid“ bezeichnen könnte. Es ist wie in vielen Bereichen des Lebens: Alles hat gute und schlechte Seiten, und dies zeigt sich bei jeder einzelnen Geschwisterposition wieder. Eine Leserin schrieb mir zum Thema Erstgeborene/r folgenden Text:
„Ich bin mit zwei kleineren Geschwistern aufgewachsen, und meine Eltern haben damals viel gearbeitet. Unsere Zeit als Familie zusammen war auf die Woche gesehen deutlich begrenzt. An die ersten Jahre, als meine Schwester zur Familie hinzukam, kann ich mich noch gut erinnern. Meine Mutter war ab der Geburt drei Jahre in Erziehungszeit und ich (damals fünf) durfte häufig zu Hause bleiben. Ich war absolut begeistert davon und kann mich daran erinnern, dass sich dieses Gefühl auch positiv auf meine Schwester auswirkte. Ich liebte es, die Rolle „der Großen“ einzunehmen. Meine Schwester war der Grund, dass ich oft freihatte.
Leider kippte die Situation nach der Erziehungszeit. Als Grundschulkind musste ich plötzlich viel Verantwortung übernehmen. An manchen Tagen holte ich meine Schwester vom Kindergarten ab und musste mich noch ein paar Minuten um sie kümmern, bis meine Eltern zu Hause waren. Ich steckte oft zurück. Als meine Mutter nochmals schwanger wurde, als ich ungefähr 14 war, kippte das Verhältnis gänzlich. Sicher hat auch die Pubertät daran eine Teilschuld. Ich hatte eine Vorahnung, dass meine Verantwortung nochmals wächst und ich noch mehr zurückstecken musste. Gleichzeitig wollte ich gerade jetzt gesehen und als Teenie wahrgenommen werden. Ich verbrachte viel Zeit bei meiner Freundin und war neidisch auf ihren Einzelkindstatus. Zu Hause durfte ich mir dann häufig anhören, dass ich zu wenig im Haushalt helfe oder mich nicht beteiligen würde. Ich fühlte mich wie das Kindermädchen, dabei war ich selbst noch ein Kind.“
Nina, heute selbst Mutter von zwei Kindern
Nina spricht über einen der Fallstricke, in die wir Eltern mit unseren Erstgeborenen tapsen können. Besonders wenn der Altersunterschied größer ist und die Tochter oder der Sohn schon recht selbstständig durch ihren Alltag gehen, kann es passieren, dass wir ihnen Verantwortungen übertragen, denen sie mitunter nicht gewachsen sind oder für die sie sich nicht bereit fühlen. Erstgeborene haben ihr Leben lang einen besonderen Status innerhalb der Familie. Mit ihnen erleben wir viele „erste Male“ und gewinnen Erfahrungen. Ein Stück weit gleicht es einem Experiment. Wir testen unterschiedliche Erziehungsaspekte aus. Im Vergleich zu jedem weiteren Kind sind wir weniger gefestigt und neigen zu mehr Strenge. Nicht zuletzt liegt das daran, dass wir in das erste Kind besonders viel Hoffnung und Vorstellungen davon stecken, was aus ihm einst werden könnte.
Laut dem Psychologen und Buchautoren Dr. Kevin Lemann arbeitet ein beachtlicher Teil der Erstgeborenen später im naturwissenschaftlichen, medizinischen oder juristischen Bereich. Sie werden als zielstrebige, ernsthafte und geplante Menschen wahrgenommen. In vielen Familien kommt ihnen zudem die Rolle als Vermittler oder auch Nachrichtenüberbringer zwischen Eltern und jüngeren Kindern zu. Auffallend ist zudem, dass Erstgeborene häufig bereitwillig Verantwortung übernehmen und einen größeren Wert auf die Einhaltung von Regeln und Etablierung von Ritualen legen. Viele Eltern berichten, dass sie zu ihren Erstgeborenen eine ganz besondere Verbindung verspüren, was oft wiederum daran liegt, dass meist mit diesem Kind die „ersten Male in der Elternschaft“ geteilt werden.
Auch ich muss zugeben, dass Schwangerschaft, Geburt und die Babymonate mit meinem erstgeborenen Sohn besondere Erinnerungen für mich sind. Bei weiteren Kindern sind die „ersten Male“ nicht weniger schön, aber diese Magie des Unbekannten ist verschwunden. Natürlich war es mit nur einem Kind zudem so, dass sich der gesamte Alltag darum drehte. Das Kind gab vom Moment der Geburt an einen neuen Takt vor, nach dem wir uns richteten. Alle Verwandten und Bekannten richteten die Aufmerksamkeit gemeinsam mit uns auf den kleinen Jungen. Gleichzeitig erinnere ich mich jedoch auch an die vielen Fragezeichen in meinem Kopf und diese Unsicherheit, was das Kind anbelangt. Mit absoluter Sicherheit hat mein Sohn in dieser Zeit unbewusst Prägungen erfahren, die ihn das restliche Leben begleiten werden.
Eine meiner Umfragen zeigte deutlich, dass es Vor- und Nachteile hat, das älteste Kind innerhalb einer Familie zu sein:
Vorteile, das älteste Kind zu sein:
•Erstgeborene haben ein gesteigertes Verantwortungsbewusstsein für Mitmenschen.
•Sie verfügen über ein großes Organisationstalent.
•Sie haben Empathie für Geschwister und Mitmenschen.
•Man bestimmt über kleinere Geschwister (oft zu seinen eigenen Gunsten).
•Die jüngeren Geschwister werden zur Delegation von Aufgaben genutzt.
•Sie können Vorbild für Geschwister sein.
•Sie erleben das gute Gefühl, jemandem etwas beibringen zu können.
•Sie können in allem „der Erste/die Erste“ sein und werden somit nicht verglichen.
•Durch ausgebildetere Fähigkeiten und Wissen werden Erstgeborene im Kindesalter mehr einbezogen.
Nachteile, das älteste Kind zu sein:
•Das älteste Kind muss vergleichsweise mehr um „Erlaubnisse“ kämpfen als jüngere Geschwister (z. B. längerer Ausgang, Rad fahren ohne Begleitung der Eltern, bei Freunden übernachten, eigener Fernseher).
•Erstgeborene müssen sich mit den Geschwistern ihre Freunde teilen.
•Erstgeborene müssen gefühlt schneller groß werden und mehr Verantwortung übernehmen.
•Erstgeborene werden überschätzt.
•Sie haben weniger Zeit mit den Eltern und noch weniger „Primetime“.
•Die Eltern wirken beim ersten Kind im Vergleich auf die Geschwister unentspannter/unerfahrener.
•Vorbild zu sein bedeutet häufig, funktionieren zu müssen.
•Erstgeborene werden im Haushalt bzw. Familienalltag mehr eingespannt. Ihnen wird oft anteilig die Verantwortung für Geschwister übertragen.
Fakt ist, dass die Großen die einzigen der Geschwisterkinder sind, die das Leben als Einzelkind überhaupt kennen. Das bedeutet auch, dass sie sich mehr oder weniger (je nach Altersabstand zum jüngeren Kind) bewusst sind, welche Vorzüge es mit sich brachte, die alleinige Aufmerksamkeit zu genießen. Sie sind die Kinder im Familienverband, die plump gesagt „etwas abgeben“ mussten. Zugleich laufen Eltern jedoch Gefahr, ihnen durch ihre Sonderstellung recht viel Verantwortung aufzubürden. Nicht selten sind sie es, die aus Rücksicht zurückstecken sollen, sich anpassen müssen und ihre Bedeutung als Vorbild täglich „aufs Butterbrot geschmiert bekommen“.
Für ein Kind kann das im Extremfall eine Belastung sein, die sich in schlechten Gefühlen niederschlägt. Nicht selten wird dabei das jüngere Geschwisterkind zum Übeltäter und Auslöser der Situation erklärt à la: „Deinetwegen muss ich funktionieren oder zurückstecken. Schließlich war es besser, bevor du da warst.“ Hier gilt es wachsam zu sein und die Bedürfnisse, aber auch Sorgen und Ängste des Kindes ernst zu nehmen. Wir Eltern müssen uns bewusst sein, dass wir zu jeder Zeit die Verantwortung für alle unsere Kinder tragen. Es ist nicht angebracht, die Sorge um die kleineren Geschwisterchen gänzlich auf das größere Kind zu übertragen und es damit in eine Rolle drängen, der es nicht gerecht werden kann. Die Pädagogen sind sich einig, dass ein Kind frühestens mit zwölf Jahren dazu in der Lage ist, auf jüngere Geschwister aufzupassen und eventuelle Gefahren richtig abzuschätzen und ggf. abzuwenden. Die Betreuung eigener Geschwister setzt immer beiderseitiges Einverständnis und verlässliche Absprachen voraus.
Die größte Gefahr besteht darin, dass wir Erstgeborenen zu viel zumuten und sie überfordern. Ihre Neigung dazu, Verantwortung für andere zu übernehmen, vergrößert dieses Risiko. Weiterhin vergessen wir leichtfertig, dass gerade die ältesten Kinder zurückstecken und für das kleinere Geschwisterkind „Platz machen“ mussten.
Das stärkt Erstgeborene:
•Verantwortung abnehmen: Dies kann z. B. durch das Einbeziehen weiterer Personen erreicht werden oder (je nach Alter) darüber, das bewusste Gespräch zu suchen: „Ich übernehme die Aufsicht“, „Du musst nicht auf deinen Bruder aufpassen“.
•Vertrauensbildende Erlebnisse mit Geschwistern, z. B. Kletterpark besuchen oder Teamspiele. Diese zeigen dem Erstgeborenen, dass alle Kinder gegenseitig Hilfe anbieten können und Hilfe angenommen werden kann.
•Alleinige Unternehmungen oder Vieraugengespräche: Diese sollten allen Kindern zur Verfügung stehen.
•Besonderes Feingefühl im Bereich Leistungen: Hier sollten Eltern nicht unnötigen Druck aufbauen.
•Das Recht aufs Kindsein und Fehler-machen-Dürfen einräumen
•Bewusste Entbindung von der Vorbildfunktion.
Sandwichkinder – weder Thronfolger noch Nesthäkchen
Sogenannte Sandwichkinder sind die Kinder, die bei Familien mit drei oder mehr Kindern die Mitte bilden. Sie kennen das Leben als Einzelkind nicht und waren trotzdem nur für eine begrenzte Zeit Nesthäkchen. Das gibt ihnen ebenfalls eine besondere Stellung in der Familie und bringt verschiedenste Vor- und Nachteile mit sich. Das Max-Planck-Institut Berlin hat ein simples mathematisches Modell aufgestellt, welches aufhorchen lässt: Selbst wenn Eltern versuchen, alle ihre zur Verfügung stehenden Ressourcen gleichmäßig zu verteilen, so hat das Mittelkind rein rechnerisch das Nachsehen. Das liegt schlichtweg daran, dass eine Erstgeborene/ein Erstgeborener durch die Zeit „allein“ etwas Vorsprung hat und ihr/ihm damit mehr Nahrung, Zuwendung und auch Geld zur Verfügung stehen. Genau diesen Vorteil nutzt das Nesthäkchen im Nachgang, da es statistisch gesehen am längsten in der Familie verbleibt.
Damit läuft also nur das Sandwichkind Gefahr, am Ende mit „weniger“ das Elternhaus zu verlassen. Natürlich ist dieser Fakt rein hypothetisch, aber doch zeigt er ganz gut, welcher Nachteil sich bei den Kindern mit größeren und kleineren Geschwistern durch die Kindheit zieht.
Als Zweitgeborene in der Familie bekommen sie vom ersten Tag an die geteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Zudem ist es wissenschaftlich erwiesen, dass sie häufig in direkte Konkurrenz zum größeren Geschwisterkind rutschen. Diese Gefahr ist statistisch gesehen besonders dann erhöht, wenn die Kinder einen geringen Altersabstand haben (unter 5 Jahre) und das gleiche Geschlecht besitzen. Eine Abgrenzung fällt somit schwerer. Psychologen gehen unabhängig davon aus, dass sich jedes Kind innerhalb der Familie einen eigenen Platz suchen wird. Infolgedessen kann es passieren, dass sich Mittelkinder vom erstgeborenen Kind komplett unterscheiden. Ist diese erste Findungsphase überwunden und hat sich das Kind in seiner Rolle eingefunden, folgt jedoch die nächste Veränderung.
Ein weiteres Kind wird in die Familie geboren und bringt das Familienkonstrukt erneut zum Erschüttern. Erstgeborene wirft ein weiteres Kind in der Regel nicht mehr so sehr aus der Bahn, schließlich haben sie ihre Stellung als Einzelkind bereits verloren und kennen die Situation schon aus vergangener Zeit, wenn auch zum Teil nicht bewusst. Das Mittelkind verliert jetzt jedoch den Status „Nesthäkchen“ und rutscht in eine Stellung, die weder durch „viele erste Male“ noch durch „viele letzte Male“ für Eltern gekennzeichnet ist. Kinder in dieser Position haben es schwerer, die Aufmerksamkeit der Eltern zu erlangen, und müssen, um ihre Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, oft kreativer werden. Das begründet auch, warum viele Familien ihre „Zwischenkinder“ als deutlich auffälliger oder auch wesentlich ruhiger als die anderen Kinder der Familie wahrnehmen, besonders dann, wenn sie nicht der einzige Sohn oder die einzige Tochter sind und somit keinerlei Alleinstellungsmerkmale besitzen. Trotzdem dürfen wir nicht dazu übergehen und Mittelkinder pauschal zu Problemkindern deklarieren. Das sind sie nicht, es sei denn, wir erklären sie dazu.
Nachteile von Mittelkindern:
•Man wird manchmal übersehen. 47 Prozent der Mittelkinder gaben in einer britischen Studie an, um Aufmerksamkeit der Eltern regelrecht kämpfen zu müssen.
•Das Konkurrenzempfinden ist erhöht, da sowohl mit dem größeren Geschwisterkind (Vorbild) konkurriert wird als mit dem Kleineren (Niedlichkeit/Babystatus).
•Gerade bei geringem Altersunterschied tragen Mittelkinder oft die Kleidungsstücke größerer Geschwister auf und spielen mit den abgelegten Spielsachen. Auch wenn es aus wirtschaftlicher Sicht durchaus sinnvoll und zudem ressourcenschonend ist, dass für sie (im Gegensatz zum großen Geschwisterkind) keine Neuanschaffungen getätigt werden.
•Individualität und Abgrenzung fällt schwerer. Die Großen geben häufig den Ton an, und doch fühlt man sich in gewisser Weise auch für die Jüngeren zuständig.
Vorteile von Mittelkindern:
•Es gibt immer jemanden zum Spielen. Von Großen lernt man, und den Kleinen kann man etwas beibringen.
•Die Eltern sind schon entspannter als beim ersten Kind.
•Mittelkinder stehen im Vergleich zu den Geschwistern weniger im Fokus, was mehr Freiheiten ermöglicht.
•Laut einer britischen Studie haben Sandwichkinder im Kindesalter im Vergleich zu den Geschwistern durchaus Nachteile, sind jedoch im Erwachsenenalter glücklicher. Dies ist auf ihre diplomatischen Fähigkeiten und ihre Kompromissbereitschaft zurückzuführen.
MITTELKINDER STÄRKEN | ![]() |
Die größte Gefahr besteht darin, dass sich Kinder in der mittleren Position ungesehen fühlen und damit weniger Aufmerksamkeit bekommen. Hier kann es sich um eine gefühlte Benachteiligung oder eine tatsächliche Benachteiligung durch Eltern handeln.
Das stärkt Mittelkinder:
•Regelmäßig Wertschätzung zeigen: Sei es die Freude über ein schönes Bauwerk aus Bausteinen zu teilen oder ihm aufrichtig zu sagen, wie gern man es hat.
•Alleinige Unternehmungen oder Vieraugengespräche: Diese sollten allen Kindern zur Verfügung stehen.
•Eigene Spielsachen und Kleidung: Und damit ist nicht gemeint, die Sachen von größeren Geschwistern zu übernehmen.
•Privilegien einräumen, die nur das Mittelkind im Vergleich zu den anderen Geschwisterkindern hat.
Nesthäkchen – die kleinen, süßen Engel?
Laut meiner eigenen Umfrage in den sozialen Netzwerken haben 72 Prozent der Befragten das Gefühl, dass die Nesthäkchen innerhalb der Familie bevorzugt behandelt werden. Es bleibt dabei offen, ob Eltern tatsächlich dazu neigen, den Kleinsten mehr Aufmerksamkeit und Zuneigung zu schenken, oder ob es sich aus der Sicht eines älteren Kindes einfach so anfühlt und durch den unterschiedlichen Entwicklungsstand bzw. den Altersunterschied gegeben ist. Auch als Nesthäkchen empfindet man Vor- und Nachteile innerhalb der Familienkonstellation. Traut man Studien, gelten die Jüngsten als charmant und besonders kontaktfreudig. Andererseits wird ihnen nachgesagt, dass sie manipulativ agieren können und unorganisiert seien. Letzteres läge daran, dass sie im Kindesalter stets ältere Menschen um sich hatten, die ihnen in vielen Bereichen Stütze waren und Verantwortung abgenommen haben. Einige Studien stellten heraus, dass Nesthäkchen kreative und innovative Ideen aufzeigen und auch in diesem Bereich später häufiger Berufe ergreifen.
Je nach Altersunterschied der Kinder ist es wahrscheinlich, dass das jüngste Kind am längsten in der Familie bleibt und damit in den Genuss kommen kann, die Eltern einige Zeit für sich allein beanspruchen zu können. In den ersten Jahren stehen stets Geschwister und Eltern zur Seite, und durch den „Niedlichkeitsbonus“ schaffen es die Jüngsten, bei ihren Mitmenschen zu punkten.
Daraus ergeben sich auch folgende Vor- und Nachteile aus meinen Umfragen zu Nesthäkchen.
Vorteile von Nesthäkchen:
•Nesthäkchen sind nie allein und können sich durch ihre Geschwister gut integrieren.
•Sie profitieren durch ihre größeren Geschwister und erlernen dadurch frühzeitig Fertigkeiten und sind selbstständiger.
•Durch ihre Stellung können sie mit ihrem „Niedlichkeitsbonus“ punkten.
•Die Eltern sind deutlich entspannter, und durch ältere Geschwister herrscht viel Freiheit in Bezug auf Regeln.
•Nesthäkchen sind die Kleinsten und häufig bleiben sie „die oder der Kleine“.
•Sie müssen eine Nische finden, die die anderen Geschwister noch nicht belegt haben. Auch hier herrscht direkte Konkurrenz.
•Der Satz „Dafür bist du noch zu klein“ ist präsent im Alltag.
•Das Empfinden für gefühlte Ungleichbehandlung steigt, da die älteren Geschwister aufgrund ihres Alters „mehr dürfen“ (Handy, Partys feiern, bei Freunden übernachten …).
•Es kann demotivierend sein, wenn Nesthäkchen aufgrund ihres Alters oder Entwicklungsstands den Geschwistern unterlegen sind.
•Nesthäkchen stehen härter im direkten Vergleich (z. B. „Dein Bruder konnte das in deinem Alter schon.“).
•Einige Nesthäkchen hatten das Gefühl, dass ihre Leistungen weniger bedeutend waren im Vergleich zu denen der Geschwisterkinder (schulische Leistungen, Errungenschaften im Vereinssport).
NESTHÄKCHEN STÄRKEN | ![]() |
Was bei Einzelkindern meist zu viel übertragen wird, wird bei den Nesthäkchen mitunter vergessen. Viele der befragten Nesthäkchen wünschten sich rückwirkend mehr Verantwortungsübertragung durch die Eltern und mehr Abgrenzungsmöglichkeiten.
Das stärkt Nesthäkchen:
•Altersentsprechend Verantwortung übertragen im Zusammenleben.
•Alleinige Unternehmungen oder Vieraugengespräche: Diese sollten allen Kindern zur Verfügung stehen.
•Eigene Hobbys, eigene Spielsachen und andere Abgrenzungsmöglichkeiten.
•Würdigung von Leistungen. Auch wenn sie schon mehrfach bei anderen Kindern erlebt wurden, sollten Leistungen nicht für selbstverständlich genommen werden.
•Die anderen Geschwister nicht als Maßstab für Vergleiche setzen. Am besten macht man niemals Vergleiche unter seinen Kindern.
Fazit zu den Geschwisterrollen
Es ist schwer bis unmöglich, eine eindeutige Aussage zu den Geschwisterrollen zu treffen, und trotz aller Studien, Umfragen und Wahrscheinlichkeiten können sich Kinder vollkommen gegensätzlich entwickeln. Neben dem Altersunterschied, den individuellen Charakteren oder dem Geschlecht spielt auch die individuelle Familiensituation eine Rolle, insbesondere unser Umgang als Eltern mit unseren Kindern. Selbst wenn man versucht, besonders gerecht, einfühlsam und bedürfnisnah zu agieren, kann es passieren, dass sich ein Kind besonders übervorteilt fühlt und die Entwicklung nachteilig geprägt wird. Nicht zuletzt spielt auch das gesamte Umfeld, in dem die Kinder aufwachsen, eine große Rolle.
Sollte man sich dennoch – wenn man all das vielleicht gar nicht richtig in der Hand hat – seiner Verantwortung als Eltern gerade in Hinblick auf mehrere Kinder bewusst sein? Definitiv ja! Der Kinder- und Jugendpsychologe Karl Heinz Brisch bringt es auf den Punkt. Seiner Ansicht nach können Geschwister Ressource oder Risiko sein.
Wir möchten alles richtig machen, kein Kind benachteiligen und möglichst gerecht sei. Und dann folgt der Moment, in dem wir über uns selber stolpern. Denn als werdende Eltern hatten wir es uns so einfach vorgestellt. Bis das Baby zur Welt kam …
Wir sitzen zusammen im Garten und tauschen uns über unseren Alltag als nun Zweifachmütter aus. Da fragt mich meine Freundin: „Wenn du jetzt zurückblickst auf deine Zeit als Mutter, was denkst du war die beste Erkenntnis?“ Ich denke kurz nach, denn zugegebenermaßen hatte ich, seitdem ich Mutter geworden bin, einige Erkenntnisse und Lichtmomente. Doch ich weiß auch, welche davon besonders wertvoll sind: „Ich glaube, es ist die Erkenntnis, dass ich selbst nicht frei von Fehlern bin und nicht all das, was ich aus meiner Kindheit mitgenommen habe, unbedingt „richtig“ bedeutet. „Ja, das stimmt“, sagt sie. „Ich weiß noch, wie wir früher der Meinung waren, mit ein bisschen Härte, Konsequenz und Ordnung klappt das schon mit der Erziehung.“ Ich lache und gleichzeitig wird mir ein wenig schlecht, weil ich weiß, dass ich damals auf dem absoluten Holzweg unterwegs war. „Weißt du, ich glaube, wenn man sein Kind verstehen möchte, muss man damit anfangen, sich selbst zu verstehen und dann eben auch die nicht so schönen Seiten hinterfragen. Ich bin dankbar, dass ich irgendwann an den Punkt gekommen bin, mich zu fragen, warum ich beispielsweise wütend werde, wenn mein Kind trödelt, oder warum ich der Meinung bin, etwas verbieten zu müssen. Es klingt vielleicht übertrieben, aber seitdem ich mich verändert habe, scheint plötzlich alles logisch, und ich erkenne, welche Bedeutung Bedürfnisse haben und eben nicht zuletzt auch meine eigenen.“
Ich will ehrlich sein. Ich habe dieses Buch über Geschwister geschrieben, aber es sind eben nicht nur die „bösen Geschwister“, die sich nicht vertragen. Es gibt kein Allheilmittel, kein Patentrezept oder eine Abhandlung, die ich dir jetzt an die Hand geben werde. Aber ich lade dich ein, die nächsten Seiten mit Bedacht zu lesen und dir deiner Person in Hinblick auf deine Geschwisterkinder bewusst zu werden.
Wir wissen nun, welche Rolle das Alter unserer Kinder spielt, wir wissen, welche Rollen sich unweigerlich ergeben. Wir wissen aber auch, dass die Geschwisterbeziehung nicht abgetrennt von unserem „Familienplanetensystem“ laufen kann. Wir wirken in jedem Moment auf unsere Kinder, und das muss uns bewusst werden. Die erste Beziehung, die Geschwisterkinder hautnah erleben und an der sie sich Verhaltensweisen abschauen können, ist unsere eigene: die Beziehung zu uns selbst und unsere Partnerschaft.
Die eigene Kindheit hinterfragen
Einige von uns sind selbst als Geschwister aufgewachsen. Wir verbinden damit ganz unterschiedliche Erinnerungen. Als „großes Kind“ in der Familie hatte ich das Gefühl, dass sich häufig mehr um meinen kleinen Bruder drehte, der als Nesthäkchen durchaus Charme versprühte, und doch hatte es aus meiner Sicht auch Vorteile. Ich war Vorbild, konnte mehr, durfte dementsprechend mehr und nutzte diese Position hin und wieder auch gegen ihn aus. Sicher fühlte sich mein Bruder rückblickend von mir ab und an zurückgestellt oder herumkommandiert.
Ich kann mich noch gut an eine Situation erinnern, als ich mit einer Freundin spielte und den damals Dreijährigen aus dem Raum aussperrte, indem ich den Sessel vor die Tür schob. Er brüllte sich die Kehle aus dem Leib, während ich munter spielte und mich darüber freute, dass die Lösung, ihn „loszuwerden“, recht einfach war. Doch es gab auch wunderschöne Momente. Ich war stolz auf ihn und achtete im Kindergarten sehr auf sein Wohlbefinden. Ich stand im Notfall jederzeit für ihn ein. Auch wenn dies bedeutete, gegen meine Eltern zu agieren. Bekannte in meinem Umfeld haben ganz andere Geschwisterkonstellationen und zum Teil auch vollkommen andere Erfahrungen. Es gibt die innigen Schwestern, die sich aufgrund der Entfernung aus den Augen verloren haben. Es gibt die Kinder einer Dreikindfamilie, die sich zu einem Geschwisterteil stärker hingezogen fühlen. Es gibt auch Geschwister, die sich nicht mehr riechen können und im Streit auseinandergegangen sind. Egal wie die Konstellation auch aussieht: Das, was wir als Kinder selbst erlebt haben, prägt uns unweigerlich für das restliche Leben. Das können Rollen sein, in die wir sozusagen „hineingesteckt wurden“ und die wir heute mehr oder weniger bewusst weiterleben, oder auch die Art, wie wir mit Konfliktsituationen umgehen. Forscher gehen davon aus, dass sogar essenzielle Entscheidungen im Lebensverlauf durch unsere Kindheit geprägt werden.
Gelernte Werte begleiten uns durchs Leben
Sind wir als Kinder durch größere Geschwister etwa sehr behütet aufgewachsen, suchen wir dies unter Umständen auch im späteren Partner. Wurden uns bestimmte Werte als unumstößlich vermittelt, so werden uns diese auch im Erwachsenenalter begleiten und beschäftigen. In Hinblick auf unsere eigenen Kinder sind aber vor allem die eher negativen Erfahrungen aus der eigenen Kindheit von Bedeutung. Verletzungen, die wir in jungen Jahren erfahren haben, tragen wir nicht selten bis in das Erwachsenenalter hinein. Sie liegen in uns, ganz still, und verhalten sich wie stumme Narben auf unserer Haut.
Mit den eigenen Kindern verwandeln sich diese Narben jedoch zu Spiegeln, die uns tagtäglich unsere wunden Punkte aufzeigen. Häufig ist der direkte Zusammenhang nicht sofort klar, und wir fragen uns: Warum ärgert mich das so? Wieso treten hier die immer gleichen Konflikte auf? Was machen wir falsch? Hier gilt es genauer hinzuschauen und den Blick von den Kindern ein wenig mehr auf uns selbst zu lenken.
Kinder streiten – das ist logisch und bekannt, aber dass das meinen Puls steigen lässt, ich mich ärgere und wütend werde, diese Gefühle mache ich mir selbst. Es hat bei mir einige Zeit gebraucht, bis ich begriffen habe, dass an den Kindern „herumzuziehen“ oftmals nur eine Symptombekämpfung ist, während die Ursache für Konflikte tief in mir selbst steckt. Das wunderschönste Beispiel an dieser Stelle ist dieser irrsinnige Wunsch danach, dass die Geschwister sich lieben und möglichst nicht streiten sollen. Unser Kopf sagt uns: „Geschwister dürfen nicht streiten.“ Wenn wir das WARUM aber einmal hinterfragen, geraten wir ins Stocken. Wer sagt, dass Geschwister nicht streiten dürfen? Was passiert Schlimmes, wenn Geschwister streiten? Haben wir selbst nicht gestritten? Es gilt die alten Muster zu durchbrechen und Glaubenssätze zu entlarven.
Was mich in diesem Zusammenhang lange beschäftigte, war die Tatsache, dass ich als Geschwisterkind angenommen hatte, vorbereitet zu sein auf das Leben mit mehreren Kindern – schließlich bin ich doch „geübte Schwester“. Doch als die ersten Feindseligkeiten in unseren Alltag einzogen, fand ich mich häufig überrumpelt und ratlos wieder. Ich erwischte mich sogar dabei, dass ich Geschwisterbeziehungen idealisierte. Obwohl ich wusste, dass ich mir früher mit meinem Bruder an manchen Tagen förmlich den Kopf einschlug, erträumte ich mir selbst ein harmonisches Zusammenleben. Die Lage entspannte sich erst dann deutlich, als ich für mich diesen Wunsch nach unendlicher Harmonie aufgab. Es ist okay, wenn die Kinder nicht beste Freunde werden. Es ist auch okay, wenn erwachsene Geschwister sich nicht mehr regelmäßig sehen wollen. Und ja, fast jede Geschwisterbeziehung wird auch Momente von Feindseligkeiten durchlaufen.
Einzelkinder als Geschwistereltern
Eine andere Konstellation ist es, wenn Einzelkinder zu Geschwistereltern werden. Sie kennen aus ihrer eigenen Kindheit das Zusammenleben mit Bruder oder Schwester nicht. Häufig sind sie sich gerade deshalb in Konfliktmomenten unsicher. „Ich weiß ja nicht, ob das normal ist“ ist einer der prägendsten Sätze, die ich von ehemaligen Einzelkindern gehört habe. Genauso oft begegnet mir die Angst, Fehler zu machen: „Mir fällt es schwer, mich hineinzufühlen. Ich kann mich nicht auf eigene Erfahrungen aus der Kindheit berufen.“
So wie ich dieses Buch geschrieben habe, war ich mir vom ersten Moment an sicher: Es sagt überhaupt nichts aus, ob Eltern selbst Geschwister haben oder nicht. Ich kenne Mütter, die aus Großfamilien stammen und in Konfliktsituationen leicht aus der Fassung geraten, und ich kenne Einzelkinder, die nun zwei oder mehr Kinder haben und meiner Meinung nach ihren Familienalltag sehr souverän meistern. Die Gründe dafür, auf die ich im weiteren Verlauf eingehen werde, sind aus meiner Sicht verschieden und setzen sich wie ein Puzzle zusammen. Was alle Eltern eint, sind für mich die Erfahrung und die Werte, die wir aus der eigenen Kindheit mitgenommen haben und direkt in unsere eigenen Kinder hineinstecken. Ich sage nicht, dass das grundsätzlich falsch ist. Ich plädiere jedoch dafür, wachsam zu sein und eigene Anschauungen gegebenenfalls zu hinterfragen.
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Kinder lieben Geschichten aus der eigenen Kindheit – schöne, wie auch nicht so schöne. Es gilt aufzupassen, dass man jedoch nicht darauf verfällt, die eigene Vergangenheitsbewältigung mit den Kindern auszutragen und somit den eigenen Kindern gar Angst oder Schuldgefühle zu machen. Im besten Falle schafft man es, alte Muster aus den Kindheitstagen zu erkennen und aufzubrechen.
Das Familienmodell

Ich möchte dir mit diesem Bild einen Umstand verdeutlichen, den wir häufig unterschätzen oder ganz außer Acht lassen. Das „Ich“ steht für dich und das andere weiße Herzchen für deinen Partner. Nur wenn ihr mit euch selbst im Reinen seid und eure Bedürfnisse ausreichend erfüllt seht, seid ihr in der Lage, auf der Partnerebene gemeinsam an einem Strang zu ziehen und eine ausgewogene Partnerschaft zu erleben. Diese ist meiner Meinung nach wiederum die Basis für die Familienebene.
Was sind Eltern?
„Eltern sind Beschützer ihrer Kinder, bis sie groß sind, und sie sind die, die aufpassen, dass uns nichts passiert. Sie sind auch Teil der Familie.“
mein Sohn Paul (8)
Partner, die sich permanent streiten, unsicher sind oder den anderen infrage stellen, leben diese Differenzen bewusst oder unbewusst vor den Kindern aus. Unsere Kinder sind wiederum sehr feinfühlige Wesen, die auf Unstimmigkeiten entsprechend reagieren. Natürlich lassen sich Konflikte innerhalb der Partnerschaft nicht gänzlich vermeiden. Aber wie sagt man so schön: Die Dosis macht das Gift. Ich kann mich noch gut an eine Zeit erinnern, in der wir als Paar einen kleinen Tiefpunkt hatten und uns neu finden mussten. Die Unstimmigkeiten zwischen uns konnten wir sofort bei den Kindern spüren. Teilweise ging es so weit, dass sich die Kinder auf jeweils eine Elternseite stellten und Partei ergriffen. Sie führten unseren Konflikt stellvertretend für uns aus. Hier sollte unbedingt die Notbremse gezogen und an einer Lösung für alle gearbeitet werden.
MEIN TIPP: GLÜCKLICHE PARTNERSCHAFT | ![]() |
Kümmere dich um dich und im nächsten Schritt um deine Partnerschaft. Nur damit setzt du einen Grundstein für eine möglichst große Geschwisterbindung. Bist du unzufrieden oder unglücklich, wird sich das auf dein Gemüt niederschlagen und unter Umständen in die Partnerschaft hineingetragen. Es ist wahrscheinlich, dass dadurch auch die Familienebene unmittelbar betroffen wird. Es beginnt bei dir.
Warum wir den Blick vor allem erst einmal auf uns lenken müssen
Wenn wir einmal ehrlich zu uns sind, dann müssen wir uns eingestehen, dass wir uns Familie, Partnerschaft, aber auch die Geschwisterbeziehung häufig rosarot ausmalen. Denken wir an ein zweites Kind, dann sehen wir vor allem die positiven Aspekte, und uns gefällt der Gedanke, dass der kleine Henry bald jemanden zum Spielen haben wird und nicht mehr allein ist. Ob Henry überhaupt jemanden zum Spielen haben will, lassen wir dabei außer Acht. In Sachen Erziehung – und besonders in Hinblick auf die Geschwisterbeziehung – sind Realität und Vorstellung oftmals gegensätzlich. Problematisch wird es dann, wenn wir als Eltern anfangen, „Hoffnungen“ oder gar „Erwartungen“ in die Kinder zu stecken und daraus resultierend Rollen zuzuweisen.
Innerhalb einer Familie mit mehreren Kindern gilt es unterschiedlichste Charaktere zu vereinen. Mit jedem Kind wird das Gebilde erneut aus den Fugen geraten und muss neu sortiert werden. Menschen sind individuell. Was beim ersten Kind fruchtet, muss zwangsweise beim zweiten nicht auch funktionieren. Und genau das dürfen wir nicht vergessen: Egal wie viele Kinder – es gilt jedes immer wieder individuell in den Blick zu nehmen.
Was dürfen Eltern auf keinen Fall?
„Eltern dürfen auf keinen Fall ihre Kinder schlagen und auf keinen Fall ihre Kinder anschreien und sie dürfen Kinder nicht aussperren und auch nicht uns zu irgendetwas zwingen.“
mein Sohn Paul (8)
Ich habe jedoch auch eine gute Nachricht für dich. Es gibt etwas, das du tun kannst. Nicht zuletzt habe ich dieses Buch deshalb geschrieben. Ich sehe uns, also auch dich, wie du gerade diese Zeilen liest, als eine Art Basis für eine gute Geschwisterbeziehung. Ich bin überzeugt davon, dass Kinder das Klima, das wir als Partner in die Familie streuen, weiterleben. Vereinfacht gesagt: Das, was wir als Eltern miteinander machen, wie wir miteinander umgehen und den Alltag bewältigen, schlägt sich auch auf die Beziehung unserer Kinder nieder. Familie ist keine Einbahnstraße. Es ist eine Verzweigung unterschiedlichster Beziehungen, in denen jeder seine Nische finden muss. Ich glaube, ich muss kein Geheimnis darum machen, dass es aus unserer Sicht gute wie auch schlechte Nischen gibt. Diese sind nicht in Stein gemeißelt und können sich jederzeit ändern, wie du in diesem Buch noch merken wirst.
In guten wie in schlechten Tagen
Geschwister sind in der Lage, Konflikte miteinander auszutragen und sich dabei mit einem Elternteil zu verbünden. Sie sind in der Lage, sogar zusammen gegen die Eltern zu agieren oder sich gemeinsam gegen ein weiteres Geschwisterchen zusammenzuschließen. Wie es auch sein mag: Wichtig ist, wie wir solchen Situationen begegnen. Es gibt Tage, die laufen super, und dann ziehen Tage heran, an denen wir ins Straucheln kommen und gar nicht glauben können, wie sehr sich unsere Kinder augenscheinlich hassen. Es wird Momente geben, an denen unsere Träume und Vorstellungen vom Geschwisterleben platzen, und das ist okay so, wenn wir bereit sind, uns die eigene Enttäuschung, Trauer oder auch Frustration zuzugestehen, ohne sie am Kind oder Partner auszulassen. Genauso wird es aber auch Momente geben, die uns wohlig stimmen und zu stolzen Geschwistereltern machen, solange wir jedem Kind seinen Platz und seine Individualität innerhalb der Familie zugestehen und uns selbst nicht aus den Augen verlieren.
Dürfen Eltern vor ihren Kindern streiten?
In meiner Kindheit habe ich Meinungsverschiedenheiten zwischen meinen Eltern mitbekommen. Ich kann mich gut daran erinnern, dass sie manchmal sehr hitzig gestritten haben, aber die Versöhnung rasch kam, Einigung gefunden wurde und ich meine Mutter und meinen Vater von da ab als Menschen wahrgenommen habe, die sich ebenbürtig begegnen. Ich bin absolut sicher, dass ich davon profitiert habe, dass ich als Kind Konflikte miterlebt haben. Diese Auffassung teilen auch Wissenschaftler. Kinder, die ihre Eltern bei Auseinandersetzungen beobachten, ziehen daraus wertvolle Erfahrungen.
Details
- Seiten
- ISBN (ePUB)
- 9783842616066
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2020 (Februar)
- Schlagworte
- Kinder erziehen Kinder-Erziehung Elternratgeber Familienleben Alltag mit Kind Alltags-Bewältigung Geschwister als Team Geschwisterstreit