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Gerontopsychiatrische Pflege

Lehr- und Arbeitsbuch für die geriatrische Pflege. Auch für Ergo- und Physiotherapeuten, Logopäden und Podologen

von Dr. Elisabeth Höwler (Autor:in)
424 Seiten

Zusammenfassung

Demenzielle und depressive Erkrankungen gehören zu den häufigsten psychiatrischen Störungen im Alter. Für Pflegekräfte und Betroffene geht es dabei nicht nur um pflegefachliches Wissen, sondern vor allem um die zwischenmenschliche und respektvolle Begegnung.
Angehende Altenpflegekräfte müssen praktische Erfahrungen im alltäglichen Umgang mit schwierigen Situationen haben, aber auch einen verantwortungsvollen Umgang mit dem »Chaos« lernen. Auf dieser Grundlage greift die 6., völlig neu bearbeitete Auflage besonders Themenfelder auf, die für Praktiker von Nutzen sind:

- Gesundes psychisches Altern und krankhaft psychisches Altern
- (Geronto)psychiatrische Grundlagen
- Distanz und Nähe in der Selbstpflege
- Häufige gerontopsychiatrische Störungen
- (Demenz)sensible Pflegekonzepte
Neu aufgenommen wurden Traumafolgestörungen und rechtliche Fragen der physikalischen Fixierung. Das Buch versteht sich als Grundlage für die Altenpflegeausbildung und vermittelt wichtiges Wissen für Praktiker. Dazu gehören Hinweise zur Pflegediagnostik, Pflegeplanung und Krisenintervention. Aber auch das nötige Wissen zur Durchführung und Evaluation von Pflege und Betreuung.

Auf den Punkt gebracht:
Ein Lehrbuch für die Altenpflegeausbildung.
Gerontopsychiatrische Pflege – Krankheitsbilder und Pflege.
Ideal für Unterricht und Prüfungsvorbereitung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


GELEITWORT ZUR 2. AUFLAGE

Das Buch »Gerontopsychiatrische Pflege« von Elisabeth Höwler ist von einer Pflegenden für Pflegende geschrieben. Dies hat im Bereich der Gerontopsychiatrie in Deutschland Seltenheitswert.

Elisabeth Höwler arbeitet Basiswissen in leicht lesbarer Art und Weise auf, ohne sich einer bestimmten Schule oder Denkrichtung einseitig zu verpflichten.

Die Blickrichtung des Buches ist sehr breit angelegt und gestattet dem Leser anhand detaillierter Gliederung schnell in diejenigen Bereiche vor zu stoßen, die ihn interessieren.

Das Buch bildet eine Grundlage für die Altenpflegeausbildung und vermittelt Wissen für Praktiker, die erste brauchbare Anhaltspunkte für Pflegediagnostik, Pflegeplanung, Krisenintervention und am Ende auch zur Evaluation von Pflege und Betreuung benötigen.

 

Christian Müller-Hergl

 

VORWORT ZUR 7., AKTUALISIERTEN AUFLAGE

Seit der 1. Auflage des Lehrbuches »Gerontopsychiatrische Pflege« im Jahr 2000 hat sich die Pflegelandschaft verändert: durch die Neufassung des sozial-rechtlichen Pflegebedürftigkeitsbegriffs soll der Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung für demenziell Erkrankte und psychisch beeinträchtigten Personengruppen verbessert werden, die reformierte generalistische Pflegeausbildung fordert einen Pflichteinsatz in der (Geronto)-psychiatrie, das Pflegeleistungsergänzungsgesetz bildet die Grundlage, um die Pflegequalität insgesamt zu verbessern, der Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz« initiierte einen Paradigmenwechsel, d. h. dass Pflegekräfte nicht nur die Pflegeprobleme der Betroffenen, sondern ihre gesamte Lebenssituation in den Blick nehmen sollten. Somit ist gerontopsychiatrische Pflege äußerst dynamisch, über alle therapeutischen Fachbereiche hinweg relevant und wird auch weiterhin in den kommenden Jahren den Gesundheitssektor nachhaltig verändern.

Das Lehrbuch ist aktualisiert worden, um die Begleitung der Erkrankten künftig noch besser auszurichten. Das Ziel ist gleich geblieben: Die Gewährleistung einer auf die Bedürfnisse der einzelnen Patienten zentrierten Gesundheitsversorgung.

Für die Aus- und Weiterbildung wird das Buch ein dienlicher Begleiter sein, um Erleben, Verhalten und Reaktionen von psychisch erkrankten älteren Menschen besser verstehen und deren Krankheitssymptome leichter einordnen zu können.

Da bekanntlich eine zufriedenstellende Interdisziplinarität eine optimale Versorgungsqualität gewährleistet, wünsche ich nicht nur den interessierten Lesern aus Pflegeberufen, sondern auch aus anderen Gesundheitsbereichen, wie z. B. Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Podologie u. a., dass sie einen möglichst breiten Überblick über gerontopsychiatrische Krankheitsbilder erhalten und sich anregen lassen, über das eine oder andere Gelesene nachzudenken, Methoden bzw. Konzepte auszuprobieren und sich mit deren Vor- und Nachteilen im praktischen Einsatz bei gerontopsychiatrisch erkrankten Menschen vertraut zu machen.

 

Trier, im April 2020 Elisabeth Höwler

1 GERONTOPSYCHIATRISCHE PFLEGE – EINE EINFÜHRUNG

1.1 Der Begriff »Gerontopsychiatrische Pflege«

Mit dem Begriff » Gerontopsychiatrische Pflege« wird seit ca. 1970 eine spezielle Fachrichtung der geriatrischen Pflege von Menschen ab dem 60. Lebensjahr verstanden. Sie umfasst alle pflegerischen Maßnahmen zur Prävention und Rehabilitation sowie Therapie bei alten Menschen mit psychischen Störungen.

Eine medizinische Fachgesellschaft, welche die Interessen der Gerontopsychiatrie vertritt, ist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Sie wurde 1842 gegründet und zählt heute mehr als 7.900 Mitglieder. Damit ist sie die größte und älteste wissenschaftliche Vereinigung von Ärzten und Wissenschaftlern, die in Deutschland auf den Gebieten Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde arbeiten.

 

Geronto psych ia trische Pflege
Greis Seelen Heil Kunde Begleitung

Definition

Gerontopsychiatrische Pflege ist die Pflege von geistes- und gemütskranken alten Menschen. Bei dieser anspruchsvollen Pflege geht es um das Verhalten und die Stimmungslagen von alt gewordenen psychisch Kranken und im Alter psychisch erkrankten Menschen, die wahrgenommen, beobachtet, interpretiert und im Pflegeprozess dokumentiert werden.

Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder beinhalten eine Menge Leid, sowohl für die betroffenen Personen als auch für deren Angehörige. Nicht alles Leid ist aus Verhaltens- und Stimmungsänderungen oder dem Abbau mentaler Kräfte entstanden. Manches Leid entsteht aus der Unwissenheit heraus, wie die bestmögliche Pflege aussehen soll.

Gerontopsychiatrische Pflege ist engagiertes Bemühen um psychisch und physisch kranke alte Menschen, mit denen eine sprachliche Kommunikation nicht immer möglich ist. Die Altenpflegerin kann sich durch fachliche Kompetenz und Einfühlung einen Überblick über die andere psychische Innenwelt der Kranken verschaffen.

1.2 Das psychiatrische Pflegeparadigma

In der (geronto)psychiatrischen Pflege steht ein Pflegeparadigma im Vordergrund, das sich auf folgende Ansätze gründet:

ein holistisches, ökologisches und systemisches Denken,

eine polare Logik des »Sowohl-als-auch«,

ein interaktionistischer Ansatz für Körper und Seele,

ein mystisches Denken.

Das Pflegeparadigma in der Psychiatrie beinhaltet ein bio-psycho-soziales Krankheitsmodell. In dieser Denkrichtung, in der sich die Profession Pflege als Bezugswissenschaft etabliert, stehen die Begriffe »humanistisch«, »ökologisch«, »interaktionistisch«, »ganzheitlich« und »relativistisch« im Mittelpunkt. Die Pflegewissenschaft strebt nach individuelleren Behandlungskonzeptionen.

Bei dem Versuch, die Wahrheit über gerontopsychiatrische Erkrankungen und deren menschliche Verhaltensweisen herauszufinden, bemühen sich Pflegewissenschaftlerinnen, menschliche oder persönliche Werte, die ihre Ergebnisse beeinflussen können, miteinzubeziehen.

Das psychiatrisch ausgerichtete Paradigma stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Psychische Erkrankungen im Alter können nicht verstanden werden, ohne den ganzen Menschen in seiner Lebensrückschau zu verstehen. Altenpflegerinnen, die in dieser Disziplin tätig sind, müssen einschließende Denker werden, verschiedene Standpunkte sehen und akzeptieren können, solange der einzelne Standpunkt in sich selbst wahr ist. Im Gegensatz zum 20. Jahrhundert, als Medizin und Pflege auf die Lehre von Krankheitserregern und Biochemie mehr biologisch reduziert war, rücken im 21. Jahrhundert auch psychosoziale Aspekte der Krankheiten und ihrer Behandlung ins Blickfeld. Die Folge ist eine Annäherung an ein ökologisches Bewusstsein und ein Verständnis, dass Mediziner und Altenpfleger voneinander abhängig sind und ihre Handlungen nicht isoliert betrachtet werden können, sondern sich ergänzen müssen.

1.3 Medizin und Pflege als interdisziplinäre Partner

Die Altenpflegerin in der Gerontopsychiatrie hat die Aufgabe, sich vor allem um subjektive Eindrücke zu bemühen, die sie durch Beobachtung eines psychisch Alterskranken gewinnt, das kann z. B. eine niedergeschlagene Stimmungslage oder eine objektive starke körperliche Unruhe sein.

Gerontopsychiater stützen sich vor allem auf objektiv erhobene Daten und Untersuchungsergebnisse. Ein multidisziplinäres Team betreut die Patienten nach einem integrierten Konzept; d. h. alle an der Pflege und Behandlung Beteiligten richten ihre Sichtweise auf ein gemeinsames Menschenbild aus.

Das Eingehen auf psychosoziale Anteile am gerontopsychiatrischen Krankheitserleben kann aber nur gelingen, wenn der kranke Mensch in seinen bio-psycho-sozialen Dimensionen von pflegerischer und medizinischer Seite angenommen wird.

Zur Umsetzung eines solchen Konzeptes ist es notwendig, dass Altenpflegerinnen und Ärzte im Team interdisziplinär kooperieren. Zu gemeinsamen Aktivitäten gehören: gemeinsame Pflegevisiten, Visiten, Fallbesprechungen, Erörterungen zu therapeutisch/rehabilitativen Beratungsprozessen in Bezug auf Patienten und Angehörige.

Das erfordert ein Umdenken zwischen dem behandelnden Arzt und der Altenpflegerin, besonders in der Haltung: »Dort seid Ihr – und wir sind hier!«

Das psychiatrisch orientierte Pflegeparadigma bewegt uns zurzeit weg vom Reden hin zum Erleben. Altenpflegerinnen wollten vom Kopf zu ihren Sinnen gelangen, wollten weg von bloßen Theorien, in die Erfahrung hinein. Altenpflegerinnen müssen von der konstruktiven Auseinandersetzung mit den Pflegetheorien (z. B. Hildegard Peplau) zur Umsetzung der Konzepte in die Praxis kommen. Pflegende wollen Menschen auf pflegerisch-beziehungstherapeutischem Weg helfen; sie wollen kranke Menschen auf pflegerische Art und Weise beobachten und in ihrem Verhalten verstehen; sie wollen erlernen, wie psychisch Alterskranke ihre Gefühle, Gedanken und Impulse gestalten.

Merke!

Pflegende und Ärzte in der Gerontopsychiatrie verfolgen verschiedene Methoden, um zu einem gemeinsamen Ziel zu kommen. Dieses Ziel lautet: Die weitgehende Wiederherstellung von psychischer, körperlicher und sozialer Gesundheit; allgemein die Verbesserung des Wohlbefindens eines psychisch Alterskranken.

2 AM ANFANG STEHT DIE SELBSTWAHRNEHMUNG

Handlungsaufgabe

»Der wahre Beruf des Menschen ist, zu sich selbst zu kommen«, schrieb Hermann Hesse.

Viele Menschen, die einen helfenden Beruf ergreifen, sind auch auf der Suche nach sich selbst. Inwieweit trifft der Satz von Hermann Hesse auf Sie als angehende Altenpflegerin zu?

Eine ausreichende Selbstwahrnehmung und Suchhaltung sind notwendige Grundhaltungen beim Umgang mit psychisch Alterskranken. Der tägliche routinierte Umgang mit psychisch Alterskranken kann blind machen. Unbegründete Rituale verfestigen sich dann leicht. Hier setzt die Selbstwahrnehmung an. Durch Supervision und Stressbewältigungstechniken (vgl. Seite 26 ff.) können Selbsterfahrung und Suchhaltung herausgebildet und weiterentwickelt werden. Sie sind Ausdruck einer erlernbaren, inneren Einstellung zum psychisch Alterskranken. Wenn ich psychisch Alterskranke wirklich verstehen will, muss ich mich selbst in meinen eigenen psychischen schwachen Anteilen verstehen; umso besser verstehe ich andere Menschen in ihren gesunden, wie auch kranken Anteilen. Altenpflegerinnen sollten lernen, die Selbstanteile an einer Pflegehandlung besser wahrzunehmen.

Von diesem Grundgedanken müssen Altenpflegerinnen ausgehen, wenn sie sich in die geistige und emotionale Landschaft von psychisch Alterskranken hinein versetzen wollen. Erst dann sind sie bereit, sich in die »ver – rückte« Welt des psychisch Alterskranken hineinzuversetzen und können versuchen, ihn in Äußerungen und Verhalten zu verstehen.

Altenpflegerinnen müssen demnach fähig werden, sich selbst zu fragen:

Welche Gefühle löst der gerontopsychiatrisch veränderte Mensch bei mir aus?

Was löse ich mit der Pflegehandlung beim Kranken aus?

Was will der Kranke mit seinem Verhalten/Äußerungen, was bedeuten diese?

Was für Wünsche und Bedürfnisse stehen hinter seinem Verhalten; in welchem Zusammenhang stehen sie mit seiner Lebenslage und seiner Biografie?

Ist meine Intervention, d. h. mein Bemühen um eine Verhaltensänderung, in bestimmten Situationen immer angemessen?

2.1 Verwirrt, verstört, verunsichert – Das kennen Sie auch!

Stellen Sie sich folgende fünf Situationen vor:

1.Sie gehen nach einem stressigen Arbeits-/Schultag in den Keller und wissen dort plötzlich nicht mehr, was sie holen wollten.

2.Sie werden im berufspraktischen Einsatz für eine neue Wohnstation eingeteilt und Ihrer Praxisanleiterin vorgestellt. Am nächsten Arbeitstag wollten sie diese etwas fragen, aber haben deren Namen vergessen.

3.Sie fahren in eine fremde Stadt, weil Sie dort in einem Seniorenpflegeheim einen Vorstellungstermin haben. Sie haben sich total verfahren und geraten in Zeitnot.

4.In der Berufsfachschule für Altenpflege halten Sie ein Referat im Psychologieunterricht. Sie bekommen dafür eine Note. Bei Rückfragen des Dozenten fällt Ihnen nicht mehr das entsprechende Fachwort für die Lerntheorie ein. Sie suchen angestrengt nach einer passenden Umschreibung des Begriffes.

5.Nach Zubereitung eines Gemüsesalates nehmen Sie die elektrische Küchenmaschine zwecks Reinigung auseinander. Sie versuchen mit der Gebrauchsanleitung, die Einzelteile wieder zusammen zubauen. Es funktioniert nicht.

Auch das Gehirn ansonsten geistig gesunder Menschen erlebt in normalen Alltagssituationen Chaos, Verwirrung und Unaufmerksamkeit. Jeder kennt Merkfähigkeitsstörungen in Prüfungssituationen. Es gibt Menschen, die ein schlechtes Namensgedächtnis haben. Wenn alles sehr schnell gehen muss, kommt es auch schon einmal zu Wortfindungsstörungen. Wir können in Stresssituationen Orientierungsstörungen haben. Beim Verlust eines nahestehenden Menschen verspüren wir Hilflosigkeit und Angst; wir sind in uns selbst gefangen und sehr niedergeschlagen; auch beim Verliebtsein können wir nicht mehr »klar« denken.

Selbst ein gesundes Gehirn spielt ab und an »ver-rückt«. Einem gesunden Menschenverstand können plötzlich die Kognitionen entgleisen. Trotz Nachdenkens kommt man nicht auf den Namen einer bestimmten Person oder verfährt sich völlig in einer fremden Stadt. Ärger, Unsicherheit und Angst sind oft die Reaktionen. Wenn man sich solche Situationen vor Augen führt, gelingt es eher, sich in die innere Welt der psychisch Alterskranken einzufühlen. Dann kann man sich auch ausmalen, wie schlimm es wäre, wenn solche Stresssituationen andauerten und andere Menschen ständig versuchten, mit für den Betroffenen unverständlichen Worten und Gesten auf diesen einzuwirken.

Im Vordergrund gerontopsychiatrischer Pflege steht das Bewusstsein einer Selbst- und Fremdwahrnehmung, das Verständnis der Handlungslogiken der psychisch Alterskranken und die Entwicklung von Empathievermögen. Um psychisch Alterskranke in ihrer Lebenswirklichkeit zu verstehen, ist es zunächst einmal wichtig, an der eigenen Haltung gegenüber psychisch kranken alten Menschen zu arbeiten.

Altenpflegeschülerin Sabine erlebte folgende Pflegesituation im berufspraktischen Einsatz: »In diesem Einsatz hatte ich eine sehr unruhige an Demenz erkrankte Bewohnerin zu waschen und anzuziehen. Sie stand keine Sekunde still, dauernd rannte sie hin und her und wenn ich mich nur zur Seite drehte, um den Waschlappen auszuwaschen, war sie schon wieder weg. Mit viel Geduld und Nervenaufwand hatte ich sie endlich fertig gewaschen und wollte mit dem Anziehen beginnen. Doch von wegen – kaum hatte ich sie zum Sitzen gebracht, stand sie sofort wieder auf und ging immer hin und her, während ich die Strumpfhose nachzog. Ich wurde richtig verärgert, weil ich noch so viele andere Sachen zu tun hatte und sie einfach nicht sitzenblieb. Doch dann dachte ich mir, sie kann ja überhaupt nichts dafür und ich zwang mich, ihr gut zuzureden, obwohl die alte Dame dies nicht zur Notiz nahm. Ihr einziges Ziel war nur zu laufen, egal ob mit oder ohne Kleider. Nachdem ich sie dann doch angezogen und in den Tagesraum gebracht hatte, war ich fix und fertig. Während ich das Waschzeug aufräumte, wurde mir immer bewusster, wie armselig diese Frau auf mich eigentlich angewiesen war. Ich glaube, sie bemerkte auch, wie verärgert ich wurde, doch sie weiß überhaupt nicht warum, weil das Laufen ihr unbewusst war. Außerdem konnte sie nicht fragen, weil sie zusätzlich die Sprache verloren hatte, wie mir erst viel später im Team erzählt wurde.« (Höwler 2000)

2.2 Der wertschätzende Umgang mit psychisch Alterskranken

Beim Umgang mit psychisch Alterskranken ist der richtige Ton und die Einstellung zu ihnen besonders bedeutsam. Die Betroffenen scheinen manchmal wie kleine Kinder, müssen aber wie Erwachsene behandelt werden. Das ist die Schwierigkeit. Sie verleitet Altenpflegerinnen dazu anzunehmen, dass psychisch Alterskranke wie Kinder sind, denn sie benehmen sich oft so:

Sie kleckern mit dem Essen.

Sie schmieren mit Exkrementen.

Sie lehnen oft die Körperpflege ab.

Sie halten sich nicht immer an die Etikette.

Für Pflegende ist es oft schwer, mit einem richtigen Umgang zu agieren. Mit einer veränderten Grundhaltung für das pflegerische Tun lassen sich diese Verhaltensweisen besser bewältigen.

Ein chronisch verwirrter Mensch ist ein verletzlicher, feinfühliger Mitmensch, dessen Rationalität nicht zugänglich ist. Pflegende sollten Spannungen aushalten und eine warmherzige Zuwendung mit professioneller Distanz zeigen. Aber bei allem erfordert es, die Würde des alten Menschen als erwachsene Person zu achten, auch in einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium.

Welches Menschenbild Altenpflegerinnen haben, spiegelt sich auch in ihrer Pflegesprache wieder: Ausdrücke, wie z. B. »Der Patient ist durch den Wind, Herr F. ist durchgeknallt, sowie gefüttert, gewindelt, topfen, vollgerotzt« etc. sind entwürdigend und unbedingt zu unterlassen.

Handlungsaufgaben

1.Tauschen Sie sich in der Arbeitsgruppe darüber aus, ob es in Ihrer bisherigen Pflegepraxis Situationen gab, in welchen die Würde eines psychisch veränderten Menschen verletzt wurde.

2.Stellen Sie konkrete Verhaltensregeln auf, mit denen Sie im pflegerischen Tun den Respekt und die Würde eines psychisch kranken alten Menschen bewahren können.

Psychisch krank zu sein, beinhaltet leicht die Gefahr, eingeschränkt leben zu müssen. Der Umgang mit dem Kranken ist deshalb ausgerichtet auf Aktivierung und Mobilisierung, um die geistigen und sozialen Fähigkeiten des alten Menschen weitgehend zu bewahren, um einer Regression, d. h. einem Zurückfallen in eine frühere Entwicklungsphase der Ich-Funktion vorzubeugen.

Was kommt auf motivierte Pflegende zu, wenn sie einen psychisch Alterskranken aktivieren und mobilisieren wollen?

Einige Beispiele:

Sie müssen einen alten Menschen waschen, der nicht einsieht, dass er eine pflegerische Versorgung benötigt. Er zeigt der Pflegeperson aggressives Verhalten.

Sie wollen jemanden aktivieren, der lieber im Bett liegen bliebe und sich nicht bewegen möchte.

Der Kranke spuckt die Nahrung wieder aus, schlägt nach dem Essen oder will nicht den Mund aufmachen.

Sie setzen zwecks Toilettentraining den Kranken auf die Toilette, er wehrt sich massiv dagegen, hat aber kurz darauf seine Hosen beschmutzt.

Der alte Mensch schreit nachts laut und unaufhörlich, er muss mehrmals intensiv beruhigt werden.

Die Pflegeperson kommt zu einem Kranken und findet ihn unerwartet voll beschmiert mit seinen Fäkalien vor, die er auch in den Mund gesteckt hat.

Die Art und Weise wie Altenpflegerinnen mit einem Kranken umgehen, entscheidet darüber, ob er den Weg der geistigen, seelischen und körperlichen Besserung einschlägt oder ob er in eine infantilisierende Abhängigkeit manövriert wird. Fragen Sie sich:

Wo kann ich mich als angehende Altenpflegerin im Arbeitsfeld der gerontopsychiatrischen Pflege verwirklichen, wie kann das der Erkrankte?

Kann ich Verwirrtheit als eine Lebensform, welche im Moment für den alten Menschen richtig ist, zulassen?

Was bedeutet für mich Verwirrtheit? Was ist mir bei dem pflegerischen Umgang wichtig?

Was kann ich ertragen? Wie reagiere ich auf Ängste des psychisch erkrankten Menschen?

Welche Interpretation der Lebenswirklichkeit des alt gewordenen Menschen habe ich?

Welches Menschenbild bringe ich für die Pflege von psychisch Erkrankten mit?

Habe ich mich mit eigenen Vorstellungen und Ängsten bezüglich meines Alters auseinander gesetzt?

Überprüfe ich eigene Normen und Werte im Hinblick auf »normales« und »krankhaftes« Altern?

2.3 Schlüsselqualifikationen in der gerontopsychiatrischen Pflege

Nachfolgend lassen sich für Altenpflegerinnen folgende Schlüsselqualifikationen für den pflegerischen Umgang mit psychisch Alterskranken formulieren (nach Weidlich 1998):

Fachkompetenz: d. h. Wissen über gerontopsychiatrische Krankheitsbilder und deren Pflegekonzepte, eine gute Beobachtungsgabe, Urteilsfähigkeit, d. h. Einschätzen von Situationen und Erkennen eines Handlungsbedarfs, Problemlösungsfähigkeit, d. h. Aufstellen eines Pflegeplanes, der den Pflegeproblemen und Ressourcen des betreffenden Patienten entspricht.

Personale Kompetenz: d. h. Fähigkeit mit den eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen, den beruflichen Belastungen sowie Körper und Psyche verantwortungsvoll umzugehen (Selbstwahrnehmung und Suchhaltung).

Soziale Kompetenz: d. h. Fähigkeit mit psychisch Alterskranken und deren Angehörigen zu kommunizieren und im Kontakt mit dem interdisziplinären Team sicher aufzutreten. Die Behandlung von Patienten ist zu einem großen Teil auf eine gute Teamarbeit angewiesen. Es geht um die Verinnerlichung eines »Teamgeistes«.

Nach Knobling (1983) gehört zur sozialen Kompetenz die interaktive Kompetenz. Sie bedeutet die Fähigkeit, dass Pflegende wechselseitige zwischenmenschliche Kontakte zum Pflegebedürftigen eingehen können und beinhaltet:

die Herausbildung einer situativen Kompetenz,

Empathievermögen (kognitiv, emotional),

fremdes Leid und eigenen Frust aushalten können (Frustrationstoleranz),

Neugier und Kreativität bewahren, selbst wenn das Entdeckte im täglichen Umgang mit den psychisch Alterskranken nur wenig sensationell ist,

Einhaltung einer angemessenen Nähe und Rollendistanz zum psychisch Alterskranken,

ethisches Bewusstsein

»Situative Kompetenz«

Eine Situation in der Pflegepraxis, z. B. die Intervention bei Suizidgefahr eines alten Menschen, kann sich immer wieder anders gestalten. Die Altenpflegerin muss individuell und situationsbezogen auf alte Menschen eingehen können.

»Empathievermögen«

Das oberste Gebot zum pflegerischen Umgang für Altenpflegerinnen ist das einfühlende Verstehen (Empathie); d. h. die Fähigkeit, sich in die Bedürfnislagen psychisch Alterskranker einzufühlen, soziale Situationen und Gefühle zu berücksichtigen sowie individuelle Symbole (z. B. Kleidung und die Biografie) zu pflegen. Sie setzt eine Grundhaltung voraus. Die Altenpflegerin muss bereit sein, sich selbst kennen zu lernen, um dann diese Kenntnis in ihr berufliches Handeln systematisch einzubringen. Empathievermögen ist demnach sich einfühlen in die Situation eines Kranken – aber kein Mitleiden mit ihm (weitere Hinweise zur Empathie siehe Seite 25).

»Fremdes Leid und Frustrationen aushalten können«

Enttäuschungen und Unklarheiten müssen von Pflegenden ausgehalten werden. Hierzu gehört die Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten, aber auch die Fähigkeit Konflikte zuzulassen und widerstrebende Bedürfnisse und Gefühle vom Team, den alten Menschen und Angehörige nebeneinander stehen zu lassen.

»Bewahrung von Neugier und Kreativität«

Altenpflegerinnen müssen im täglichen routinierten Umgang mit den Kranken sensibel bleiben, ihre Pflegearbeit hinterfragen und offen für neue Pflegekonzepte sein.

»Einhaltung von Nähe und Rollendistanz«

In der Pflege wird unter Nähe Zuwendung bis hin zum Körperkontakt verstanden. In der gerontopsychiatrischen Pflege zusätzlich Verständnis für Stimmung und Verhalten des Kranken.

Rollendistanz einhalten bedeutet, sich einen Raum zwischen dem psychisch veränderten Menschen und sich selbst zu gestatten.

Bei einem psychisch Alterskranken wechselt je nach Krankheitsstadium oder körperlicher Befindlichkeit die Stimmungslage. Aufgabe der Altenpflegerin ist es, die durch verbale oder nonverbale ausgesandten Signale richtig einzuordnen und darauf mit entsprechendem Nähe- und Distanzverhalten zu reagieren. Sie sollte auf Wunsch des alten Menschen Nähe z. B. durch Körperkontakt zulassen, oder, wenn es für eine verhaltenstherapeutische Intervention notwendig ist, mit Ablehnung reagieren.

Rollendistanz zu haben bedeutet, dass jeder Pflegende sich über sein Wissen, sein Können, seine Aufgaben und seine Absichten Klarheit verschafft. Dieses Selbstbewusstsein, auch berufliche Identität genannt, ermöglicht sich mit den vielfältigen Rollenerwartungen im Beruf auseinander zu setzen. Abhängigkeitskranke sind z. B. nicht nur von einer Substanz, dem Alkohol abhängig, sondern diese Menschen suchen auch Abhängigkeits-Beziehungen zu den Menschen in ihrer Umgebung. Das wiederum kann eine »Beziehungsfalle« für Pflegende sein.

»Ethisches Bewusstsein«

Ethisches Bewusstsein bildet die Grundlage des beruflichen Handelns. Es wird die partnerschaftliche Haltung gegenüber dem alten Menschen gefordert. Dieser muss trotz aller Hilfsbedürftigkeit als ein gleichberechtigter, achtenswerter Mensch gesehen werden.

Diese Grundeinstellung Pflegender lässt eine Infantilisierung psychisch Alterskranker nicht zu. Für die Pflegebildung ergibt sich, dass neben den fachlich, sachlich und intellektuell ausgerichteten Bildungsansätzen auch der emotionalen Sensibilität in Sinne von »moralischer Phantasie« Raum gegeben werden muss.

Die Schlüsselqualifikationen, einschließlich der interaktiven Kompetenz, können sich im theoretischen Pflegeunterricht sowie im berufspraktischen Einsatz im Umgang mit psychisch und physisch Alterskranken entwickeln und weiter herausbilden.

2.4 Selbstpflege – vom Wert der »Psychohygiene«

Den Begriff »Psychohygiene« prägte Meng 1959. Er bedeutet: Praxis und Lehre vom seelischen Gesundheitsschutz. Heute wird im Pflegeberuf von »Selbstpflege« gesprochen.

Definition

Unter Selbstpflege versteht man die Fähigkeit, die eigenen Belastungsgrenzen zu erkennen und aktiv für entsprechende Freiräume zur Erholung zu sorgen.

Im Pflegeberuf gibt es immer wieder Situationen, in denen wir versuchen, der Realität auszuweichen. Wir verändern in unserem Empfinden und unserer Erinnerung die Wirklichkeit, um sie für uns erträglicher zu machen. Manchmal machen wir uns etwas über uns selbst vor, um eine Rechtfertigung vor uns und unserer Umwelt zu haben oder um unsere Selbstachtung nicht zu verlieren. All diese Verhaltensweisen verstellen uns den Zugang zu uns selbst und verhindern, dass wir unsere eigentlichen Bedürfnisse, Wünsche, Ziele, erkennen und leben können und verursachen häufig Unsicherheit und Leid.

2.4.1 Zeitnot, Personalnot + zu hohe Erwartungen = Disstress

Tätigkeiten in der psychiatrischen Altenpflege stellen hohe Anforderungen an die Professionalität sowie an die eigene körperliche und psychische Belastbarkeit der Pflegenden. Seit einigen Jahren liegt die Erkenntnis vor, dass es um die seelische Gesundheit im Altenpflegeberuf nicht sonderlich gut bestellt ist. Etliche Forschungserkenntnisse aus Krankenkassendaten weisen tendenziell in eine einheitliche Richtung: Zunahme von Kreuz-, Kopf- und Muskelschmerzen, Schweregefühle in Armen und Beinen, Schlafstörungen und Müdigkeit sowie depressive Symptome bei Altenpflegerinnen.

Viele Altenpflegerinnen bringen eine Berufsauffassung mit, welche an Heilen und pflegerischem Erfolg ausgerichtet ist. Das programmiert Enttäuschungen und Misserfolgserlebnisse. Der zunehmende Umgang mit Verwirrtheit und Aggressivität, ebenso mit Apathie alter Menschen, Inkontinenz, Alkoholabhängigkeit und dauernde Bettlägerigkeit sowie die häufige Konfrontation mit Sterben und Tod verunsichert Altenpflegerinnen und mobilisiert bei ihnen Abwehr, Verdrängung und Verleugnung. Sie fühlen sich durch die unverständlichen Angriffe oder Zurückweisungen der alten Menschen abgelehnt oder verärgert. Belastend sind in diesem Arbeitsfeld auch Ekelgefühle, z. B. bei unsauberem Essen oder beim Kotschmieren. Eine hohe körperliche Beanspruchung wird verursacht durch: Schichtarbeit, Nachtdienste und regelmäßige Wochenendarbeit. Stress in der gerontopsychiatrischen Pflege entsteht primär durch den chronischen Zeitmangel aufgrund der allgemeinen engen personellen Besetzung. Das Gefühl, »nie fertig zu sein« bzw. nicht das geben zu können, was psychisch Kranke brauchen, bedingt Unzufriedenheit, die sich auch in Ungeduld oder Regression umsetzen kann. Angehörige von psychisch veränderten alten Menschen verschärfen die Probleme häufig durch übertriebene Ansprüche (wegen ihrer Schuldgefühle oder mangelnder Kooperation), als dass sie eine Unterstützung zu geben vermögen. Belastungen und Gefühle dieser Art gehören zum Alltag der Pflege; diese sollten in der Praxis nicht weiter tabuisiert werden.

2.4.2 Altenpflegerinnen sind besonders von Burn-out betroffen

Die Tätigkeit einer Altenpflegekraft in der gerontopsychiatrischen Pflege ist eine überaus schwierige, denn von keiner anderen Fachwissenschaft wird ein solches Maß an Geduld, Aufmerksamkeit und Empathie verlangt.

Die Position der Pflegenden lässt sich mit einem stärkeren Fühlen und Leiden mit dem Schicksal des Pflegebedürftigen erklären. Pflegende arbeiten direkt am Menschen, erleben seine psychischen und physischen Reaktionen hautnah. Oft entwickelt sich auch eine psychische Belastung über die Arbeit hinaus. Indem Pflegende ihre Erlebnisse und Konflikte mit nach Hause nehmen oder indem sie mit Hoffnungen und Ängsten der Angehörigen konfrontiert werden.

Altenpflegerinnen sind vielen Stressoren im Beruf ausgesetzt. Sie können sich nur schlecht in der Freizeit entspannen und erholen. Daher ist es abzusehen, dass die allgemeine Anspannung zur Berufsunzufriedenheit oder zu einer psychosomatischen Erkrankung führen kann. Das Endstadium dieser schleichenden Entwicklung ist dann oft eine psychische und physische Erschöpfung; es kommt zum Burn-out-Syndrom. Das Syndrom befindet sich vorwiegend bei Menschen, die in emotional anspruchsvollen Situationen mit anderen Menschen arbeiten.

Es ist gar nicht so leicht, ein Burn-out zu erkennen. Gefährdet sind jedoch gerade jene Menschen, die für Ihre Arbeit geradezu »brennen«, die sich also stark einsetzen, oft über ihre Grenzen gehen und immer einspringen, wenn »Not am Mann« ist.

Eine Altenpflegerin erinnert sich an eine Situation aus ihrer Pflegepraxis: »Frau R. ist eine sehr verbitterte und schwierige Heimbewohnerin auf der gerontopsychiatrischen Pflegestation gewesen. Man beobachtete, dass der zerebrale Abbau schon sehr weit fortgeschritten war. Es kam vor, dass sie die Altenpflegerinnen bei der Ausführung der direkten pflegerischen Versorgung beschimpfte, weil der Umgang mit ihr nicht immer bedürfnisgerecht ausgeübt wurde. »Kämpfe« bei den Mahlzeiten waren keine Seltenheit. Die Pflegerinnen hatten sich bereits daran gewöhnt, dass Frau R. mit Nahrungsmitteln hinter ihnen her warf. Diese Frau brauchte viel Einfühlung.

Altenpflegerin Maria kümmerte sich besonders um Frau R. Ihr Umgang mit der alten Dame war dementsprechend aufopferungsvoll. Sie tat dieses nicht, weil sie die Frau sympathisch fand; nein – sie wollte sich selbst und ihren Kollegen beweisen, dass sie in der Lage war, sich um diese Art von »schweren Fällen« erfolgreich kümmern zu können.

In einem Spätdienst, während der Nachmittagskaffee in der Wohngruppe ausgeteilt wurde, hörte ich aus dem Zimmer von Frau R. ein Gekreische und Gepolter. Ich ging in das lärmerfüllte Zimmer, erblickte die völlig aufgelöste Altenpflegerin Maria, welche laut lamentierte und sich am Kopf von Frau R. zu schaffen machte. Ich nahm Altenpflegerin Maria behutsam zur Seite, schickte sie aus dem Zimmer und schlug ihr vor erst einmal eine Pause zu machen. Danach wendete ich mich Frau R. zu. Sie zitterte am ganzen Körper und ihr rechtes Ohr war äußerst stark gerötet. Altenpflegerin Maria hatte die hilflose Frau R. aus Frust über ihren Misserfolg bei der Behandlung ihres »schweren Falls« geschlagen und brutal am Ohr gerissen!

Altenpflegerin Maria meldete sich am darauf folgenden Tag krank. Sie wurde nach ihrem langen Arbeitsausfall in eine stressärmere Pflegewohngruppe versetzt.

2.4.3 Stresserleben im Pflegealltag

Altenpflegerinnen sind häufig überlastet, wenn die Faktoren

Übernahme von Verantwortung,

fehlende Abgrenzung,

sowie ein hohes Leistungsideal

zusammenkommen.

Hat die Altenpflegerin eigene Wünsche, so werden diese übersehen. Viele »Helferpersönlichkeiten« kennen das von sich: Bereits in der Kindheit hatten sie die Rollen des »Fürsorglichen«, des sich um Familienmitglieder Sorgenden inne. Sie konnten eigenen Wünschen und Impulsen nur wenig nachgehen. Hinzu kommt ein eher harmonisierender Umgang mit Konflikten. Eigene Bedürfnisse werden zurückgestellt und Konfliktlösungsstrategien fehlen.

2.4.3.1 Stressformen

Zwei bekannte Stressformen verursachen unterschiedliche Wirkungsweisen. Positiver Stress spornt zu Höchstleistungen an, negativer Stress raubt Kraft, wird als bedrohlich empfunden, behindert das Kommunikationsverhalten, beeinträchtigt die Informationsverarbeitung und die Entscheidungsfähigkeit in Notfallsituationen, d. h. kann über einen »Tunnelblick« bis zur Handlungsunfähigkeit führen.

 

1.Eustress

positiver Stress

dient zur Erfüllung vitaler Bedürfnisse

spornt zur Motivation an

gibt positive Gefühle, z. B. Geborgenheit

unterstützt lebensnotwendige Elemente von Teamarbeit

Eustress-Reize entstehen, wenn Altenpflegerinnen sich von Angehörigen, vom Team und Pflegedienstleitungen angenommen fühlen, wenn eine freundliche und entspannte Atmosphäre auf dem Pflegearbeitsplatz herrscht. In diesem Klima stehen Lob, Anerkennung, Humor, gegenseitige Hilfsbereitschaft und soziale Unterstützung im Mittelpunkt.

 

2.Disstress

schädlicher Stress

erzeugt im Gehirn Unlustgefühle

blockiert das Richtige zu tun

erzeugt Müdigkeit für Freizeitangebote, für Zärtlichkeit und Bewegung

reduziert Bedürfnisse auf Essen und Schlafen

Wenn von Stressreaktionen gesprochen wird, sind immer die Disstress-Reize gemeint. Das ist, als ob ein »Panikknopf« im Gehirn ausgelöst wird und von »Denken« auf »Überleben« (Flucht oder Kampf) umgeschaltet würde.

Altenpflegerinnen fühlen sich hellwach, Herzschlag und Atemfrequenz steigen und das Blut wird überwiegend in die Muskulatur gepumpt, um Kraft für die Kampf- oder Fluchtsituation zu mobilisieren. Diese Reaktion dient der Lebenserhaltung und verbraucht viel Energie, welche so schnell nicht wieder hergestellt werden kann.

Die beste Leistung von Pflegenden ergeben sich bei einem Stresslevel von ca. 40–60 % des individuellen Stress-Maximums. Hierbei entsteht ein Potenzial zur persönlichen Weiterentwicklung, zur kreativen Umsetzung der Aufgaben im Alltag sowie zur Freude an der Pflegearbeit.

Erleiden Altenpflegerinnen dagegen häufig am Tag Pflegesituationen, die unter erhöhtem Zeitdruck bewältigt werden müssen, erleben sie auf Dauer Situationen von kognitiver Dissonanz. Pflegen sie mit unzureichendem Wissen psychisch beeinträchtigte alte Menschen, so kann aus der lebenserhaltenden Schutzreaktion ein krankmachender Dauerzustand werden und in ein Burn-out-Syndrom übergehen.

2.4.4 Interdependenz: Stress, psychische Belastung und Burn-out

Nach Lazarus ist Stress eine Bedrohung des physischen und psychischen Wohlbefindens (Ungleichgewicht zwischen Ansprüchen und Ressourcen). Je nach Persönlichkeitsstruktur des Individuums liegt zwischen der Stressreaktion und den objektiven Stressoren eine transaktionale Kognition vor; d. h. jede Pflegeperson reagiert interaktiv auf Stressoren subjektiv. In der täglichen Pflegearbeit kann eine positive Spannung (Eustress) durch Erfolge, z. B. aus Selbstständigkeitstrainings, bei Demenzerkrankten aufgebaut werden. Disstress, ein krankmachender Faktor, wird z. B. durch eine defizitäre Personalstruktur ausgelöst. Vielfältig emotionaler Stress, der mit psychologischer und sozialer Hilfeleistung verbunden wird, auf Dauer nicht zur Kenntnis genommen und durch einen positiven Bewertungsprozess bekämpft wird, führt oft zur psychischen und psychosomatischen Beeinträchtigung. Psychophysische Belastungen (Umweltanforderungen übersteigen das Leistungsvermögen einer Person) sind in der Regel einmalige traumatische Ereignisse (z. B. Tod eines lange gepflegten alten Menschen, Scheidung, Kündigung). Danach lässt sich durch Verlustreaktion mit ausreichender Trauer- und Bewältigungsarbeit normalerweise das seelische Gleichgewicht wiederfinden. Bleiben dagegen die psychophysischen Belastungen längerfristig bestehen und schaffen hyperaktive Dauerspannungen (z. B. durch eine hohe Sterberate, ein hoher Anteil von stark verhaltensauffälligen Menschen in der Pflegewohngruppe), so kommt es zu keiner ausreichenden Entlastung und Neutralisation. Es kommt zu einem regressiven Absturz und in absehbarer Zeit treten Symptome des Ausbrennens auf. Nach Burisch (1994) tritt das Burn-out meist nicht als eine Folge vereinzelter traumatischer Ereignisse auf, sondern als schleichende seelische Auszehrung. Im Vorfeld sind längere Ketten von frustrierten Erwartungen und misslungenen Handlungsplänen mit ausgebliebenen Belohnungen vorhanden.

Dauernde negative Stressreaktionen sowie psychische Belastungen sind Voraussetzungen, um ein Burn-out-Syndrom zu entwickeln.

2.4.5 Pflegen unter Disstress und die Folgen

Die ständige Dauerbelastung entwickelt sich zur beruflichen Deformation, welche zur Abstumpfung, zur Verrohung, Dehumanisierung und Selbstentfremdung führen kann. Dies gilt für Altenpflegerinnen und alte Menschen gleichermaßen. Wo Situationen bei Altenpflegerinnen zu Burn-out führen, werden alte Menschen geschädigt und in die Angst, die Depression, die Apathie und sogar in den vorzeitigen Tod getrieben. Durch unzumutbare Pflegebedingungen entstehen unzureichende Pflegesituationen, welche bei alten Menschen mit hoher Vulnerabilität (Verletzbarkeit) eine massive Schädigung ihrer Lebensqualität verursachen. Nach einer Zeit von Überforderungssituationen stellen Altenpflegerinnen ihre Empathie, ihre mit- bzw. einfühlenden inneren Schwingungen ab. Der alte Mensch, der Resonanz braucht, weil er leidet, bekommt kein Mitgefühl. Die Folge ist, dass er anästhesiert. Er resigniert (genau wie die Altenpflegerin), stumpft ab, er regrediert, hospitalisiert, er verhärtet sich und wird apathisch. Altenpflegerinnen könnten nach diesem schleichenden Prozess reagieren:

»Nun lass ihn doch apathisch werden, dann liegt er ruhig in seinem Bett, da liegt er halt – mit dem kann man nichts mehr machen. Der ist ›dement‹!« Niemand will dem Faktum ins Auge sehen, dass der alte Mensch »dement« gepflegt worden ist (vgl. Seite 41).

Pflegepersonal in gerontopsychiatrischen Pflegewohngruppen ist in der Regel niedergeschlagener, unfreundlicher und ängstlicher als Pflegepersonal in stressärmeren Wohngruppen. Belastend ist hier der Umgang mit Verwirrtheit, Apathie, Depressionen, Ängsten und Suizidversuchen. Die Altenpflegerinnen fühlen sich hoffnungslos, weil sie mit viel Energie- und Zeitaufwand wenige Erfolge verzeichnen können. Sie distanzieren sich dann leichter und verlieren das Interesse an den alten Menschen. Die Einstellung zur psychischen Krankheit ändert sich: Die Helfer sehen ihre Klienten nicht als Menschen, die Hilfe benötigen, sondern als Menschen, die Aufsicht brauchen. Altenpflegerinnen werden durch ein widersprüchliches Ansinnen, d. h. auf der einen Seite alte Menschen zu aktivieren und auf der anderen Seite einen reibungslosen und schnellen Pflegeablauf zu ermöglichen, auf Dauer belastet und gereizt. Zeitnot bringt Gehetztheit. Dieser Druck überträgt sich auf psychisch Alterskranke. Sie antworten unbewusst mit Gegendruck, z. B. mit Verweigerungen oder überhöhten Forderungen.

Besonders verwirrte Menschen reagieren auf Zeitdruck sensibel. Sie bereiten, wenn sie den Zeitdruck empfinden, noch mehr Probleme und finden ihre Orientierung noch schwerer. Wechselwirkungsprozesse kommen auch in dem Maße zum Tragen, indem die vom Burn-out gezeichneten Mitarbeiter dem alten Menschen gegenüber erhöhte Dosen von Psychopharmaka zubilligen, damit er »pflegeleicht« wird.

Von Disstress geplagte Altenpflegerinnen werden unempfindlich gegenüber nonverbal ausgesandten Signalen von gerontopsychiatrisch veränderten Menschen. Sie verlieren ihre Geduld und haben schließlich erhöhte Aggressionspotenziale, welche in Wechselbeziehungen zu den hilfsbedürftigen Menschen stehen.

Überlastete Altenpflegerinnen haben eine Angriffsfläche für archaische Abwehrformen. Durch Prozesse der Depersonalisation wird ihre Ich-Stärke beeinträchtigt. Hier spielt die Angstabwehr der Aggression, welche sich in versteckter und offener Gewalt gegenüber den alten Menschen zeigt, eine besondere Rolle. Angst wird häufig aggressiv abgewehrt.

Mit den unten aufgeführten Aussagen können Sie herausfinden, welchem Stress Sie in Ihrer täglichen Pflegearbeit ausgesetzt sind. Alle unten angeführten Feststellungen gehen auf Gefühle und Vorstellungen ein, die beim Umgang mit psychiatrisch Erkrankten und solchen mit anderen chronischen Erkrankungen auftreten können.

1.Die Vergesslichkeit geht mir auf die Nerven.

2.Ich habe Angst, dass pflegebedürftige alte Menschen gewalttätig werden und jemanden verletzen.

3.Mir wird es zu viel, alle Pflegeanweisungen ständig zu wiederholen.

4.Die Angehörigen schätzen meine Pflegearbeit nicht.

5.Die lallende, unverständliche Sprache geht mir auf die Nerven.

6.Der alte Mensch sollte mehr für sich selbst tun.

7.Ich kann nur schwer mit ihnen kommunizieren.

8.Es macht mich nervös, wenn sie Probleme verleugnen und andere für ihre Fehler verantwortlich machen.

9.Es macht mich müde, psychisch Alterskranke zu pflegen.

10.Ich kann es nur schwer aushalten, was mit diesen Menschen passiert.

11.Ich werde ängstlich und es frustriert mich, wenn ich mit diesen Menschen arbeite.

12.Ich wäre dafür, diesen Menschen mehr Medikamente zu geben.

13.Es fällt mir schwer mit den Angehörigen zu reden.

14.Auch zu Hause denke ich noch oft an die psychisch Alterskranken.

15.Ich mache mir ständig darüber Sorgen, dass die alten Menschen weglaufen.

16.Es dauert mir zu lange, ihnen zu helfen.

17.Es bedrückt mich zu sehen, wie hilflos sie werden.

18.Ich brauche eine bessere Ausbildung für diese Pflegearbeit.

19.Es ist für mich schwer, ihr Verhalten den Angehörigen und den anderen Mitmenschen zu erklären.

Je häufiger Sie den Aussagen zustimmen, umso stressgefährdeter sind Sie!

Disstressempfinden, Arbeits- und Berufsunzufriedenheit hängen auch von der Persönlichkeit einer Pflegenden ab. Eine individuelle psychische Disposition beeinflusst in erheblichem Maße auch die Auswirkungen der im Berufsalltag erlebten Stressoren und Frustrationen.

Die Entstehung der psychischen Störung Burnout, negatives Arbeitserleben, Demoralisierung infolge hohen physischen und psychischen Belastungen, Teamkonflikten, Unstimmigkeiten mit anderen Wohngruppen, Abteilungen oder Druck von Leitungspersonen, ist auch von Expertenseite, noch nicht hinreichend erklärt.

2.5 In Balance bleiben – Anforderungen und Entlastungen im Pflegealltag

Voraussetzung für die Tätigkeit in der gerontopsychiatrischen Pflege ist eine gewisse psychische Belastbarkeit, da Altenpflegerinnen mit menschlichen Grenzsituationen, sowie ständig mit Leid und Sterben konfrontiert werden.

In einem Interview sagt Altenpflegerin Sabine auf die Frage, wie sie mit den beruflichen Belastungen in der gerontopsychiatrischen Pflege fertig wird: »… ich habe gelernt damit zu leben immer wieder gemeinsam mit den Kollegen/innen, die täglich mit psychisch Alterskranken arbeiten; und da ist jeder im Team wichtig: Jede Altenpflegerin, jeder Sozialarbeiter, jeder Ergotherapeut, jeder Theologe und jeder Arzt.

Man kann es nur gemeinsam schaffen, man kann es aber nur innerhalb des therapeutischen Teams schaffen, in dem man sich austauscht, indem man sich gegenseitig kontrolliert und indem man, wenn man dann abends nach Hause geht, sich persönlich davon auch löst, in dem man andere Dinge macht, indem man, ich sage immer: stehenbleibt, zur Ruhe kommt, sich erholt, neue Kräfte sammelt … anders geht das nicht!«

2.5.1 Emotionale Belastungen im Pflegealltag erkennen und bewältigen

Aus welchen Gründen kommt es zur emotionalen Belastung für Pflegemitarbeiter? Im Annehmen und Aushalten der eigenen Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühle erleben Pflegende einen Perspektivenwechsel von »Hilfe« geben bis hin zu »Hilfe und Unterstützung selbst empfangen«. Mit der täglichen Konfrontation mit dem Abschied vom Gesundsein, Leid und Sterben werden Pflegende andauernd auf die Zerbrechlichkeit unseres eigenen Seins hingewiesen.

Wenn zudem zwischen Pflegenden und Heimbewohnern entsprechende persönliche Merkmale wie gleiches Alter, gleiche Familiensituation oder Übereinstimmungen in der jeweiligen Biografie vorhanden sind, findet schnell eine Identifikation statt. Im schlimmsten Fall entwickelt sich ein Burn-out welches schnell in eine Depression einmünden kann.

Mit entsprechenden Strategien kann die bewusste Distanzierung und Rückkehr in die professionelle Pflege-Rolle gelingen. Abgrenzung macht Nähe möglich und Mit-Leid kann sich wieder in Mit-Gefühl verwandeln.

Eine weitere Säule pflegerischen Tuns betrifft den Umgang mit Emotionen. Auf der einen Seite gibt es die Gefühle der zu pflegenden Bewohner. Sie reichen von Schuldgefühlen, Scham, Ekel, Angst, Ohnmacht, Wut und Trauer bis zur Freude, Hoffnung und Liebe. Auf der anderen Seite gibt es diese Gefühle auch bei Pflegenden selbst in der Begleitung der Kranken. Die Möglichkeit des Umgangs mit den jeweiligen belastenden Gefühlen basieren auf deren Wahrnehmung und einer Situationsanalyse durch die Benennung und Differenzierung der möglichen Auslöser.

Pflegende tragen mehr Lasten als zuträglich ist und leben ständig zwischen dem Konflikt des eigenen Anspruchs und Nicht-Erfüllung der Ansprüche durch die Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen.

Besonders durch die Pflegebeziehung über einen längeren Zeitraum wird Nähe zum Gepflegten hergestellt. Das begleitete Sterben und der Tod einer pflegebedürftigen Person kann persönliche unverarbeitete Trauererlebnisse bei Pflegenden reaktivieren. Diesen Gefühlen entgegenzutreten bedeutet einen Schutz vor Burn-out und ist aktiv ausgeübte Selbstpflege.

2.5.2 Berufliche und private Beziehungen achtsam gestalten

Eine Bezugspflegende benötigt Nähe, um die subjektive Betroffenheit eines Pflegebedürftigen zu verstehen. Sie darf die Nähe aber nicht so weit zulassen, dass diese schädigend wirkt. Personenbezogene Dienstleistung beruht auf Beziehungen zwischen Helfer und Hilfebedürftigen. Beziehungsgestaltung der professionellen Art ist ein tragendes Element in der Pflege. Sie gilt als ein therapeutischer Aspekt und unterliegt einer Doppelbedeutung.

Tabelle 1: Unterscheidung zwischen beruflicher und privater (Pflege)Beziehungen

Professionelle berufliche Beziehungen Private Beziehungen
Distanz um einen Überblick zu behalten Distanz, um sein Ich zu bewahren
Beziehung ist nicht auflösbar (i. d. Regel durch Tod des Pflegebedürftigen) Beziehung kann gekündigt werden (z. B. durch Trennung)
Kognitive Empathie Emotional, situationsbedingt
Grenzen setzen/endlich Grenzenlos/endlos
Nähe (wie fühlt sich Leid an, um da wieder herauszukommen?) Nähe
Zielorientiert und geplant Diffus, ungeplant
Monetär abgegolten (geldlich) Ideell abgegolten

Ziel für Pflegemitarbeiter: Einhalten einer Balance zwischen Nähe und Distanz in einer Subjekt-Subjekt-Beziehung, sodass Sensibilität für die Spannung für Nähe und Distanz zum pflegerischen Habitus wird.

In der Langzeitpflege, welche durch einen intensiven Kontakt zum pflegebedürftigen Menschen geprägt ist, ist es erforderlich Nähe und Distanz in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen. Nähe und Distanz muss von daher ausbalanciert werden, damit Pflegemitarbeiter selber seelisch gesund bleiben.

Emotional belastet nur dann etwas, wenn eine Situation einem Pflegemitarbeiter zu nahe geht, er sich davon intensiv betroffen fühlt.

Asymmetrische Beziehungen beinhalten immer die Gefahr der Bemächtigung des pflegebedürftigen Menschen durch die Pflegeperson, welches unweigerlich auch zu Konflikten führen kann. Die Pflegebeziehung ist nicht als gleichwertig zu betrachten. Auf der einen Seite steht der hilfesuchende Mensch, der abhängig und unwissend und in der Regel entscheidungsunfähig ist. Pflegende zeichnen sich durch Macht, Wissen und Abnahme von Entscheidungen aus. So entsteht ein Ungleichgewicht zwischen beiden Interaktionspartnern.

Gefühle der Hilflosigkeit, der Verzweiflung, der Selbstaufgabe sowie Widerspiegelungen der erlebten körperlichen und psychosozialen Situation, Machtlosigkeit und Hilfebedürftigkeit lassen dann nur noch die Anpassung an die Pflegenden offen. In der pflegeabhängigen Begegnung entwickelt sich eine Eigendynamik. Diese kann gekennzeichnet sein z. T. durch gegensätzliche Erwartungen der Beteiligten. Um dialogisch Handeln zu können und eine Subjekt-Subjekt-Beziehung aufzubauen, muss pflegerisches Handeln weit mehr sein, als nur ein Beherrschen von High-Technik. Das ist eine Wertehierarchie, denn in der Pflege geht es um zwischenmenschliche Sorgebeziehungen und nicht um rein sachliche zweckrationale Tauschbeziehungen.

Tabelle 2: Gegenüberstellung – Distanz und Nähe im Pflegealltag

Distanz Nähe

Zeitlich begrenzte Kontakte

Nur ausschnitthafte Kenntnis des Menschen

Fehlinterpretation von Sprache und Verhalten

Spagat zwischen Einzelbetreuung und Gruppenverantwortung

Grundpflege ausführen

Abwesend sein

Nicht kommunizieren

Nur nonverbale Berührung

Pflegende beobachten, um die Tagesform festzustellen

Eigenbeobachtung und Beobachtung des Pflegebedürftigen

Biografie intensiv lesen: Feststellung der Grenzen des Pflegebedürftigen

Kontakte zwischen Angehörigen und Nachbarn vermitteln

Abstand und Zurückhaltung Geborgenheit, Zartheit, Empfindsamkeit, Zuneigung, verbale Nähe, körperliche Nähe vermitteln

Arbeitsraum der pflegenden Angehörigen

Wohnraum und Lebensraum des Pflegebedürftigen

Zuhören, anschauen, Lautstärke der Sprache, Berührung

»Spuckdistanz« – nur so viel Nähe wie möglich bzw. nötig

Bedrängnis vermeiden

Eindringen in die Intimsphäre bei Pflegehandlungen

Als Fremder wird die Pflegeperson »kraft Amtes« zur Hauptbezugs-Person

Aufgabe: Schutz und Sicherheit für den Pflegebedürftigen zu gewährleisten

Gefühlter Abstand, um nicht einzuengen

Sich voneinander entfernen als Chance, sich wieder neu zu begegnen

Pflegesituation und Handlungen auf der reinen Kommunikationsebene

Zuwendung, Körperkontakt (Intimpflege),

Wärme, Geborgenheit, Sicherheit

2.5.3 Pflegen mit Empathie

Um Distanz und Nähe in ausgewogener Balance halten zu können, ist es wichtig, sich auf eine Beziehung professionell einzulassen und dabei Empathie zu empfinden. Bei diesem Prozess werden zwei Formen von Empathie unterschieden: die kognitive und die emotionale Empathie.

Emotionale Empathie kann dazu führen, dass sich Pflegende durch die Erfahrungen des Pflegeempfängers überwältigt fühlen. Sie verfangen sich im Netz ihrer Gefühle und den Gefühlen des Pflegeempfängers. Sie können ihre eigenen Gefühle nicht mehr differenziert wahrnehmen. Dabei besteht dabei ein enger Zusammenhang zwischen emotionaler Empathie und emotionaler Erschöpfung.

Das Einnehmen der Fürsorgerolle gegenüber dem alten Menschen bewirkt nicht nur Nähe. Sie ermöglicht Abgrenzung und Betonung von Andersartigkeit. Die Distanzierung schützt vor der Gefahr, selber zu regredieren, mit dem Schicksal und dem Elend der alten Menschen zu verschmelzen und hilft Ängste vor dem eigenen Alt-werden abzuwehren. Um mit Belastungen im Pflegealltag umgehen zu können, sind Methoden der Selbstpflege u. a. Copingstrategien erforderlich.

3 METHODEN DER SELBSTPFLEGE IM PFLEGEALLTAG

Um mit psychischen Belastungen adäquat in der Pflegepraxis umgehen zu können, benötigen Altenpflegerinnen neben einer Basis von gerontopsychiatrischem Pflegewissen, welches auf Grundlagen von Pflegemodellen, dem Pflegeprozess und den gerontopsychiatrischen Pflegekonzeptionen aufbaut, auch Entlastungen durch eine gute Selbstpflege.

Disstress kann nicht einmal eben beseitigt werden. Deshalb sollten Pflegende bei dem Erleben mit Stress diesen so beeinflussen, dass die Lebensfreude und Freude an der Pflegetätigkeit erhalten bleibt. Das kann gelingen durch individuelle Stressbewältigungsmechanismen.

Altenpflegerinnen können auf drei Aktionsebenen aktiv zur eigenen Gesundheitsförderung beitragen:

1.Ebene: Aktivitäten, die Pflegende selbst zur Förderung ihrer eigenen Gesundheit setzen

2.Ebene: Maßnahmen, welche die Fähigkeiten von Altenpflegerinnen, ihre Gesundheit zu fördern, ermöglichen oder verbessern

3.Ebene: Aktivitäten, welche die Gesundheit durch Änderung in der Pflegeumgebung verbessern und die keinen persönlichen Einsatz erfordern. Die Rahmenbedingungen für die Pflegeumgebung, z. B. Personalschlüssel, Klientel, Wohnbereichsgröße sind von Pflegenden nicht direkt veränderbar. Optimierungsmöglichkeiten innerhalb des Betriebes durch z. B. Veränderung des Pflegesystems, der Dienstzeiten, der Ablauforganisation, des Pflegekonzeptes sind durchaus gegeben und sollten von Pflegenden eingefordert werden.

Für welche Aktivitäten sich Altenpflegerinnen entscheiden hängt von folgenden Fragen ab:

Welche finanziellen Ressourcen möchte ich aufwenden, um gesund leben zu können?

Welchen zusätzlichen Zeitaufwand erfordert die ausgewählte gesunde Lebensweise?

Welcher Wert wird innerhalb der sozialen Bezugsgruppe einer gesunden Lebensführung beigemessen?

Welche individuellen Handlungsspielräume stehen mir zur Verfügung?

Welche gesundheitlichen Handlungskompetenzen stehen mir zur Verfügung?

3.1 Coping-Strategien

Definition

Engl. »coping«: die Bewältigung. Coping »beschreibt jede Form der Auseinandersetzung bzw. des Umgangs mit psychisch und physisch als belastend empfundenen Situationen oder erwarteten Ereignissen, welche die Ressourcen einer Person berühren oder übersteigen«.*

* Vgl. portal.hogrefe.com/dorsch/coping

Um herauszufinden, welche Einflüsse sich auf unsere Psyche positiv oder negativ auswirken, ist es sinnvoll, sich mit belastenden Situationen im gerontopsychiatrischen Pflegealltag auseinander zu setzen. So können Altenpflegerinnen den Ursachen von Stress nachgehen und versuchen, ihn zu bewältigen. Mit der Kenntnis der belastenden Momente wird es dann mit der Zeit möglich, seelischem Stress vorzubeugen. Je genauer die Ursachen von Stress bekannt sind, umso gezielter kann die Stressbewältigung sein.

Allgemeingültige Empfehlungen zur Beseitigung von schädlichem Stress gibt es nicht. Es wird zwischen positiven und negativen Bewältigungsstrategien differenziert, welche sich nach ihrer Wirksamkeit unterscheiden. Die positiven Strategien dienen der seelischen Gesundheit.

Tabelle 3: Copingstrategien (nach Pines, Aronson & Kafry, 1991)

Psychologische Maßnahmen, die Altenpflegerinnen zur Förderung ihrer eigenen Gesundheit anwenden können, werden nachfolgend beschrieben.

3.2 Die Praxis der distanzierten Anteilnahme

Distanzierte Anteilnahme

Eine Anteilnahme an dem, was gesehen und erfühlt wird, Sachlichkeit aber damit hinein nehmen. Sich nicht nur mit dem Pflegeberuf und mit dem einzelnen alten Menschen beschäftigen. Die Altenpflegerin sollte abschalten können und emotionale Distanz wahren (nach Lief & Fox 1963).

In der gerontopsychiatrischen Pflege, welche durch intensive Kontakte zu Menschen geprägt ist, ist es erforderlich, Nähe und Distanz in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen. Es besteht die Gefahr, dass sich Altenpflegerinnen während des pflegerischen Umgangs zu sehr emotional beteiligen. Das kann zu einem Verlust der Objektivität und optimalen Hilfeleistungen führen. Helfen können Altenpflegerinnen nur, wenn sie mehr wahrnehmen und verstehen können als der alte Mensch, welcher Hilfe benötigt. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die emotionale Distanz zu groß wird, d. h. die Anteilnahme schwindet, Teilnahmslosigkeit und die dehumanisierende Einstellung, die für das Burn-out-Syndrom charakteristisch sind, nehmen überhand. Wird die innere Distanz zu groß, so reicht es nicht mehr aus, voll motivationsfähig zu sein.

Aus der Sicht alter Menschen ist eine Ausgewogenheit zwischen persönlicher/m Unterstützung und Verständnis einerseits und fachspezifischer Beratung andererseits vorzuziehen. Nach Pines, Aronson & Kafry (1991) ist eine ideale Ausgewogenheit von distanzierter Anteilnahme auf drei verschiedenen Wegen zu erreichen: physische Distanz, psychische Distanz und emotionale Zurückgezogenheit.

3.2.1 Die physische Distanz

Altenpflegerinnen, welche sich außerhalb der Dienstzeit nicht zurückziehen können, sind in der schwierigsten Lage. Viele meinen, dass sie unentbehrlich in der Pflegewohngruppe sind und immer erreichbar sein müssen. Aussagen von Pflegepersonen nach Dienstschluss, Krankheit oder Urlaub, wie z. B. »falls viel in der Pflege zu tun ist, ruft mich zu Hause an, ich komme dann sofort!«, verdeutlichen das »Unentbehrlichsein« eindrucksvoll.

Methoden um Abhilfe zu schaffen: Pflegende gewinnen Distanz auf dem Umweg der Zeit. Sie beschränken die Zeit, die sie in direktem Kontakt mit dem älteren Menschen ihrer Hilfeleistungen verbringen, auf ein Minimum. Längere Arbeitspausen oder mehr Schreibtischarbeit erlauben es der Pflegekraft, sich körperlich von den alten Menschen zu distanzieren, indem sie ihnen Zeit entziehen.

Allein das Ansprechen und die Beschreibung der belastenden Situation im Pflegeteam helfen, einen distanzierten Abstand zu bekommen. Die Distanz ermöglicht eine reflektierte Sicht auf die Pflegebeziehung.

3.2.2 Die psychische Distanz

Bei Sterbenden, psychisch Alterskranken und bei der Versorgung von Schwerstpflegebedürftigen mit ständiger Betreuung ist eine körperliche Distanzierung nicht möglich, weil diese Menschen nun einmal eine greifbare Betreuung mit taktiler Kommunikation benötigen. Die Altenpflegerin hat die Möglichkeit sich eine »Rüstung« gegen Emotionen anzulegen.

3.2.3 Die emotionale Zurückhaltung

Die Altenpflegerin schützt sich vor übermäßiger Beteiligung an mitmenschlichem Leid durch Einübung von Einstellungen. Eine Einstellung wäre z. B. eine strikte Befolgung vorgegebener Regeln, welche die Beziehungen zu dem alten Menschen definieren. Die Altenpflegerin sagt z. B. zum alten Menschen: »Nicht aus persönlichen Gründen kann ich jetzt nicht für Sie einkaufen, sondern die Hausordnung (Regel) verbietet es.«

Die emotionalen Probleme der Altenpflegerinnen werden häufig unter Berufung auf »rationales Denken« auf eine intellektuelle Ebene verschoben. Der Schwerpunkt ihres Interesses verschiebt sich vom kranken Menschen auf die Krankheit, an der er leidet. In einigen Fällen wird die Schuld dem alten Menschen zugeschoben. Wenn dieser als verwirrt, unkooperativ oder als alkoholabhängig diskreditiert wird, so wird eine Last der Verantwortung der Altenpflegerin abgenommen. Derartige kollektive Rationalisierung und Verschiebung der Verantwortung auf den alten Menschen kann als Schutzmaßnahme des Pflegepersonals gegen den emotionalen Stress ihrer Schuldgefühle angesehen werden.

Eine weitere Methode der Distanzierung von der Not anderer Menschen ist deren Identifizierung durch ihre Probleme, anstatt durch ihre Namen. Die Altenpflegerin spricht dann von »dem Dekubitus« oder von »der Thrombose auf Zimmer 321«.

Durch die Sprache verleugnet die Pflegende den mitmenschlichen Status der alten Menschen, um auf diese Weise die eigene emotionale Betroffenheit zu verringern.

Tabelle 4: Methoden zur distanzierten Anteilnahme

3.3 Passive Methoden zur Entspannung

Eine Reihe von unsystematischen Möglichkeiten zur Entspannung nach einem anstrengenden Dienstwochenende oder stressigem Schichtdienst praktizieren Altenpflegerinnen in der Regel mehr oder weniger, z. B. Musikhören, Lesen, ein warmes Bad, Träumen, mit dem Hund spazieren gehen. Darüber hinaus haben alle Aktivitäten, die zu Zufriedenheitserlebnissen führen, einen entspannenden Effekt, das kann z. B. ein Kompliment seitens des alten Menschen für ein aufmunterndes Lächeln oder eine Geste der Hilfsbereitschaft sein. In regelmäßigen Abständen sollten Altenpflegerinnen sich Ruhe und Entspannung durch individuelle FlowErlebnisse gönnen.

Flow-Erlebnisse

flow = (engl.) strömen, fließen aus sich selbst.

Flow-Erlebnisse sind nach Fengler (1996) Erfahrungen vollständigen Hingegebenseins. Es ist ein Ineinanderfließen von Handlung und Bewusstsein. Die Person ist sich der Handlung bewusst, nicht aber dieser Bewusstheit.

Im Alltag lassen Flow-Erfahrungen alles um uns herum vergessen. Später wird man überrascht feststellen, wie die Zeit verflogen ist. Durch ein intensives Hineingehen in eine Tätigkeit empfindet man oft eine gesunde Müdigkeit – im Gegensatz zur Erschöpfung nach frustrierender Pflegearbeit. Für Flow charakteristische Erscheinungen sind: Selbstvergessenheit ohne Verlust des Kontaktes mit der eigenen psychischen Realität, Handlungskontrolle ohne aktive Bewusstheit dieser Kontrolle und ohne Sorge um einen Mangel an Kontrolle.

Flow-Erlebnisse, die wenig Zeit beanspruchen, können für den Einzelnen, je nach individuellen Bedürfnissen sein:

Lieblingsmusik hören

Legen Sie sich auf das Sofa, schieben Sie sich Ihre Lieblings-CD in den Player; am besten langsame Stücke. Dabei kann man sich leichter konzentrieren. Nach zwei Liedern sind grüblerische Gedanken und miese Laune verflogen.

Fantasiereisen

Legen Sie sich flach auf den Boden. Träumen Sie sich nun an Ihren letzten Urlaubsort zurück. Hören Sie das Rauschen der Wellen, spüren Sie den angenehmen Wind, der über Ihren Körper streicht. Für ein solches »Kopfkino« sollten störende Lärm- oder Lichtquellen ausgeschaltet sein. Phantasiereisen aktivieren das Immunsystem und die Selbstheilungskräfte.

Stressbremse Magnesium

Wenn die Hektik in der Pflegearbeit überhandnimmt, braucht der Organismus vermehrt Magnesium. Der Mineralstoff ist reichlich in Bananen, Nüssen oder Kürbiskernen vorhanden. Auch Mineraltabletten können aus dem Stresstief heraushelfen.

Die Kutscherhaltung

Funktioniert überall, ob in der Pflegewohngruppe, im Dienstzimmer oder zu Hause! Setzen Sie sich auf die Kante eines Sessels oder Stuhls, die Unterarme liegen locker auf den Oberschenkeln. Kopf und Oberkörper neigen sich nach vorn. Konzentrieren Sie sich auf eine tiefe, langsame Atmung. Fünf bis zehn Minuten in der Kutscherhaltung – und Sie fühlen sich wieder besser!

Ärger miteinander teilen

Gerade in belastenden Situationen spielt das soziale Umfeld des Einzelnen eine wichtige Rolle. Das Gefühl verstanden zu werden und die Möglichkeit, das Problem auch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, können großen Rückhalt schenken.

Isometrische Übungen

Rollen Sie Ihre Zehen 10–15 Sekunden ein, so als wollten Sie einen Bleistift festhalten. Beim Ausatmen Zehen wieder lösen. Ähnlich entspannend: auf den Rücken legen, Beine anwinkeln, umfassen und an den Bauch ziehen.

Mentale Stressbremse

Stellen Sie sich ein riesiges Stopp -Schild vor, das Sie in Stress-Situationen aktivieren. Quälende Gedanken aus Ihrem Dienst können so einfach »ausgebremst« werden.

Blumen-Meditation

Blumen beseelen. Ihre Farben und ihr Duft beeinflussen die Sinne. Blumen-Meditation eignet sich ideal, um während eines Spaziergangs oder zu Hause abzuschalten. Setzen Sie sich auf eine Bank oder auf eine Wiese. Beobachten Sie, wie sich Blumen im Wind bewegen. Wie sind die Blätter geformt? Ist der Stängel glatt oder behaart? Lassen Sie dabei ihre Gedanken schweifen. Erinnerungen kommen auf. An jemanden, den Sie sehr mögen. Lächeln Sie, wenn Ihnen danach zumute ist. Atmen Sie tief ein und aus. Meistens fallen dabei die Augen automatisch zu und Sie merken, wie Sie tiefe, innere Ruhe und Kraft durchströmt. Für zu Hause eignet sich am besten eine einzelne Blüte. Stellen Sie die Vase an einen ruhigen Platz auf der Fensterbank, mit Himmel, Wolken oder Bäumen im Hintergrund.

Richten Sie den Blick zunächst genau auf die Blüte und schweifen Sie dann ab. Achten Sie auf gleichmäßiges Atmen. Lassen Sie Gedankenbilder kommen und gehen. Schon nach fünf Minuten Abschalten werden Sie sich wohler fühlen.

Rituale

Das kann eine Kerze sein, die zum Abendessen mit dem Partner angezündet wird oder eine Gutenachtgeschichte, die Sie den Kindern vorlesen. Solche gemeinsamen Momente schaffen ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl.

Wohlgerüche

Düfte können Brücken in die Vergangenheit sein. Sie rufen Erinnerungen hervor, die zu erholsamen Tagträumen verleiten. Duft nach Orangen und Zitronen belebt und steigert die Konzentration, Lavendelduft beruhigt.

Pflanzen-Power gegen Stress

Johanniskraut oder Melisse in Dragees oder Teeform, regelmäßig eingenommen bzw. getrunken sorgen für einen erholsamen Schlaf und beruhigen angeschlagene Nerven. Bestimmte Inhaltsstoffe und ätherische Öle der Pflanzen fördern die Produktion von Serotonin. Dieses körpereigene Hormon sorgt für innere Harmonie.

3.4 Entspannung durch künstlerischen Ausdruck

In der Begegnung mit kreativem Tun, mit Werken der Kunst, können Altenpflegerinnen zur inneren Ruhe und Klarheit finden; somit wieder Kräfte schöpfen. Theaterspielen, Arbeit mit Bildern und Texten, plastische Arbeiten mit Naturmaterialien (Collagen) können lehrreich und Balsam für die »mitgenommene Seele« sein.

3.4.1 Mandala malen

Mandala nennt man den Mittelpunkt oder auch magischen Kreis. Besonders das Mandala-Malen ist eine kreative Methode die Ihnen (große Formen auch den alten Menschen) viel Freude bereiten kann. Mandalas schaffen innere/s Ruhe und Gleichgewicht, sorgen für Spannungsausgleich und meditative Erfahrung.

Bei dieser Methode ist es schön, dass Sie jederzeit mit dem Malen aufhören, das Mandala liegen lassen und bei Bedarf dann wieder weiter gestalterisch tätig sein können.

In der Schaffung eines Mandalas bringen wir intuitive Inhalte zum Ausdruck, ohne diese Inhalte wesentlich durch unser Ego bzw. unseren Verstand zu beeinflussen. Deshalb enthüllt ein Mandala Persönlichkeitsanteile, die unserer Aufmerksamkeit normalerweise entgehen. Mandalas sind also »Botschaften der Seele«. Viele alte Kulturen betrachten den Kreis als Ausdruck der kosmischen Schöpfung, der Kreis steht als Symbol für die Einheit, den Kosmos.

Nordamerikanische Indianer sagen: Alle Kraft der Erde wirkt in Form von Kreisen. Der Wind wirbelt im Kreis, wenn er am stärksten ist. Sonnenauf- und untergang beschreiben eine Kreisbewegung. Die Jahreszeiten kehren in einem zyklischen Rhythmus zum Ursprung zurück. Selbst das Leben eines Menschen beschreibt einen Kreis von Kindheit bis zum Tod. In vielen alten Gebäuden und Palästen auf der ganzen Welt finden sich Mandalas, z. B. in gekachelten Fußböden, Deckenbemalungen, Fensterintarsien. In vielen Ländern tanzen Gläubige die Bodenmandalas während eines Gottesdienstes.

Kurzanleitung

Bevor Sie mit dem Ausmalen des Mandalas beginnen, nehmen Sie sich einen Moment Zeit, in eine innere Ruhe einzutreten.

Wählen Sie eine Farbe aus, ohne sich darüber große Gedanken zu machen. Achten Sie auf eine/n entspannte Haltung und ruhigen Atem. Wenn Sie mögen, lassen Sie leise entspannende Musik laufen oder füllen Sie den Raum mit einem angenehmen Duft.

Füllen Sie dann das Mandala mit Formen und Farben und arbeiten Sie so lange daran, bis Sie das Gefühl haben, für den Moment fertig zu sein.

Betrachten Sie Ihr Werk von allen Seiten, lassen Sie es auf sich wirken – und wenn Sie mögen, geben Sie dem Mandala einen Namen.

Stellen Sie sich vor, ganz klein zu werden, so klein, dass Sie in das Mandala eintreten können, als sei es ein Raum oder eine Landschaft. Nehmen Sie Gefühle und Gedanken dabei wahr. Viel Freude!

3.5 Aktive Methoden zur Entspannung

Altenpflegerinnen mit zunehmendem Stress reagieren gereizt auf Belastungen. Sie tun gut daran, Selbstentspannung in Form von Entspannungs- und Aktivierungsverfahren (mit psychohygienischer Wirkung) unter fachlicher Anleitung in Kursen zu erlernen und diese regelmäßig fortzuführen z. B.:

Autogenes Training

Progressive Muskelentspannung nach Jacobson

Atemübungen

Yoga

Wirbelsäulengymnastik, funktionelle Gymnastik

Stretching

Feldenkrais Gruppenarbeit

Wer dagegen unter emotionalem Stress eher mit Apathie und Schwäche reagiert, wird mehr Nutzen von aktivierenden Verfahren haben, z. B. mit Tanztherapie, Sportübungen, Karate.

Die aktiven Entspannungsübungen bewirken im Organismus eine Senkung des Erregungsniveaus, eine Erhöhung der Belastbarkeit sowie den Abbau von bereits manifesten psychosomatischen Beschwerden. Einige der Methoden lassen sich als Sofortmaßnahme in der akuten Stresssituation anwenden. Altenpflegerinnen sollten sich von ihren Empfindungen leiten lassen, wenn sie eine Technik ausprobieren und nicht aufgeben, wenn der erwartete Entspannungseffekt ausbleibt. Wenn die Motivation fehlt, etwas an einer festgefahrenen Situation zu ändern, wird derjenige keinen Erfolg beim Üben verspüren.

In Krisenzeiten dauert es immer länger, Entspannungstechniken neu zu erlernen. Entspannung allein löst auch nicht eine bestehende Burnout-Problematik. Altenpflegerinnen können dann die Entspannung als Flucht vor sich selbst oder Ablenkung missbrauchen. In diesem Fall lähmt diese Vorgehensweise die Initiative an der Burnout-Bearbeitung.

3.6 Hilfe durch Psychotherapie

Wer in einem Burn-out-Prozess bereits weit fortgeschritten ist, womöglich schon mit Psychopharmaka oder gesteigertem Alkoholkonsum seine Problembewältigung betreibt, braucht dringend Hilfe und zwar von pro-fessioneller Seite. Von daher erscheint in solchen Fällen eine Psychotherapie ratsam.

Da das Ausbrennen das Resultat einer sozialen und psychischen Wechselwirkung zwischen einer Person und ihrer Umwelt ist, erscheint auf der Seite des Betroffenen unter den möglichen Gegenmaßnahmen vor allem eine Änderung der Sichtweise sinnvoll. Dann lautet die Frage nicht mehr: »Was stimmt nicht mit mir?«, sondern: »Was kann ich tun, um die Situation zu verändern?«

Hierbei sollten Altenpflegerinnen von bestehenden realen Verhältnissen ausgehen, statt von einem idealisierten Veränderungswunsch der Arbeitsbedingungen und der Institution.

Viele Betroffene haben das Bedürfnis im geschützten Rahmen ihre Belastungen offen zu legen. Menschen tendieren nach belastenden Ereignissen häufig spontan dazu, schriftlich Zeugnis über das Erlebte abzulegen, in Form von Tagebuchaufzeichnungen, was ihnen bei der Belastungsreduktion hilft. Die psychologische Grundlagenforschung belegt dies (Pennebaker 1997).

3.7 Hilfe durch Supervision

Supervision beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden, z. B. der Anthropologie, der Lern-theorien, der Kommunikationstheorie, der Psychoanalyse und der Organisationstheorie.

Supervision

Supervision ist ein Interaktionsprozess, der durch Kommunikation der Einstellungen, Erwartungen und Handlungen der Altenpflegerinnen in einem Beratungsprozess zum Berufsfeld positiv wirkt.

Altenpflegerin Christine sagt zur neu eingestellten Mitarbeiterin: »Die zwischenmenschlichen Beziehungen in unserem Team sind von gegenseitiger Offenheit, Ehrlichkeit und Wertschätzung geprägt. Jeder hat hier seinen Platz im Team und wird gleichwertig akzeptiert. Wir versuchen auch mit Hilfe von Supervisionen unsere Arbeit immer wieder kritisch zu überprüfen, um den Bedürfnissen der alten Menschen und auch unseren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden.«

Handlungsaufgabe

Nennen Sie die positiven Bedingungen, die im Arbeitsteam von Altenpflegerin Christine vorherrschen.

3.7.1 Ziele der Supervision

In der Supervision erfahren überlastete Altenpflegerinnen einen sorgfältigen Umgang mit sich selbst und der eigenen Seele. Die Bearbeitung emotional belastender Situationen erbringt der Altenpflegerin Entlastung und mindert das Gefühl der Hilflosigkeit, besonders bei der Arbeit mit depressiven, verwirrten, aggressiven und sterbenden alten Menschen.

Supervision kann einen Reflexionsprozess in Gang setzen, welcher zu einer neuen Sicht des eigenen Berufshandelns führt, d. h. Supervision hat rehabilitative Wirkung. Sie kann gestresste, ausgebrannte Personen über eine neu gewonnene Distanz zur eigenen Person und zum Berufsfeld der Altenpflege befähigen, kompetent zu handeln und eine Neuorientierung einleiten. Supervision kann präventiv gegen Burnout eingesetzt werden.

3.7.2 Voraussetzungen für eine gelungene Supervision

Damit psychosoziale Probleme von Stressgeplagten oder von Burn-out-Syndrom gefährdeten Altenpflegerinnen sprachfähig gemacht werden können, sind mehrere regelmäßig stattfindende Supervisionssitzungen erforderlich. Dabei erarbeitet der Supervisor mit der einzelnen Altenpflegerin ein Bewältigungsprogramm. Durch einen Interaktionsprozess lernt sie mit Problemen besser umzugehen und diese zu lösen. Sie soll ihr Handeln verändern und z. B. zum psychisch Alterskranken Distanz herstellen können.

Themenbereiche, die bei der Supervision angesprochen werden:

Konflikte im Team und mit Führungspersonen

Die Reflexion des pflegebedürftigen verwirrten Menschen-Altenpflegerin-Beziehung

Umgang mit Altersdepression, Aggressivität, Sterben und Tod. Umgang mit Ängsten bei Altenpflegerinnen und beim alten Menschen.

Eine befriedigende Gestaltung von Nähe und Distanz.

Kennenlernen der durch die berufliche Sozialisation erworbenen Muster der Selbst- und Fremdwahrnehmung, z. B. die in der Altenpflege zu findenden Tendenzen zur Entmenschlichung ihrer alten Menschen (z. B. »die Hemiplegie« auf Zimmer Nr. 322, »der Apalliker« im Wohnbereich B).

Verbesserung der beruflichen Kompetenz der Pflegenden – vor allem im psychosozialen Bereich. Es werden die Anteile in der Persönlichkeit bearbeitet, welche sich auf die Beziehung alter Menschen auswirken. Hierdurch kann z. B. eine Erweiterung des Handlungsspielraumes auch in scheinbar unlösbaren Konflikten oder Beziehungen erfolgen.

3.8 Zusammenfassung

Zeitnot ist bekanntlich ein wichtiger Auslöser von Disstress im Pflegeberuf. Der chronische Personalmangel führt zu hohen Anforderungen an jede einzelne Altenpflegerin. Andererseits wird auch nicht immer zeitgemäß und zeitbewusst gearbeitet. Gespräche im Pflegeteam können dazu beitragen, die zeitliche Organisation des Pflegealltags zu verbessern.

Wichtig ist, sich nach Rückschlägen im Pflegeberuf z. B. durch Personalknappheit, Sparmaßnahmen an Fortund Weiterbildungen, Schwierigkeiten im Umgang mit psychisch Alterskranken nicht zu isolieren und nicht in Selbstmitleid zu versinken. Die Altenpflegerin sollte selbstbewusst den beruflichen Herausforderungen ins Auge sehen. Das berufliche Leben wird sich nicht von selbst ändern; Altenpflegerinnen können es nur ändern, indem sie sich selbst ändern. Befindet sich eine Altenpflegerin schon länger in einer unbefriedigenden Situation, dann hat sie möglicherweise einen falschen Weg eingeschlagen. Das Berufsleben wird die Altenpflegerin so lange gegen verschlossene Türen laufen lassen, bis sie merkt, wo ihre Richtung ist. Dann sollte der richtige Weg auch gesucht werden. Altenpflegerinnen dürfen nicht resignieren und sich mit rudimentären Rahmenbedingungen der Pflege abfinden.

Die seelische Verfassung übt einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Äußere aus. Außer organischen Leiden rufen ständige Unzufriedenheit, Depressionen oder andere unschöne Veränderungen hervor. Altenpflegerinnen in der Altenarbeit dürfen nicht zulassen, dass sich Sorgenfalten ins Gesicht graben. Sie sollten die Mundwinkel öfters mal zu einem Lachen heben und bei momentanen Schwierigkeiten, die sich auch in den Weg stellen, den Altenpflegeberuf mit allem, was noch passiert oder sich zum Positiven verändert, bejahen. In Zukunft wird es eine Herausforderung für Altenpflegerinnen in der (gerontopsychiatrischen) Pflege sein, fachgerechtes pflegerisches Handeln interdisziplinär unter Beweis zu stellen. Allen Beteiligten in der gerontopsychiatrischen Pflege gilt besonders der Satz: Gerontopsychiatrisches Denken – sollte ein gesellschaftliches Denken sein – Individualität und Gelassenheit pflegen!

Definieren Sie »gerontopsychiatrische Pflege«.

Nennen Sie Ihre eigenen Haltungen und Einstellungen im Arbeitsfeld der gerontopsychiatrischen Pflege, um psychisch Alterskranke respekt- und würdevoll pflegen zu können.

Welche Fragen stellen Sie sich, wenn Sie Selbstwahrnehmung und Suchhaltung bei sich selbst einüben wollen?

Beschreiben Sie Schlüsselqualifikationen und Fähigkeiten, die sich während der Ausbildung entwickeln sollten, um damit in der späteren Pflegepraxis gerontopsychiatrisch veränderte Menschen optimal pflegen zu können.

Nennen Sie zwei Empathieformen und erläutern Sie diese.

Beschreiben Sie Faktoren, welche zur interaktiven Kompetenz zählen.

Aus welchen Gründen sind Altenpflegerinnen besonders vom Burn-out-Syndrom betroffen?

Erläutern Sie, warum eine gute Selbstpflege für Sie als Altenpflegerin unerlässlich ist.

Definieren Sie »Stress«.

Wir kennen die Stressformen »Disstress« und »Eustress«. Benennen Sie physische und psychische Reaktionen, die die Stressformen bei Ihnen jeweils auslösen.

Nennen Sie Verhaltensweisen, die durch Wechselwirkungsprozesse beim Pflegen unter Disstress, zum einen bei Altenpflegerinnen, zum anderen bei psychisch Alterskranken, auftreten.

Definieren Sie distanzierte Anteilnahme nach Lief et al. 1963.

Nach Pines et al. ist eine ideale Ausgewogenheit von distanzierter Anteilnahme auf drei verschiedenen Wegen zu erreichen. Beschreiben Sie die drei Möglichkeiten kurz. Welche Gefahren können sich daraus für die Pflegequalität des Gepflegten und für Altenpflegerinnen selbst ergeben?

Geben Sie vier Beispiele für Flow-Erlebnisse, die wenig Zeit zur Umsetzung benötigen.

Definieren Sie »Supervision«.

Erläutern Sie, was Supervision für Altenpflegerinnen leisten kann.

4 GESUNDES PSYCHISCHES ALTERN – KRANKHAFTES PSYCHISCHES ALTERN

4.1 Gesundes Altern

Leben heißt auch zu altern. Das Lebensalter, nicht nur das chronologische Altern ist gemeint, auch das biologische Altern, das bereits ab dem dritten Lebensjahrzehnt beginnt (Behl 2004). Geist und Körper beginnen prozesshaft bis zum Tod zu altern. Es werden mehr negative Eigenschaften des Alterns verspürt und wahrgenommen, als die positiven Eigenschaften. Zu den negativen geistigen Eigenschaften gehören beispielsweise das Vergessen und eine erhöhte Ängstlichkeit, starres Festhalten an Gewohnheiten, Altbewährtem, Ritualen und Symbolen. Zu den körperlichen negativen Eigenschaften zählen die Zellalterung, die sich in schlaffen Bindegeweben, dünner werdendem Haar, Hautfalten, schlechtem Sehen und Hören und poröser werdender Knochensubstanz bemerkbar machen.

Unsere Kultur, welche die Lebenszeit verlängert hat, hat bisher noch keine Antworten auf Fragen gefunden, wie Menschen (im Alter) psychisch gesund bleiben, und wenn sie z. B. demenziell erkranken, wie sie würdevoll versorgt werden können.

4.2 Das gesellschaftliche Altersbild

Ein Faktor, der das Bild vom alternden Menschen negativ beeinflusst, ist das vorherrschende Altersbild, welches von der Kultur einer Gesellschaft mitbestimmt wird. In der europäischen Kultur wird Altern vorwiegend mit physischer und psychischer Gebrechlichkeit assoziiert. Positive Eigenschaften von alt gewordenen Menschen werden von daher allzu leicht in den Hintergrund gedrängt: Weisheit, Lebenserfahrung, Gelassenheit und Besonnenheit.

Ausreichende positive Vorbilder von alten Menschen in unserer Gesellschaft fehlen. Diese könnten entscheidende positive Impulse für die ältere Generation setzen. Die ältere Generation stand früher noch auf einem guten Fundament der Familienzusammengehörigkeit. Dieses ist heute infolge Singularisierung abhanden gekommen. Der Mensch bezieht sich heute zu sehr auf das Äußere, wie z. B. Leistungsfähigkeit, Fitness, Produktivität und körperliche Makellosigkeit (Anti Aging).

Menschen die ein Leben lang auf Leistung getrimmt worden sind, haben Angst davor, im Alter ihren Verstand oder die Kontrolle über sich zu verlieren. Sie haben Angst davor, auf andere Menschen angewiesen und von ihnen abhängig zu sein.

Ein Altersbild, welches nur von einem kognitivistischen Menschenbild ausgeht, die Schwächen und Defizite eines alternden Menschen fokussiert, verwehrt einem Betroffenen die Möglichkeit der sozialen Teilhabe. Sinn-erfüllende Aktivitäten und soziale Teilhabe sind wesentlich für ein gesundes psychisches Altern. Projekte zwischen Alt und Jung fehlen oder werden erst zögerlich angegangen.

Altern ist somit durch hohe Verletzlichkeit wie mangelnde Respektierung verbleibender Fähigkeiten gekennzeichnet. Eine Fokussierung der Gesellschaft auf das Kognitive sowie eine verminderte Kommunikation alter Menschen in der Öffentlichkeit tragen gleichermaßen zur Vulnerabilität bei. So ist die Häufigkeit von Depressionen bei betagten Menschen trotz dieser Verletzlichkeit und dem immer häufigeren Erleben von existenziellen Grenzsituationen nicht höher als bei Jüngeren. Dies liegt auch daran, weil der Mensch gerade an und in Grenzsituationen wächst und sich bis zu seinem Tod weiterentwickelt.

4.3 Altersbedingte Veränderungen der Gehirnfunktionen

Während des ganzen Lebens nimmt die Zahl der Nervenzellen im Gehirn ab. Diese physiologische Abnahme erklärt jedoch nicht den Abbau der intellektuellen Leistungsfähigkeit, die bereits bei 50-Jährigen abnimmt, wenn ihnen eine ausreichende geistige Anregung fehlt. Andererseits kann die geistige Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter erhalten bleiben, wenn keine krankhaften Veränderungen auftreten.

Im Allgemeinen gehen bei alten Menschen Konzentrationsfähigkeit, Schreibgeschwindigkeit und Leistung des Kurzzeitgedächtnisses zurück. Dieser Leistungsschwund im Alter wird vor allem durch folgende feingewebliche Veränderungen verursacht:

eine Abnahme von Ganglienzellen,

die Einlagerung des Lipofuszins,

eine Verschmälerung der Hirnwindungen,

die Abnahme der Transmitterausschüttung.

Kognitive Funktionen

Kognition ist ein Sammelbegriff für Wahrnehmung, Denken, Erkennen und Erinnern.

Funktionell sind kognitive Fähigkeiten eng mit kortikalen Strukturen verbunden. Menschen mit hoher Intelligenz weisen ausreichendes Volumen in der grauen Hirnsubstanz, von daher eine enge neuronale Vernetzung auf. Im Gegensatz zum jungen Menschen finden sich bei einem alternden Menschen Unterschiede in Bezug auf die kristalline und fluide Intelligenz.

Es werden zwei verschiedene kognitive Funktionen unterschieden:

1. Kristallisierte Funktionen beinhalten bildungs- und übungsabhängige Leistungen, wie z. B. Wortverständnis und Sprachflüssigkeit. Diese Leistungen nehmen mit biologischem Alter nicht ab, sondern sind sogar durch Gedächtnistraining (vgl. Seite 363) und mentale Aktivität steigerbar.

2. Flüssige (fluide) Funktionen beinhalten die inhaltsübergreifenden, abstrakten Grundfunktionen, wie z. B. Entscheidungsfähigkeit, Gedächtnisbildung, schnelle Orientierung in fremder Umgebung, rasche Informationsverarbeitung. Diese Funktionen nehmen im Alter in ihrer Geschwindigkeit ab. Alte Menschen beklagen dann vor allem die nachlassende Gedächtnisbildung, d. h. das längerfristige Behalten von Informationen, weniger das Sekundengedächtnis.

Ab dem ca. 75. Lebensjahr nimmt die fluide Intelligenz ab. Für neuen Lernstoff braucht der Mensch mehr Zeit. Er kann sich nicht mehr so schnell auf neue und unbekannte Anforderungen einstellen. In fremder Umgebung ist er verstärkt auf Orientierungshilfen angewiesen. Er ermüdet leichter und benötigt mehr Pausen. Das Kurzzeitgedächtnis ist besonders in Disstresssituationen störanfällig. Von daher nimmt die Erinnerungsfähigkeit ab und der Abruf erfolgt mehr aus dem episodischen Gedächtnis. Bei Problemlösungen greift der Mensch in der vierten Lebensphase auf Altbewährtes zurück. Auf der anderen Seite erhöht sich die kristalline Intelligenz. Diese umfasst lebenslang erlerntes kultur- und erfahrungsbezogenes Wissen, Inhaltsreichtum, Urteilsvermögen, ein bestimmtes Maß an Weisheit und ein erhöhtes Sprachverständnis.

Gesundes psychisches Altern ergibt sich auch daraus, wie der Einzelne Belastungen im Verlauf seines Lebens bewertet und welche Erfahrungen er im Laufe seines Lebens machen konnte. Menschen, die frühkindlich emotionale Zuwendung und Hautkontakt erfahren konnten, sind im späteren Leben psychisch stabiler. Sie fühlen sich im Alter getragener, haben mehr Vertrauen zu sich selbst, sie fühlen sich geborgener und können mit neuen Situationen adäquater umgehen.

Des Weiteren stellt sich die Frage, aus welchem Grund Menschen an Krisen zerbrechen und andere Menschen wiederum psychisch gesund bleiben. Eine Antwort darauf ist das Vorhandensein von Resilienz. Darunter wird die elastische psychische Widerstandsfähigkeit verstanden, eine globale Orientierung die ausdrückt, in welchem Ausmaß eine Person ein psychophysisches Gefühl des Vertrauens in sich hat.

Das Präventionsgesetz (PrävG)

(Geronto)psychiatrische Erkrankungen stellen für das Gesundheitssystem aufgrund der steigenden Lebenserwartung, Multimorbidität, Arbeitsverdichtung und -flexibilisierung, gesellschaftlichen Unsicherheit und gleichzeitig immer kürzeren Regenerationsphasen im Alltag, eine der größten Herausforderungen dar.

Ziel des Gesetzes: Mit dem Präventionsgesetz (PrävG) wurde in Deutschland im Jahr 2015 ein wichtiger Grundstein gelegt, um auch die Gesundheitsförderung und Prävention (geronto)-psychiatrischer Erkrankungen für verschiedene Altersgruppen und Lebensbereiche zu stärken.

4.4 Entwicklung psychischer Erkrankungen im Alter

Im Alter können sich seelische, somatische und soziale Entwicklungen verflechten. Erinnerungen aus unverarbeiteten Daseinsthemen können in Lebenskrisen, wie z. B. bei chronischen Erkrankungen, Verlust des Partners, Berentung, beginnender Pflegebedürftigkeit, Heimeinzug, oder Einweisung in das Krankenhaus aufbrechen. Die Wurzeln vieler psychischer Störungen sind u. a. emotionale Verletzungen, die im biografischen Verlauf entstehen können.

Diese beinhalten in der Regel drei große Themenbereiche:

1.Liebe, Partnerschaft, Ehe, Eltern

2.Beruf, Tätigkeit, Entlohnung

3.Sinnfragen, Moral, Ethik und Scheidung

Aus diesen drei Themenbereichen resultieren Emotionen und Empfindungen, wie z. B. Verzweiflung, Scham, Einsamkeit oder Wut, die in das Bewusstsein drängen und Angst hervorrufen. Die Angst ist ein Signal an das beschützende Unterbewusstsein, schnell etwas zu unternehmen, um diese Emotionen zurückzudrängen. In diesen Momenten schaltet sich der kreative Teil der Psyche ein und ruft bestimmte Verhaltensweisen hervor. Das Bewusstsein lernt bereits im frühen Alter, um die verwundete Identität zu schützen. Verhaltensweisen, die ausgewählt werden, sind nicht konditionierte Reflexe, die nicht nur auf dem Modell des biologischen Defizits basieren, sondern sind individuelle bewusste Entscheidungen, die aus biografischen Daseinsthemen resultieren (Höwler 2011).

Der alternde Mensch kann mit seinen Gedanken zu sehr in seinem individuellen Daseinsthema verstrickt sein, welches ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. In solchen Verfassungen ist er gegenüber den äußeren Anforderungen seines Alltags nicht mehr aufmerksam. Er ist auf sich selbst bezogen, zieht sich sozial immer mehr zurück und fühlt sich mit der Zeit überfordert. Kompensationsmechanismen in diesen Situationen können dann folgende Verhaltensweisen sein: übermäßig zu essen, zu hungern oder Alkohol zu trinken, verstärkt Beruhigungsmittel einzunehmen, Zwangshandlungen zu vollziehen (z. B. ständig die Umgebung zu kontrollieren), halluzinieren (z. B. in Traumbilder oder Wunschdenken zu versinken) oder verstärkte Aggressionen gegen andere oder sich selbst gegenüber (Fremd- oder Selbstverletzung).

Diese Verhaltensweisen sind erforderlich, um eine belastende Situation psychisch zu verarbeiten. Zum Erhalt der psychischen Stabilität ist es notwendig, dass die psychische Belastung im Leben und vor allem der psychische Druck im Alltag stetig wieder abnimmt. Hält dagegen ein psychischer Druck über längere Zeit an, so kann sich dieser, je nach Prädisposition und Resilienz, zu einer psychischen Störung manifestieren.

Daraus folgt, dass jeder Mensch im Grunde genommen in der Lage ist, depressiv, von einer Substanz abhängig oder psychotisch auf belastende Lebenssituationen zu reagieren.

Das Gemeinsame psychischer Störungen ist der Versuch des Geistes, diese nicht aushaltbaren Emotionen aufzulösen. Diese Symptomenbildung, wie z. B. das Depressivwerden oder das Psychotischwerden, ist als ein Problemlösungsversuch anzusehen, jedoch kein erfolgreicher. Die Verhaltensweisen haben dann eine Schutzfunktion und machen erst eine psychische Entlastung möglich. Bei psychisch Alterskranken verselbstständigen sich diese Verhaltensweisen. Beim alten Menschen besteht in der Regel eine Unschärfe der psychischen Erkrankung. Aufgrund von Multimorbidität vermischen sich psychische und somatische Symptome, z. B. können bei Apoplexie oder Amputationen Reaktionen infolge Körperbildstörungen und depressive Symptome gleichzeitig auftreten.

Durch die somatische Erkrankung beeinträchtigte Psyche wird alles daransetzen, sich von dem Gefühl der Verletzung und Verzweiflung zu befreien: Der Betroffene erzeugt heftige Reaktionen, die diesem Zweck zu dienen scheinen. Die Handlungen führen in der Regel dazu, das Selbst (Ich-Identität) zu durchdringen, sie beginnen, es zu zerstören oder aufzulösen. Scham verwandelt sich in Zorn, der sich gegen andere richtet oder selbstzerstörerisch wirken kann. Da die Ich-Identität letztlich von der Bestätigung und Liebe anderer Menschen abhängig ist, lässt die Verletzung den Betroffenen mit einem Gefühl der Verzweiflung zurück, welche die Identität wie ein emotionaler Krebs zu zerstören beginnt. Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Alter zählen demenzielle Veränderungen und depressive Syndrome. Von pflegenden Angehörigen und vom Erkrankten selbst werden die Symptome leicht übersehen und einem normalen Alterungsprozess zugeschrieben.

Tabelle 5: Gesundes psychisches Altern bzw. krankhaftes psychisches Altern

Gesundes psychisches Altern Krankhaftes psychisches Altern
Gelegentliches Vergessen, Verlegen unwichtiger Kleinigkeiten (z. B. Schlüssel) Häufiges Vergessen, Verlegen persönlicher Alltagsgegenstände (z. B. Geldbörse, Brille, Pass)
Teilweises Vergessen von Erlebnissen der Gegenwart, später wieder Erinnerung Komplettes Vergessen von Erlebnissen der Gegenwart, später selten Erinnerung

Zwischen beiden Anteilen befindet sich eine Grauzone. Es ist sehr schwierig, die Grenze zu geistigen Einbußen zu ziehen, die zu Beginn einer psychischen Erkrankung auftreten. Einen alten Menschen vorschnell als psychisch krank abzustempeln wäre ebenso verkehrt, wie eine behandlungsfähige Störung als »Alterserscheinung« zu übergehen.

Viele alte Menschen sind von psychischen Krankheiten betroffen. Von pflegenden Angehörigen und vom Erkrankten selbst werden diese leicht übersehen. Zu den häufigsten Erkrankungen bei geriatrischen Patienten zählen die demenziellen (ca. 50%) und die depressiven Syndrome (ca. 25%). Auch reaktive Störungen wie z. B. psychosomatische Krankheitsbilder, Ängste und Neurosen zählen dazu.

4.5 Demenzielle Veränderungen

Neuronale Veränderungen, wie z. B. Gedächtnisprobleme, finden sich sowohl bei altersbedingten Prozessen als auch bei demenziellen Veränderungen. Selbst ein plötzlich einsetzender Gedächtnisverlust muss kein Anzeichen für eine beginnende chronische Verwirrtheit sein. Eine Depression im Alter zeigt oft ähnliche Symptome wie eine beginnende Demenz. Für normale Alterungsprozesse im Gehirn sind eine Reihe von Faktoren verantwortlich, z. B. Veränderungen im Neurotransmitterstoffwechsel, die Verminderung der Rezeptorbindungskapazität sowie Veränderungen in der Biosynthese von Glyzerinphosphatiden und anderer Lipide.

Weil der Einzelne im Leben zu wenig auf geistige Prävention geachtet hat, wie z. B. Stressreduzierung im privaten oder beruflichen Bereich, ausreichende Konfliktbewältigung, gesunde Ernährung, normalen Blutdruck, Nikotinabstinenz, mäßigen Alkoholkonsum, geistige Anregung auch im Ruhestand, kann bei ihm leicht eine demenzielle Veränderung auftreten.

Wichtig wäre, eine frühzeitig pathologische kognitive Beeinträchtigung zu erkennen. Von daher besteht in den vergangenen Jahren in Alternsforschung und klinischer Praxis ein immer größeres Interesse an Methoden zur Deskription des Übergangsbereichs zwischen normalem Altern und einer neurodegenerativen Erkrankung.

Eine Beeinträchtigung, die zwischen dem als normal geltenden Leistungsprofil Älterer und der Schwelle einer Demenz anzusiedeln ist, ist die gutartige Altersvergesslichkeit (benign senescent forget fulness). Das Konzept beschreibt eine Vergesslichkeit, die nur wenige relevante Informationen und Erfahrungen betrifft. Diese Form bleibt über die Zeit hinweg relativ stabil. Der Betroffene ist sich seines Defizits bewusst. Eine Abgrenzung gegenüber normalem Altern ist laut Studienlage dennoch problematisch (Collie et al. 2000).

Ein weiteres bedeutsames Konstrukt ist die Mild Cognitive Impairment (MCI). Die MCI bezeichnet ein Störungsbild, bei dem die Betroffenen über subjektiv wahrgenommene Gedächtnisdefizite klagen. Diese leichte kognitive Beeinträchtigung will die Lücke zwischen normalem Altern und Demenzen füllen (Petersen et al. 1999, Petersen 2004). Defizite werden in der Praxis vorwiegend von Bezugspersonen berichtet. Im Vergleich zu Personen gleichen Alters und demselben Bildungsniveau liegen laut Studienlage auch objektive Gedächtnisdefizite vor (Petersen et al. 1999). Durch die MCI soll die Charakterisierung einer Hochrisikogruppe für die Genese einer Demenzerkrankung ermöglicht werden (Steffens et al. 2006).

Gedächtnisdefizite können darüber hinaus auch das Ergebnis vieler anderer Erkrankungen sein, z. B. metabolische Störungen, Ischämien, Depressionen.

4.6 Depressive Veränderungen

Der älter werdende Mensch sieht sich in unserer Gesellschaft zwangsweise einer Reihe von Veränderungen und Verlusten ausgesetzt, die im sozialen Vergleichsprozess überwiegend negativ bewertet werden. Diese Veränderungen sind überwiegend kognitiver, sozialer, aber auch physiologischer Natur und zum größten Teil von dem Individuum nicht kontrollierbar. In jedem Entwicklungsabschnitt muss ein Mensch mit Veränderungen fertig werden.

In der Lebensphase ab dem 65. Lebensjahr treten jedoch zu bewältigende, kritisch negative Lebensereignisse gehäufter auf. Es gilt dabei vor allem mit Beschränkungen und Verlusten fertig zu werden. Der Einzelne hat wahrscheinlich die meiste Zeit seines Lebens gelernt, Körper und Geist dazu zu benutzen, schmerzliche Emotionen zu vermeiden und zu unterdrücken. Depressives Erleben tritt mit großer Wahrscheinlichkeit unter diesen Bedingungen dann auf, wenn die ältere Person an alten Zielvorstellungen, die nun nicht länger realisierbar sind, festhält, das persönliche Anspruchsniveau weiterhin hoch ist bzw. sich den veränderten Gegebenheiten nicht entsprechend anpasst. Es fehlt zur Bewältigung der neuen Situation an Fertigkeiten (Skills), instrumentellen Verhaltensweisen, Problemlösestrategien und an sozialer Unterstützung. Dadurch wird die veränderte Umwelt noch weniger kontrolliert erlebt.

Durch den Prozess des Älterwerdens gehen eine ganze Reihe positiver Verstärker verloren, besonders dann, wenn früher nur eine Verstärkungsquelle dominierte (z. B. Berufstätigkeit), die nun nicht länger erreichbar ist. Der somit eingeschränkte Lebensradius wird zu einer gleichförmigen Stimulussituation, was zu einer Sättigung der verbliebenen Verstärker beiträgt und eine weitere Erhöhung der aversiven Lebenslage bedingt. Liegen zudem in der früheren Biografie wiederholte Erfahrungen der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, dann trägt diese Einstellung, verbunden mit internaler, stabiler und unveränderbarer Ursachenzuschreibung der negativen Erfahrungen und Misserfolge, zur Verschlimmerung der eingetretenen Lage bei. Die depressive Kognition tritt demnach dann auf, wenn massive bzw. als massiv erlebte, unkontrollierbare bzw. als unkontrollierbar angenommene Bedingungen vorherrschen. Der ältere Mensch nimmt dieses subjektiv wahr, kennt kein Verhalten zur Bewältigung und Veränderung und schätzt sich selbst als minderwertig ein. Eine depressive Entwicklung wird behandlungsbedürftig, wenn der Betroffene seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann (Höwler 2012).

4.7 Von sensorischer Deprivation zur Verwirrtheit

Bei der Deprivation handelt es sich um eine Pflegediagnose. Die Einteilung des Reizmangels (= Deprivation) und seiner möglichen Ursachen zeigt Tabelle 6.

Deprivation (Beraubung)

Einem Menschen werden Sinnesreize, d. h. ein bedürfnisbefriedigendes Umfeld, entzogen. Daraus kann sich innerhalb kürzester Zeit eine psychische Störung entwickeln.

Tabelle 6: Einteilung des Reizmangels und mögliche Ursachen

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Der Entzug von Sinnesreizen kann schon nach wenigen Tagen zu schweren Störungen führen. Alte Menschen, die von Deprivation betroffen sind, haben das erhöhte Verlangen nach Sinnesreizen und Körperbewegungen. Besonders die sensorische Deprivation führt zur Herabsetzung des Wachheitsgrades = Vigilanz. Diese sog. »aufgezwungenen Bewusstseinszustände« kommen besonders in der stationären Altenpflege vor und können auch durch pharmakologische Substanzen, wie z. B. Digitalis, Kortikosteroide und Dopamin verursacht werden.

4.8 Deprivation durch Schwerhörigkeit im Alter

Schwerhörigkeit beim alten Menschen kann dazu führen, dass die Kommunikation mit der Umwelt eingeschränkt wird. Viele Worte, die falsch verstanden werden, führen zu Missverständnissen. Kommunikationspartner sind häufig gereizt, weil sie Worte wiederholen müssen. Das spürt der alte Mensch und schämt sich seiner Beeinträchtigung. Durch die falsche akustische Wahrnehmung und der herabgesetzten Anpassung wird der alte Mensch misstrauisch, aggressiv, ängstlich und neigt zu depressiven Verstimmungen. Er isoliert sich zunehmend, resigniert und wird inaktiv. Das hat zur Folge, dass er nicht mehr liest oder sich nicht mehr für das Fernsehprogramm interessiert. Wegen der mangelhaften mentalen Anregung kommt es neben dem Rückgang der sozialen Kontakte zum kognitiven Abbau. Nicht nur in der Wohngruppe im Seniorenpflegeheim, sondern auch im häuslichen Bereich wird der alte Mensch von seiner Umwelt gemieden, weil er vergesslicher ist, sich für nichts mehr interessiert oder nur noch von der Vergangenheit spricht. Die soziale Deprivation nimmt ihren Lauf.

Die Schwerhörigkeit hat auf den ganzen alten Menschen übergegriffen; dieser wird zunehmend im Denken, Fühlen und Sozialverhalten behindert. Je länger die Deprivation anhält, umso mehr kommt es aufgrund des Reizsucheverhaltens zu einer Selbststimulation des Gehirns. Altenpflegerinnen/Angehörige haben dann einen verwirrten alten Menschen mit Wahnvorstellungen, Angst, nestelnden oder schaukelnden Bewegungen, der ständig dieselben Phrasen ruft (Echolalie), vor sich. Eine vollständige Integration des Schwerhörigen in die Gesellschaft der Normalhörenden wird dennoch kaum gelingen. Der Gehörlose bleibt in die Schicksalsgemeinschaft der Gehörlosen eingegliedert.

Am Beispiel von Beethovens Ertaubung wurde versucht vier Stadien nachzuweisen, die beim Verlust des Gehörs durchlaufen werden (Peyser, zitiert nach Sopko, 1990):

1.Stadium der Verheimlichung

2.Stadium der Verstimmung

3.Stadium des Misstrauens

4.Stadium der Resignation

Beethoven gelang es, den schweren Schicksalsschlag, als Musiker gehörlos zu sein, mit Energie zu überwinden und er schuf sogar weitere Kompositionen. Weniger dokumentiert ist das Ausmaß an Vereinsamung, Verbit-terung und Depressivität bei der Großzahl »gewöhnlicher« Schwerhöriger im Alter.

4.9 Deprivierende Faktoren in Gesundheitseinrichtungen

Zu deprivierenden Faktoren in institutionellen Gesundheitseinrichtungen gehören:

Architektonische Umgebungsfaktoren (z. B. lange Flure, fehlende Orientierungshilfen, einheitliche Farben

Unangemessene Lichtverhältnisse (z. B. fehlplatzierte Lampen, mangelndes Tageslicht)

Hallende Akustik (z. B. Stör-, Signal- und Nebengeräusche, fehlende vertraute Geräusche für die Bewohner)

Ungewohnte Gerüche (z. B. alle Gerüche sind im Patientenzimmer vereint, erhöhte Aggressionspotenziale durch Urin- und Fäkalgeruch)

Gleichbleibende Temperaturen (z. B. in der Nacht und am Tag, zu jeder Jahreszeit, Zugluft wird vom alten Menschen sofort als unangenehm empfunden!)

Wenig Raum und Möglichkeiten, persönliche Gegenstände und Möbel aufzustellen

Alte Menschen verbleiben in ihren Betten ohne Anregung ihrer Sinne

Inkontinente Personen werden aus arbeitsökonomischen Gründen mit Inkontinenzhilfsmitteln versorgt

Keine Strukturierung durch Tageskleidung (z. B. das Nachthemd wird zum Taghemd)

Pflegerische Maßnahmen erfolgen ohne gezielte taktile oder andere Stimulis

Einsatz von Superweichlagerungen als Dauermaßnahme (Entzug von Wahrnehmungsqualität, Gleichgewicht und räumlicher Orientierung)

Eine erschwerte Kommunikation bleibt reduziert. Bettlägerige im Seniorenpflegeheim sind besonders von deprivationsfördernden Faktoren betroffen. Sie liegen flach im Bett; in ihrem Blickfeld befindet sich nur die weiße Zimmerdecke. Die Orientierungsmöglichkeiten sind auf ein Minimum reduziert. Wenn der alte Mensch sich eigenständig bewegen kann, kann es passieren, dass er anfängt an der Bettdecke zu nesteln, manchmal auch den Bettbezug abzieht. Er klopft auf die Bettunterlage oder führt stereotype Bewegungen aus, um sich noch zu spüren. Kann er Bewegungen wegen Schmerzen, Immobilität oder Schwäche nicht mehr eigenständig ausführen, stimuliert sich der Körper selbst. Die peripheren Nerven senden dem Gehirn diffuse Impulse. Das Gehirn versucht daraufhin die Autostimulation sinnvoll zu verarbeiten. Jetzt passiert es, dass der alte Mensch Gegenstände visuell wahrnimmt, die nicht existent sind, z. B. kleine Tiere, der Mann in der Ecke etc.

Der alte Mensch mit Deprivation kann nicht mehr zwischen einem »echten« äußeren Reiz oder autostimulativem Reiz unterscheiden. Die Altenpflegerin nimmt den alten Menschen mit dieser Interpretation als verwirrt wahr. Schließlich wird durch die Isolierung von auffällig gewordenen alten Menschen die Deprivation gefördert.

Eine weitere Folge der Deprivation können Hospitalismusschäden sein. Dabei handelt es sich um schwere körperliche und geistige Störungen, die durch lange Aufenthalte in Institutionen mit deprivationsfördernden Faktoren hervorgerufen werden. Der Betroffene weist Rückzugstendenzen, Apathie, körperliche Entwicklungsstörungen und Deformationen, bizarre Verrenkungen und stereotype Schaukelbewegungen auf. Nach Jahrzehnten lässt sich oft nicht mehr unterscheiden, welche Behinderungen biologisch und welche sozial erworben sind. Die sozialen und psychischen Schäden sind in der Regel nicht mehr revidierbar.

4.10 Apathie

Apathie als neuropsychiatrisches Symptom wird von Außenstehenden eher toleriert, da ein apathischer Patient seiner sozialen Umwelt mit seinem inaktiven Verhalten nicht störend auffällt. Beim Betroffenen besteht schnell die Gefahr für ein nicht erkanntes Delir und die Entgleisung in eine chronische Verwirrtheit.

Auslöser

nach psychischem Schock,

nach Unfallschock,

bei demenziell veränderten Menschen im fortgeschrittenem Stadium.

Wahrnehmbare, beobachtbare Symptome

geringe Bewegungsaktivität

über längere Zeit geschlossene Augen

Mutismus

erhöhtes Schlafbedürfnis

geringes Selbstwertgefühl

4.10.1 Biografiebezogene Ursachen

Apathie ist besonders bei demenziell veränderten Menschen zu beobachten. Sie zeigt sich in einem allmählichen Rückzug von der Außen- in die Innenwelt mit zunehmender Distanz zur Umwelt. Vereinsamung und Isolierung, bei mühsam aufrecht zu erhaltender Ich-Stabilität ist eine Form von Regression. Das kann so weit gehen, dass akute Verwirrtheitszustände auftreten. Apathie kann auch eintreten, wenn ältere Menschen einen oder mehrere Verluste erlitten haben, so z. B. den Tod des Ehepartners oder die »Verlegung« in ein Seniorenpflegeheim.

Es tritt allmählich eine psychische Erstarrung und Erschöpfung bis hin zum völligen Rückzug nach innen ein. Die Grundproblematik ist also Verlusterleben. Apathie zeigt sich vor allem bei jenen Menschen, die ihr Leben lang ihre Verluste, ihre Abschiedssituationen weitgehend verdrängt haben. So wird es im zunehmenden Alter immer schwieriger, sich den psychischen Problemen zu stellen. Triebkonflikte, die bis in die frühe Kindheit zurückgehen, wurden beiseitegeschoben, bis die Psyche keinen Ausweg mehr wusste und schließlich im gekränkten Schweigen der Apathie verharrt.

4.11 Prävention seelischer Gesundheit im Alter

Prophylaxen z. B. zur Deprivation, aus der bei Nichtbeachtung chronische Verwirrtheitszustände entstehen oder zur Apathie, aus der sich tiefe Regression entwickelt sowie Unterstützungsangebote bei Trauer, die bei unzureichender Bewältigung in eine depressive Erkrankung einmünden kann, gehören zum Erhalt seelischer Gesundheit im Alter. Jede Altenpflegerin sollte Prophylaxen und Beratungsangebote anbieten können.

4.11.1 Deprivationsprophylaxe

Dauert eine Deprivation lange an, so tritt ein Gewöhnungseffekt auf (Habituation). Der Reizaufbau sollte dann nur schrittweise erfolgen.

Voraussetzungen zur Umsetzung einer aktivierenden Pflege:

Feststellung von physiologischer und psychischer Vulnerabilität (d. h. eine Disposition zu einer psychotischen Reaktion) des alten Menschen

Aufstellung der Pflegeanamnese

Pflegeplan auf der Grundlage einer prozessorientierten aktivierenden Pflege

Beobachtung von Stimmung und Verhalten

bedürfnisgerechtes Pflege- und Wohnkonzept

ausreichender Personalschlüssel (exam. Altenpflegerinnen, Betreuungsassistenten)

Altenpflegerinnen müssen von pflegefachlicher Seite den ersten Schritt tun und dem alten Menschen Pflege-angebote machen. Sie müssen Reize anbieten und gezielt stimulieren. Pflege kann hier nicht warten, bis der alte Mensch Angebote macht, fragt, fordert, versteht, aufwacht – er kann es ja nicht!

Handlungsaufgabe

Stellen Sie Pflegemaßnahmen zu den unten aufgeführten Pflegezielen auf (Maßnahmen zur Deprivationsprophylaxe). Berücksichtigen Sie bei Ihrer Aufstellung der Pflegemaßnahmen auch die einfachen Wahrnehmungsebenen.

Tabelle 7: Pflegeziele und –maßnahmen

Pflegeziele Pflegemaßnahmen
Erlangt den gewohnten Bewusstseinszustand wieder z. B. Einsatz von Bezugspflege, Selbsterfahrung und Suchhaltung
Spricht seine Bedürfnisse bezüglich der Sinneswahrnehmungen aus
Reizmangel vermindern
Veränderungen der sensorischen Fähigkeiten/Wahrnehmungen begünstigen
Zieht sich keine Verletzungen zu
Körperwahrnehmung verbessern
Anregung im visuellen Bereich
Anregung im kommunikativen Bereich

4.11.2 Deprivation, Apathie und Suchhaltung bei Pflegenden

»Die Angehörigen der Pflegeberufe sind die Spezialisten für die Wahrnehmung aller menschlichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten (…).« (Dörner, Plog 1989, S. 56)

Hinsichtlich der sensorischen Deprivation bedeutet die Suchhaltung bei der Altenpflegerin:

Wie nimmt der alte Mensch seine Umgebung wahr?

Was lösen seine Reaktionen in mir aus?

Wie kann ich ihn besser verstehen?

Welche Bedürfnisse hat er?

Was ist pflegerisch erforderlich, um ihm zu größtmöglicher Selbstbestimmung zu verhelfen?

4.11.3 Pflegerische Interventionen für die beeinträchtigten Aktivitäten

Interventionen in der Pflege beinhalten zielgerichtete Planungen, strukturiertes Angehen, konkretes Vorgehen und Reflexion zur evtl. Verbesserung und Neuorientierung. Intervention ist mehr als nur tätig sein, sie ist die Voraussetzung zur professionellen Altenpflege und verhindert die potenzielle Gefahr des Burn-out-Syndroms. Es werden im Folgenden einige Lebensaktivitäten (La) und dazu passende pflegerische Interventionen vorgestellt. Diese Lebensaktivitäten basieren auf dem »bedürfnisorientierten Pflegemodell« von Monika Krohwinkel (kurz: ABEDL genannt). Mit der Einführung der Neuen Pflegedokumentation und der Strukturierten Informationssammlung (SIS) werden sich die Pflegeeinrichtungen in Deutschland künftig langsam auf eine neue Art der Pflegedokumentation einstellen.

Der Einfachheit halber – und weil der Prozess der Umstellung sicherlich noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird – bleiben wir hier beim ABEDL-Modell nach Krohwinkel.

La: Kommunizieren

Die Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Vibrationsempfinden) werden mit Basaler Stimulation® angeregt. Eine aktive nonverbale Kommunikation kann mit Blicken, Lächeln und Berührungen durchgeführt werden.

La: Sich bewegen

Bewegung fördert die Gehirndurchblutung und das Selbstwertgefühl. Alte Menschen die Bettruhe einhalten müssen sind mit passiven Übungen durchzubewegen. Vom Hausarzt bekommen sie u. U in regelmäßigen Abständen Krankengymnastik verordnet. Freude an Bewegung wird mit Seniorentanz, Sitzgymnastik sowie Spaziergängen mit Gehhilfen erzielt.

La: Vitale Funktionen des Lebens aufrechterhalten

Atemübungen, atemstimulierende Einreibung (ASE), Aromatherapie regen die Atmung an, dadurch erfährt der Kranke ein verbessertes Lebensgefühl. Vitalwerte werden regelmäßig kontrolliert. Bei Bettlägerigen sind umfassende Prophylaxen durchzuführen.

La: Sich pflegen

Der alte Mensch sollte so lange wie möglich selbstständig die Körperpflege durchführen. Waschrituale und Schamgefühle werden beachtet und respektiert. Durch die Fußreflexzonenmassage kann die Stimmung verbessert werden. Bei geringem Selbstwertgefühl helfen z. B. Schmuck, Parfüm, Kosmetik und hübsche Accessoires. Eine basal stimulierende Ganzkörperwäsche aktiviert besonders Bettlägerige.

La: Essen und trinken

Individuelle Essgewohnheiten und Lieblingsspeisen erhöhen ein positives Lebensgefühl. Der alte Mensch wird ermutigt, in Gemeinschaft seine Speisen einzunehmen; es wird darauf geachtet, dass er täglich 2–2,5 Liter Flüssigkeit trinkt.

La: Ausscheiden

Ausscheidungsgewohnheiten werden zugelassen. Kontinenz wird erhalten, wenn der Weg zur Toilette verkürzt wird, ferner mit Beckenbodentraining, mit leicht zu öffnender Kleidung sowie mit einem Nachtstuhl am Bett. Eine ausführliche Erklärung der Inkontinenzhilfen erhöht deren Akzeptanz. Viel Bewegung und eine ballaststoffreiche Ernährung verhindern Obstipation.

La: Sich kleiden

Bekleidungsrituale, An- und Ausziehtraining fördern die Selbstständigkeit. Weil apathische Menschen leicht frösteln, benötigen sie warme Kleidung. Leicht zu handhabende Klettverschlüsse an Schuhen und Hosen ermöglichen dem Kranken Erfolgserlebnisse.

La: Ruhen und schlafen

Abendliche Zuwendung, Gespräche und individuelle Rituale erleichtern das Einschlafen. Durchschlafen wird durch warme Milch mit Honig, Kräutertees u. a. pflanzliche Schlafmittel oder einen Besuch im Nachtkaffee gefördert.

La: Sich beschäftigen

Lebensrückschaubezogene hauswirtschaftliche oder handwerkliche Tätigkeiten, kreative Hobbys und die Sorge für Haustiere lenken von Sinnlosigkeit ab, regen die Sinne an und verschaffen Erfolgserlebnisse. Angemessene Aufgaben schaffen ein Gefühl von: »Ich werde noch gebraucht!«

La: Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten

Die Rollenidentität wird erhalten durch individuelle/n Kleidung, Frisur, Schmuck. Bei der Intimpflege wird verstärkt auf das Schamgefühl geachtet. Altenpflegerinnen unterstützen das Bedürfnis nach Zärtlichkeit und respektieren Wünsche nach Sexualität.

La: Für eine sichere Umgebung sorgen

Absprachen von Altenpflegerinnen müssen verbindlich eingehalten werden. Die Gestaltung der Umgebung ist geordnet und übersichtlich. Räumlichkeiten weisen helles Licht auf; die Atmosphäre wirkt freundlicher durch Dekorationen und Blumen. Durch Orientierungshilfen findet der Kranke sich im Alltag besser zurecht.

La: Soziale Kontakte und Beziehungen des Lebens sichern

Für apathische Menschen ist eine Bezugspflegeperson wichtig. Sie pflegt ihn liebevoll, konsequent und regelmäßig, besonders wenn er sich gefährdet. Angehörige werden in die Pflege mit einbezogen und dazu motiviert Hoffnung auszustrahlen.

La: Mit existenziellen Erfahrungen des Lebens umgehen

Der innere Rückzug des apathischen Menschen auf die Vergangenheit kann erleichtert und fruchtbar gemacht werden, wenn er mit Menschen Berührung hat, denen seine Erinnerung etwas bedeuten. Unter günstigen Verhältnissen können hier Kinder und Enkelkinder hilfreich sein und selbst Wesentliches dabei gewinnen. Bei Verlusten, Ängsten und Sorgen sprechen Pflegende die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit direkt an. Sollten freiheitsentziehende Maßnahmen notwendig sein, so werden diese in regelmäßigen Abständen vom Vormundschaftsrichter überprüft. Wohlbefinden, Vertrauen, Zuversicht und Hoffnung werden besonders durch folgende Pflegekonzepte gefördert: Musiktherapie, Validation, Basale Stimulation®, Milieutherapie.

Pflegende sprechen traumatische Lebensereignisse oder positive biografische Erfahrungen an. Der Sinn des Lebens wird dem apathischen Menschen durch Umsetzung von religiösen Bedürfnissen in Form von Kurzandachten, seelsorglichen Gesprächen, Gebeten und Liedern vermittelt.

4.11.4 Folgerungen

Kognitive Veränderungen im Alter weisen interindividuelle Unterschiede auf und können durch salutogenetische Faktoren positiv beeinflusst werden. Positiv wirken sich ein gesunder Lebensstil sowie körperliche und geistige Aktivitäten aus.

Da insbesondere traumatische Erlebnisse neurobiologische Revisionen im Gehirn auslösen und zum Entstehen einer chronischen Verwirrtheit oder depressiven Kognition beitragen können, ist ein Auffangen bzw. bewusstes Bearbeiten dieser Prozesse psychotherapeutisch unerlässlich. Jeder Mensch sollte sich im Lebensverlauf seine eigene Unabhängigkeit bewahren. Es tut dem psychischen Wohlbefinden gut, rechtzeitig nach Verletzungen den anderen zu verzeihen und zu vergeben und sich von energieraubenden Emotionen des Gekränktseins, des Hasses und des Nachtragens zu entlasten. Tatsächliche oder vermeintliche Kränkungen sollten nicht allzu lange mit sich herum getragen werden (Höwler 2011).

Wenn es an der Zeit ist, sollte der Mensch lernen, von widrigen Lebensumständen, geliebten Menschen, Gegenständen oder Zielen rechtzeitig loszulassen. Es ist besser im Leben zu ändern, was nicht zu akzeptieren ist, aber zu akzeptieren, was unverlierbar ist. Die Realität im Hier und Jetzt gilt es anzunehmen und dabei nicht Ideale, Träume und Wünsche aufzugeben, sich aber auch nicht in sie zu verlieren. Erreichte Lebensziele sind von Personen aus therapeutisch-pflegerischen Berufen anzuerkennen und zu würdigen.

Nicht alle Ursachen psychischer Leiden sind heute erforscht. Mehr erforscht werden sollte, wie sich psychische Belastungen auf die Seele von Menschen auswirken, damit frühzeitig präventive Angebote umgesetzt werden können.

Festgestellte kognitive Minderleistungen können ein Hinweis auf eine beginnende pathologische Altersentwicklung sein. Demenzielle Veränderungen und depressive Kognitionen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen im Alter. Aufgrund des Altersstrukturwandels hat dies erhebliche sozioökonomische, medizinische sowie pflegerische Folgen. Von daher ist die Früherkennung einer pathologischen Altersentwicklung von großer Bedeutung. Ein Konzept zur Beschreibung des Übergangsbereichs zwischen normalem Altern und einer neurodegenerativen Erkrankung ist die Mild cognitive Impairment (MCI). Dieses Störungsbild ist bisher aus neuropsychologischer Sicht noch nicht ausreichend definiert und untersucht. Des Weiteren können Patienten mit depressionsbedingten kognitiven Leistungseinschränkungen nicht befriedigend von MCI-Patienten abgegrenzt werden (Steffens et al. 2006). Dazu bedarf es weiterer Forschungen.

Die Stabilisierung kognitiver Leistungsfähigkeit und Veränderungen auf der Verhaltensebene können sowohl für alte Menschen, für Angehörigen und Pflegenden eine Verbesserung des Wohlbefindens bedeuten. Durch frühzeitige Interventionen kann die persönliche Autonomie länger aufrechterhalten und das Risiko von Unfällen verringert werden. Des Weiteren kann das Einsetzen z. B. einer demenziellen Veränderung hinausgezögert oder verhindert werden.

Altern darf nicht nur in einem negativen Licht erscheinen. Der alt werdende Mensch hat durchaus Potenziale, neue Inhalte zu lernen. Bei Menschen mit einem erhöhten Risiko zur Entwicklung einer Demenz sind kognitive Ressourcen hingegen vermindert (Höwler 2012).

5 PSYCHISCHE GRUNDFUNKTIONEN

5.1 Erleben und Verhalten

5.1.1 Das limbische System

Definition

Als limbisches System (»Limbus« = »Rand« oder »Grenze«) wird die zwischen Hirnstamm und Großhirn liegende Region bezeichnet.

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Abb. 3: Übersicht über den Aufbau des Gehirns.

Das limbische System macht nur ca. ein Fünftel des Hirns aus; doch es übt auf emotionales Erleben einen großen Einfluss aus. Die moderne Hirnforschung vertritt die Ansicht, dass Emotionen größtenteils als Funktionen des limbischen Systems zu betrachten sind. Reize und Erfahrungen werden vom limbischen System in Form von Empfindungen oder nonverbalen Sensationen interpretiert. Die Anteile des Systems sind in zwei Richtungen mit dem Hypothalamus, einer Anhäufung von Zellgruppen, verbunden. Diese Zellgruppen stehen ihrerseits mit Außenposten in Verbindung: mit den vorderen Septalregionen und seitlich mit der Amygdala. Die Amygdala, das Gefühlszentrum des Gehirns, analysiert und bewertet Gefahren und in diesem Abschnitt entstehen die Ängste eines Menschen.

Das limbische System ist wie ein Rad, bei dem der Kortex den Radkranz und der Hypothalamus mit seinen Außenposten die Narbe und die Speichen bildet. In dem System läuft ein Regelkreis, mit dessen Hilfe Boten sog. Neurotransmitter durch fünf limbische Strukturen laufen: das Ammonshorn, die Corpora mamillaria, der vordere Thalamus, das Cingulum (gürtelförmiger Teil des limbischen Systems vom Stirnlappen zum Hippocampus) und der Hypothalamus. Diese Verbindungen, innerhalb des limbischen Systems, sind für die Integration von Emotionen und Denken verantwortlich.

Das limbische System zählt zu den primitiven Hirnregionen. Es kommt bei Reizungen oder Lebensveränderungen zu sofortigen emotionalen Reaktionen. Das System ist bei vielen psychosomatischen Prozessen beteiligt: Lust und Unlust, Wohlfühlen und Schmerz, Angst, Aggression, Hunger oder sexuelle Erregung liegen im limbischen System nah beieinander.

Das System reagiert auf äußere Einflüsse sowie auf innere Empfindungen. Eine Mischung aus optischen Reizen, Gerüchen, Erinnerungen u. a. mehr durchläuft den Stromkreis der Nervenzellen im ganzen Körper und landet schließlich durcheinander in einer Ansammlung »vernetzter« Nervenzellen, die ringförmig nahe der Unterseite des Gehirns, an dem limbischen System angeordnet sind. Hirn- und Verhaltensforscher sehen diese Struktur als verantwortlich für die Gedächtnisbildung an.

Besonders bei der Demenz vom Alzheimer Typ beobachten wir herausforderndes Verhalten, das überschießend oder abgeflacht sein kann. Dies liegt an der Funktion des limbischen Systems.

Tabelle 8: Ebenen des negativen Erlebens (nach Kitwood 2000)

5.1.1.1 Der Neurotransmitterstoffwechsel und sein Einfluss auf Gehirnfunktionen

Neurotransmitterstoffe steuern höhere Hirnfunktionen, d. h. sie haben Einfluss auf Lernen und Gedächtnis, z. B.:

Acetylcholin ist der Überträgerstoff von motorischen Impulsen an den Synapsen; verantwortlich für den Denkvorgang, für die Vigilanz, für Entscheidungsfindungen.

Dopamin steuert die Regulation der Motorik; hat eine Schlüsselrolle für psychische Funktionen und emotionales Verhalten.

Serotonin ist verantwortlich für die Stimmung.

Noradrenalin ist verantwortlich für die Steuerung von Stimmung und Affekt, reguliert die motorische Funktion des Kleinhirns, verantwortlich für den Schlaf-Wach-Rhythmus.

Glutamatrezeptoren sind für Lern- und Denkprozesse von Bedeutung.

5.1.1.2 Störungen im Neurotransmittersystem

Gefühle wie z. B. Freude, Trauer, Flucht, Angst, Aggression und Grundbedürfnisse (z. B. Hunger, Sexualität) werden vom limbischen System gesteuert. Wir müssen unterscheiden zwischen dem, was wir wissen und dem, was wir fühlen. Diese beiden Richtungen arbeiten in der Regel harmonisch zusammen. Wenn wir uns in vertrauter Gesellschaft aufhalten, entspannen wir uns, fühlen uns wohl, müssen nicht angreifen oder fliehen.

Durch Botenstoffe, die den Regelkreis des limbischen Systems aktivieren, können tief greifende Veränderungen im Verhalten und dem emotionalen Erleben bewirkt werden. Bei Menschen mit hirnorganischen Erkrankungen kann dieses empfindliche System gestört sein.

Bei demenziellen Erkrankungen ist insbesondere das zentrale cholinerge (mit Acetylcholin als Neurotransmitter) System gestört. Aus bislang noch ungeklärten Gründen sterben in den Gehirnen von Alzheimer Patienten die cholinergen Neuronen des basalen Vorderhirns ab, was zu einem Defizit in der Signalübertragung an cholinergen Synapsen führt. Die Nervenzellverluste bis zu 60% in der Hirnrinde stehen besonders bei der Alzheimer Demenz in Korrelation mit einer Verminderung der Neurotransmitterstoffe. Herausforderndes Verhalten bei Demenzerkrankungen kann z. T mit einem veränderten Neurotransmitterstoffwechsel erklärt werden. Nach Kolb & Whishaw (1992) besteht bei der Schizophrenie offenbar ein abnormer Zustand des mesocorticalen dopaminergen Systems. Bei depressiven Erkrankungen liegt eine Störung im Noradrenalinund Serotoninstoffwechsel vor.

5.1.2 Das veränderte Körperbewusstsein bei psychisch Alterskranken

Nicht nur alte Menschen haben ein gutes Gesundheitsgefühl, wenn sie spüren, dass in ihnen alles »funktioniert«, wenn sie er-«leben«, dass in ihnen alles lebendig ist. Nicht in jedem alten Menschen steckt die Angst, irgendwann und irgendwie geistig abzubauen, krank und hilflos zu werden.

Wir gehen davon aus, dass ein alter Körper, je nach Lebensalter locker, elastisch und beweglich bleiben kann. Altenpflegerinnen spüren sehr schnell, wie ein Körper aus dem Gleichgewicht geraten kann. Ein Mensch, der Phasen der Angst, der Depression oder der Aggressionen durchläuft, drückt das über eine bestimmte Körperhaltung aus.

Wenn der betreffende Mensch an solchen Zuständen festhält oder sie immer wieder über seine Gefühle herholt, formt sich etwas wie ein Verhaltensmuster. Das bedeutet, dass Muskelpartien im verkrampften Zustand verbleiben, und die betreffenden Menschen allmählich ganz bestimmte Körperhaltungen annehmen.

5.1.2.1 Psyche und Körperausdruck

Der Körperausdruck kann etwas über festgefahrene Emotionen aussagen. Wenn Menschen in einem Panzer von nicht ausgedrückten Gefühlen stecken, dann sind sie nicht leicht beeinflussbar. Das sog. emotionale Muster verspannt den Körper derart, dass Energien sich abblocken und der freie Energiefluss nicht mehr gewährleistet ist. Da die Verengungen im Körper nicht mehr aufgelöst werden können, kommt es jetzt umgekehrt auch dazu, dass auch die Grundemotionen, die diesen verhärteten Zustand geschaffen haben, sich nicht mehr verändern. Besonders negative emotionale Stimuli können einen Effekt auf den Körper erzielen und diesen verhärten. Der alte Mensch zieht sich auf seinen Körper zurück; er regrediert. Diese Regression (lat. regressio = Rückbildung) spüren Altenpflegerinnen in der Pflege, z. B. bei Patienten mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, Patienten mit psychosomatischen Störungen und Neurosen deutlich.

Der Körper muss von einer anderen Ebene beeinflusst werden, wie es z. B. durch die körperbezogenen Pflegekonzepte oder durch Entspannungstechniken geschieht. Eine pflegerische Unterstützung durch Anwendung von gezielten Pflegekonzepten z. B. Basale Stimulationen® (vgl. Seite 339) können gute Hilfen bieten, weil sie erlauben, sich und die innerhalb eines eigenen Körperbewusstseins möglichen Veränderungen langsam und bewusst zu erfahren. Der wesentliche Schritt dabei ist, dass Altenpflegerinnen zwar Hilfestellungen anbieten, der alte Mensch aber selbst alles tun muss, um sich wieder selbstbewusst in einem lockeren Körper zu erfahren.

5.1.2.2 Trennungen im Körper

Die oben genannten starren körperlichen »Panzerungen« führen zu bestimmten Abtrennungen im Körper. Es gibt eine Rechts-Links-Trennung, als verliefe von oben bis unten eine unsichtbare Trennlinie durch den gesamten Körper. Diese Menschen verlieren den Bezug zu ihrer anderen Körperhälfte.

Andere Altenpflegerinnen erleben eine Vorne-Hinten-Trennung, eine Trennung zwischen Oberkörper und Unterleib oder eine Trennung der Extremitäten vom Leib. Bei anderen alten Menschen fühlen sich Arme und Beine so an, als gehörten sie nicht zu ihrem Körper (s. Tabelle 41 »Leibesinselschwund und Neglect«, S. 285).

Vor allem psychisch kranke alte Menschen sind davon betroffen. Die Psyche des kranken Menschen hat ein Körperbild entworfen, in dem der Körper manchmal über Jahrzehnte hineingewachsen ist. Der einzige Weg, um ein anderes Körperbild zu schaffen, besteht darin, dass der Mensch beginnt, eine neue Seinsweise in seinem Körper zu leben. Dieses neue Bewusstsein und dieses veränderte Selbstbild entstehen nur im Zusammenhang mit einer Veränderung des Seins, des Fühlens, des Denkens und der Überzeugung. Doch das ist nicht immer bei alten Menschen so leicht zu erreichen, weil bei ihnen Veränderungen von sehr festgefahrenen Gewohnheiten und Haltungen vorliegen können. Ohne eine neue geistig-seelische Struktur, die in dem Menschen Wurzeln schlägt, geht nichts.

5.1.2.3 Energiespiegel und Emotionen

Bei einem körperorientierten Prozess ist entscheidend, dass der Energiespiegel steigt, wenn die Atmung aktiver wird. Der Energiespiegel eines Menschen kann allerdings nicht einfach dadurch steigen, in dem der alte Mensch aufgefordert wird, tiefer zu atmen. Damit sich Energie entladen kann, müssen zunächst Wege zum Selbstausdruck des alten Menschen gefunden werden, z. B. benötigt er tägliche Bewegung und Zeit, um sich aktiv mitzuteilen; kurz, sich zu entladen. Da Ladung und Entladung einen zusammenhängenden Prozess darstellen, benutzt die Atemübung beide, um den Energiespiegel eines Menschen zu heben, seinen Selbstausdruck zu ermöglichen und den Gefühlsfluss in seinem Körper wiederherzustellen.

Mit einer Atemübung in der Pflege kann viel erreicht werden: Atmung und Stimme lösen alte Emotionen und langsame Bewegungen lösen die Muskeln, so dass diese entspannter reagieren. Atmung und Stimme öffnen den Kehlkopf, den Brust- und Beckenraum. Dieses Öffnen verursacht mehr Energiefluss, dadurch mehr Lust und Freude am Leben.

Die Betonung liegt auf Atmung und Fühlen und langsamen Bewegungen, um ein anderes Körperbewusstsein wiederherzustellen. Abschließend wird die Berührung behandelt. In unserer hochtechnisierten Welt wird in zunehmendem Maße die Wichtigkeit von körperlichen Berührungen für unser Seelenwohl erkannt. Während der Pflegehandlungen ist es unvermeidbar, den Patienten zu berühren. Körperliche Berührungen können auch eingesetzt werden, um dem Patienten z. B. die Kommunikation etwas zu erleichtern.

Folgende Berührungen können Altenpflegerinnen einsetzen:

an den Händen fassen

den Arm tröstend um die Schulter legen

streichende Berührungen an Kopf oder Armen

eine atemstimulierende Einreibung (ASE)

entspannende Ganzkörperpflege (Waschungen, Einreibungen)

Durch therapeutische Gespräche bemühen sich Altenpflegerinnen die gestauten Gefühle wieder in Fluss zu bringen. Bei diesem doppelten Pflegeansatz werden allmählich die inneren Kräfte und die daran hängenden Konflikte aufgedeckt. Immer wenn ein Konflikt aufgedeckt ist, steigt der Energiespiegel des Betreffenden. Er kann mehr Energie aufnehmen und gibt mehr Energie bei kreativen Tätigkeiten ab, die er als angenehm empfindet.

5.2 Psychische Grundfunktionen und ihre Beobachtung

Altenpflegerinnen in der stationären, ambulanten oder teilstationären gerontopsychiatrischen Einrichtungen benötigen eine gute Beobachtungsgabe; sie müssen besonders Bewusstsein, Orientierung und das Verhalten von psychisch kranken alten Menschen wahrnehmen.

Folgende psychische Grundfunktionen werden beobachtet, in der Pflegedokumentation beschrieben, an das interdisziplinäre Team, insbesondere an den behandelnden Arzt weitergegeben:

Bewusstseinszustand

Antrieb

Affektivität

Gedächtnis

Denken

Wahrnehmung

5.2.1 Der Bewusstseinszustand

Bewusstsein

Unter Bewusstsein wird bewusstes »Sein« mit den Grundelementen aller psychischen Abläufe und Funktionen verstanden.

Man unterscheidet die Qualitäten Vigilanz (Wachheit) und Besinnung:

Die Vigilanz beschreibt den Wachheitsgrad eines Menschen, die Fähigkeit zur klaren Vergegenwärtigung von Sinnesreizen und Bewusstseinsinhalten.

Besinnung ist die Fähigkeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer geordneten Struktur zusammenzufassen, abzuwägen und zu werten.

Wenn Angst machende Erlebnisse und Erfahrungen unbewusst verdrängt werden, können Menschen unbeherrscht und unreflektiert reagieren, wenn im Alltag ähnliche Situationen an diese Erlebnisse erinnern (vgl. Seite 207).

5.2.1.1 Bewusstseinsstörungen

Bewusstseinsstörung

Eine Abweichung von der normalen Bewusstseinslage. Der Betreffende nimmt sich und Dinge der Umwelt im Zustand des Wachseins nicht mehr wahr. Er ist zeitlich, örtlich und situativ nicht orientiert, besitzt keine Merkund Reproduktionsfähigkeit, wodurch sein Denken und Handeln sehr beeinflusst wird.

Im Folgenden werden nur jene Störungen vorgestellt, die für die Gerontopsychiatrie von Bedeutung sind. Die Bewusstseinslagen können bei der pflegerischen Kontaktaufnahme, in einem Gespräch und durch Verhaltensbeobachtungen beurteilt werden.

Vigilanzstörungen

Vigilanzstörungen sind qualitative Veränderungen des Bewusstseins. Hierzu gehört etwa das eingeengte Bewusstsein: Ein alter Mensch mit eingeengtem Bewusstsein nimmt bestimmte Dinge in der Außen- und Innenwelt nur unzureichend wahr. Unter Hypnose, bei Tagträumen und bei starker Konzentration ist das Bewusstsein natürlicherweise eingeengt. Mit einem eingeengtem Bewusstsein können gesunde Menschen durchaus leistungsfähig sein, sofern sie sich auf eine Sache konzentrieren. Kranke können jedoch die Richtung der Aufmerksamkeit nicht mehr steuern.

Tabelle 9: Vigilanzstörungen

Störung Symptome
Benommenheit Verlangsamte, unpräzise Reaktionen, Verständnisschwierigkeiten, erschwerte Orientierung, jederzeit weckbar
Somnolenz (Schlafsucht) Schläfrigkeit, Reaktion auf laute Ansprache und Berührung, schwer weckbar
Sopor Zustand des Tiefschlafs, Reaktion nur auf stärkste Schmerzreize, für kurze Zeit erweckbar
Reaktionslose Wachheit Einfache bewusste Reaktionen, wie z. B. das Erkennen von Angehörigen, Reaktionen auf Aufforderungen, Blickfixationen oder gezieltes Greifen, Lächeln oder Weinen als Antwort auf verbale und visuelle Stimulation, möglich
Koma Tiefste Bewusstlosigkeit, keine Reaktion mehr auf Reize, d. h. Hirnstammreflexe sind verloren gegangen, Pupillenreflex erloschen, regungslos geöffnete Augen, Veränderungen der Atmung und des Kreislaufs, nicht mehr weckbar

Es gibt zwei Formen des krankhaft eingeengten Bewusstseins:

1.Desorientierung

2.Delir

Räumliche Desorientiertheit

Der alte Mensch weiß nicht, wo er sich befindet; z. B. »Ich muss nach Hause, aber ich finde den Weg nicht!« Der verwirrte Mensch läuft umher, räumt ständig Gegenstände um, legt sich Verstecke an, vermisst Eigentum, hält sich für beraubt, ist auf der Suche nach etwas.

Zeitliche Desorientierung

Der alte Mensch hat keine Vorstellung von der Zeit; z. B. ein alter Mensch im Pflegeheim ist morgens um 2 Uhr erwacht, er kleidet sich an und äußert den Wunsch zur Arbeit zu gehen.

Der alte Mensch fragt ständig: »Wie viel Uhr ist es?«, »Wann gibt es Essen?«

Situative Desorientiertheit

Der alte Mensch erfasst die Realität nicht mehr. Er erlebt die ihm fremde Situation als Bedrohung. So wird etwa eine im Fernsehen gezeigte Spielszene als wahrhaftig angesehen und bereitet dem Betroffenen Angst.

Der Betroffene lebt ihn seiner Realität: Er muss etwa die Kinder von der Schule abholen, für die kranke Mutter ein Mittagessen kochen, das Vieh im Stall füttern, zur Arbeit gehen etc.

Personenbezogene Desorientiertheit

Der alte Mensch erkennt andere nicht mehr und/oder weiß nicht mehr, wer er ist, wie alt er ist, wie er heißt, z. B. eine alte Dame bekommt Besuch vom Sohn, erkennt diesen nicht, hält einen Mitbewohner für ihren Mann. Wenn der verwirrte Mensch sich überfordert fühlt, kann es sein, dass er einen formellen Ton anschlägt und fragt: »Wer sind Sie denn überhaupt? Verlassen Sie mein Haus.«

Wenn verwirrte Menschen nicht mehr wissen, wo sie sind und was sie zu tun haben, dann schlüpfen sie in eigene Rollen aus der Kindheit und glauben z. B., dass sie dringend nach Hause gehen müssen, weil die Mutter auf sie wartet.

Ein Delir ist erkennbar an folgenden Verhaltenssymptomen:

zeitliche Desorientierung, bei schwerem Delir kommen auch die anderen Desorientierungsformen vor

Konzentrationsmangel

Wortfindungsstörungen, ungeordnete Gedanken

eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis

große Unruhe z. B. nesteln an der Kleidung oder an Gegenständen, Ängstlichkeit, Apathie

die Hälfte der Betroffenen leidet an Halluzinationen (vgl. Seite 64)

Ein Delir kann verschiedene Ursachen haben:

Demenzsyndrom

Alkoholentzug oder Alkoholintoxikation

Medikamente, besonders: Psychopharmaka, Antidiabetika, Diuretika, Herz- und Kreislaufmittel

Hypo- und Hyperglykämie

Exsikkose

Nieren- und Leberversagen

Obstipation

Diarrhö

Schilddrüsenunterfunktion

Calcium- oder Kaliummangel

Ziele des pflegerischen Umgangs

Der akut verwirrte Mensch soll möglichst an die Realität orientiert werden, soweit dies Lebensqualität und Eigenständigkeit in Würde erhält. Weitere pflegerische Hinweise zum Delir (vgl. Seite 89).

5.2.1.2 Störungen der Bewusstseinsinhalte

Das Bewusstsein scheint intakt, jedoch können Sinnestäuschungen, Orientierungsstörungen und Veränderungen der Realitätswahrnehmung beobachtet werden.

Tabelle 10: Störungen der Bewusstseinsinhalte

5.2.1.3 Anfallsartige Störungen

Der Grand-mal-Anfall (großer Anfall)

Der generalisierte, hirnorganische Krampfanfall beim Krankheitsbild der Epilepsie, ist eine komplexe Störung der Gehirnfunktion, der mit Bewusstseinsverlust einhergeht. Der Bewusstseinsverlust ist in vier Stadien einzuteilen:

1. Stadium: Die Aura (Vorboten). Die Aura geht dem Anfall voraus und kann Stunden bis Tage andauern. Das Stadium kann gekennzeichnet sein durch erhöhte Reizbarkeit oder selten durch besondere Sinneseindrücke, wie z. B. Farben sehen oder hören von Tönen.

2. Stadium: Primär generalisierter tonisch-klonischer Krampfanfall. Der Krampfanfall beginnt schlagartig mit Bewusstseinsverlust und einem allgemeinen tonischen Streckkrampf. Der Kranke stürzt zu Boden, wobei er sich Kopfverletzungen zuziehen kann. Durch einen Stimmritzenkrampf kann es bei dem bereits bewusstlosen Kranken durch die herausgepresste Luft aus den Lungen zu einem sog. Initialschrei kommen. Nach ca. 20–30 Sekunden geht der tonische Krampf in einen klonischen Krampf über.

3. Stadium: Rhythmischer klonischer Krampf. Dieser Krampf erfasst die gesamte quergestreifte Muskulatur, mit Streckkrämpfen, Atemstillstand, weiten, lichtstarren Pupillen. In dem Stadium kann es durch rhythmische Bewegungen der Zunge und des Unterkiefers zu einem Zungenbiss und zum Austreten von blassem oder blutigem Schleim aus dem Mund kommen. Blase und Darm werden unwillkürlich entleert. Nach etwa drei bis vier Minuten löst sich der klonische Krampf.

4. Stadium: Erschöpfungsstadium mit Tiefschlaf (Terminalschlaf). Dieses Stadium kann einige Stunden dauern und beendet das Geschehen.

Absencen

Absencen sind flüchtige, nur Sekunden andauernde, oft unbemerkt verlaufende Bewusstseinsstörungen ohne begleitende Krampferscheinungen.

5.2.2 Der Antrieb

Neben dem Bewusstsein ist der Antrieb die zweite psychische Grundfunktion. Er ist für jedes Handeln, Denken und Fühlen notwendig und bei Menschen anlagebedingt unterschiedlich stark ausgeprägt, d. h. er kann vermindert oder gesteigert sein. Der Antrieb äußert sich motorisch in der Ausübung von Aktivitäten und im Gefühlsleben im Temperament eines Menschen.

5.2.2.1 Störungen des Antriebs

Antriebsminderung: Mangel bzw. Reduktion des Spontanantriebs; Verlust von Energie, Interesse, Lust.

Antriebshemmung: Im Gegensatz zur Antriebsminderung werden Energie und Initiative als gebremst erlebt, der Patient hat einen subjektiv empfundenen Widerstand gegen an sich intendierte Handlungen, Bewegungen oder Denkvorgänge. Bei schwerer Ausprägung ist die Hemmung objektiv wahrnehmbar als verlangsamte Bewegungs- und Sprechabläufe; man spricht hier auch von psychomotorischer Hemmung. Die Antriebshemmung ist fast spezifisch für eine melancholische Depression, bzw. eine Depression, die medikamentös behandelt werden muss.

Antriebssteigerung: Umgekehrt beschreibt die Manie (vgl. Seite 140) eine unangemessene gehobene Stimmungslage mit Antriebssteigerung, mit heiterer oder gereizter emotionaler Verfassung. Der Patient zeigt Initiative, Einfallsreichtum, er spricht schneller, kann unruhig und hektisch werden. Eine explosive Reaktion mit einem Bewegungssturm stellen schwere Störungen des Antriebs dar.

5.2.3 Die Affektivität

Bei der Beurteilung der Affektivität werden Stimmungen und das emotionale Verhalten des Betreffenden beschrieben. Der Begriff Emotion bezieht sich auf die innere Gemütsbewegung, das Gefühl. So kann eine ausgeglichene, ernste, melancholische oder heitere Grundstimmung beobachtet werden; ebenso aktuelle Emotionen als gelebter Ausdruck des Gefühls, wie z. B. Freude, Trauer, Zorn, Angst.

5.2.3.1 Störungen von Stimmung und Affekt

Affektlabilität: Eine starke Stimmungsschwankung; d. h. ein schneller Stimmungswechsel zwischen Lachen und Weinen.

Affektinkontinenz: Fehlende Beherrschung von Affektäußerungen; d. h. die Affekte können bei geringfügigen Anlässen überschießen.

Affektarmut: Eine Verminderung der gezeigten Emotionen; es kommt zu Teilnahmslosigkeit oder Gleichgültigkeit.

Ambivalenz: Sind Gefühlsäußerungen, Vorstellungen, Wünsche, Intentionen und Impulse sehr widersprüchlich und werden diese als gleichzeitig vorhanden erlebt, so spricht man von Ambivalenz (ambivalent = gleichzeitiges Nebeneinander von widerstrebenden Gefühlen).

Depressive Stimmungslage: Negativ getönte Befindlichkeit, Niedergeschlagenheit, gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Lustlosigkeit, Unvermögen positive Gefühle zu erleben, häufig mit Ängstlichkeit verbunden.

Euphorie (Eu, gut, phero wie französisch: se porter sich befinden): Eine gehobene Stimmungslage; ein übersteigertes subjektives Wohlbefinden, Selbstwertgefühl, Kraft- und Leistungsgefühl, Vitalitätsgefühl; meist aber nicht unbedingt eine vermehrte Heiterkeit.

Dysphorie: Beschreibt einen Zustand von missmutiger, mürrischer oder gereizter Stimmung, einschließlich der Bereitschaft aggressiv zu reagieren.

Beobachtungen von zirkadianen Besonderheiten beschreiben tageszeitliche Schwankungen der Stimmung und des Antriebs. Für den Arzt lassen sich daraus wichtige diagnostische Rückschlüsse ziehen; z. B. gehen endogene Depressionen meist mit morgendlichen, reaktiven Erschöpfungszuständen einher (Morgentief).

Fazit

Bei allen affektiven Symptomen sind das Temperament und die prämorbide Persönlichkeit des Patienten zu beachten. Deswegen sind nur die Symptome als pathologisch zu bewerten, bei denen vom Patienten (oder Bezugspersonen) eine Differenz zu »gesunden« Zeiten angegeben werden kann.

5.3 Das Gedächtnis als Speicher

Um Lernprozesse, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Eindrücke wieder abrufen zu können, braucht es eine Instanz, die solche Inhalte und die Verknüpfungen untereinander speichert. Dieser Prozess geschieht im Gedächtnis. Das Gedächtnis lässt sich nicht direkt beobachten, sondern immer nur erschließen; d. h. Gedächtnisinhalte im Gehirn können nicht identifiziert werden. Gedächtnisbildung bedeutet die Aufnahme von Informationen aus der Umwelt, deren Speicherung und Strukturierung: Informationsaufnahme, Informationsspeicherung und Informationsverarbeitung. Das menschliche Gedächtnis hat eine Speicherkapazität von ca. eine Billiarde Einzelinformationen, sog. Bits (8 Bit = 1 Byte).

Zusammen mit dem Frontal- (Stirnlappen) und Parietallappen (Scheitellappen) bildet der Temporal- (Schläfenlappen) und Okzipitallappen (Hinterhauptslappen) das Netzwerk der Intelligenz. Jeder von uns hat unterschiedlich stark verknüpfte Strukturen in diesen Bereichen, die einen wichtigen Teil seiner Persönlichkeit ausmachen. Je stärker die neuronale Verbindung, desto höher ist der Intelligenzquotient (IQ). Auf die Frage wie Gedächtnisinhalte konkret im Gehirn abgelegt werden, kann derzeit von wissenschaftlicher Seite noch nicht beantwortet werden.

Der bewusste Umgang mit den Gedächtnisinhalten wird als Denken bezeichnet. Das Gedächtnis hat aber keine unbegrenzte Kapazität. Es werden nur solche Inhalte gespeichert, bei denen die Umstände dies dem Gehirn nahe legen. Im Alltag wird dann deutlich, dass wir uns an Dinge nur noch bruchstückhaft oder gar nicht mehr erinnern können. Uns wird das Gedächtnis negativ bewusst, wenn uns das Lernen schwerfällt.

5.3.1 Die Gedächtnisarten

»Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei es nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist,« schrieb der Film-Regisseur Luis Bunuel in seinen Memoiren »Ohne Gedächtnis sind wir nichts«.

Wir bauen ein Leben lang »unsere persönliche Bibliothek« auf. Das Bücherregal ist ein Symbol für das Gedächtnis eines Menschen. Im Laufe des Lebens legen wir beständig verschiedene Ordner/Bücher zu unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen an und gliedern neugewonnene Daten in bereits bestehende »Ordner« ein. Neue Informationen, die mit den Sinnen aufgenommen werden, gelangen zunächst in das Kurzzeitgedächtnis, wo sie nur kurz verweilen. Um sich an diese Informationen zum späteren Zeitpunkt erinnern zu können, müssen sie in das Langzeitgedächtnis transportiert werden. Besonders Gefühle, Geräusche, Bilder, Töne, Gerüche werden im Langzeitgedächtnis abgespeichert.

Nach unterschiedlicher Speicherkapazität werden folgende Gedächtnisarten unterschieden:

Ultrakurzzeitgedächtnis (sensorischer Informationsspeicher). Aktuelle Informationen für kurzfristige Reaktionen auf Umweltreize werden festgehalten. Der Inhalt dieses sensorischen Speichers hat eine sehr geringe Kapazität. Das Ultrakurzzeitgedächtnis befindet sich möglicherweise im sensorischen Rindenfeld; die dort gespeicherten Informationen verfallen innerhalb weniger Sekunden.

Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsgedächtnis). Die dort gespeicherten Informationen ändern sich ständig dadurch, dass neu aufgenommene Informationen schon vorhandene verdrängen. Die Speicherkapazität ist größer als die des Ultrakurzzeitgedächtnisses. Das Kurzzeitgedächtnis ist sehr störanfällig, besonders unter Disstress.

Langzeitgedächtnis. Im Vergleich zu den anderen Gedächtnisarten nimmt das Langzeitgedächtnis, auch Altgedächtnis, nur langsam neue Informationen auf. Was bereits im Langzeitgedächtnis abgelegt ist, bleibt lebenslang fixiert. Lediglich der Zugriff auf die Informationen kann vergessen werden (»verschüttete« Gedächtnisinhalte). Das Langzeitgedächtnis kann nur unter emotionaler Beteiligung des Lernenden zufrieden stellend funktionieren, d. h. der Lernende muss auch Lust und Freude am Lernen haben, ansons-ten lernt er nichts.

Tabelle 11: Gedächtnisarten (nach Vester)

5.3.2 Störungen von Gedächtnis und Erinnerung

Im ZNS gibt es keinen einzelnen Ort in dem wir erinnern. Läsionen einer ganzen Reihe von Gehirnarealen führen zu Gedächtnisstörungen, aber in diesen Regionen sind die Gedächtnisinhalte nicht lokalisiert. Diese Areale spielen bei Erinnerungsvorgängen eine größere Rolle als andere. Es ist wahrscheinlich, dass ganze Gruppen von Neuronen in verschiedenen Teilen des Gehirns, besonders in den Hemisphären, für die Erinnerung bedeutsam sind. Es kommt vor, dass eine Person z. B. eine vollkommene Gedächtnisstörung für verbales Material hat, sich aber an nonverbales Material erinnern kann.

5.3.2.1 Mnestische Störungen

Zu den sog. mnestischen (mnestisch = das Gedächtnis betreffend) Störungen gehören Merkfähigkeitsstörungen und Störungen des Kurzzeit- bzw. Langzeitgedächtnisses. Diese Störungen können verschiedene Ausprägungsgrade haben. Gedächtnislücken werden teilweise mit Konfabulationen (Ausfüllen von Gedächtnislücken mit erfundenen Inhalten (vgl. Seite 228), gefüllt. Die Gedächtnisleistung kann auf diagnostischem Weg durch psychologische Leistungstests objektiv geprüft werden (vgl. Seite 74).

5.3.2.2 Gedächtnisabbau bei Demenz

Die »Bibliothek« (Gedächtnis) im Gehirn von Demenzkranken mit ihrem gesamten Lebenswerk ist in Unordnung geraten. Ihr Gehirn weigert sich, aktuelle Daten zu speichern. Zuerst verlieren die Kranken die Namen, dann die Zahlen, dann die Zeit. Irgendwann ist selbst die Gegenwart weg.

Mit fortschreitender Erkrankung gehen auch bereits eingeprägte Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis verloren. Ältere Erinnerungen, aber auch häufig wiederholte und persönlich bedeutsame Gedächtnisinhalte, scheinen vor dem Vergessen geschützt zu sein. Durch fortschreitende Zerstörung der Gedächtnisleistung verliert der Kranke den Bezug zum Zeitgeschehen. Er schwelgt in Erinnerungen.

Die Kranken leben mit den Bildern einer bestimmten Lebensperiode, besonders aus Kindheit und Jugend und verhalten sich entsprechend. Sie fühlen sich jung, gesund, leistungsfähig und nützlich. In ihrer Vorstellungswelt leben noch alle wichtigen Bezugspersonen; sie sind z. B. berufstätig oder für die Versorgung der Familie unerlässlich.

Der Gedächtnisabbau hat zur Folge, dass das Denken beeinträchtigt wird, erworbene Fähigkeiten verloren gehen und das Sprachvermögen abnimmt. Der Kranke verliert langsam das Wissen darüber, »wer er war« und »wer er ist«.

5.3.2.3 Gedächtnisverlust (Amnesie)

Unter Amnesie (Erinnerungslosigkeit) wird eine zeitlich begrenzte und inhaltlich umschriebene Gedächtnisstörung verstanden; sie wird auch als Blackout oder Filmriss bezeichnet. Amnesien werden unterteilt in teilweise und totale Amnesien.

Abhängig vom Zeitpunkt des schädigenden Einflusses auf das Gehirn wird unterteilt in:

Retrograde Amnesie: Der Gedächtnisausfall bezieht sich auf die Zeit, die vor dem Ereignis liegt.

Anterograde Amnesie: Der Gedächtnisausfall bezieht sich auf die Zeit nach dem Ereignis.

Beide Amnesien sind normalerweise nicht vollständig, sondern lückenhaft: Man erinnert sich an manche Ereignisse, an andere nicht. Amnesien kommen bei Schädelhirntraumen, Intoxikationen und epileptischen Anfällen vor.

5.3.2.4 Zeitgitterstörungen

Als »Zeitgitterstörungen« werden Fehler im zeitlichen Raster und in der Chronologie des Erinnerten verstanden. Sie äußern sich in Erinnerungstäuschungen, Trugerinnerungen oder Gedächtnisillusionen. Sie kommen vor bei schizophrenen und demenziellen Erkrankungen.

5.4 Das Denken

Wir verstehen unter Denken einen nicht beobachtbaren psychischen Vorgang; die Entwicklung von Vorstellungen durch ein Zusammenwirken von Erinnerungen, Erfahrungen und Urteilen. Ein normales Denken setzt ein ungestörtes Funktionieren von Bewusstsein, Antrieb, Gedächtnis, Orientierung und Wahrnehmung voraus. Denken und Sprache beeinflussen sich gegenseitig.

5.4.1 Störungen der Denkinhalte

Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen Definitionen von Denkstörungen: Der Denkablauf kann sich bei vielen psychischen Krankheiten verändern. Er kann unlogisch werden oder es kommt zu ungewöhnlichen oder zwanghaften Denkinhalten.

Bei zwanghaftem Denken handelt es sich um Gedanken, Impulse oder Handlungen, die sich dem Betroffenen gegen seinen inneren Widerstand aufdrücken und kaum unterdrückt werden können.

Die Denkschnelligkeit kann verlangsamt (Benommenheit), gehemmt (Depression) oder beschleunigt (Manie) sein. Im Denkfluss kann es zum Gedankenabriss, oder zu einer Denksperre kommen. Das äußert sich durch plötzliches, wiederholtes Stocken im Gesprächsablauf.

Eine typische Denkstörung des Manikers ist die Ideenflucht. Die Kranken denken schneller, aber auch flüchtiger als sonst und hüpfen von Einfall zu Einfall. Durch äußere Eindrücke werden sie sofort abgelenkt, sie können sich nicht mehr konzentrieren.

Zerfahrenes Denken mit unverständlichem »Wortsalat« und mit Wortneubildungen ist typisch beim Krankheitsbild der Schizophrenie. Logische Gedankenzusammenhänge sind hier nicht mehr nachvollziehbar.

Beim Wahn (Irrglaube) liegen pathologische Denkinhalte vor. Wahn wird zutreffend als »abnormes Inbezie-hungsetzen« oder auch als Fehlbeurteilung der Realität bezeichnet. Beim Wahn handelt es sich um eine »Privatrealität«, d. h. es bestehen unkorrigierbare verfälschte Vorstellungen und Gedanken. Die korrekt gemachten Beobachtungen des Betreffenden werden nicht zutreffenden Bedeutungen zugeschrieben.

Wahn kann sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens beziehen. Wahnhaftes Denken reicht von überwertigen Ideen bis zu ausgestalteten Wahngebäuden, wie sie z. B. im Größenwahn oder Verarmungswahn zu finden sind (vgl. Wahnthemen Seite 189).

Der Wahninhalt hängt stark von der emotionalen Anteilnahme am Wahn, dem sog. Wahnbedürfnis ab.

Unter Wahnideen versteht man objektiv falsche, aus krankhafter Ursache heraus resultierende Überzeugungen. Wahnideen entwickeln sich oft aus einer Stimmung heraus, aus einer Mischung von Unheimlichem und Vieldeutigem. Sie entstehen ohne Anregung von außen und können durch logische Beweise und Argumente nicht entkräftet werden. Eine Wahnidee kündigt sich in Form von Wahnstimmung an, d. h. der Betroffene empfindet eine Alarmstimmung, empfindet Angst und fühlt sich bedroht. Er fühlt zunächst, dass »etwas in der Luft liegt«, »da bahnt sich was an.« Der Wahnstimmung liegt in der Regel noch keine genaue Thematik zu Grunde.

Unter dem Wahneinfall wird eine plötzlich auftretende wahnhafte Überzeugung verstanden, der sich der Betroffene nicht entziehen kann.

In der sog. Wahnarbeit wird der bestehende Wahn durch weitere Einfälle, meist aus einer Erwartungsspannung oder Stimmung des Betroffenen (Wahnstimmung) heraus, ausgebaut, ergänzt, begründet oder bestätigt.

5.4.1.1 Entstehung von wahnhaften Erleben bei Personen mit Demenz

Wahn entsteht auf dem Boden einer allgemeinen Veränderung der Erlebens und Verhaltens. Er imponiert als Fehlbeurteilung der Realität, die mit erfahrungsunabhängiger Gewissheit auftritt und sich an der subjektiven Gewissheit festhält. Diese Gewissheit steht im Widerspruch zur Wirklichkeit und zur Erfahrung der gesunden Mitmenschen sowie zu ihrem kollektiven Meinen und Glauben. Der Betroffene hat nicht das Bedürfnis nach Begründung seiner wahnhaften Meinung.

Bei Personen mit Demenz stellt Wahn eine Identifikationsstörung mit Überforderung des neuronalen Netzwerkes dar. Der Betroffene hat bildhafte Vorstellungen, die real nicht existieren. Er interpretiert Personen, Dinge und Situationen fehl.

Bedingt durch die Erkennungsstörung (Agnosie) kommt es zur zunehmenden Schwierigkeit, komplexe – vor allem dreidimensionale Muster (Figuren, Bilder, Gesichter) – zu erkennen. Die Wahrnehmung und die Konstruktion innerer Muster werden nur zweidimensional wahrgenommen. Die verschiedenen Anteile des wahrgenommenen Bildes können aus der Erinnerung nicht vollständig zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Schon die Veränderung oder das Nichterkennen eines Details lässt das Ganze nicht mehr zu. Aus einer bekannten Person wird ein Fremder.

Pflegerische Interventionen

Gegenstände, Personen, Räume sollten ausreichend ausgeleuchtet werden, um Schattenbildungen und Kontraste zu vermeiden.

Personen sollten immer von vorn und auf Augenhöhe angesprochen werden.

Großflächige und helle Farben (z. B. helles Gelb) sind günstig.

Kontrastierende Streifen auf dem Fußboden vermeiden. Sie werden nicht erkannt, sondern als Stufe oder Graben verkannt.

Störungen der Vorstellungs- und Gedankenwelt wie der sog. Autismus wurden zuerst von Egon Bleuler (Professor für Psychiatrie in Zürich von 1889 bis 1927) beschrieben und so benannt. Unter Autismus wird eine Kontaktstörung mit Rückzug auf die eigene Vorstellungs- und Gedankenwelt verstanden. Die Patienten kapseln sich von der Umwelt ab und zeigen gleichzeitig Angst vor Veränderungen. Diese Störung kommt in der Gerontopsychiatrie vorwiegend bei schizophrenen Patienten vor.

5.5 Die Wahrnehmung

Die Wahrnehmung erfolgt mit intakten Sinnesorganen sowie mit Aufnahme und Vergleichen der Reize mit Erinnerungen und Erfahrungen im Großhirn. Ein gesundes Wahrnehmen setzt auch die Intaktheit von Bewusstsein, Antrieb, Denken und Orientierung voraus. Unter Angstgefühlen, bei Durchblutungsstörungen des Gehirns und bei Intoxikationen ist die Wahrnehmung herabgesetzt. Bei Erregungszuständen und bei der Schizophrenie kann die Wahrnehmung gesteigert sein.

5.5.1 Wahrnehmungsstörungen (Störungen des Realitätsbezuges)

Wahrnehmungsstörungen sind psychopathologische Phänomene, sie kommen bei vielen gerontopsychiatrischen Erkrankungen vor. Bei den Störungen ist die Wahrnehmung der äußeren Realität stark eingeschränkt. Es werden verschiedene Schweregrade differenziert:

Einfache Sinnestäuschung: Der Betroffene sieht z. B. Lichtblitze oder hört unspezifische Geräusche. Einfache Sinnestäuschungen kommen auch beim Gesunden mit starker Übermüdung vor.

Flüchtige Sinnestäuschung: Illusion

5.5.1.1 Illusion

Die Illusionen sind nur flüchtig und immer von Halluzinationen abzugrenzen. Der Betreffende nimmt etwas wahr, kann es aber aufgrund einer kurzfristigen Beeinflussung seiner kognitiven Fähigkeiten nicht richtig einordnen. Die Deutung der Wahrnehmung entspricht oft den innerlichen Wünschen und Ängsten des Betroffenen. Der auf dem Kleiderbügel hängende Bademantel wird z. B. verkannt als eine menschliche Gestalt, die erwartet wird oder der in der Dämmerung erkannte Baum verwandelt sich in eine dahinrasende Pferdekutsche. Illusionen fördern, wenn sie nicht behoben werden, Verwirrtheit.

Die illusionäre Verkennung tritt auf bei:

Übermüdung

hohem Fieber

einer Exsikkose

Veränderungen der Sinnesorgane (z. B. starke Sehbehinderung)

Angst

psychotrop wirkenden Medikamenten

Stress

Depressionen und Psychosen

Eine illusionäre Verkennung sollte internistisch abgeklärt werden. Die verordnete Medikation ist zu überwachen. Der Verlauf der Wahrnehmungsstörung wird beobachtet und dokumentiert. Negative äußere Einflüsse sind sofort zu beheben (z. B. schlechte Lichtverhältnisse, fehlende Seh- oder Hörhilfen, Stressfaktoren, Ortswechsel). Altenpflegerinnen und Angehörige gehen ruhig auf den Betroffenen ein und schaffen eine Atmosphäre der Ausgeglichenheit. Mitbewohner in der Pflegewohngruppe erfahren Verständnis durch aufklärende Gespräche.

5.5.1.2 Halluzination

Wir unterscheiden verschiedene Formen von Halluzinationen:

Bei der optischen Halluzination sieht z. B. der Betreffende im Alkoholentzug kleine, sich bewegende Mäuse.

Bei akustischen Halluzinationen kommt es z. B. bei einer Schizophrenie zu Trugwahrnehmungen von Geräuschen und Stimmen.

Bei der olfaktorischen Halluzination nimmt der Betreffende Gerüche (z. B. Schwefel) wahr.

Bei den coenästhetischen, d. h. leibbezogenen Halluzinationen verspürt der Betreffende körperbezogene Beeinflussungen, z. B. spürt er Ungeziefer über die Haut krabbeln.

5.6 Gerontopsychiatrische Notfälle

Gerontopsychiatrischer Notfall

Plötzlich und unerwartet tritt eine wesentliche Auffälligkeit von Verhalten und Erleben ein, die in einer besonderen Behandlungsrichtung versorgt werden muss.

Ein gerontopsychiatrischer Notfall liegt dann vor, wenn das akute Auftreten oder die Exazerbation einer bestehenden psychischen Störung zu einer unmittelbaren Gefährdung von Leben und Gesundheit des Patienten und/oder seiner sozialen Umgebung führt und sofortiger Diagnostik und/oder Therapie bedarf. Zu gerontopsychiatrischen Notfällen nach der Bundesärztekammer (2006) zählen:

Erfolgter Suizidversuch

Konkrete Suizidpläne oder –vorbereitungen

Hochgradiger Erregungszustand

Aggressivität/Gewalttätigkeit im Rahmen psychischer Störungen (Agitiertheit)

Schwere Intoxikationen (Lithium)

Konkrete Fremdtötungsabsichten im Rahmen psychischer Erkrankungen

Delir

In der Psychiatrie muss zwischen den Begriffen Akut- und Notfallpsychiatrie unterschieden werden. Die Notfallpsychiatrie ist ein Gebiet, welches außerhalb der Klinikstruktur zum Tragen kommt. DieAkutpsychiatrie ist eine Abteilung innerhalb einer psychiatrischen Klinik, wenn der Patient bereits Kontakt mit dieser gekommen ist.

Akut- bzw. Notfallpsychiatrie

Die Akutpsychiatrie ist ein Teil der Fachdisziplin, der sich mit unmittelbar einsetzenden oder relevant werdenden, meist mit einem Gefährdungspotenzial einhergehenden psychopathologischen Symptomen beschäftigt. Das therapeutische Team bemüht sich und eine diagnostische Einordnung und schnelle Versorgung eines Patienten unter Einbeziehung aller wichtigen medizinischen und juristischen Aspekte (Neu 2015).

Die Notfallpsychiatrie ist ein Teil der Fachdisziplin, der sich mit besonderen schwierigen Umständen, Orten, Situationen unmittelbar oder relevant werdenden, meist mit einem Gefährdungspotenzial einhergehenden psychopoathologischen Symptomen beschäftigt. Das therapeutische Team bemüht sich und eine diagnostische Einordnung und schnelle Versorgung eines Patienten unter Einbeziehung aller wichtigen medizinischen und juristischen Aspekte (Neu 2015).

Tabelle 12: Syndrome in der Notfallpsychiatrie (Messer et al. 2015)

Syndrom Merkmale
Psychomotorische Unruhezustände Unruhe, ungezielte ungesteuerte motorische und affektive Übererregung, Reizbarkeit, gerichtete oder ungerichtete Aggressivität und Fremdgefährdung
Delirante Syndrome Psychomotorische Unruhe oder Apathie, quantitative oder qualitative Bewusstseinsstörungen, Wahrnehmungs- und Denkstörungen, flukturierende Verläufe von Delir
Stuporöse und dissoziative Zustände Nichtansprechbarkeit bei offensichtlicher Vigilanz, quantitative oder qualitative Bewusstseinsstörungen, Negativismen, Mutismus, Katatonie
Suizidalität Ausgeprägte, aufdringliche, anhaltende Gedanken, Absichten, Pläne, Handlungsvorbereitungen oder Handlungen mit dem Ziel der Selbsttötung
Pharmakologischinduzierte Syndrome Malignes neuroleptisches Syndrom, anticholinerges Syndrom, Serotoninsyndrom, Lithiumintoxikation

5.6.1 Allgemeine Ziele der Therapie in der Akut- und Notfallpsychiatrie

Diese bestehen im Schutz vor Selbst- und Fremdverletzungen. Dieser Schutz geht einher mit medikamentöser Behandlung, meistens in Form einer leichten Sedierung/Beruhigung sowie begleitenden empathisch-the-rapeutischen Gesprächen. Bei starken Erregungszuständen (Agitation) wird der Patient durch Deeskalation verbal beruhigt. Dies kann nur geschultes Klinikpersonal leisten.

5.6.2 Nachbetreuung: Der sozialpsychiatrische Dienst der Gesundheitsämter

Nach der Entlassung aus der gerontopsychiatrischen Klinik kann der alte Mensch durch den sozial-psychiatrischen Dienst seiner Wohngemeinde betreut werden. Es handelt sich um eine Beratungsstelle nicht nur für psychisch Alterskranke und deren Angehörige. Die Einrichtung ist zuständig für die Beratung, Begutachtung und Einleitung einer gesetzlichen Betreuung. In dem sozialpsychiatrischen Dienst arbeiten Fachkräfte, z. B. Pflegende, Psychologen, Psychiater und Sozialarbeiter.

Vorteil des Versorgungssystems:

der sozialpsychiatrische Dienst ist Tag und Nacht sowie an den Wochenenden mit Fachpersonal besetzt

auf Wunsch und besonders in kritischen Situationen (z. B. psychische Krisen, akute Suizidgefahr) leisten sozial-psychiatrische Dienste Hausbesuche

5.6.3 Prävention: Gesprächsgruppe für psychisch Alterskranke und pflegende Angehörige

Selbsthilfegruppen für Angehörige und psychisch Alterskranke sind in der Regel ambulanten Pflegediensten, Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbänden oder Volkshochschulen angegliedert. Die Gruppen erbringen für pflegende Angehörige emotionale Entlastung und eine psychische Stütze. Die Zielsetzungen der Gruppen haben den Anspruch, dass eigene Unsicherheiten, Ängste und Hilflosigkeit unter Gleichgesinnten sprachfähig gemacht werden können. Angehörige bekommen in den Gruppen das Gefühl mit der Thematik der schweren Pflege nicht allein dazustehen. Sie können neue Ziele für sich selbst definieren sowie mit anderen Gruppenteilnehmern/innen gemeinsam neue Kräfte schöpfen. Während der Zusammenkünfte besteht bei einigen Gruppen das Angebot, psychisch Alterskranke, die bereits pflegebedürftig sind, mitzubringen, welche in einem Nebenraum von Fachkräften pflegerisch versorgt werden können.

In Trauergruppen, die besonders auf die Bedürfnisse von Angehörigen ausgerichtet sind, können tragende Kräfte, aber auch Spannungen innerhalb der Pflegebeziehung spürbar werden. Im Gespräch können diese Spannungen benannt werden, ggf. zur Versöhnung führen. Unterdrückte Tränen können fließen, die Trauer über den bevorstehenden oder erlebten Verlust kann bearbeitet werden. Gespräche können helfen wieder Halt zu finden und sich selbst zu spüren und nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Austausch mit anderen pflegenden Angehörigen kann zur Begleitung auf dem Abschiedsweg werden und zur Akzeptanz der endgültigen Trennung zwischen sterbender und lebender Person beitragen.

Nennen Sie die kognitive Funktion, welche im Alter durch Gedächtnistraining und geistige Anregung sogar noch gesteigert werden kann.

Ordnen Sie zu den wichtigsten Neurotransmitterstoffen jeweils deren Gehirnfunktionen zu.

Beschreiben Sie, wie Sie pflegerisch den Energiespiegel und die Emotionen bei einem psychisch Alterskranken wieder in »Fluss« bringen können.

Bei gerontopsychiatrisch veränderten Menschen müssen Sie psychische Grundfunktionen beobachten, in der Pflegedokumentation beschreiben und an den behandelnden Arzt weitergeben. Um welche Grundfunktionen handelt es sich?

Definieren Sie »Bewusstseinsstörung«.

Die Desorientierung ist eine Form des eingeengten Bewusstseins. Nennen Sie die vier Formen. Geben Sie jeweils dazu ein Beispiel, wie sich Desorientierung beim Betroffenen äußern kann

Beschreiben Sie äußerlich erkennbare Verhaltenssymptome bei einem Delir.

Erklären Sie Affektlabilität.

Nennen Sie psychische Erkrankungen, bei denen besonders das Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt ist.

Definieren Sie »Halluzination«, nennen Sie deren vier Formen und geben dazu jeweils ein Beispiel, wie sich diese Form beim Patienten äußern könnte.

Definieren Sie Notfallpsychiatrie.

Definieren Sie Leibesinselschwund und Neglect.

Stellen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Wahrnehmung und das Körperschema im Gehirn heraus.

Nennen Sie Beispiele zum psychiatrischen Notfall.

Beschreiben Sie allgemeine Ziele zur Therapie in der Akut- und Notfallpsychiatrie.

Nennen Sie pharmakologisch-induzierte Syndrome, mit dem ein Patient häufig in der Akut- oder Notfallpsychiatrie eingewiesen wird.

6 DIAGNOSTIK BEI NEURODEGENERATIVEN ERKRANKUNGEN

6.1 Gerontopsychiatrische Klassifikationssysteme

Ungewöhnliche Verhaltensweisen haben immer eine individuelle Begründung. Um zu einem Verständnis unter Pflegefachkräften zu kommen, versucht man Verhaltensweisen und bestimmte Merkmale durch Bilden von Kategorien und Suchen nach Oberbegriffen zu typisieren.

Dieser Vorgang wird »Diagnosefindung« genannt. Diagnosen dienen letztlich der Kommunikation unter Fachleuten, als Hypothese zu einem bestimmten psychischen Erscheinungsbild eines alten Menschen. Die Psychiatrie/Gerontopsychiatrie hat sich einem symptomorientierten und gleichzeitig biologischen Ansatz zugewandt. Dies zeigt sich im internationalen Klassifikationssystem.

Um eine internationale Vergleichbarkeit der psychiatrischen Erkrankungen zu gewährleisten, epidemiologische Studien zu ermöglichen, eine Vereinheitlichung der Fachsprache zu gewährleisten und Forschungsvorhaben vernetzt durchführen zu können, wurden weltweit gültige Klassifikations- bzw. Diagnosesysteme entwickelt, z. B.:

Definition ICD-11

ICD-11 = International Classification of Mental and Behavioral Disorders.

In: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, 11. Ausgabe. Referenz: World Health Organization (WHO)

Die WHO gibt die International Classification of Diseases = ICD-11, d. h. die Internationale Einteilung der Erkrankungen seit 1992 heraus. Sie liegt inzwischen in der 11. Revision (Abänderung) vor. Für eine psychiatrische bzw. gerontopsychiatrische Diagnose sind bestimmte Konstellationen von Symptomen ausschlaggebend.

Definition DSM-V

DSM = Diagnostik and Statistical Manual of Disorders der American Psychiatrie Association, d. h. statistisches Handbuch psychiatrischer Störungen in der 5. Revision, Ausgabe 2013.

Es handelt sich um ein Klassifikationssystem der amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, das geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigt.

6.1.1 Medizinische Leitlinien und pflegerische Standards im Gesundheitsbereich

6.1.1.1 Medizinische Leitlinien

Leitlinien-Definition (nach Cochrane Deutschland)

Leitlinien (Guidelines) sind systematisch entwickelte wissenschaftliche Aussagen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung von Ärzten und anderen im Gesundheitssystem tätigen Personen und Patienten.

Medizinische S-3-Leitlinien sind rechtlich nicht bindend und haben von daher weder haftungsbegründete noch haftungsbefreiende Wirkung. Eine Besonderheit ist die Darstellung der wissenschaftlichen Evidenz und die Entwicklung von Empfehlungen über die gesamte Lebensspanne hinweg, beginnend vom Kindes- und Jugendalter bis hin in das hohe Alter.

Ziele

Leitlinien geben eine Handlungsgrundlage für zunehmend komplexer werdende gesundheitsbezogene Probleme.

Sie definieren themenspezifische Verantwortungsbereiche von Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich.

Sie geben Orientierung für eine interdisziplinäre Kooperation und

stellen zugleich eine detaillierte Entscheidungsgrundlage für gesundheitsbezogene Fragestellungen.

6.1.1.2 Pflegerische Standards

Der Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz« (DNQP 2018) hebt die Bedeutung der Beziehung zwischen Pflegenden und Pflegebedürftigen als besondere existentielle Begegnung hervor, insbesondere in Grenzsituationen wie beim Eintritt von Pflegebedürftigkeit.

Pflege versteht sich nicht nur auf der Ebene einer rein funktional ausgerichteten Körperpflege oder medizinischen Maßnahme, sondern Pflege findet auch auf der psycho-sozialen Ebene statt, in der lückenlosen rationalen Aufdeckung der Sinnbestimmung des Pflegebedürftigen durch eine ausreichende biografische Anamnese, welche u. a. zur Diagnosefindung unerlässlich ist. Erkennen und Anerkennen der Lebensleistung eines Pflegebedürftigen trägt u. a. zum gelingenden Beziehungsprozess bei.

Die Empfehlungen des Standards beruhen auf der Expertise der Expertengruppe des DNQP unter Berücksichtigung der nationalen und internationalen Literatur (Kommunikation, Interaktion) zur Förderung und Gestaltung der Beziehung mit Menschen mit Demenz (siehe dazu weitere Hinweise unter »Pflegekonzeptionen der gerontopsychiatrischen Pflege« ab Seite 317).

6.2 Die Bedeutung der Diagnose für die Pflege

Erst wenn die medizinische Diagnose von Fachärzten gestellt worden ist, kann eine auf das Krankheitsbild abgestimmte Pflege erfolgen. Die Diagnose ist in der Pflegedokumentation zu vermerken. Eine gerontopsychiatrische Pflegeplanung lässt sich nun auf einer exakten Diagnosestellung erstellen, um vor allem potentielle Pflegeprobleme zu erfassen.

Wie wichtig die Diagnosestellung z. B. bei der Alzheimer-Erkrankung und Informationen über die Symptome für Altenpflegerinnen und Angehörige ist, macht die Schilderung einer pflegenden Angehörigen deutlich: »Meine Mutter war in der ersten Zeit so aggressiv. Wenn ich zu ihr gesagt habe: ›Mutter gib mir bitte dein Kleid, das muss ich waschen, weil es sehr schmutzig ist‹, sagte sie zu mir, ›nein das Kleid ziehe ich heute Morgen an‹. Ich konnte ihre Abwehr nicht einordnen und erklärte Mutter, dass das Kleid doch einen Fleck habe. Sie wurde sehr böse und gab mir eine ›Ohrfeige‹. Mir ist in diesen Momenten dann auch schon einmal die Hand ausgerutscht. Ich bin nicht mehr mit Mutter zurechtgekommen. Ich wusste ja nicht, wie krank meine Mutter damals bereits war.«

Die Diagnosestellung bei gerontopsychiatrischen Krankheitsbildern ist wichtig:

Viele »merkwürdige« Verhaltensweisen des Erkrankten können besser eingeordnet werden.

Versagen und Fehlverhalten erhalten einen Krankheitswert; ein bedürfnisgerechter Umgang wird dadurch erleichtert.

Pflegende Angehörige bekommen die Möglichkeit sich frühzeitig mit dem zu erwartenden Krankheitsverlauf auseinander zu setzen.

Beratungsangebote und Therapiepläne für den Kranken können rechtzeitig genutzt werden.

Anhaltspunkte für die Art und Schwere einer gerontopsychiatrischen Erkrankung erhalten Ärzte und Altenpflegerinnen aus Untersuchungen und Beobachtungen der psychischen Grundfunktionen (vgl. Seite 50).

Falls Hausärzte nicht zu einer eindeutigen Diagnosestellung kommen können, so sollte ein Gerontopsychiater oder Facharzt für Psychiatrie/Neurologie hinzugezogen werden oder der alte Mensch wird zwecks Diagnosestellung einige Tage in die gerontopsychiatrische Klinik eingewiesen. Nicht immer ist gleich eine stationäre Behandlung erforderlich. Hierbei sind gute Absprachen zwischen den Angehörigen, dem Hausarzt und dem ambulanten Pflegeteam unerlässlich.

Für den hausärztlichen Bereich ist es wichtig, dass Instrumente verfügbar werden, die gut in den Praxisablauf zu integrieren sind. Gerontopsychiatrische Symptome werden in der Regel von den Hausärzten übersehen oder falsch interpretiert und dann leider nicht immer fachgerecht behandelt. In den letzten Jahren haben sich eine Reihe von Assessment- und Screening-Methoden entwickelt, mit denen sich psychische Störungen erfassen lassen. So können heute insbesondere Depressionen und Demenzerkrankungen wesentlich früher identifiziert werden. Erkennung von Krankheitssymptomen sowie deren Zuordnung zu einer medizinischen Diagnose reicht jedoch nicht aus, wenn die Diagnose ohne therapeutische Konsequenzen bleibt.

Durch die Ähnlichkeit der Symptomatik bei den unterschiedlichen gerontopsychiatrischen Krankheitsbildern ist eine genaue Diagnosestellung meistens nur nach mehreren Untersuchungen und längerfristigen Verlaufsbeobachtungen zu stellen (Wojnar 1999). Eine schwere Depression (vgl. Seite 147) wird oft als Demenz verkannt. Manche Krankheitsbilder werden durch zusätzliche Symptome, z. B. Demenz mit Wahn oder Depression mit Wahn, kompliziert. Es kommt auch nicht selten vor, dass mehrere psychische Störungen gleichzeitig beobachtet werden, z. B. Demenz mit Delir und Depression. Es gibt einige körperliche Erkrankungen im Alter, die mit psychischen Reaktionen vergesellschaftet sind.

Dazu gehören im Alter besonders:

Demenzen bei Morbus Parkinson

Depressionen nach Apoplexie

Demenz bei Unterfunktionen der Schilddrüse

Nach wie vor liegt der Schwerpunkt in der gerontopsychiatrischen Diagnostik in der Frühdifferenzierung von Demenz und Depression. Da die Symptomatik vieler gerontopsychiatrischer Krankheitsbilder keine Rückschlüsse auf evtl. körperlich vorliegende Ursachen erlaubt (z. B. Delir bei hohem Fieber, Exsikkose, Stoffwechselentgleisungen), ist stets eine gründliche Abklärung durch einen Facharzt für Psychiatrie/Neurologie mit unterstützender klinischer, laborchemischer und Apparatemedizin notwendig.

Merke!

Nehmen Sie als Altenpflegerin eine ärztlich gestellte Diagnose zur Kenntnis, beobachten Sie die Reaktionen des Kranken weiter und nehmen Sie sich die Zeit, um den kranken Menschen auch als Menschen mit einer individuellen Biografie wahrzunehmen.

6.3 Der Weg zur gerontopsychiatrischen Diagnose

In den diagnostischen Prozess fließen viele Informationen aus dem sozialen, ökologischen, psychologischen und physiologischen Bereich ein.

Die Diagnosestellung in der Gerontopsychiatrie konzentriert sich auf folgende vier Faktoren:

Anamnese

Aktuelle Situation

Psychischer Befund

Physiologischer Befund z. B. durch bildgebende Verfahren, Blutuntersuchungen etc.

Unterstützt wird diese grundlegende diagnostische Ebene durch beobachtbare Verhaltensweisen der Kranken, durchgeführt von Ärzten, Altenpflegerinnen und Angehörigen.

6.3.1 Die Anamnese

Hierzu gehört die körperliche Anamnese: d. h. Gesundheitszustand, Unfälle, welche Multimorbidität liegt vor? Als zweites die seelische Anamnese: d. h. gab es traumatisierende Ereignisse, z. B. Verlust vom Ehepartner, von Kindern? Und als Drittes die soziale Anamnese, d. h. Interessen und Hobbys, Gruppenaktivitäten, Einbindung in die Familie.

Die aktuelle Situation

Wann traten erste Symptome/abnorme Verhaltensweisen auf?

Wie werden diese vom Patienten und von Angehörigen erlebt?

Welche Zusammenhänge werden vermutet?

Welche Anteile sind gesund und von den aktuellen Konflikten nicht beeinträchtigt?

Der psychische Befund

Körperlicher Befund: z. B. Auffälligkeiten in der/dem Motorik, Gestik, Schlaf- Essverhalten etc.

Geistiger Befund: Orientierung über Zeit, Raum, eigene Person, Gedankenablauf, Logik, Verbalisierungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, mentale Fähigkeiten z. B. Gedächtnisfunktion, Störungen der Realitätswahrnehmung und des Realitätsbezuges

Seelischer Befund: Emotionalität, Ängste, Selbstwertgefühl, geistige Beweglichkeit, Zwanghaftigkeit, Stimmung, Affekte

Medizinische Zusatzuntersuchungen: Laboruntersuchungen, Röntgen, biochemische Untersuchung des Liquors, Elektroenzephalogramm (EEG), Echoenzephalogramm (Untersuchung des Hirngewebes durch Schallwellen), Kernspintomografie

Psychologische Zusatzuntersuchungen: Intelligenz- und Leistungstests, Persönlichkeitstests, Persönlichkeitsfragebogen und Inventare z. B. Freiburger Persönlichkeitsinventar mit 12 Skalen zur Messung von Antrieb, Aktivität, Nervosität, Depressivität, Aggressivität, Erregbarkeit, Dominanzstreben, Gehemmtheit, Extraversion, Emotionalität

Es handelt sich meist um hochkomplexe und oft auch vieldeutige Befunde. Diese werden in der Regel von den Ärzten zu Beginn der Patientenbegutachung eher beschrieben als erklärt. Die Befunde werden festgehalten, z. T. als Verdachtsdiagnosen, auch wenn sie sich noch nicht unter einer bestimmten gerontopsychiatrischen Diagnose oder ein abgrenzbares internistisches Krankheitsbild einordnen lassen.

Akute Verwirrtheit, demenzielle Erkrankungen und Depressionen kommen in der gerontopsychiatrischen Disziplin am häufigsten vor, somit wird auf die Diagnostik dieser Störungsbilder eingegangen.

6.3.2 Das Diagnose-Schema

Psychische Erkrankungen sollten an einem festen Diagnose- Schema abgeklärt werden, weil sich z. B. Demenzen in vielfältigen Erscheinungsbildern präsentieren. Klagen über Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sind für sich genommen unspezifisch, denn sie können den Beginn einer demenziellen Erkrankung, aber auch Ausdruck einer Depression, neurotische Reaktionsmuster oder ein altersbedingter kognitiver Leistungsverlust sein.

Zu einem Diagnose-Schema in der Gerontopsychiatrie gehören:

Anamnese

Fremdanamnese

Ausschluss einer Depression

Abklärung reversibler Demenzformen

klinischer Status: EKG, Lungenuntersuchung, Labordiagnostik

psychiatrisch-neurologischer Status: EEG

Erhebung von Risikofaktoren (z. B. erblicher Faktor, Belastungen durch Alkohol, Nikotin, Diabetes)

Internistische Abklärung, d. h. Abklärung aller körperlich bedingten Ursachen; herausforderndes Verhalten kann körperliche Ursachen haben; diese sollten erst ausgeschaltet werden, bevor gerontopsychiatrische Untersuchungen eingeleitet werden (z. B. ein zu niedriger Blutzuckerspiegel kann in der Nacht Desorientierung verursachen).

Psychopathometrische Tests

Bestimmung des Apolipoidprotein-E4-Genotyp im Blut. Auf dem Chromosom 19 befindet sich ein Gen, welches für die Produktion des Apolipoprotein E (Apo-E) verantwortlich ist. Menschen, die dieses Gen tragen erkranken relativ häufiger an der Alzheimer Demenz. Die Ursachen und Verbindungen dafür sind noch nicht hinreichend erforscht. Eine isolierte Bestimmung des genetischen Risikofaktor wird aufgrund mangelnder Trennschärfe und prädiktiver Wertigkeit im Rahmen der Diagnostik nicht empfohlen. Homozygote Träger (beide Elternteile) haben ein zehnfaches erhöhtes Risiko an der Alzheimer Krankheit zu erkranken. Heterozygote Träger ein ca. dreifach erhöhtes Risiko. Die Sensitivität der Testverfahren liegt aber nur bei 65 % und die Spezifität nur bei 68 %. Diese Werte sind zu gering für die Verwendung als diagnostischer Test (Diehl-Schmid et al. 2015).

Bildgebende Verfahren (KRT, CT, SPECT, PET)

Tabelle 13: Bildgebende Verfahren

Trotz gewissenhafter Abklärung kann eine psychiatrische durch bildgebende Verfahren nur mit einer mehr oder weniger großen Wahrscheinlichkeit gestellt werden. Neben bildgebenden Verfahren ist die Beurteilung der beeinträchtigten Lebensaktivitäten bedeutsam. Eine definitive Diagnosestellung z. B. bei einigen Formen demenzieller Erkrankungen, ist erst durch eine histopathologische Untersuchung nach dem Tode möglich.

In regelmäßigen Abständen muss die Langzeitmedikation des Patienten überprüft werden; das zerebrale Leistungsniveau könnte gegebenenfalls durch die Nebenwirkungen einiger Medikamente beeinträchtigt werden. Die klinische Verdachtsdiagnose z. B. einer Alzheimer-Demenz kann nicht nur durch spezifische biologische Marker aus Laboruntersuchungen oder apparativen Untersuchungen gestellt werden. Erhärtet wird die Diagnose auch durch den progredierenden Verlauf der kognitiven Symptomatik mit möglichen Plateauphasen. Die genaue Diagnosefindung kann einen Zeitraum von 3 – 6 Monaten in Anspruch nehmen.

6.3.3 Diagnostik bei akuter Verwirrtheit (Delir)

Besonders bei akuter Verwirrtheit ist eine schnelle Ursachenabklärung erforderlich, um lebensbedrohliche Komplikationen abzuwenden. Es ist zu überprüfen, ob Änderungen in der Medikation im zeitlichen und damit ggf. im kausalen Zusammenhang mit der Verwirrtheit stehen. Es ist ein kompletter körperlicher Untersuchungsbefund mit neurologischem Status, Schilddrüsentastbefund, kardiopulmonaler und abdominell/ urogenitalem Befund inklusive rektaler Untersuchung und Untersuchung auf Exsikkosezeichen erforderlich. Zwingend ist die sofortige Durchführung eines EKG’s, einer Abdomen-/Blasensonografie, eines Blutzuckertests, ggf. eines Troponin T-Schnelltests zur Infarktdiagnostik.

Mit dem Fremdbeurteilungsinstrument Confusion Assessment Method (CAM-ICU) können Pflegende rechtzeitig ein Delir erkennen. Die Skala ist besonders wichtig für ältere postoperative Patienten und ermöglicht mit einem Score-Wert eine Aussage über den Gefährdungsgrad bzw. dem Vorliegen eines Delirs.

Folgende Parameter werden über einen akuten Beginn und fluktuierenden Verlauf ermittelt:

1.Gibt es Hinweise auf eine akute psychische Veränderung?

2.Schwankt das (abnorme) Verhalten im Tagesverlauf?

Aufmerksamkeitsstörung

Hat der Patient Schwierigkeiten, seine Aufmerksamkeit auszurichten?

Ist er zum Beispiel leicht ablenkbar

Hat er Probleme, einem Gespräch zu folgen?

Inkohärenz

War das Denken des Patienten ungeordnet und inkohärent – etwa im Gespräch weitschweifig und am Thema vorbei? Mit mit einem unklaren und unlogischen Gedankengang oder mit einem unvermittelten Springen von Thema zu Thema?

Liegt eine veränderte Bewusstseinslage vor?

wach

hypervigilant

überreizt

lethargisch (müde, leicht weckbar)

stuporös (schwer weckbar)

komatös (nicht weckbar)

6.3.4 Diagnostik demenzieller Erkrankungen

Eine frühe Diagnose und darauf abzielende Therapie der demenziellen Erkrankungen bietet die Möglichkeit, die Alltagkompetenz der Betroffenen über einen längeren Zeitraum aufrechterzuhalten und die Pflegebedürftigkeit hinauszuzögern.

Eine Pflegesituation aus der Praxis

Körperlich ist Herr H. mobil. In den letzten Monaten leidet er an Merkfähigkeitsstörungen, Konzentrationsmangel, schnelle Ermüdbarkeit sowie erhöhte Reizbarkeit.

Seine Tochter Anna hat für ihren Vater, den sie nun nach dem Tod der Mutter pflegerisch versorgt, einen Arzttermin bei einem Facharzt für Neurologie/Psychiatrie vereinbart. Der Hausarzt von Herrn H., der ihn schon seit über 25 Jahren betreut, schickte Tochter und Patient bereits mehrmals ohne Befund nach Hause. »Das sind typische Alterserscheinungen, ohne jegliche Bedeutung. Ihr Vater kann froh sein, so gesund zu sein.«

Anna gibt sich nun nicht mehr mit diesen Hinweisen zufrieden. Sie möchte endlich Wissen darüber haben, was mit ihrem Vater los ist. Der Facharzt überweist Herrn H. zur Diagnostik in eine nahe gelegene Gerontopsychiatrie. In der Klinik führt ein Psychiater verschiedene Gespräche mit Herrn H. Nach einem sog. »psychopatho-metrischen Test« stellt der Arzt die Diagnose »Demenz vom Alzheimer Typ« im Anfangsstadium. Der Schock sitzt bei Tochter Anna zunächst tief. Sie stellt sich vor, wie sie demnächst ganz für ihren Vater sorgen muss, da er bei fortschreitender Erkrankung dazu nicht mehr in der Lage sein wird. Der Facharzt beruhigt die Tochter mit dem Hinweis: »Mit den heute zur Verfügung stehenden Medikamenten ist die Krankheit zwar immer noch nicht heilbar, aber die Symptome können sehr gut eingedämmt werden.«

Nachdem der alte Mensch erfahren hat, an welcher Krankheit er leidet, sollten Angehörige oder Altenpflegerinnen ihm dabei helfen, mit Gefühlen der Wut, Selbstvorwürfen, der Angst und Niedergeschlagenheit zurechtzukommen. Wenn die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten ist, helfen dem Betroffenen Beratungsangebote, z. B. die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe (vgl. Seite 66).

Die Abgrenzung »normalen« Alterns von einer bereits als pathologisch zu bezeichnenden leichten kognitiven Beeinträchtigung bis hin zum Krankheitsbild der Demenz stellt derzeit immer noch eine der größten diagnostischen Schwierigkeiten dar (vgl. Seite 40). Damit eine Frühdiagnose nicht zu einer Spätdiagnose wird, ist eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die Vorsymptomatik zu richten, nach der gezielt gesucht werden muss und die richtig zu interpretieren ist. Die eigentliche Diagnose z. B. bei der Demenz wird im Durchschnitt erst zwei bis vier Jahre nach dem Zeitpunkt gestellt, zu dem dies mit den heute verfügbaren Möglichkeiten bereits früher erreichbar wäre.

6.3.4.1 Demenzkriterien

Die Demenz wird erst dann im gerontopsychiatrischen Sinne diagnostiziert, wenn die Kriterien des Klassifikationssystems nach ICD-11 oder DSM-V erfüllt sind (siehe auch Seite 68). Die zuverlässige klinische Diagnose »Demenz« ist nur möglich, wenn der Verlust der kognitiven Fähigkeiten und das objektiv nachweisbare Nachlassen des Gedächtnisses mindestens sechs Monate lang deutlich vorhanden sind. Besteht das Krankheitsbild kürzer, darf nur von einer Verdachtsdiagnose gesprochen werden.

6.3.4.2 Neuropsychologische Diagnostik: Psychopathometrische Tests

Eine Schweregradabschätzung kognitiver Leistungsstörungen können mit Hilfe geeigneter Screenings durchgeführt werden.

Ziele der Tests:

Grobquantifizierung kognitiver Defizite

Schweregradabschätzung

Verlaufsuntersuchung

Ausführliche standardisierte Testverfahren sollten immer bei fraglicher oder leichter Demenz durchgeführt werden; möglichst beim Facharzt oder in der Gedächtnisambulanz.

Kognitive Screenings zur Früherkennung sind:

Mini-Mental-Status-Test (MMST) (Folstein et al. 1975, Deutsche Fassung Kessler et al. 1990): Beschreibung siehe Seite 75.

DemTec (Demenz Detektion) (Calabrese et al. 2000). Der Test ist ökonomisch; der Zeitaufwand beträgt ca. 8 Minuten, ist objektiv durchzuführen und auszuwerten. Das Testverfahren besteht aus fünf Einzelaufgaben: drei Gedächtnisaufgaben für Wörter und Zahlen, eine Zahlenumwandlungsaufgabe, bei der Ziffern zu Zahlenwörtern und Zahlenwörter zu Ziffern umgeschrieben werden müssen, einer verbalen Flüssigkeitsaufgabe, bei der eine Minuten lang Gegenstände genannt werden müssen, die es in einem Supermarkt zu kaufen gibt.

Uhrenzeichentest (Shulman 2000). Die visualkonstruktorischen Funktionen sowie abstraktes Denken und mnestische Fähigkeiten lassen sich gut mit dem Test überprüfen.

Global-Deterioration-Skala (GDS) = Globale Verschlechterungsskala (Reisberg et al. 1982).

Die sog. Reisberg-Skala (Reisberg et al. 1984) ist für Diagnostik und Verlaufsmessung geeignet, ebenso zur Einschätzung des Schweregrades einer Demenz (siehe Seite 104).

Die Verfahren sollten möglichst in Kombination durchgeführt werden. Die Sensitivität der Testverfahren ist begrenzt bei leichtgradiger oder fraglicher Demenz, zur Differentialdiagnostik verschiedener Demenzen nicht geeignet.

Beeinflussende Faktoren bei den Tests:

Prämorbides Funktionsniveau (Mobilität, geistige Aktivität), Testvorerfahrung (Testwiederholungseffekte beachten, mind. 6 Monate Abstand zwischen Tests lassen), Bildung (Ausbildung, Intelligenz), Sprachkenntnisse und soziokultureller Hintergrund.

Erweitert sollten getestet werden: Lernen, Gedächtnis, Orientierung (Zeit, Ort, Situation, Person), Aufmerksamkeit, Praxie (Lenkung motorischer Abläufe), Sprache und Handlungsplanung.

Hinweis

Eine Demenzdiagnose kann nicht allein anhand eines neuropsychologischen Tests gestellt werden. Durchzuführen sind die Tests durch den Facharzt während der Anamnese.

6.3.4.3 Der Mini-Mental-Status-Test

Der Mini-Mental-Status -Test (MMST), von den Ärzten Folstein, Folstein & McHugh im Jahr 1975 entwickelt, ist ein nützliches und in seiner Handhabung einfaches Screening. Seine Hauptzielrichtung ist kognitive Leistungsstörungen in den folgenden Dimensionen zu erfassen z. B. Orientierung, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Rechenfähigkeit, Erinnerungsfähigkeit, Lesen, Schreiben und visuo-konstruktive Fähigkeiten.

Bei dem Modus handelt es sich um 30 Fragen/Aufgaben zum Datum oder zur Tageszeit, um Sprechübungen, einfaches Kopfrechnen und um Zeichenaufgaben. Pro richtig gelöster Aufgabe wird ein Punkt vergeben. Bei weniger als 24 Punkten besteht der Verdacht auf Demenz.

Eine wichtige Voraussetzung zur Testdurchführung ist die wache Bewusstseinslage des Patienten. Eine Differenzierung zwischen der Alzheimer Demenz und anderen Demenzen ist durch den Mini-Mental-Status-Test aber nicht möglich. Es wäre fatal, den Test zur Demenzerhebung durch eine Angehörigenbefragung durchzuführen.

Tabelle 14: Modifizierte deutschsprachige Version des Mini-Mental-Status-Test

image

Die Auswertung ergibt sich durch eine einfache Addition der erreichten Punkte.

Schweregradeinteilung mittels MMST-Test z. B. bei der Alzheimer Demenz

Keine Demenz (altersgemäße kognitive Leistung): MMST-Wert= 27–30 Punkte
Leichte Alzheimer Demenz: MMST-Wert= 18–26 Punkte
• Kognition: komplizierte Aufgaben sind nicht mehr möglich  
• Lebensführung eingeschränkt, aber möglich; erhöhte Verletzung und Unfallgefahr z. B. im Straßenverkehr  
Moderate Alzheimer Demenz: MMST-Wert = 10–19 Punkte
• Einfache Aufgaben sind nur teilweise lösbar  
• Lebensführung: der Betroffene ist auf Hilfe angewiesen  
Schwere Alzheimer Demenz: MMST-Wert = weniger als 10 Punkte
• Gedankengänge sind nicht mehr nachvollziehbar  
• Selbstständige Lebensführung ist aufgehoben  

Mit dem kognitiven Leistungstest lassen sich folgende Patientengruppen gut differenzieren:
demenziell Erkrankte, Patienten mit kognitiven Problemen bei Depressionen, Patienten mit komplexen affektiven Störungen sowie kognitiv Gesunde.

6.3.4.4 Risiko-Diagnostik durch Biomarker

Als niedrigschwellige Eingangsuntersuchung kann eine bildgebende Untersuchung infolge Magnetresonanztomographie (MRT) dazu beitragen, Personen mit allgemeinen Risikofaktoren (z. B. Alter, familiäre Vorbelastung, Diabetes, erhöhter Blutdruck, subjektive Gedächtnisstörungen u. a.), unabhängig von neuropsychologischen und klinischen Untersuchungen, in einer frühen Demenzphase zu erfassen. Nach Williams et al. (2010) haben Personen mit bestehenden Depressionen ein erhöhtes Alzheimer Demenzrisiko.

Mit hochauflösenden strukturellen MRT-Bildern lässt sich ein Gewebeverlust (Hirnatrophie) im Hippocampus beurteilen. Diese Atrophie der grauen Hirnsubstanz kann anhand einer visuellen Beurteilungsskala erfasst oder durch eine Hippocampousvolumetrie quantifiziert werden. Das nicht invasive schonende Verfahren, d. h. ohne Strahlenbelastung, kann in kurzer Zeit ambulant durchgeführt werden.

Zentrales Element der Risikofindung durch bildgebende Verfahren ist die Nachbereitung eines Ergebnisses im Gespräch mit einem erfahrenen Facharzt, um den Patienten mit dem Ergebnis der Untersuchung nicht alleine zu lassen. Gemeinsam mit dem Patienten und seinen Angehörigen wird insbesondere bei einem negativen Ergebnis eine Strategie entwickelt, wie das Leben in der kommenden Zeit gestaltet werden könnte, und das Wissen über eine demenzielle Erkrankung in die Praxis umgesetzt werden kann. Daraus erwächst eine Perspektive, die Sorgen und Ängste um die Zukunft abmildert und auch individuelle Chancen eröffnet.

6.3.4.5 Unterscheidung zwischen Alzheimer Demenz und vaskulärer Demenz

Abgesehen von der selbstverständlichen internistischen und neurologischen Untersuchung kommen bei aku-ten ischämischen Hirnsyndromen folgende diagnostische Maßnahmen in Betracht:

Vergleichende Blutdruckmessung an beiden Armen

Gefäßpalpation und -auskultation an allen zugänglichen Orten; insbesondere über der Carotis interna am Hals

Doppler-Ultraschall-Sonografie der hirnversorgenden Arterien, transkranielle Doppler-Sonografie

Labortechnische Untersuchungen: Blutbild, Hämatokrit, Quick-Wert, Gerinnungsstatus, Blutzucker, Blutfette, Harnsäure

EEG

Kraniales MRT (Magnetresonanztomografie)

Angiografie (in der Akuphase eines Infarktes wird eine Angiografie nur bei begründetem Verdacht auf einen Karotisverschluss durchgeführt)

Bei der neurologischen Untersuchung können verschiedenartige Herdsymptome aufgedeckt werden, z. B. Reflexdifferenzen, Pyramidenbahnzeichen, spastische Paresen, Tremor, aphasische und apraktische Symptome. Transitorisch-ischämische Attacken neigen zu Wiederholungen und können in ca. 20 % der Fälle in einen Apoplex übergehen; ein rechtzeitiges Erkennen von flüchtigen Durchblutungsstörungen ist deshalb sehr wichtig.

Der Prävention von gefäßbedingten Veränderungen kommt eine größere Bedeutung zu, als der Diagnostik von Hirngefäßveränderungen, die zur Demenz führen können (vgl. Präventionsempfehlungen Seite 103 f.).

6.3.4.6 Erkennung von Risikofaktoren

Es gibt Risikofaktoren, die darauf hinweisen, dass ein alter Mensch infarktgefährdet ist. Zu den auch ohne aufwändige apparative Diagnostik beobachtbaren Merkmalen zählt vor allem die Hypertonie = mehr als 160mm Hg diastolisch und mehr als 95mm Hg systolisch.

Eine große Rolle spielen auch Herz- und Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus, Nikotinkonsum und Alkoholabhängigkeit. Generell gilt, dass die Infarktgefährdung mit dem Alter zunimmt. Der infarktgefährdete Alterspatient hat meist schon einige Schädigungen erworben, die nicht mehr rückbildungsfähig sind.

Zur Abschätzung der kognitiven Leistungseinbuße und der Schweregrade der Demenz lassen sich verschiedene psychologische Testverfahren durchführen. Der in der Praxis schnell handhabbare Ischämie-Score Test nach Hachinski ermöglicht eine differentialdiagnostische Unterscheidung zwischen einer Alzheimer Demenz (primär degenerativen Demenz) und einer vaskulären Demenz.

Tabelle 15: Ischämie-Skala nach Hachinski et al. (nach Soyka 1991)

Anamnese Punkte
Abrupter Beginn 2
Stufenweise Verschlechterung 1
Fluktuierender Verlauf 2
Nächtliche Verwirrtheit 1
Hochdruckanamnese 1
Insultanamnese 2
Fokale neurologische Symptome 2
Körperliche Beschwerden 1
Befund:
Relative Bewahrung der Persönlichkeit 1
Depression 1
Affektinkontinenz 1
Arteriosklerosezeichen 1
Fokale neurologische Ausfälle 2

Legende:   0–4 Punkte sprechen für eine primär-degenerative Demenz,

         7 Punkte und darüber für eine vaskuläre Demenz.

6.3.5 Behandlungspfade zur Diagnostik und Therapie

Behandlungspfade

Behandlungspfade (clinical pathway(s)) gelten als optimale zeitliche Abfolgen von pflegerischen (ärztlichen) Gesundheitsversorgungsmaßnahmen, die die Ressourcennutzung verbessert, Pflegequalität maximiert sowie Behandlungsverzögerungen verringert.

Ein Pfad (auch Algorithmus) für die Diagnostik und Therapie von demenziellen oder depressiven Erkrankungsbildern gibt eine sequenzielle Abfolge von Pflege- bzw. Therapieschritten vor. Wichtig sind dabei immer ein vorher definiertes Pflegeziel (z. B. Vermeidung eines Delirs) sowie die standardisierte Evaluation des Pflegeerfolgs zu festgelegten Entscheidungszeitpunkten.

Behandlungspfade haben eine hohe Variabilität in der Pflege zur Behandlung von psychischen Störungen. Pfadimplementierung wird dabei verstanden als die Vereinheitlichung von Versorgungsmustern in Stufenplänen, linearen Ablaufschema, sequenziellen Mustern oder Therapiealgorithmen und in standardisierten, meist interdisziplinären Entscheidungsfindungsprozessen. Studien konnten nachweisen, dass eine Standardisierung und Strukturierung der Behandlungsketten und -verläufe im Bereich der psychischen Störungen (insbesondere bei Depressionen, Schizophrenie) zu effektiveren Ergebnissen führt (Salize et al. 2015). Auf der nächsten Seite ist ein Algorithmus für eine demenzielle Erkrankung aufgeführt.

7 DIAGNOSTIK BEI DEPRESSIVEN ERKRANKUNGEN

7.1 Verdachtsdiagnose »Depression«

Durch Exploration mittels eines Fremdbeurteilungsinstrumentes. wie z. B. der Montgomery Asberg Depression Rating Scale (1979) oder dem Beckschen Depressionsinventar 1961, stellt der Facharzt das evtl. Bestehen einer primären affektiven Störung fest. Das Vorhandensein depressiver Gedanken und vegetativer Symptome ist von Bedeutung, besonders wenn die gefährliche »Losigkeits«-Trias von Hoffnungslosigkeit, Wertlosigkeit und Gefühlslosigkeit erkennbar ist. Die Exploration vermittelt auch eine Vorstellung davon, wie groß die Kräfte sind, welche zur Ausführung von Suizidgedanken führen können (erkennbar an Unruhe, Angst und Verstimmung).

Sind in der gesundheitlichen Vorgeschichte oder in der Familie Depressionen vorgekommen, kann dies die Diagnose erhärten. Der Interviewleitfaden (nach Montgomery und Asberg) enthält folgende Symptomenkomplexe:

Sichtbare Traurigkeit

Mitgeteilte Traurigkeit

Innere Anspannung

Reduzierter Schlaf

Reduzierter Appetit

Konzentrationsschwierigkeiten

Antriebsmangel

Gefühl der Gefühllosigkeit

Pessimistische Gedanken

Suizidgedanken

Je mehr Symptome vom Patienten bejaht werden, umso mehr besteht ein Verdacht auf eine depressive Erkrankung. Bei einigen Patienten können körperliche Beschwerden wie Verstopfung, Appetitlosigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen im Vordergrund stehen, während die seelische Niedergeschlagenheit weitgehend zurücktritt. Dies erscheint paradox und kann zu Fehlbeurteilungen führen. Depressionen können mit innerer Unruhe und Nervosität einhergehen; in anderen Fällen sind die Patienten gehemmt und schließen sich völlig von der Umwelt ab. Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen sowie die Betroffenen selbst sollten Anzeichen einer Depression stets ernst nehmen, auch wenn die Klagen als übertrieben und unbegründet erscheinen. Wichtig zur Diagnosefindung einer Depression ist, wie bei allen anderen seelischen Erkrankungen, nicht der objektive Tatbestand, sondern die subjektive Wirklichkeit, wie sie vom Kranken erlebt und erlitten wird.

Merke

Nicht nur Depressivität kann mit folgenden Assessments erfasst werden:

Depressions-Angst-Stress-Skala (DASS) mit guter Trennbarkeit der vier Dimensionen: Depression, Angst, Stress, somatische Beschwerden (Beschwerdedruck)

Beck-Depressions-Inventar (BDI)

Beck-Angst-Inventar (BAI)

Allgemeine Depressionsskala (ADS)

Hospital Anxiety and Depressions Scale (HADS): Die Antwortmöglichkeiten bei den 7 Items reichen jeweils von 0 = traf gar nicht auf mich zu, bis 3 = traf sehr stark auf mich zu oder die meiste Zeit. Der kritische Wert für eine depressive Verstimmung liegt dann beim Wert 10.

Schlaf-Wachprotokoll

Das Protokoll ist hilfreich bei der Diagnosesicherung auf eine Depression. Die Aufforderung zur Aufzeichnung der Wachphasen durch den alten Menschen selbst kann paradoxe Wirkung haben und den Betroffenen müde machen. Da Schlafstörungen ein herausragendes Kennzeichen der Depression sind können Neurologen/Psychiater eine Schlaf-Elektronen-Enzephalografie durchführen.

8 DIAGNOSTIK BEI NEUROLOGISCHEN ERKRANKUNGEN

8.1 Aphasie

Die Diagnostik der Aphasie wird in einer Rehabilitationsklinik durchgeführt. Es werden dort medizinischneurologische und psychosoziale Untersuchungen durchgeführt, um folgende Fragen beantworten zu können:

Welche Ursachen liegen der Aphasie zu Grunde?

Ist der Patient körperlich belastbar? (besonders bei alten Patienten)

Liegen innere Erkrankungen vor?

Sind neurophysiologische Probleme festgestellt worden, z. B. Apraxien, zusätzlich Gesichtsfeldeinschränkungen und Hemiplegie?

Fragen zur Erstellung der Sozialanamnese

Wie sieht die soziale Situation des Aphasikers aus?

Wird der Aphasiker nach der Rehabilitationsbehandlung nach Hause zurückkehren? Wird er in ein Seniorenpflegeheim entlassen?

Wie kommen die Angehörigen kommunikativ mit ihm zurecht?

Kontaktaufnahme mit dem Aphasiker

Die Kontaktaufnahme wird in Form eines lockeren Gesprächs durchgeführt. Der Betroffene sagt verbal oder nonverbal etwas über sich aus. Die physische und psychische Verfassung des Aphasikers wird von dem Sprachtherapeuten registriert: Stimmung, Interessen, Ängste und Fähigkeiten.

Weitere Fragen werden von dem Therapeuten abgeklärt

Ist der Patient depressiv?

Wie ist seine Verständigungsfähigkeit?

Kann er sich auf den Gesprächspartner einstellen?

Leidet der Patient an einer globalen, flüssigen oder unflüssigen Sprachstörung?

Herausfinden der sprachlichen Fähigkeiten im Therapieraum

Wie viel versteht der Aphasiker?

Versteht er Aufforderungen und Fragen?

Was kann er sagen?

Kann er schreiben und lesen?

Kann er aus Wortkarten einige Alltagsgegenstände zuordnen?

Kann er einige Sätze schreiben?

Kann er die Nachrichten aus der Zeitung vorlesen?

Bei dieser ersten Untersuchung darf der Aphasiker nicht überfordert werden. Ziel ist, den Patienten erfahren zu lassen, dass er trotz eines begrenzten Sprachrepertoires ein Gespräch führen kann, selbst wenn er sich daran nur durch Kopfnicken, Lachen oder Gestikulierung beteiligt.

Am Ende der ersten Therapiesitzung hat der Therapeut einen Überblick über die gestörten Modalitäten. Dieses behutsame, auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmte diagnostische Vorgehen weicht von der testbetonten objektiven Diagnostik ab.

Merke!

Als Therapiegrundlage für psychisch belastete Aphasiker ist eine empathische Atmosphäre notwendig.

Ein individuelles Vorgehen setzt voraus, dass der Sprachtherapeut (Logopäde) fundierte Kenntnisse über Sprachmechanismen besitzt sowie über reichliche Erfahrungen mit Aphasie-Patienten verfügt.

Bauer und Kaiser (1989) entwickelten eine empfehlenswerte Methode, die einerseits ein individuelles Vorgehen erlauben, trotzdem aber eine objektive Einschätzung der sprachlichen Befunde ermöglicht. Bei dieser Methode werden die Gespräche zwischen Patient und Therapeut auf Band oder Kassette aufgenommen und anschließend analysiert. Die Analyse führt zu Hypothesen über die Ursachen der Fehlleistungen. Diese Vorgehensweise erlaubt die Annahme, dass Diagnostik und Therapie auf den kommunikativen Aspekt der Sprache, hier der verbalen Sprache, ausgerichtet sein muss, weil Sprache nicht in einem »luftleeren Raum«, sondern stets zwischen Kommunikationspartner entsteht. Dazu kommt die Annahme, dass aphasische Fehlleistungen, wie z. B. Nichtverstehen können oder Missverständnisse, unterschiedliche Ursachen haben: Eine Diagnostik sollte diese Ursachen an das Licht bringen, damit sie in der Therapie speziell behandelt werden können.

Erst wenn der Patient den Sprachtherapeuten kennen gelernt und Vertrauen gefasst hat, ist es möglich, den Aachener Aphasie-Test durchzuführen. Er wird nur dann angeordnet, wenn der Patient den Testbelastungen psychisch und physisch gewachsen ist.

8.1.1 Der Aachener Aphasie-Test (AAT)

Der AAT, ein psychometrischer Test ist der einzige standardisierte Aphasie-Test, der bisher für den deutschen Sprachraum entwickelt wurde (Huber et al. 1983). Er hat sich als Standardtestverfahren in der Aphasieforschung und auch im Rehabilitationsbereich durchgesetzt. Auch wird er für Leistungsnachweise verwendet, z. B. für die Einstufung des Schweregrades der Aphasie und um die Therapiefortschritte in Form eines Leistungsprofils zu dokumentieren.

Die Testleistungen werden wie folgt beschrieben:

Er soll feststellen, ob es sich bei der Sprachstörung um eine Aphasie handelt

Er macht die Aussage über die vier Standardsyndrome, globale, Broca-, Wernicke-, amnestische Aphasie oder um eine Nicht-Standardaphasie

Er erfasst die sprachlichen Störungen, d. h. welche Störungen zeigen sich innerhalb der verschiedenen sprachlichen Systeme z. B. Bedeutung, Grammatik, Wortspeicher, Lautmuster? Wie sind die Auswirkungen auf die sprachlichen Modalitäten (Sprechen, Verstehen, Lesen, Schreiben) und ihre Subkomponenten, z. B. Nachsprechen, Abschreiben, Lesesinnverständnis?

Für die Testdurchführung muss mit zwei Sitzungen von je 45 Minuten gerechnet werden. Die Testauswer-tung erfordert ca. eine Stunde.

8.1.2 Eignung des AAT für ältere Aphasiker

Der AAT weist trotz seiner diagnostischen Notwendigkeit einige Probleme auf; das trifft besonders auf den älteren Patienten zu. Der Test bringt für ältere Patienten große physische und psychische Belastungen mit sich. Bei sehr schweren Aphasien erfasst der Test nicht die noch vorhandenen Sprachressourcen; d. h. kleine Erfolge können nicht dokumentiert werden.

Der Test lässt den Sprachtherapeuten nicht genügend Spielraum auf die individuellen Fähigkeiten des Aphasikers einzugehen. Er versagt aus diesem Grund als Leistungsnachweis!

Da der Aphasiker Tagesrhythmusschwankungen in seiner Sprachfähigkeit aufweist, kann der Test nur eine subjektive Aussage über vorliegende Störungen erfassen; d. h. die einmalige Untersuchung kann zwar einen Eindruck von der Art und Schwere der Störung vermitteln, die Testangaben werden aber beeinflusst von:

dem Zeitpunkt der Testdurchführung

der psychischen und physischen Situation, in der sich der ältere Mensch gerade befindet

der Beziehungsgestaltung zwischen Therapeuten und Patienten.

Daraus folgt: Der Test kann nicht allein als Therapiegrundlage dienen, weil die in der Planung verbliebenen sprachlichen Ressourcen kaum berücksichtigt werden. Der AAT sollte im klinischen Bereich mit großer Vorsichtigkeit eingesetzt werden. Er muss gerade bei einem älteren Patienten durch zusätzliche informelle diagnostische Mittel ergänzt werden, mit denen die aphasischen Störungen genauer erfasst werden können.

8.1.3 Folgerungen

Eine sprachtherapeutische Behandlung beim Logopäden wird oftmals bei älteren Aphasiker auf Jahre hinaus abgelehnt, weil die Ergebnisse des AAT aufgrund einer einmaligen Untersuchung in der Klinik eine schwere Sprachstörung angezeigt hatte. Aus diesem Grund und zur Verlaufserhebung ist es notwendig den AAT bei älteren Patienten in Abständen zu wiederholen. Oftmals kann zu einem späteren Zeitpunkt besser abgeklärt werden, ob die aphasische Störung therapierbar ist.

8.2 Morbus Parkinson

8.2.1 Anamneseerhebung

Der Krankheitsprozess beginnt im Allgemeinen schleichend, ohne dass er für die Betroffenen, die Umwelt oder den Arzt zu erkennen wäre. Der Organismus ist z. T in der Lage, über viele Jahre, bis Jahrzehnte hinweg, einen zunehmenden Dopaminmangel zu kompensieren. Erst wenn von den Dopamin-produzierenden Zellen etwa 80% nicht mehr funktionstüchtig sind, werden erste klinische Zeichen sichtbar. Als häufig erstes Symptom kann ein Zittern eines Armes auftreten, eine allgemeine Verlangsamung oder Schreibstörungen.

Das wichtigste Element beim Erstellen der Diagnose ist die Anamnese. Sie ist wichtiger als alle in der modernen Labortechnologie verfügbaren Untersuchungsmethoden (vgl. Seite 71). Der Neurologe stellt dem Patienten Fragen, um sich ein Bild davon zu machen, wie sich die Symptome entwickelt haben. Die Diagnose des Morbus Parkinson ergibt sich aus der typischen Klinik, wobei die Symptome Rigor, Akinese und Tremor auch mit apparativen Verfahren gemessen werden können.

8.2.2 Neurologische Grunduntersuchung

Eine vollständige neurologische Grunduntersuchung dauert je nach Umstand ca. 30–45 Minuten. Dabei werden Tonus und Kraft der Muskeln aller vier Gliedmaßen überprüft; ferner die Reflexfunktionen sowie die sensorischen Funktionen. Ein mentaler Test gibt Aufschluss über die Gedächtnisfunktionen. Die meisten Neurologen lassen sich auch eine Probe der Handschrift geben, um eine evtl. vorliegende Mikrografie (= kleine Handschrift) zu erkennen.

Beim Auftreten zusätzlicher neurologischer Symptome oder bei einem Demenzverdacht bei Morbus Parkinson ist zur Abklärung zerebraler Komorbidität ein EEG und die Computertomografie oder besser durch Magnetresonanztomografie (MTR) des Gehirns notwendig. Im EEG finden sich häufig Frequenzverlangsamungen. Bildgebende Verfahren tragen nicht zur Diagnose bei, sind aber differentialdiagnostisch wertvoll und können im Einzelfall auch weitergehende Zeichen einer allgemeinen Hirnatrophie belegen.

Das Parkinson-Syndrom ist eine sehr komplexe Erkrankung und verlangt bei Diagnostik und Therapie Interdisziplinarität. Die Betroffenen weisen funktionell behindernde, motorische und nichtmotorische Symptome auf, wie z. B. Gangstörungen, Sprech- und Schluckstörungen, Mangelernährung und kognitive Defizite.

Diagnosefindung

Zur Diagnosefindung erfasst das Parkinson Neuropsychometric Dementia Assessment (PANDA) kognitive und affektive Fähigkeitsstörungen.

Im ersten Teil des Tests werden dem Patienten fünf kognitive Aufgaben gestellt: Paarassoziationslernen, Wortflüssigkeit, räumliches Vorstellungsvermögen, Arbeitsgedächtnis, verzögerte Abfrage.

Interpretation des ersten Teils: 18–30 Punkte = Normbereich, 15–17 Punkte = leichte kognitive Dysfunktion, 0–14 Punkte = Demenz

Im zweiten Teil des Assessments werden Stimmung, Antrieb, Interesse eingeschätzt. Ein Score-Wert über 4 Punkte weisen auf eine depressive Stimmungslage hin.

Der 20-Cent-Test bewertet die Feinmotorik der Hände. Für links und rechts wird jeweils die benötigte Zeit gemessen, um 20 Ein-Cent-Münzen aufzunehmen und in ein Gefäß zu legen.

Test-Interpretation:

<30 Sekunden: keine Hinweise auf Störung der Feinmotorik

>40 Sekunden: Verdacht auf alltagsrelevante Störung der Feinmotorik

Es kommt vor, dass der Neurologe bei manchen Patienten einen längeren Zeitraum braucht, um zu einer sicheren Diagnosestellung zu kommen. Wichtig ist stets, eine chronische Intoxikation und ein pharmakogenes Parkinson-Syndrom auszuschließen.

8.3 Multiple Sklerose (MS)

8.3.1 Kriterien zur Diagnosefindung

Die Diagnose einer MS stützt sich auf vier Grundpfeiler:

1.Nachweis multilokulärer Läsionen in Gehirn und Rückenmark (MRT)

2.ein schubförmiger Krankheitsverlauf

3.Nachweis einer chronischen Entzündung im Liquor cerebrospinalis

4.Ausschluss anderer Krankheiten

8.3.2 Interdisziplinäre Untersuchungen

Es gibt keine einzelne Untersuchungsmethode, die die MS eindeutig diagnostiziert; es sind immer mehrere Tests erforderlich. Neben der Schilderung der körperlichen Beschwerden und einer klinischen Untersuchung, sind augenärztliche Untersuchungen notwendig. Der wesentliche Befund bei der MS ist die Beobachtung, dass zunächst nur die Isolierschicht der Nerven im ZNS, die sog. Myelinscheiden zerstört werden. Im weiteren Verlauf, mit Abklingen der Entzündung kann es zur vollständigen Reparatur des Markscheidendefekts kommen, aber auch zu einer Narbenbildung mit Verschlechterung der Nervenleitungsgeschwindigkeit oder im ungünstigsten Fall, zum Untergang des Axons, dem stromleitenden Fortsatz der Nervenzelle. Im späteren Stadium findet sich eine Zerstörung von etwa 40% der Axome.

Eine wichtige Untersuchung ist die Lumbalpunktion, um die Entzündungszeichen im Nervensystem festzustellen. Im Liquor finden sich eine leichte Zellzahlvermehrung, in der Immunelektrophorese die typische Eiweißverteilungen.

Das Kernspintomogramm zeigt die Gehirn- und Rückenmarkveränderungen bereits im Frühstadium genau an. Sie wird auch zur Therapiekontrolle und als Verlaufsuntersuchung eingesetzt. Ergänzend dazu werden neurologische Tests durchgeführt.

9 GERONTOPSYCHIATRISCHE KRANKHEITSBILDER

9.1 Einteilung psychischer Störungen

Psychische Störungen sind nach ICD-11 Störungen des Erlebens und des Verhaltens. Einem eng gefassten Krankheitsbegriff folgend sind psychische Störungen im Gegensatz zu somatischen Störungen gekennzeichnet durch subjektives Leiden oder eine Einschränkung der Fähigkeit zur Selbstpflege und sozialen Teilhabe.

Es werden unterschieden:

Exogene, mit z. T endogener Ursache, d. h. körperlich, symptomatisch oder organisch begründbar, durch hirnbeteiligende körperliche Erkrankungen, z. B. Infektions- oder Stoffwechselkrankheiten, Delir oder neurodegenerative Hirnerkrankungen, z. B. Demenzen, Hirntumore.

Endogene Störungen, mit z. T exogener Ursache, d. h. körperlich nicht begründbar, z. T mit erblich bedingter Ursache, z. B. affektive Psychosen z. B. Schizophrenie, abnorme Trauerreaktionen, Depressionen.

Störungen mit endogenen und exogenen Ursachen z. B. Neurosen (Angst, Zwang) oder Persönlichkeitsstörungen, die erst in übersteigerter Form behandlungsbedürftig werden.

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Abb. 7: Einteilung psychischer Störungen.

»Psychose« ist ein unspezifischer Begriff in der Psychiatrie. Er bedeutet »krankhafte seelische Störung«. Darunter wird allgemein eine tiefergreifende Störung der psychischen Grundfunktion mit einem schweren gestörten Realitätsbezug verstanden. Dem Kranken fehlt eine zureichende, verstehbare Motivierung, er ist von seiner wahrgenommenen Realität überzeugt. Es kommt zum Auftreten qualitativ abnormer Symptome.

10 AKUTE VERWIRRTHEIT (DELIR)

Verwirrtheit ist keine eigene psychiatrische Erkrankung, sondern Symptom einer Erkrankung. Sie ist eine Reaktion auf eine körperliche oder psychische Erkrankung oder auf psychisch oder sozial belastende Faktoren. Verwirrtheit ist eine Pflegediagnose.

Definition

Die akute Verwirrtheit, international auch als »Delir« bezeichnet, ist eine plötzlich auftretende globale Störung aller kognitiven Funktionen (Wahrnehmen, Erinnern, Denken), die durch die Unfähigkeit gekennzeichnet ist, auf äußere Einflüsse oder Veränderungen der Umgebung zeitgerecht und/oder adäquat zu reagieren. Bei der Störung treten keine Sinnestäuschungen und Verkennungen in den Vordergrund.

Der Verlauf der akuten Verwirrtheit ist flukturierend. Der Wechsel der Symptomatik kann innerhalb von Stunden, manchmal sogar Minuten erfolgen. Die Gesamtdauer kann einige Tage bis Wochen dauern. Das Syndrom tritt besonders häufig in den ersten Tagen eines stationären Krankenhausaufenthaltes ein. Die Betroffenen verlieren meist schon nach einem kurzen Aufenthalt das Gefühl für Tag und Nacht, erleben soziale Isolation und Zukunftsängste.

Ein alter Mensch erlebt das Delir als sehr bedrohlich. Das Auftreten des Syndroms kann zu einer Verzögerung der Genesung, hohen Mortalität des Patienten führen und kann ohne therapeutische Interventionen in ein manifestes Demenzsyndrom übergehen.

10.1 Delirformen

Man unterscheidet drei Formen:

1.Hypoaktive Variante

Diese Form wird sehr schnell von Pflegenden übersehen. Verlangsamung aller Bewegungsabläufe und eine Lethargie stehen im Vordergrund.

2.Hyperaktive Variante

Der alte Mensch ist motorisch sehr agitiert.

3.Mischformen sind möglich, bei denen sowohl Symptome der hypo- als auch hyperaktiven Form zu beobachten sind.

10.2 Ursachen des Delirs

Folgende Erkrankungen äußern sich im Alter häufig über ein »Delir« als Erstsymptom/Leitsymptom und müssen differentialdiagnostisch bedacht werden:

Exsikkose bei Trinkschwäche, Diarrhö, Fieber

Harnverhalt, Harnweginfekt

Urämie

Pneumonie, Cholecystitis

Hypoglykämie und Hyperglykämie (infolge Exsikkose)

Hyperthyreose und Hypothyreosen

Apoplexie (Ischämie oder Blutung)

subdurales Hämatom bei »Vergessen« des Sturzereignisses

zerebrale Infektionen bei fehlenden Zeichen des Meningismus

akute Störungen des Verdauungstraktes

akute und chronische Schmerzen

Darüber hinaus muss z. B. an Folgendes gedacht werden:

Medikamentennebenwirkungen bzw. Wechselwirkungen bei Polymedikation

Entzugssymptomatik nach plötzlichem Absetzen einer länger bestehenden Medikation

Typische Medikamente, die besonders Intoxikationen hervorrufen: Digitalisglykoside, Muskelrelaxanzien, Spasmolytika, Antidepressiva, Antiemetika, Antiparkinsonmittel, Antikonvulsiva, Sedativa, Insulin, zentral wirksame Antihypertensiva

Alkoholmissbrauch

Hörbehinderung

Psychosoziale Ursachen

Das Vorliegen von Mild cognitive Impairment (MCI) im Zusammenhang mit einer fremden Umgebung (Milieuwechsel bedingt durch einen anderen Tagesablauf) äußert sich oft katastrophal

Schwerer sozialer Verlust infolge Tod durch Bezugsangehörige

Fremdkörperreaktion infolge transurethrale Urinableitungen, Drainagen etc.

Über 95% aller Betroffenen werden durch eine schnelle gezielte Behandlung der organischen Ursache geheilt und bleiben frei von psychiatrischen Auffälligkeiten.

10.3 Symptome

Aktive oder passive Verweigerungshaltungen bei der Nahrungseinnahme, Therapien

Verbale oder physische Aggressionen

Wahnzustände

Ungeordnete Gedanken

Auffällige Reduktion von Konzentrations- und Merkfähigkeit (vorrangig Kurzzeitgedächtnis)

Erhöhte Ängstlichkeit

Die Hälfte der Betroffenen leidet an Halluzinationen: akustisch, optisch

Beeinträchtigte Sprache: Logorrhoe, Konfabulation

Störungen des Schlaf-/Wachrhythmus

Psychomotorische Unruhe z. B. nesteln an der Kleidung oder an Gegenständen, im Wechsel mit Apathie und Somnolenz

Desorientierung (Zeit, Ort, Situation, Person)

Endogene, vegetative Symptome

Fieberschübe, Tachykardie, Erhöhung der Körpertemperatur und ein wechselnder Blutdruck.

Jeder Patient mit einem Delirium sollte psychiatrisch, neurologisch und internistisch untersucht werden. Die Erkennung eines Delirs ist Aufgabe von Pflegenden und sollte mit der Fremdbeurteilungsskala Confusion Assessment Method (CAM-ICU) erfasst werden. Die Skala ergibt einen Score-Wert, der eine Aussage über dem Gefährdungsgrad bzw. dem Vorliegen des Delirs macht.

10.4 Interventionen

Sofortige therapeutische Interventionen nach den ersten Anzeichen

Bei Schlafmangel sollten störende Licht- und Lärmquellen ausgeschaltet werden.

Auf eine möglichst frühe Mobilisierung ist zu achten: alten Mensch öfters im Bett aufsetzen, außerhalb des Bettes die Körperpflege durchführen und in Gemeinschaft am Tisch essen lassen.

Bei Kommunikationshindernissen ist auf das Tragen von Brille und Hörgerät zu achten.

Ein Flüssigkeitsmangel muss frühzeitig ausgeglichen werden.

Nach operativen Eingriffen sollte mit Sauerstoffgabe nicht gespart werden.

Rechtzeitig ist die Elektrolytbalance herzustellen.

Schmerzen sollten sofort ausreichend behandelt werden.

Eine zeitige orale Ernährung ist besonders nach operativen Eingriffen sicherzustellen.

Eine geregelte Magen-, Darm- und Blasenfunktion gelten ebenfalls als wichtig.

Menschliche Zuwendung und Familienbesuche sowie Orientierungshilfen (siehe Tabelle 16) helfen ebenfalls ein Delir zu minimieren.

Nach der S3-Delir-Leitlinie sind psychosoziale Interventionen besser als die Gabe von »beruhigenden« Psychopharmaka.

Tabelle 16: Beispiele für Orientierungshilfen

Zur räumlichen Orientierung Zur personenbezogenen Orientierung
Umgebung vereinfachen und übersichtlich ordnen (Bilderund Symbolsprache), Aufenthaltsraum als Wohnzimmer gestalten Familienfotos im Zimmer aufhängen, Erinnerungsstücke (Kunstgegenstände, Urkunden) und persönliche Möbel zulassen
nachts immer eine Dämmerleuchte einschalten große Spiegel (Kippspiegel) Bezugspflegeperson einsetzen ohne weißen Kittel (evtl. mit Parfüm zur stetigen Erkennung)
Treppen und Geräte sichern Lieblingsmusik, Kuscheltiere, Puppen oder Haustiere ermöglichen
Eigennamen für Etagen verwenden Friedhofsspaziergänge ermöglichen
Namensschilder an Türen individuelle Merksätze verwenden
eine Außenansicht des Hauses und Stadtpläne aufhängen mit einem Notfallplan kann beruhigt werden

10.4.1 Unterscheidung zwischen Delir und Demenz

Wichtig beim Vorliegen eines Delirs ist die sofortige Unterscheidung von einer Demenz.

Tabelle 17: Delir oder Demenz?

Delir Demenz
Beginn akut innerhalb Stunden oder Tage Langsam, schleichend, mind. 6 Monate anhaltend
Ursachen multifaktoriell bedingt, besonders bei manifesten Demenzen unterschiedlich je nach Demenzform (siehe Demenz 3-Leitlinie)
Diagnostik CAM-ICU (Confusion Assessment Method), Scoring alle 8 Stunden durchführen! psychometrische Verfahren:
DemTec, MMST, Uhrenzeichentest etc.
Symptome Bewusstseinsstörungen mit Desorientierung, Veränderung kognitiver Funktionen, mit akutem Beginn und Fluktuieren der Symptomatik, Störungen des SchlafWach-Rhythmus gehören in 90% zu den auffallendsten Symptomen, endogene vegetative Reaktionen (z. B. subfebrile Temperatur, Blutdruckschwankungen) Desorientierung, bleiben lange unerkannt, Bewusstsein ist intakt
Verlauf akuter lebensbedrohlicher Zustand, nach intensivmedizinischer Behandlung innerhalb weniger Tage reversibel über Jahre chronisch progredient (6–11 Jahre), nicht heilbar

10.5 Annäherung an den akut verwirrten Menschen

Aus einer Zeitung stammt der folgende Bericht: »Vermisste 88-jährige Frau starb an Unterkühlung – Frankfurt. »Sechs Tage nach ihrem Verschwinden ist eine 88-jährige Bewohnerin eines Seniorenpflegeheimes in Frankfurt tot in einer Wiese gefunden worden. Die Frau sei an Unterkühlung und Erschöpfung gestorben, teilte die Polizei mit. Die Leiche habe nur wenige 100 Meter von einem Gebiet entfernt gelegen, das die Polizei nach der Suche der altersverwirrten Frau durchkämmt hatte.«

Handlungsaufgaben

1.Welche Gründe haben die alte Dame evtl. dazu veranlasst aus dem Seniorenpflegeheim wegzulaufen?

2.Was könnte das Pflegepersonal unternehmen, damit es nicht zu wiederholten Vorfällen dieser Art kommt?

Ein Beispiel aus der ambulanten Pflegepraxis: Frau G. lebt im Haushalt der Tochter, von der sie mit Unterstützung eines ambulanten Pflegedienstes versorgt wird. Besonders in der Nacht ist Frau G. sehr unruhig. Dann irrt sie aufgeregt in ihrem Zimmer umher und sucht laut »Hilfe« rufend einen Ausgang. In ihrer Verzweiflung öffnet sie alle Türen vom Kleiderschrank. Wenn sie den Nachtstuhl benutzt, dann möchte sie ihn nachher auf dem Zimmerboden entleeren. Ihre Handlungen streitet sie ab; sie sei das nicht gewesen. Morgens nach dem Aufwachen weiß sie nicht, wo sie ist. Sie fragt ihre Tochter, wer diese denn sei. Sie redet in unzusammenhängenden Sätzen. Die Tochter von Frau G. überlegt in letzter Zeit, ob ihre Mutter auf Grund ihrer Desorientierung nicht besser in einem Seniorenpflegeheim aufgehoben sei. Sie als Tochter ängstigt sich vor dem psychischen Zustand ihrer Mutter. Frau G. ist 86 Jahre alt. Seit 25 Jahren hat sie Diabetes mellitus und erblindete als Folge davon vor einem Jahr vollständig. Am Tage verhält sich Frau G. ruhig. Sie gibt auf kurze Fragen Antwort. Gerne sitzt sie in ihrem Sessel und hört dem Gesang des Wellensittich zu. In der Wohnung ist sie orientiert. Nachbarn und Freunde, die zu Besuch kommen, verwechselt sie manchmal. Als auffallend vergesslich kann man Frau G. nicht bezeichnen, doch sie streitet konsequent die Vorfälle in der Nacht ab.

Handlungsaufgaben

1.Arbeiten Sie aus dem Text heraus, welche Formen der Desorientierung Sie bei Frau G. erkennen können.

2.In welchem Zeitraum konnte die Desorientierung beobachtet werden? Gibt es Co-Faktoren?

3.Welche körperlichen Faktoren sind für die Desorientierung Frau G.’s verantwortlich?

4.Beschreiben Sie die emotionale Situation von Frau G. sowie die ihrer pflegenden Tochter.

Tabelle 18: Pflegeplanung bei der Pflegediagnose »akute Verwirrtheit« am Beispiel der Pflegesituation von Frau G.

Der Pflegeplan wird nach Prioritäten erstellt, d. h. welche Probleme/Gefahren sind bei Frau G. vorrangig? Die Beurteilung der Pflege, d. h. der Heilungs- bzw. der Pflegeerfolg wird im Pflegebericht schriftlich festgehalten. Wichtig ist, dass die psychische Stimmungslage über einen längeren Zeitraum überwacht und ausformuliert wird.

Aus dem Pflegebericht von Frau G.:

22.11.2016, 9.00 Uhr: Frau G. macht heute nach der direkten Pflege einen zufriedenen Eindruck; nach Aussage der Tochter reagiert sie seit Tagen nach dem Aufstehen orientierter und entspannter. Sie schläft nach der Tasse Kräutertee mit Honig schnell gegen 22.30 Uhr ein. Erholsamer Schlaf dann bis ca. 6 Uhr. In der Nacht treten z. Z keine Desorientierung und Angstzustände mehr auf.

27.11.2016, 9.30 Uhr: Frau G. ist heute besonders niedergeschlagen. Bei einem Gespräch mit ihr stellt sich heraus, dass sie unzufrieden ist über ihre Hilflosigkeit (Sehbehinderung). Die Orientierungsfähigkeit von Frau G. hat sich in den vergangenen Tagen gebessert. Gestern bekam sie Besuch von der Nachbarin; nachdem sich diese mit Namen vorgestellt hatte, wusste Frau G. gleich um wen es sich handelte und konnte sich angeregt unterhalten.

Ein Beispiel zur Desorientierung aus der stationären Altenpflege

Frau K. läuft seit einigen Stunden durch die Flure des Pflegeheims, schließlich spricht sie Altenpflegerin Sabine an: »Sagen Sie mir bitte, wie komme ich denn nach Hause, wie heißt diese Straße?« Meinen Sie die Anschrift des Pflegeheims?« »Das Pflegeheim? Ich muss nach Hause, meine Kinder warten auf mich, ich finde den Weg aber nicht.« Sabine antwortet Frau K.: »Sie wohnen bereits seit einem Jahr hier bei uns im Seniorenpflegeheim«. Frau K. ist darüber sehr empört und sagt: »Ach, lassen Sie mich doch in Ruhe, ich kenne Sie ja gar nicht.« Danach läuft sie wieder ruhelos in der Pflegewohngruppe auf und ab; suchend öffnet sie dabei die Türen von den Zimmern ihrer Mitbewohner.

Frau K. hat sich eigene Erklärungen ihrer Situation zurechtgelegt. Erklärungen, die mit ihr selbst zu tun haben und mit dem, was sie an Ähnlichem bereits erlebt hat und woran sie sich erinnern kann. Altenpflegerin Sabine bietet eine Erklärung an, die sie nicht akzeptiert. Also macht Frau K. sich selbst auf die Suche nach anderen Erklärungen. Sie wird unter den fremden Menschen in ihrer Umgebung nach vertrauten Gesichtern suchen, sie wird bei allen Vorgängen um sie herum selbst nach Tätigkeiten suchen. Dabei wird sie immer hilfloser werden.

10.6 Präventive pflegerische Maßnahmen im akut-stationären Bereich

Tabelle 19: Nicht-pharmakologische-Interventionen zur Prävention und Therapie eines Delirs im akuten stationären Bereich

10.7 Präventive pflegerische Maßnahmen im Langzeitpflegebereich

La: Kommunizieren

Freundliche, geduldige Zuwendung und ein ruhiges Gespräch lassen Einschränkungen des Kranken weniger bewusst werden. Altenpflegerinnen sollten eine angemessene Kommunikation anbieten, d. h. in kurzen, klaren Sätzen sprechen. Im Gespräch sollte die Lautstärke nicht ständig gewechselt werden; auch zu lautes oder zu leises Sprechen ist zu vermeiden. Ebenso ist der Einsatz einer bewussten nonverbalen Körpersprache angemessen, weil barsches Anreden oder energisches Anfassen den Kranken verängstigen und reizen können. Hilfsmittel zum Ausgleich von Defiziten der Sinnesorgane z. B. Brille oder Hörgerät werden bereitgestellt. Für pflegende Angehörige erfolgt eine ausführliche Beratung und Aufklärung über die Ursache der Störung und den Umgang mit dem Kranken.

La: Vitale Funktionen des Lebens aufrechterhalten

Blutdrucksenkende Medikamente wie z. B. Digitalis, Diuretika am Morgen verabreichen, damit ein Blutdruckabfall in der Nacht vermieden wird.

La: Sich pflegen

Jede neue Pflegemaßnahme ist anzukündigen und ausführlich zu erklären. Sie darf nicht zu hektisch und schnell erfolgen, damit der Kranke Gelegenheit hat sich darauf einzustellen. Wird ein Bettlägeriger angekleidet wird ihm der deutliche Unterschied zwischen dem im Bettliegen und Aufstehen mitgeteilt.

La: Essen und trinken

Pflegende achten auf ein ausreichendes Angebot von Flüssigkeit und auf eine ballaststoffreiche Ernährung. Um einen Blutzuckerabfall zu vermeiden, wird eine Spätmahlzeit angeboten. Effektiver wirkt eine Tasse Tee mit reichlich gelöstem Traubenzucker; das Getränk kombiniert mit einem kleinen Spaziergang auf dem Flur mit freundlicher Zuwendung verbessert einen Verwirrtheitszustand in kürzerer Zeit, als sedierende Medikamente es können.

La: Ausscheiden

Der Dauerkatheter wird von dem Verwirrten meistens nicht als Erleichterung, sondern als Fremdkörper empfunden. Er wird daher nur in Ausnahmefällen gegen Inkontinenz eingesetzt. Harnverhalten trotz gefüllter Harnblase tritt meist infolge einer Abflussbehinderung, wie z. B. bei Blasensteinen, auf. Bei alten unruhigen Menschen könnte die Ursache eine zu hohe Dosis niederpotenter Neuroleptika sein, die dem Kranken zur Ruhigstellung verordnet sind. Vorbeugend sollte bei alten Menschen, die regelmäßig sedierende Medikamente einnehmen, darauf geachtet werden, dass sie regelmäßig die Blase entleeren, um so Prävention der Retention zu betreiben.

La: Ruhen und schlafen

Aktivierung am Tage und ein durchgehend strukturierter Tagesablauf macht die Einnahme von benzodiazepinhaltigen Schlafmitteln überflüssig. Weil die abendliche Tablette bei vielen alten Menschen zu einem festen Bestandteil ihrer Gewohnheiten geworden ist, bleibt Pflegenden oder Angehörigen die Aufgabe, nach Absprache mit dem behandelnden Arzt, darauf zu achten, dass Medikamente mit geringerer Halbwertzeit oder Mittel auf pflanzlicher Basis verordnet werden. Eine Dämmerleuchte am Bett hilft zur besseren Orientierung, besonders bei nächtlich verstärkt auftretender Desorientiertheit.

La: Sich beschäftigen

Für verwirrte alte Menschen ist ein regelmäßiger Tagesablauf von großer Wichtigkeit. Veränderungen, z. B. Ausflüge und Besuche (besonders ärztliche Besuche und Untersuchungen), sollten ihnen rechtzeitig angekündigt werden, damit sie genügend Zeit haben, sich mit ihnen gedanklich vertraut zu machen. Es wird vermieden, dass das Pflegebett des Kranken oft umgeschoben wird, weil plötzliche Veränderungen den Kranken verwirrter machen. Der Kranke sollte regelmäßig zwei- bis dreimal täglich das Bett verlassen können oder in einen bequemen Stuhl oder Sessel gesetzt werden, um den Lebensraum Bett und Nachttisch zu erweitern. Eine Hilfe zur Tagesstrukturierung ist das Konzept des Realitätsorientierungstrainings (ROT): Hilfreich sind hier sog. »Realitätsstützen« die der Gedankenwelt der Betroffenen angepasst sind: Schilder, Symbole, Farben wie Wegweiser und Uhren, mit denen sich ältere Menschen auskennen. Diese knüpfen an das noch vorhandene Orientierungsvermögen an.

La: Für eine sichere Umgebung sorgen

Während eines stationären Aufenthaltes z. B. in einer Klinik wird dem Patienten Sicherheit und Wohlbefinden vermittelt, wenn er sich mit bekannten Gegenständen von zu Hause umgeben kann, z. B. Fotos von Angehörigen oder geliebten Haustieren, das Kuschelkissen, eigene Handtücher, Bettwäsche und Körperpflegemittel u. v.a. m.

La: Mit existenziellen Erfahrungen des täglichen Lebens umgehen

Der Einsatz einer konstanten Bezugspflegeperson verleiht dem Betroffenen Orientiertheit. Das Konzept der Milieutherapie sollte Anwendung finden; besonders das gesamte Pflegepersonal sollte sich gegenüber einem akut verwirrten Menschen gleich verhalten. Vermeidung von Fixierungen und ähnlichen freiheitsentziehenden Maßnahmen erlauben eine gewaltfreie Pflege.

11 CHRONISCHE VERWIRRTHEIT

Zu den wichtigsten neurodegenerativen Erkrankungen zählen Demenzen (vgl. Demenzformen Seite 97), organisch bedingte Persönlichkeitsveränderungen (vgl. Seite 198) und das Korsakow-Syndrom (vgl. Seite 228). Die Störungsbilder sind in der Regel irreversibel.

Handlungsaufgaben

»Stell dir vor …

du vergisst dein Gedächtnis

manchmal nimmst du Menschen nicht ganz wahr, von denen du weißt, dass du sie kennst und liebst

deine Gedanken sind langsam und manchmal macht es dir keinen Sinn, was andere sagen

deine Bewegungen sind unbeholfen

schon einen Löffel zum Mund führen bedeutet großen Kraftaufwand

du fühlst intensiv Glücklichsein, wie Elend

du fühlst, dass die Dinge nicht mehr richtig sind, aber du kannst den Grund nicht benennen

du weißt, du bist nicht so wie sonst, weißt aber nicht, warum

du versuchst, darüber zu reden, aber du merkst, du sprichst eine Sprache,

die niemand um dich herum spricht.«

1.Welche Gedanken und Gefühle assoziieren Sie, wenn Sie sich diese mentale Fantasiereise durchlesen?

2.Könnten Sie sich vorstellen, das Gedächtnis zu verlieren und nicht mehr zu wissen, wer Sie sind? Tauschen Sie Ihre Empfindungen in Ihrer Arbeitsgruppe aus.

Die Demenz umfasst weit mehr als nur den Abbau geistiger Fähigkeiten. Sie betrifft das ganze Sein des Menschen: seine Wahrnehmung, sein Verhalten und sein Erleben. Der Kranke lebt in einer Welt, in der Dinge und Erlebnisse des Alltags häufig eine völlig andere Bedeutung besitzen, als in der Welt der kognitiv Gesunden.

Das Krankheitsbild Demenz beinhaltet eine Menge Leid, sowohl für die betroffene Person, als auch für deren Angehörige/Nahestehende. Nicht alles Leid ist nur aufgrund des Hirnabbaus und dessen Auswirkungen zu sehen. Manches Leid entsteht aus der Unwissenheit, wie die bestmögliche Pflege aussehen soll. Die medizinische Wissenschaft bietet zwar eine Reihe von Heilverfahren und Präventionen, hat jedoch bislang keine Wege gefunden, den geistigen Verfall eines Menschen zu stoppen.

Die einzigen Lösungen müssen auf einer einfachen, ehrlichen und menschlichen Ebene gefunden werden, durch einen ganzheitlichen pflegerischen Umgang, der auf der Basis von Freundlichkeit und Verstehen gründet.

11.1 Sind Verwirrtheit und Demenz dasselbe?

In unserer alltäglichen Sprache wird der Zustand von Menschen mit Demenz oft mit den Worten, dass »derjenige verwirrt ist« oder, dass »diejenige durcheinander ist« beschrieben, d. h. die Begriffe Verwirrtheit und Demenz werden hier synonym verwandt. Dagegen würde niemand befürchten, dement zu sein, wenn man selbst kurzfristige Verwirrtheitszustände erlebt, z. B. wenn eine Person in ein Zimmer hineingegangen ist und plötzlich nicht mehr weiß, was sie dort eigentlich tun wollte.

Von Demenz wird demnach gesprochen, wenn Verwirrtheitszustände chronisch vorliegen. Demenzielle Prozesse werden mit steigendem Alter häufiger vorgefunden, sie sind aber keinesfalls zwangsläufige Begleiterscheinungen der Organ- und der Hirnalterung, sondern sie sind eigenständige Krankheiten mit Ursachen, die in ihrer Ganzheit noch nicht erforscht sind.

Demenzen, synonym auch »Hirnleistungsschwächen«, sind chronisch progrediente Erkrankungen des Gehirns; sie umfassen ein ätiologisch heterogenes klinisches Syndrom, die dadurch erworbenen Einbußen von intellektuellen Fähigkeiten und Gedächtnis imponieren.

Neben kognitiven Defiziten sollte zur Stellung der Diagnose mindestens eine weitere folgende Störung vor-handen sein:

Aphasie =Störung der Sprache, z. B. Wortfindungsstörungen,

Apraxie = Beeinträchtigung der motorischen Aktivitäten, z. B. Besteckbenutzung,

Agnosie = Gegenstände wieder zu erkennen, z. B. Besteckerkennung,

Störungen der Exekutivfunktionen = z. B. Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge

Neuropsychologisch hat der Hippocampus eine wichtige Bedeutung für Lernprozesse, insbesondere für verbale und visuelle Gedächtnisfunktionen, sowie für die räumliche Orientierung und die Regulierung emotionalen Verhaltens über seine Einbindung in das limbische System. Von daher wird häufig beim demenziell veränderten Patienten eine Affektinkontinenz beobachtet: Zorn und Aggressionen wechseln mit einer niedergedrückten Stimmung.

Die Sinnesorgane funktionieren im für die Person üblichen Rahmen. Gewöhnlich begleiten Veränderungen der emotionalen Kontrolle des Sozialverhaltens oder der Motivation die kognitiven Beeinträchtigungen; diese Symptome können aber auch Jahre eher auftreten.

11.2 Epi(demenz)iologie

Mit steigendem Alter nimmt der Anteil an demenziell erkrankten Patienten zu. Vor dem Hintergrund der steigenden Lebenserwartung ist zu erwarten, dass sich demenzielle Erkrankungen zum zentralen Problem unserer Gesellschaft entwickeln werden.

Der Anteil der Erkrankten in der Bevölkerung liegt bei den 60- bis 65-Jährigen knapp unter 5% und verdoppelt sich nach jeweils etwa 5 Altersjahren. Bereits nach dem 90. Lebensjahr muss schon mit einem Anteil von 40% demenziell veränderter Menschen gerechnet werden. 60% aller Betroffenen leiden an der häufigsten Demenzerkrankung, der senilen Demenz vom Alzheimer Typ (SDAT). In Deutschland sind derzeit ca. 1,4 Millionen erkrankt; 50.000 Neuerkrankte kommen pro Jahr dazu.

Nach zurzeit gültigen Statistiken ist davon auszugehen, dass etwa 86% der Patienten mit demenziellen Erkrankungen zu Hause versorgt werden. Die verbleibenden 14% werden stationär in Seniorenpflegeeinrichtungen betreut. 75% der in Pflegeheimen lebenden alten Menschen sind an Demenz erkrankt. Die Lebenserwartung beträgt nach Diagnosestellung ca. 7 bis 10 Jahre. Pflege und Betreuung von demenziell erkrankten alten Menschen ist zurzeit eine der größten Herausforderungen für Pflegende in ambulanten und stationären Gesundheitseinrichtungen.

Aufgrund des hohen Bedarfs an Gesundheits- und Pflegeleistungen stellen diese Erkrankungen enorme soziale und ökonomische Herausforderungen auch für die derzeitige Gesundheitspolitik dar.

11.3 Demenzformen

Tabelle 20: Formen der Demenz

Primäre Demenz: Hirnschädigung Sekundäre Demenz: Extrazerebrale Ursachen

Alzheimer Demenz

Multi-Infarkt-Demenz

Frontotemporale Demenz

Lewy-Körperchen-Demenz

Korsakow-Demenz

Mischdemenz

Leichte kognitive Störung

Reversibel:

Intoxikationen (Medikamente, Blei, Quecksilber)

Vitaminmangel (B6, B12, Folsäure)

Hormonell bedingt (Hypothyreose)

Metabolisch bedingt (chronische Nieren- und Leber erkrankungen)

Verletzungsbedingt (subdurales Hämatom)

Psychisch bedingt (Depressionen)

Irreversibel:

Humanes Immundefizienz-Virus (HIV)

Hirntumor

11.3.1 Primäre Formen

Die primären Demenzen machen etwa 80% aller Hirnleistungsstörungen aus.

1. Mild cognitive Impairment MCI)

Ein Zwischenstadium (Vorläufersyndrom/Prodomalstadium) des normalen kognitiven Abbaus und beginnender Demenz. Bevor die Demenz ihr volles klinisches Bild erreicht können 15–30 Jahre vergehen. Ersatzwörter werden gesucht z. B. »Dings da«. Der Betroffene wird ungenauer im Alltag, er fährt nicht mehr Auto, wiederholt sich ständig, vernachlässigt Interessen und Hobbys, Haushalt, die eigene Körperpflege, braucht Hilfe bei Bankgeschäften. Kurzzeitgedächtnisstörungen im Alltag nehmen zu, räumliche Orientierungsstörungen, visuelle Verarbeitungsstörungen (Abzeichnen, Rechnen, Uhrenlesen). Es kommt zu psychiatrischen Störungen: Depressionen, Angst. Die Motorik ist lange gut erhalten.

2. Alzheimer Demenz (päsenil ab 65. Lebensjahr, senil ab dem 75. Lebensjahr)

Die senile Demenz vom Alzheimer Typ (SDAT) ist als häufigste Ursache für Demenzprozesse im höheren Lebensalter anzusehen. Aufgrund von ätiologisch unklaren neuronalen Funktions- und Nervenzellstoffwechselstörungen führt sie zu typischen Strukturveränderungen in bestimmten Prädilektionsstellen des Gehirns, vor allem zu Neurofibrillenveränderungen mit Amyloiddeposition, intraneuronale Fibrillenbildung, Neuroinflammation, synaptische Dysfunktion, progressive Neurodegeneration und Veränderungen des Neurotransmitterstoffwechsels. Keine Therapie kann diesen Prozess aufhalten. Der Krankheitsbeginn ist meist schleichend und gleichmäßig fortlaufend. Die klinische Diagnose entspricht zu 80–90% dem neuropathologischen Befund. Eine sichere Diagnosestellung ist aber nur mittels Biopsie möglich.

3. Vaskuläre, d. h. gefäßinduzierte Demenz (Multiinfarkt Demenz, MID)

Eine Form die ausschließlich auf Hirndurchblutungsstörungen zurückzuführen ist; sie kommt zu 10% vor. Die Patienten sind schneller pflegebedürftig, aufgrund von ataktischen Gangstörungen und sitzen deswegen schneller im Rollstuhl, Inkontinenz tritt auf. Die Betroffenen sind verlangsamt. Die Erkrankung verläuft progredient in Schüben.

4. Frontotemporale Demenz (Pick-Krankheit)

Die Demenzform ist eine Lobärdegeneration und läuft zentral im Sprachzentrum ab. Sie tritt im mittleren Lebensalter (unter 65 Jahre) auf und hat einen schleichenden Beginn. Die Erkrankung führt zu Wesensveränderungen und zum Verlust von sozialen Fähigkeiten.

Es werden zwei Varianten unterschieden:

1.Verhaltensbezogene Variante: Sie ist gekennzeichnet durch zunehmender Impulsivität, Aggressivität mit Enthemmung, Verschiebung der Affektlage, Abnahme von Empathie und fehlender Krankheitseinsicht bzw. ausgeprägter Apathie. Vorkommen mehr bei Männern.

2.Sprachbezogene Variante: Es liegt eine primär progressive Aphasie, eine semantische Variante mit Verlust der Sprachproduktionsfähigkeit oder des Sprachverständnisses vor.

5. Lewy-Körperchen-Demenz

Im Rahmen der Parkinsonerkrankung kommt es im Langzeitverlauf zu einer Demenz. Diese äußert sich im Gegensatz zur SDAT durch Störungen von Exekutivfunktionen, Aufmerksamkeit und visuokonstruktiver Fähigkeiten. Das episodische Gedächtnis ist nicht in dem Umfang betroffen wie bei der SDAT. Zusätzlich neigen diese Patienten zu visuellen Halluzinationen. Die Symptome sind stark fluktuierend. Es treten Störungen der REM-Schlafphasen (engl. Rapid Eye Movement, dt. sinngemäß: schnelles Augenrollen) auf (Schreien Sprechen, motorisches Agieren von Träumen). Herausragend sind die Störungen: Akinese, Rigor und Tremor. Das Bild ist oft von Depressionen überlagert. Es kommt zur ausgeprägten Neuroleptikaempfindlichkeit, wiederholten Stürzen, Synkopen und zur Urininkontinenz.

6. Korsakow Demenz

Ursache ist eine langjährige Alkoholabhängigkeit. Kennzeichen dieser Form sind Gangataxie, Konfabulation und teilweise gut erhaltende intellektuelle Leistungen. Die Patienten sterben oft an Wernicke Enzephalopathie (Hirnentzündung).

7. Gemischte Demenz

Gemische Pathologien aus der SDAT und vaskuläre Läsionen sind insbesondere bei alten Patienten häufig als Ursache einer Demenz anzutreffen.

8. Leichte kognitive Störung (Mild cognitive Impairment = MCI)

Im Vordergrund stehen Störungen der Kognition. Neurokognitive und neuropsychologische Zeichen und Symptome treten bereits schon mehrere Jahre früher auf, als die diagnostisch greifbaren Demenzen. Zwischen den ersten kognitiv messbaren Normabweichungen, noch ohne funktionelle Alltagsrelevanz und den nachfolgenden Vollformen einer Demenz, besteht ein meist gleitender Übergang. Von daher sollten diagnostische Möglichkeiten zur Früherkennung erschaffen werden. Zurzeit gelingt es nicht, die Grenze zwischen physiologischem Altern und neurokognitive Störungen überzeugend zu formulieren. Diese Differenzierung ist erschwert, da die MCI keine Einschränkung in der Erfüllung der Alltagsfunktionen voraussetzt. Die Diagnostik bezieht sich nur auf das Vorhandensein einer mäßigen kognitiven Beeinträchtigung. Es besteht allerdings die Gefahr, einerseits ältere Menschen ohne eine vorhandene Erkrankung unnötiger kostspieliger Diagnostik zu unterwerfen oder andererseits diese mit der Diagnose MCI zu konfrontieren.

11.3.2 Sekundäre Formen

Diese sind zurückzuführen auf extrazerebrale Einflüsse. Beim älteren Menschen sind hier speziell Herzkreislauferkrankungen, Stoffwechselerkrankungen (chron. Nieren- und Lebererkrankungen, Schilddrüsenunterfunktion), Fehlernährung und Multimorbidität zu nennen.

Bei ausreichender Behandlung des ursächlichen Krankheitsgeschehens ist eine sekundäre Demenzform mit diesem Entstehungshintergrund zum Teil reversibel. Direkt zu verhindern sind Demenzen, wenn frühzeitig eingegriffen wird.

Durch Demenzprävention wird zerebral schädigender Einfluss vermieden z. B.:

bei unkontrollierter Pharmakaeinnahme

bei Medikamentenabhängigkeit

bei langjährigem Alkoholmissbrauch

bei schwerwiegendem Ernährungsmangel (Folsäure, B12, B6)

bei Intoxikationen (Herz-Medikamente, Antihypertensiva, Blei, Quecksilber)

bei häufigen Schädelhirntraumata

Autor

  • Dr. Elisabeth Höwler (Autor:in)

Dr. Elisabeth Höwler ist Lehrerin für Pflegeberufe, Diplom-Pflegepädagogin und Pflegewissenschaftlerin (MScN). Sie ist als Dozentin in der Aus-, Fort- und Weiterbildung tätig.
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Titel: Gerontopsychiatrische Pflege