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Neu als Betreuungskraft

Aktuelles Fachwissen für Ein- und Umsteiger. Menschen mit Demenz individuell betreuen

von Anne Roder (Autor:in)
168 Seiten

Zusammenfassung

Der Umgang mit Menschen mit Demenz ist eine Herausforderung. Zwischen Theorie und Praxis klaffen Lücken, gerade Berufsanfängern in der Betreuung fehlen praktische Erfahrungen.
So manche Betreuungskraft findet sich dann in „schwierigen“ Situationen wieder, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Statt Freude an der Arbeit entsteht Belastung und oft auch Überforderung.
Dieses Buch versteht sich als Handbuch, das auf den praktischen Alltag im Beruf vorbereitet. Eine Berufsanfängerin gibt Auskunft: über ihre Gedanken, Erwartungen und Hindernisse auf ihrem beruflichen Entwicklungsweg.
Die Leser gewinnen gemeinsam mit der Akteurin zunehmend Handlungssicherheit. „Stolperfallen“ werden aus dem Weg geräumt und Handlungsoptionen für „schwierige“ Situationen entwickelt.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Einleitung

»Herzlich Glückwunsch!« Jetzt sind Sie an ihrem neuen Arbeitsplatz angekommen und können endlich richtig loslegen. Ein Stück des Weges liegt bereits hinter Ihnen. Wie die meisten Ihrer Kolleginnen und Kollegen haben Sie vermutlich eine andere berufliche Vergangenheit hinter sich und starten nun aus Ihren ganz persönlichen Gründen in eine neue berufliche Zukunft. Die Qualifikation zur Betreuungskraft gemäß § 53c SGB XI (vormals § 87b) haben Sie erfolgreich absolviert und brennen nun darauf, Ihre Kenntnisse eigenverantwortlich einzusetzen.

Sie sind also eine der Personen, »die neben dem allgemeinen Interesse an der Betreuungsarbeit u.a. auch eine gewisse Lebenserfahrung [mitbringen], sich selbstständig weiterbilden und arbeiten [wollen] und die den psychischen Arbeitsanforderungen gewachsen [sind]«.1

Sie sind nicht allein: Aufgrund der demografischen Entwicklung und der zunehmenden Anzahl an pflegebedürftigen Menschen – insbesondere Menschen mit Demenz – wird der Bedarf an qualifizierten Betreuungskräften deutlich steigen.

Selbstverständlich ist Ihnen bewusst, wie wichtig Ihre neue Aufgabe im »System Pflege und soziale Betreuung« ist und wie Sie persönlich einen Teil zum Wohlbefinden der Ihnen anvertrauten pflegebedürftigen Menschen beitragen können. Während Ihres Praktikums und durch den Austausch mit Ihren Mitstreiterinnen haben Sie wahrscheinlich festgestellt, dass sich im beruflichen Alltag abseits der viel geschmähten »schwierigen Rahmenbedingungen in der Pflege« so manche Herausforderung ergeben kann, mit der Sie nicht gerechnet haben und die auf den ersten Blick nicht deckungsgleich mit den »Richtlinien und Aufgaben einer zusätzlichen Betreuungskraft«2 zu sein scheint.

In diesem Buch geht es nicht um Ideen und Anregungen, was Sie »Ihren« Menschen in der sozialen Betreuung anbieten können, sondern darum, wie Sie das tun3.

Der neue Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz«4 erweitert die Sichtweise und eröffnet auch für die soziale Betreuung Handlungswege. Dementsprechend ist es auch mein Anliegen, den Expertenstandard an dieser Stelle »einzubauen«, ohne ihn intensiv zu bearbeiten. Auf diese Weise können Sie Ihr berufliches Handeln »ganz nebenbei« am Expertenstandard ausrichten.

Haben Sie eine Vision?

Wie wollen Sie es schaffen, »Ihre« pflegebedürftigen Menschen bei Ihren alltäglichen Aktivitäten zu unterstützen und deren Lebensqualität tatsächlich zu verbessern?5

Was können Sie tun, um ihnen sowohl in schwierigen Situationen als auch im »täglichen Allerlei« hilfreich zur Seite zu stehen?

Die soziale Betreuung von Menschen mit Demenz hält so manches Hindernis für Sie bereit, falls Sie kein »Rezept« haben sollten, den Pflegebedürftigen Ihre Angebote schmackhaft zu machen. Einen Kontakt zu ihnen herzustellen und die Beziehungsgestaltung zu fördern, gelingt oft nicht so, wie Sie es sich vielleicht vorgestellt haben. Es ist gut möglich, dass Sie von einigen Personen sogar beschimpft, beschuldigt oder einfach nicht wahrgenommen werden. Da kann bei Ihnen durchaus die Frage auftauchen, wie Sie Kommunikation und Beziehungsgestaltung erfolgreich bewerkstelligen können. Gibt es überhaupt so etwas wie ein Rezept?

Und – Hand aufs Herz – denken Sie auch an sich selbst?

Wie geht es Ihnen, wenn Sie mit dem Leid der Ihnen anvertrauten Menschen und oft auch deren Angehörigen konfrontiert sind?

Kommen Sie damit zurecht, dass Sie oft genug zu wenig Zeit haben für all das, was von Ihnen erwartet wird – oder was Sie glauben, leisten zu müssen?

Finden Sie Unterstützung in Ihrem Team oder haben Sie eine Strategie für sich selbst gefunden?

Um ganz ehrlich zu sein: 160 Stunden Theorie und ein zweiwöchiges Berufspraktikum ermöglichen sicherlich einen guten Einblick in Ihren neuen Arbeitsbereich. Für eine umfassende Vorbereitung ist das allerdings arg knapp kalkuliert, da die Aufgaben in der Betreuungsarbeit immer komplexer und die Anforderungen immer höher werden. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung werden die Bewohner in den Einrichtungen pflegebedürftiger. Es leben dort zunehmend Menschen, die wegen einer demenziellen Erkrankung eine fachlich besonders qualifizierte Begleitung brauchen. Das Gleiche gilt für teilstationäre Angebote: In der ambulanten Pflege und Betreuung treffen Sie oft besonders häufig auf pflegende Angehörige, die Sie in gewisser Weise auch betreuen.

Überspitzt formuliert, macht Ihnen womöglich nicht nur »herausforderndes Verhalten« Kopfzerbrechen…

Wie verhält es sich mit die Angehörigen?

Der Kontakt zu ihnen ist Teil Ihres Aufgabenbereichs. Im Praktikum haben Sie selbst beobachtet und noch mehr davon gehört, dass es auch »schwierige« Angehörige geben kann, weil diese angeblich nicht selten überzeugt zu sein scheinen, »alles« besser zu wissen, in manchmal hinderlicher Weise die Arbeit der Betreuungskraft »unterstützen« oder genau in den Momenten beraten werden möchten, in denen Sie gerade keine Zeit haben oder schlicht und einfach keine Antwort auf Fragen haben.

Und wie sieht es mit Ihrem Team aus?

Ziehen Sie alle an einem Strang, stimmen Ihre Arbeit untereinander ab und tauschen sich regelmäßig aus?

Finden Sie einen kompetenten Ansprechpartner, der Ihre ersten selbständigen Schritte an Ihrem neuen Arbeitsplatz gemeinsam mit Ihnen geht und auch später mit Rat und Tat zur Verfügung steht, wenn Sie mal mit Ihrem Latein am Ende sind?

Wird in Ihrer Einrichtung gemeinsam mit der Pflege oder nebenher gearbeitet?

Werden die Mitarbeitenden der sozialen Betreuung als Teil des Teams wahr genommen und in den Pflegeprozess mit eingebunden oder steht ihre Arbeit eher »am Rande«?

Gibt es einen regelmäßigen Kontakt zwischen der Leitung der Betreuung und der Pflege sowie den jeweiligen Teams?

Gibt es auch gemeinsame Team- und Fallbesprechungen?

Solche und ähnliche Fragen mögen Ihnen vielleicht durch den Kopf gehen. Ganz sicher sind damit – wie bei allen Menschen – auch Gefühle verbunden, die nicht nur mit Vorfreude zu tun haben.

Vielleicht nehmen Sie ein unbestimmtes Unbehagen wahr, vielleicht auch Angst oder Unsicherheit vor dem Unbekannten, vor der Verantwortung?

Vielleicht hat Ihre Motivation auch schon einen ersten Dämpfer erhalten, weil Sie sich schon ein paar Mal in einer Situation befunden haben, in der Sie nicht mehr weiter wussten?

Vielleicht haben sich auch schon einmal Zweifel eingeschlichen, ob Sie mit Ihrer Berufswahl doch die falsche Entscheidung getroffen haben?

Nein, das haben Sie hoffentlich nicht! Allein die Tatsache, dass Sie jetzt gerade dieses Buch in den Händen halten, wird Sie dabei unterstützen, sich auf den praktischen Alltag in Ihrem Beruf vorzubereiten. Ich stelle Ihnen eine Kollegin an die Seite, die Sie durch dieses Buch begleiten wird: Frau Sommer.

Da sie sich beruflich neu orientieren wollte und sich eine Tätigkeit mit alten Menschen gewünscht hatte, schien für sie der noch recht junge Beruf als Betreuungskraft genau das Richtige zu sein. Frau Sommer musste – genau wie Sie – ihren Weg in den Beruf finden. Sie sind herzlich dazu eingeladen, an ihren Gedanken, Erwartungen und Hindernissen teilzuhaben, sich mit ihr in typischen Situationen aus der Praxis wiederzufinden und Lösungswege für Herausforderungen zu entwickeln. So wird das theoretische Fachwissen für Sie greifbarer und Sie gewinnen zunehmend an Handlungssicherheit.

Mag sein, Sie erkennen Sich selbst an einigen Stellen wieder und räumen zusammen mit Frau Sommer Stolperfallen aus dem Weg. Eine Portion Selbstreflexion über Ihre eigenen Ansprüche an die Arbeit, Ihr Verhalten in bestimmten Situationen sowie Ihre Bereitschaft zur beruflichen Weiterentwicklung werden Sie dabei unterstützen.

Soziale Betreuung im Altenhilfebereich ist eine wunderbare Aufgabe! Bereiten Sie Freude und erhalten Sie sich Ihre Freude daran!

_________________

1 GKV-Spitzenverband (2012): Betreuungskräfte in Pflegeeinrichtungen. Schriftenreihe Modellprogramm zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, Band 9. Berlin. S. 62

2 Vgl. GKV (2016): Richtlinien nach § 53c SGB XI zur Qualifikation und zu den Aufgaben von zusätzlichen Betreuungskräften in stationären Pflegeeinrichtungen (Betreuungskräfte-RL) vom 19. August 2008 in der Fassung vom 23. November 2016

3 Vgl. DNQP (2019): Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz«. Osnabrück.

4 Ebd.

5 Vgl. GKV 2016

»Demenz ist nicht gleich Demenz.« Sicherlich haben Sie diesen Satz schon oft gehört und auch im Qualifizierungskurs die nötigen Grundkenntnisse zu gerontopsychiatrischen Erkrankungen erhalten. Aber worin unterscheiden sich nun die verschiedenen Formen der Demenz und welche Auswirkungen ergeben sich daraus für Ihre Arbeit?

In der Praxis sieht einiges anders aus und vielleicht fällt es Ihnen manchmal schwer, Unterschiede zu erkennen, Symptome richtig zuzuordnen und Ihr Verhalten daran auszurichten. Ist das für die Betreuungsarbeit überhaupt wichtig? Mit Pflege haben Sie schließlich nichts zu tun. Aber wirklich beruhigend ist es auch nicht, wenn Ihre Kolleginnen sagen: »Das wird sich schon finden.« Zudem sieht es nicht immer so aus, als hätten sie recht…

Sie wollen doch eigentlich wissen, warum Menschen mit Demenz sich in einer bestimmten Art und Weise verhalten, was in ihnen vorgeht und wie Sie ihnen am besten begegnen. Frau Sommer ging es anfangs genauso: »Oft hatte ich das Gefühl, die Menschen nicht wirklich zu erreichen, dass sie mich nicht verstehen, gar nicht anwesend sind, etwas anderes möchten, als ich gerade vorschlage, oder sich nicht entscheiden können.«

Kurz gesagt: Sie möchten die Menschen verstehen, Ursachen für ihr Verhalten ergründen und professionell agieren! Dazu aber müssen Sie Zusammenhänge erkennen und anschließend entsprechend handeln.

Wichtig Vertiefen Sie Ihre Kenntnisse zum Krankheitsbild Demenz!

Das ist Ihr Handwerkszeug, auf das Sie in Ihrer täglichen Arbeit zurückgreifen können. Je öfter Sie es einsetzen desto schneller erkennen Sie, was im Moment gerade wichtig ist. Achten Sie dabei aber unbedingt darauf, im Sinne Kitwoods* nicht nur den Menschen mit Demenz zu sehen, sondern den Menschen mit Demenz.

* Vgl. Kitwood T (2019): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. 8. Aufl. Hogrefe, Göttingen.

1.1Was ist Demenz?

In Deutschland leben zurzeit etwa 1,7 Millionen Menschen mit Demenz. Jedes Jahr kommen ca. 300.000 Menschen dazu6. Das Alter ist der größte Risikofaktor, an einer Demenz zu erkranken. Aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung sind Frauen (70 Prozent) häufiger als Männer (40 Prozent) betroffen.7

Natürlich wurde Ihnen im Qualifizierungskurs Wissen zum Thema Demenz vermittelt und auch in Ihrer Einrichtung wohnen Menschen mit dieser Erkrankung. Trotzdem können Sie immer wieder beobachten, dass »Demenz nicht gleich Demenz« ist und es keine »Schublade für Symptome und Verhalten« gibt. Häufig haben noch längst nicht alle Bewohner mit demenziellen Verhaltensweisen auch tatsächlich die Diagnose Demenz. Schauen wir also genauer hin:

Demenz tritt in verschiedenen Formen auf. Bei ca. 10 Prozent der Demenzen handelt es sich um sog. sekundäre Formen. Sekundäre Demenzen sind die Folge einer anderen Erkrankung. Dazu gehören etwa eine Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose), Schlaganfall, Delir, Dehydration, Vitamin B12-Mangel, eine schwere Depression (Pseudodemenz), eine Parkinson-Erkrankung oder die Korsakov-Demenz. Auf den ersten Blick ähneln die Symptome denen einer Demenz. Sekundäre Demenzen sind – je nach Ursache – manchmal heilbar oder zumindest behandelbar.

Bei ca. 90 Prozent der Demenzen handelt es sich um primäre Formen. Hier liegt die Ursache der Demenz in Abbauprozessen im Gehirn (Degeneration). Den primären Demenzen gemeinsam ist der fortschreitende Verlust von Gehirnzellen, weswegen es immer mehr zu einem Verlust erlernter Fähigkeiten und Kenntnisse kommt. Das größte Risiko, an einer Demenz zu erkranken, ist das Alter.

Der häufigste Typ der Demenz ist die Alzheimer Demenz (ca. 65 Prozent aller Demenzen), gefolgt von der vaskulären Demenz (ca. 15 Prozent) und Mischformen aus beiden (ca. 15 Prozent)8. Außerdem gibt es noch seltener auftretende Formen, deren Symptome sich anfangs anders darstellen. Im späteren Verlauf der Erkrankung lassen sich die Folgen dann kaum noch untereinander abgrenzen, weil sämtliche Hirnareale betroffen sind.

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Info

Entsprechend des Fortschreitens der Demenz, dem damit verbundenen Verlust von Fähigkeiten und dem immer größer werdenden Unterstützungsbedarf wird die Erkrankung in verschiedene Stadien unterteilt: leicht, mittel, schwer.

Die demenziell bedingten Veränderungen betreffen aber nicht nur kognitive Verluste. Sie wirken sich auch massiv auf die Beziehungsgestaltung aus. Menschen mit Demenz verlieren zunehmend die Fähigkeit, in bekannter Weise mit anderen Menschen zu kommunizieren und ihr soziales Umfeld zu erhalten.

Doch nicht jede ausgeprägte Vergesslichkeit ist gleich eine Demenz. Ehe diese Diagnose von einem (Fach-) Arzt gestellt werden kann, bedarf es noch weiterer Kriterien:

Gedächtnisstörungen bis hin zum Verlust sämtlicher Erinnerungen müssen so ausgeprägt sein, dass die Gestaltung des Alltags beeinträchtigt ist.

Beeinträchtigung mindestens einer weiteren kognitiven Funktion: Denken, Urteilen, Planen oder Organisieren.

Dauer der Symptome mindestens 6 Monate.

Keine Eintrübung des Bewusstseins wie es etwa nach einer Narkose oder bei hohem Fieber vorkommen kann.

Nach der ICD 10 ist eindeutig geregelt, ab wann man überhaupt von einer Diagnose Demenz sprechen kann (image Abb. 1).

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Abb. 1: Definition »Demenz« nach ICD 10.

Die Symptomatik einer Demenz ist demnach eindeutig beschrieben: Bei der Diagnoseerhebung werden immer zunächst körperliche Ursachen ausgeschlossen, die demenzähnliche Symptome hervorrufen können.

»Zur Diagnostik wird ein zweistufiges Verfahren empfohlen, bei dem auf der ersten Stufe das demenzielle Syndrom zu klären und auf der zweiten Stufe die Ursache zu ermitteln ist.

1. Stufe 1, Diagnostik des demenziellen Syndroms: Anamnese/Fremdanamnese, psychopathologischer Befund, neuropsychologische Screeningverfahren (beipielsweise Mini-Mental-Status, Uhrentest, Test zur Früherkennung von Demenzen mit Depressionsabgrenzung (TFDD), Demenz-Detections-Test (DemTec) etc.),

2. Stufe 2, Differenzialdiagnostik: bildgebende Verfahren wie cCt oder cMRT. Bei Verdacht auf eine vaskuläre Demenz sollte eine Dopplersonografie der hirnversorgenden Gefäße durchgeführt werden, außerdem EKG und umfangreiche Labordiagnostik einschließlich TSH, Folsäure und Urinteststreifen.

Fakultativ (im Bedarfsfall): Test des Urins auf Benzodiazepine oder ähnliche Stoffe, weitergehende neuropsychologische Untersuchung, EEG, Liquordiagnostik und weitere Labordiagnostik, z. B. HbA1, Lues-Serologie etc.«9

Definition

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat folgende Definition für das Krankheitsbild: »Demenz ist eine erworbene globale [umfassende] Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, sensomotorischer und sozialer Fertigkeiten der Sprache und Kommunikation, sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen, ohne Bewusstseinsstörungen. Meistens ist der Verlauf progredient (fortschreitend), nicht notwendigerweise irreversibel.«*

* WHO 1986, vgl. https://page-one.springer.com/pdf/preview/10.1007/978-3-531-19835-4_2

1.2Typen und Symptome von Demenz

1.2.1Demenz vom Alzheimer-Typ

Meist beginnt die Demenz vom Alzheimer-Typ schleichend im höheren Lebensalter (zwischen 65 und 80 Jahren). Selten gibt es frühe Formen, die deutlich vor dem 60. Lebensjahr beginnen können. Ganz selten (weniger als 1 Prozent aller Betroffenen) ist die Demenz vom Alzheimer-Typ erblich und beginnt noch deutlich früher.

Die Ursache der Demenz vom Alzheimer-Typ ist noch nicht wirklich aufgeklärt. Allerdings gehen Forscher davon aus, dass Eiweißablagerungen im Gehirn dabei eine Rolle spielen, die im Gehirn Ablagerungen (Plaques) oder Stränge (Fibrillen) bilden. Dadurch wird zum einen die Informationsweitergabe in den Nervenfasern und Gehirnzellen unterbrochen und zum anderen die Blutversorgung gestört, sodass die Zellen absterben.

Als erste Symptome treten Störungen des Kurzzeitgedächtnisses und Wortfindungsstörungen auf. Häufig kommt es zu einem sog. »Fassadenverhalten«, bei dem die Betroffenen bemüht sind, ihre Beeinträchtigungen zu verbergen.

Im Spätstadium ist die Gehirnmasse deutlich geschrumpft und sämtliche Hirnfunktionen drastisch eingeschränkt.

1.2.2Vaskuläre Demenz

Diese Form (ca. 20 Prozent) wird von Durchblutungsstörungen im Gehirn verursacht, die im Zusammenhang mit mehreren (großen oder kleinen) Schlaganfällen stehen. Deshalb spricht man auch von einer »Multiinfarkt-Demenz«. Die Blutversorgung der Gehirnzellen wird gestört oder unterbrochen, woraufhin sie absterben und ihre Funktion nicht mehr aufrechterhalten können.

Zu den typischen Anfangssymptomen einer vaskulären Demenz gehören nächtliche Verwirrtheit mit Störung des Tag-Nacht-Rhythmus, schnell wechselnde (»himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt«) und schwer zu lenkende Gefühle (Affektstörungen) sowie häufig ein unsicherer Gang und Stand.

Im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz beginnt die vaskuläre Demenz plötzlich und der weitere Verlauf geht schubweise voran. Anfangs sind zwischenzeitliche Verbesserungen möglich, sodass der falsche Eindruck entstehen kann, dass es sich womöglich doch nicht um einen Demenz handelt.

1.2.3Gemischte Demenz

Häufig (ca. 15 Prozent) treten bei hochaltrigen Menschen Symptome sowohl der Alzheimer- als auch der vaskulären Demenz auf. In diesem Fall handelt es sich um eine Mischform.

1.2.4Lewy-Körper-Demenz

Diese Art tritt seltener (ca. 4 Prozent) auf, zumeist (aber nicht nur) im Rahmen einer Parkinson-Erkrankung. Die Muskulatur wird häufig steif, der Mensch unbeweglich. Stürze können aus diesem Grund häufiger auftreten. Ursachen sind – ähnlich wie bei der Alzheimer-Demenz – Eiweißablagerungen im Gehirn (Lewy-Körper).

An typischen Symptomen werden zunächst Aufmerksamkeit- und Konzentrationsstörungen beobachtet. Halluzinationen können ebenfalls auftreten. Die Menschen sehen oder hören Dinge oder Geräusche, die nicht von einem tatsächlichen Reiz ausgelöst werden, sondern ausschließlich »im Kopf« des Betroffenen entstehen.

1.2.5Frontotemporale Demenz

Dieser Typ (ca. 5 Prozent) unterscheidet sich deutlich von den anderen Formen der Demenz. Die frontotemporale Demenz beginnt im mittleren Lebensalter (ca. 50 bis 60 Jahre) und ist anfangs nicht von Gedächtnisstörungen gekennzeichnet.

Die Betroffenen fallen durch Veränderungen des Sozialverhaltens und der emotionalen Reaktionen auf. Oft wird teilnahmsloses oder auch gereiztes, taktloses und enthemmtes Verhalten beobachtet, weil die degenerativen Prozesse im Stirn- und Schläfenbereich10 des Gehirns stattfinden, wo das Verhalten und die Emotionen gesteuert werden.

Störungen der Wortfindung und der Wortinterpretation sind ebenfalls möglich. Gedächtnisstörungen entwickeln sich in der Regel erst später. Ursache der frontotemporalen Demenz sind ebenfalls abnorme Eiweißprozesse, die zum Absterben der Gehirnzellen führen. Da man im Alter von 50 bis 60 Jahren nicht mit einer Demenz rechnet und sich die Symptome deutlich von einer »typischen« Demenz unterscheiden, geht man zunächst häufig von einer Persönlichkeitsstörung oder auch von Beziehungsproblemen aus.11

Es gibt noch viele weitere Demenzformen, die ich an dieser Stelle aber nicht weiter aufführen möchte, weil sie Ihre Arbeit als Betreuungskraft nicht bestimmen12. Erwähnen möchte ich allerdings noch die Demenz, die eigentlich keine ist und die den sekundären Formen zugeordnet wird.

1.2.6Pseudodemenz

Menschen mit einer schweren Depression können Symptome entwickeln, die denen einer Demenz auf den ersten Blick sehr ähnlich sein können. Die Ursachen sind in diesen Fällen keine degenerativen Prozesse im Gehirn, sondern organische oder psychische Störungen. Die Symptome (Antriebsstörungen, sozialer Rückzug, kognitive Störungen etc.) können sich manchmal bei entsprechender Behandlung zurückbilden.

1.2.7Demenz oder Depression?

Demenz und Depression sind zwei unterschiedliche Krankheitsbilder, doch in Ihrer Praxis als Betreuungskraft sollten Sie auch wissen, dass Betroffene oft scheinbar dieselben Symptome aufweisen. Umso wichtiger ist es, dass Sie eine Demenz von einer Depression unterscheiden können:

»Die Depression wird als affektive Störung bezeichnet, deren Hauptsymptome im Bereich der Stimmung oder der Affektivität bestehen. Hinzu kommt meist noch eine Veränderung des Aktivitätsniveaus.

Die Demenz ist eine organische Störung des Gehirns, die durch eine zerebrale Krankheit ausgelöst wird. Die fortschreitende Erkrankung des Gehirns geht mit Störungen der höheren Hirnfunktion, einschließlich Gedächtnis, Sprache, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, Veränderungen der emotionalen Kontrolle ohne Bewusstseinsstörungen einher.

Es ist durchaus möglich, dass ein Patient mit einer Depression auch eine Demenz entwickeln kann.«13

Tab. 1: Unterschiede im Verhalten bei Demenz und Depression

Depression Demenz
Widersprüchliche Ergebnisse bei kognitiven Tests Testergebnisse gleichbleibend schlecht
»Ich weiß nicht«-Antworten bei Gedächtnisfragen Bemühen um richtige Antwort; oft »beinahe richtig«
Bessere Alltagskompetenz Schlechte Alltagskompetenz
Apraxie/Aphasie selten Apraxie/Aphasien typisches Symptom im Krankheitsverlauf
Kurzfristige Konzentration möglich Konzentration schwer möglich
Depressive Stimmung Wechselnde Stimmung
Klagen über kognitive Einbußen »Fassadenverhalten«
Orientierung vorhanden Orientierung zunehmend beeinträchtigt
Beginn eher plötzlich Beginn in der Regel schleichend
Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis gleich schlecht Langzeitgedächtnis zunächst besser als Kurzzeitgedächtnis

»Für eine zusätzliche Depression bei einer Demenz sprechen folgende Symptome:

Interessenverlust,

Schlaflosigkeit,

Schuldgefühle,

Suizidalität,

psychomotorische Hemmung oder auch

Agitation – erkrankten Menschen fällt es schwer, sich zu bewegen, oder sie sind extrem unruhig.«14

1.3Gefühle werden nicht vergessen

Wie bereits gesagt sind die Unterschiede der einzelnen Demenzformen im späteren Verlauf der Erkrankung kaum noch voneinander zu unterscheiden. Allen Demenzformen gemeinsam ist, dass der Prozess des Vergessens und des Orientierungsverlusts immer weiter voranschreiten. Die Kenntnis über die eigene Persönlichkeit bis hin zum Bewusstsein der eigenen Identität geraten für die Betroffenen immer weiter in den Hintergrund.

Was das wirklich bedeutet, können wir als Betreuungskräfte nur erahnen. Die damit verbundenen negativen Gefühle wie Verwirrung, Scham, Angst und Verzweiflung sind dem Einzelnen aber deutlich »ins Gesicht geschrieben«. Sie sind immer ehrlich, weil Menschen mit Demenz sich nicht »sozial angepasst« verstellen können.

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Tipp

Nehmen Sie die sichtbaren Gefühle der Menschen mit Demenz als Art Wegweiser, wie sich das innere Erleben des Betroffenen im jeweiligen Moment darstellt. Sie sind eine Chance, genau die Unterstützung zu geben, die jetzt gerade gebraucht wird!

1.3.1Die Vergangenheit wird zur Gegenwart

Einige Gefühle stehen im Zusammenhang mit Ereignissen aus der Vergangenheit. Die Erlebnisse, die in besonderem Maße mit Empfindungen verbunden waren, treten immer wieder in den Vordergrund. Das betrifft sowohl die positiven als auch die negativen Gefühle. Aufgrund der Desorientierung ist es dem Betroffenen aber nicht möglich, eine Verbindung zum Hier und Jetzt herzustellen. Deshalb kann bei belastenden Ereignissen keine Erleichterung aus der Erkenntnis entstehen, dass »das Schlimme« schon längst vorbei ist. Die schönen, mit positiven Gefühlen verknüpften Begebenheiten dagegen können ihre Wirkung immer wieder neu entfalten und den Menschen ein beglückendes Erleben vermitteln. In beiden Fällen sind das Empfinden und das dadurch ausgelöste Verhalten so real als wären sie in der Gegenwart begründet.

Beispiel Sirenengeheul, das Angst macht

Herr Schulz erlebte im Krieg als Kind häufig Fliegeralarm. Immer, wenn heutzutage Samstagmittag die Sirenen heulen, gerät er in Panik. Angsterfüllt hockt er sich unter den Tisch. Logische Erklärungen erweisen sich in diesem Moment als völlig sinnlos. Ihm hilft in diesen Momenten nur eine beruhigende Ansprache.

Manchmal werden Mitarbeitende fälschlich als bekannte Personen identifiziert, wobei oft unklar bleibt, was diese fehlerhafte Wahrnehmung auslöst. Auch in diesem Fall kann es sich um angenehme oder weniger angenehme Erinnerungen handeln. Die Reaktion des Erkrankten fällt dementsprechend aus.

1.3.2Atmosphäre als Einflussfaktor

Gefühle lassen sich aber auch durch eine bestimmte Situation oder ein Verhalten auslösen, deren Ursache den »Auslösern« gar nicht bewusst ist. Wenn ein an Demenz erkrankter Bewohner an einem eigentlich für ihn beliebten Angebot plötzlich nicht mehr teilnehmen mag, beruht dieses Verhalten womöglich nicht auf fehlender Motivation oder dem aktuellen Befinden.

Beispiel Erinnerung an die Schulzeit

Herr Müller mochte manchmal nicht am Gedächtnistraining teilnehmen. Obwohl er eigentlich immer motiviert dabei ist, verlässt er sofort den Raum, sobald ein bestimmter Kollege den Raum betritt.

Dieser Kollege schließt die Tür immer fest zu und bietet hauptsächlich Frage- und Antwortspiele. Herr Müller ging früher ungern in die Schule, da er dort nach seiner Aussage öfter Ärger mit seinem Lehrer bekommen hatte. Vermutlich fühlt er sich wieder als Schüler, weil der Kollege ihn durch sein Auftreten an die Situation zur Schulzeit erinnert.

Im Laufe des demenziellen Prozesses fällt es den Menschen immer schwerer, die auf sie einwirkenden Reize zu entschlüsseln, ihre Umwelt zu verstehen und dementsprechend darauf zu reagieren. Das betrifft jedoch nicht die Fähigkeit, die Atmosphäre, in der sie sich bewegen, wahrzunehmen. Zwar ist es ihnen nicht möglich, Ursache und Wirkung zu erkennen. Trotzdem wird durch die Atmosphäre das individuelle Empfinden für Stress oder Geborgenheit maßgeblich beeinflusst.

Auf ähnlicher Ebene haben Menschen mit Demenz ein sehr feines Gespür dafür, wenn sie von anderen Personen wegen ihres manchmal »merkwürdigen« Verhaltens »schief« angeguckt oder angesprochen werden oder wenn man in ihrer Gegenwart über sie spricht. Auch ohne den sprachlichen Inhalt zu verstehen, spüren sie, dass es um sie geht. Oft habe ich Situationen beobachtet, in denen Mitarbeitende sich unbedacht über einen Bewohner in dessen Gegenwart ausgetauscht haben. Manchmal wollen auch Angehörige genau dann bestimmte Fragen klären, wenn ihre Lieben dabei sind. Häufig sind dann herausfordernde Verhaltensweisen zu beobachten.

Frau Sommer erzählt: »Während meines Praktikums meinte einmal eine Kollegin, dass Menschen mit Demenz ein besonderes Empfinden für Atmosphäre hätten. Das kann ich nur bestätigen. Wenn ich es eilig habe und innerlich angespannt bin, ist es schon öfter vorgekommen, dass die Person, um die ich mich gerade kümmere, besonders unsicher wirkt. Oder eine Person in der Gruppe entwickelt vermehrt Unruhe. Besonders Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz reagieren oft ebenfalls mit Unruhe. Dieses Phänomen ist Risiko und Chance zugleich. Das Risiko besteht darin, dass die Betroffenen verunsichert werden oder sich ausgegrenzt fühlen, wodurch neben dem belastenden Gefühl auch herausforderndes Verhalten entstehen kann.«

Die Chance ist der Nutzen, diese Feinfühligkeit als Möglichkeit der Kommunikation einzusetzen. Aber davon später mehr.

1.4Bedürfnisse von Menschen mit Demenz

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Übung

Haben Menschen mit Demenz andere Bedürfnisse als Menschen ohne Demenz? Wie könnte es sich anfühlen, an einer Demenz erkrankt zu sein? Stellen Sie sich vor, Sie wissen nicht mehr, wer und wo Sie sind:

Sie finden Ihre Wohnung nicht, Sie erkennen Ihre Familie nicht, Sie wissen nicht mehr, womit Sie sich beschäftigen, Sie wissen nicht mehr, woher Sie gekommen sind, was Ihr Plan ist und Sie können sich nicht verständlich machen.

Welches Bedürfnis haben Sie in diesem Moment?

Was fühlen Sie?

Was tun Sie?

Hat die Reflexion bei Ihnen unangenehme Gefühle ausgelöst, die Sie vielleicht an einen Alptraum erinnern? Glücklicherweise sind Sie in der Lage, derartige Umstände als »Traum« zu erkennen. Wenn Sie sich tatsächlich einmal verlaufen haben, können Sie selbstständig Strategien entwickeln, den richtigen Weg zu finden.

Menschen mit Demenz dagegen »verirren« sich mit dem Fortgang der Erkrankung immer mehr. Zur Orientierung und zur Erfüllung ihrer Bedürfnisse brauchen Sie Unterstützung.

In der Regel sind wir Nicht-Betroffenen in der Lage, unsere Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Wir wissen, was wir brauchen und tragen unseren Teil dazu bei, dass wir das15 auch bekommen.

Doch was genau sind eigentlich Bedürfnisse? Laut Duden sind damit »Wünsche oder ein Verlangen nach etwas« gemeint, das wir unbedingt zu brauchen glauben oder das für unser Leben unbedingt nötig ist. Dazu zählen existenzielle Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, Wohnraum usw. Darüber hinaus gibt es aber auch komplexere Bedürfnisse, die Grundlage eines zufriedenen Lebens sind. Gemeint sind damit beispielsweise körperliches Wohlbefinden, soziale Kontakte und Beziehungen, Gefühl von Sicherheit und Vertrauen, Wertschätzung durch Andere, Selbstbestimmung, sinnvolle Beschäftigung sowie Freude und Genuss am Leben.

Abraham Harold Maslow (amerikanischer Psychologe 19808–1970) hat diese unterschiedlichen Bedürfnisse in seiner Bedürfnispyramide hierarchisch dargestellt (image Abb. 2).

Bedürfnisse können uns selbst, aber auch andere Menschen betreffen, die uns wichtig sind und für die wir Verantwortung tragen. So sorgen sich beispielsweise Eltern um ihre Kinder. In gewisser Weise wird hier die Verantwortung oder auch Fürsorge für Andere zu einem eigenen Bedürfnis.

Wenn Bedürfnisse nicht erfüllt werden, sind emotionale Reaktionen möglich. Oft stehen dabei Angst, Wut, Unsicherheit, Sorge oder Verzweiflung im Vordergrund.

Wie alle Menschen haben auch die von einer Demenz Betroffenen selbstverständlich die gleichen Bedürfnisse. Nur leider ist es ihnen entsprechend dem Fortschritt der Erkrankung immer weniger möglich, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es möchten und wie sie es kennen. Genauso wenig können sie sich um die Belange der Menschen kümmern, die ihnen wichtig sind und für die sie früher gesorgt haben. Was bleibt, ist das Bestreben danach sowie das Gefühl, dies unbedingt jetzt tun zu müssen. Aufgrund des Vergessens im Rahmen der Demenz erleben die Betroffenen die Vergangenheit immer wieder neu. Die Suche, das zu finden, was sie brauchen und tun müssen wird immer schwieriger und schließt im späteren Verlauf der Erkrankung die Suche nach dem eigenen Ich, der individuellen Persönlichkeit mit ein. Orientiert an der Bedürfnispyramide nach Maslow lassen sich die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz als Pyramide darstellen (image Abb. 3).

Solange die Bedürfnisse einer Ebene nicht erfüllt ist, können die darüber liegenden auch nicht erfüllt werden. Menschen mit Demenz verlieren jedoch immer mehr ihre Struktur, die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und aktiv angemessene Strategien zu ihrer Bedürfnisbefriedigung zu entwickeln.

Tom Kitwood – bekannt für seinen person-zentrierten Ansatz – definiert die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz insbesondere als psychische Bedürfnisse:

Trost

Bindung

Identität

Beschäftigung

Einbeziehung

Er geht davon aus, dass ein Mensch »ohne deren Befriedigung nicht einmal minimal als Person funktionieren kann«16.

Kitwood legt diesen psychischen Bedürfnissen keine Hierarchie zugrunde, sondern betrachtet sie als eine Art Kooperative, die eng miteinander verbunden sind und sich im allumfassenden Begriff »Liebe« zusammenfinden.17

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Abb. 4: Psychische Bedürfnisse von Menschen mit Demenz nach Kitwood.

Wenn eines der Bedürfnisse erfüllt ist, so bezieht sich seine Erfüllung begrenzt auch auf ein anderes. Eine Abgrenzung ist nicht vollständig möglich. Vermutlich sind diese Bedürfnisse bei allen Menschen vorhanden und werden mehr oder weniger erfüllt. Mögliche Lücken bleiben solange im Verborgenen, bis sie mit viel Energie an die Oberfläche kommen, um befriedigt zu werden. Das kann geschehen, wenn jemand großem Druck ausgesetzt oder in seelischer Not ist und seine Steuerungsmechanismen nicht mehr funktionieren.

Für die Betreuungsarbeit waren diese Erkenntnisse für mich ein »Aha-Erlebnis«. Die Bedeutung des Erlebens der eigenen Identität konnte ich nun eher aus der Perspektive eines Menschen mit Demenz betrachten. Selbstverständlich kann niemand, der nicht an einer Demenz leidet, tatsächlich erleben, wie diese Erkrankung sich wirklich anfühlt!

Mir wurde aber klar, dass Alltagsbegleitung und soziale Betreuung auch die Befriedigung dieser psychischen Bedürfnisse einschließen muss und sich nicht nur auf Beschäftigungsangebote beschränken darf. Nur so ist es den uns anvertrauten Menschen möglich, sich trotz einer womöglich fortgeschrittenen Demenz als eine individuelle Person wahrzunehmen. Die Kunst dabei ist es, diese Bedürfnisse in der jeweiligen Situation zu erkennen, entsprechend zu berücksichtigen und Angebote daran auszurichten. Dabei heißt »Beschäftigung« längst nicht immer »aktives Tun«. Beispielsweise vermag ein kollektives »aus dem Fenster gucken« für den Bewohner eine durchaus erfüllende Beschäftigung sein, die zudem ein Gefühl von Nähe, Zusammengehörigkeit und Kontakt vermittelt. Auch ein gemeinsames »Nichtstun« kann die Beziehung positiv gestalten.

Manchmal können Angebote auch missverstanden werden, wenn die Betroffenen sich beispielsweise »gegängelt« oder fremdbestimmt fühlen.

Wie die Beziehungsgestaltung mit Menschen mit Demenz wärmer und gefühlvoller gestaltet werden kann, das Personsein stärkt und damit das Wohlbefinden fördert, beschreibt Kitwood in den 12 positiven Interaktionen. Er nennt sie die »positive Arbeit an der Person«. In unterschiedlicher Weise führt dies zu einer Stärkung des Personseins, weil positive Gefühle gefördert, vorhandene Fähigkeiten unterstützt und bei der Heilung seelischer Wunden geholfen werden.18 Pflege und Betreuung sollten sich zum Wohle der pflegebedürftigen Menschen an diesen verschiedenen Arten der Interaktion ausrichten, die auch gleichzeitig in einer Situation stattfinden können. Im Alltag bieten sich dafür unendlich viele Gelegenheiten:

1. Anerkennen: Ein Mensch mit Demenz wird als Person anerkannt. Dies kann beispielsweise durch eine namentliche Begrüßung, Blickkontakt auf Augenhöhe und achtsames Zuhören gelingen. Verbale Kommunikation ist dazu nicht zwingend nötig. Gelegenheiten zum Anerkennen ergeben sich z. B. bei der Begegnung auf dem Flur durch Stehenbleiben, Zuwenden und persönliches Begrüßen anstatt eines »Hallos im Vorbeigehen«.

2. Verhandeln: Jede Interaktion orientiert sich an den alltäglichen Bedürfnissen, Wünschen und Vorlieben des Menschen mit Demenz und nicht an der Anpassung an den Vermutungen anderer. Auf dieser Basis werden Tätigkeiten auf Augenhöhe verhandelt. Der Mensch erhält so wieder ein gewisses Maß an Kontrolle über das, was mit ihm geschieht. Ein »Darf ich Sie zum Essen begleiten« ersetzt etwa das »Kommen Sie bitte mit!«

3. Zusammenarbeiten: Ziel ist es, dass der Mensch mit Demenz mit seinen Fähigkeiten und aus eigenem Antrieb an zielorientierten Aufgaben beteiligt ist. Es wird ihm also nicht das Meiste abgenommen und er somit in die passive Rolle gedrängt, sondern er ist aktiv auf Augenhöhe beteiligt. Das lässt sich beispielsweise gut bei gemeinsamen Arbeiten im Haushalt oder bei Vorbereitungen für etwas integrieren: Frau T. hatte schon immer einen »grünen Daumen«. Sie steht mit suchendem Blick in der Wohnküche. Die Betreuungskraft fragt sie: »Wollen wir die Blumen gießen?«

4. Spielen: Hier geht es nicht um zielgerichtete Aufgaben, sondern um Spontanität und Selbstausdruck im gemeinsamen Spiel. Das muss nicht unbedingt tatsächlich ein Spiel sein. In einer zufälligen Begegnung, in der man vielleicht einfach albern ist oder einen – verstehbaren – Scherz macht, kann sich diese Art des Spielens auch äußern. Herr A. ist häufig zu Scherzen aufgelegt. Wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, hat auch die betreuungskraft für ihn einen Scherz bereit, bei dem sie dann beide lachen.

5. Timalation: Der Begriff ist eine Neuschöpfung aus zwei Worten: »Timao« stammt aus dem Griechischen und bedeutet, jemanden in Ehren halten, würdigen. »Stimulation« ist im Sinne sensorischer Anregung gemeint. »Timalation« beschreibt demgemäß die Interaktion mit Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen. Die Beziehungsgestaltung ist dabei vornehmlich sensorisch oder sinnbezogen ausgerichtet und ermöglicht den Betroffenen so, sich selbst zu spüren. Angebote wie basale Stimulation®, die Begegnung mit Tieren oder Snoezelen vermitteln den Menschen im Sinne Timalation Kontakt, Sicherheit und Vergnügen.

6. Feiern: Die Trennung zwischen Mitarbeitenden und betreuten Menschen verschwimmt, es werden zum gleichen Zeitpunkt ähnliche Gefühle erlebt, sodass Nähe und Gemeinsamkeit entstehen. Dies lässt sich beispielsweise gut beim Fasching feiern beobachten. Die ausgelassene Stimmung ergreift alle Mitfeiernden.

7. Entspannen: Der Person soll durch diese Interaktion Raum zu Ruhe und Entspannung gegeben werden. Ihre Stimmungen und Gefühle werden gemeinsam mit ihr ausgehalten und nicht durch Aktivitäten oder Ablenken verdrängt oder weg geschoben. Das Bedürfnis nach körperlicher Nähe wird etwa durch Handmassagen oder - halten gestillt.

8. Validation: Das Akzeptieren der subjektiven Wirklichkeit einer Person, indem man ihre Gefühle und Emotionen anerkennt. Es geht um das Verstehen des Menschen mit Demenz in seiner Ganzheitlichkeit egal um welches Verhalten es sich handelt. Ein »Richtigstellen« an das »Normale« würde dem nicht entsprechen: Frau M. sitzt lächelnd im Sessel und wiegt eine Puppe im Arm. Die Betreuungskraft sagt:« Kinder sind ein Glück.«

9. Halten: Beistand geben in schwierigen emotionalen Situationen, etwa Trauer oder Angst. Man bietet einen sicheren psychologischen Raum, in dem ein Mensch erlebt, dass eine schwierige Situation vorübergeht. Die haltende Person weiß, dass das Gefühl nicht gegen sie gerichtet ist sondern ein Selbstausdruck des Betroffenen: Frau B. ist sehr traurig. Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenz gelingt6 ihr Vieles nicht mehr. Die Betreuungskraft nimmt sie in den Arm und bleibt eine Weile bei ihr sitzen bis Frau B. sich beruhigt hat.

10. Erleichtern: Die Person in die Lage versetzen, das zu tun, was sie tun möchte auch wenn sie es selbst nicht alleine bewerkstelligen könnte. Ein Handlungsversuch muss erkannt werden, damit man das »fehlende Stück« ersetzen kann und die Person am Ende glaubt, die Handlung allein durchgeführt zu haben. So etwa das Geben des Löffels in die Hand, wenn der Mensch beim Essen das Besteck berührt, ohne zu beginnen.

11. Schöpferisch sein: Zulassen, wenn eine Person spontan aus ihrem Vorrat an Fähigkeiten oder Fertigkeiten schöpft. Ein gutes Beispiel dafür ist spontanes Singen oder Tanzen und die Einladung, mitzumachen: Die Betreuungskraft möchte Herrn P. zur Sitzgymnastik einladen. Er erhebt sich schwungvoll, macht einen Diener und fordert sie zum Tanzen auf. Im Walzerschritt begeben sie sich Richtung Bewegungsraum.

12. Geben: Die Person gibt einer anderen Person etwas von sich selbst. Sie bringt damit Sorge, Zuneigung oder Dankbarkeit zum Ausdruck, wenn sie aufgrund ihrer Sensibilität bezüglich Stimmungen und Gefühlen von Betreuenden Unterstützung geben möchte. In diesem Moment ist sie die Gebende. Anerkennung und Dankbarkeit des »Nehmenden« tun ihr gut: Frau T. liebt Marzipan. Davon hat sie immer einen Vorrat auf ihrem Tisch. Heute bietet sie der Betreuungskraft davon ein Stück an. Eigentlich mag diese kein Marzipan. Trotzdem bedankt sie sich bei Frau T., steckt das Stück Marzipan in ihre Tasche und meint: »Das wird mir in der Pause gut schmecken.«

Im Gegensatz zu den positiven Interaktionen stehen Verhaltensweisen der Mitarbeitenden, die sich negativ auf Menschen mit Demenz auswirken und deren Wohlbefinden deutlich beeinträchtigen können. Kitwood spricht hier von einer »malignen, bösartigen Sozialpsychologie«19. Damit sind nicht »üble Absichten« der Betreuenden gemeint. Ihr Handeln basiert vielmehr in der Regel auf guten Absichten und geschieht in freundlicher Art. Diese Art des Handelns ist Teil des kulturellen Erbes der Betreuungspersonen20 und »versteckt« sich häufig im alltäglichen Verhalten. Die »maligne Sozialpsychologie« findet sich in folgenden Punkten21 und sollte in der Begegnung mit den Menschen vermieden werden:

1. Betrug: Täuschen mit dem Ziel, die Person abzulenken, zu manipulieren oder zur Mitwirkung zu zwingen: »Wenn Sie das Glas nicht austrinken, dann schimpft Ihre Mutter.«

2. Zur Machtlosigkeit verurteilen: Einer Person nicht gestatten, ihre Fähigkeiten einzusetzen, keine Unterstützung beim Abschluss begonnener Handlungen geben: »Das Messer ist gefährlich. Die Kartoffeln schälen Sie lieber nicht.«

3. Infantilisieren: Eine Person wie ein kleines Kind sehr mütterlich bzw. väterlich autoritär behandeln: »Na, meine Süße, jetzt setzen wir mal die Mütze auf.«

4. Einschüchtern: Einer Person durch Drohungen oder körperlicher Gewalt Angst machen: »Wenn Sie jetzt nicht aufstehen, dann kommt Ihre Tochter heute nicht zu Besuch.«

5. Etikettieren: Eine Person über ihre Erkrankung oder ihr Verhalten kategorisieren und dann als Erklärung ihr Verhalten als Grundlage für die Interaktion einsetzen. Man spricht in diesem Fall beispielsweise von »Hinläufern« oder »Verhaltensauffälligen«: »Da pass mal auf, Herr M. ist aggressiv.«

6. Stigmatisieren: Jemanden wie einen Ausgestoßenen oder ein verseuchtes Objekt behandeln: »Bei Frau T. mache als Erstes das Fenster auf, wenn Du in ihr Zimmer gehst. Bei ihr stinkt es immer.«

7. Überholen: Einer Person schneller als sie verstehen kann Informationen oder Wahlmöglichkeiten geben und sie damit unter Druck setzen: »Wollen Sie jetzt Kaffee mit oder ohne Milch oder doch lieber einen Tee? Nun sagen Sie schon, ich muss weiter.«

8. Entwerten: Die subjektive Realität des Erlebens und Fühlens einer Person nicht anerkennen: »Das ist doch halb so schlimm. Kein Grund zum Traurigsein.«

9. Verbannen: Jemanden fortschicken oder körperlich bzw. seelisch ausschließen: Herr M. öffnet die Tür zum Gruppenraum, in dem gerade eine Gedächtnisrunde stattfindet. Aufgrund seiner fortgeschrittenen Demenz hat er sich im Zimmer geirrt. Die Betreuungskraft sagt zu ihm: »Hier sind Sie falsch, Herr M., schließen Sie bitte die Tür.«

10. Zum Objekt erklären: Jemanden nicht wie ein lebendiges Wesen behandeln, sondern wie einen Gegenstand. Z. B. jemanden massiv ohne Worte und der Möglichkeit, sich zu orientieren, zum Hinsetzen drängen.

11. Ignorieren: Eine Person trotz ihrer Anwesenheit nicht beachten oder sogar mit einer anderen Person über sie sprechen, etwa ein Angehörigengespräch in Gegenwart des Betroffenen führen.

12. Zwang: Jemanden zu Handlungen zwingen ohne Berücksichtigung seiner Wünsche oder Wahlmöglichkeiten: »Jetzt machen alle Mittagsruhe. Bleiben Sie bitte in Ihrem Zimmer.«

13. Vorenthalten: Einer Person Informationen oder die Befriedigung eines Bedürfnisses verweigern: »Sie waren doch gerade zur Toilette, bleiben Sie bitte hier.«

14. Anklagen: Jemandem Handlungen oder sein Verhalten zum Vorwurf machen, obwohl er es nicht anders kann: »Sie haben sich ja schon wieder bekleckert.«

15. Unterbrechen: In die Handlung oder Überlegung einer Person plötzlich oder in störender Weise einbrechen: Herr P. gießt den Kaffee in die Zuckerdose, die Betreuungskraft nimmt ihm die Kanne aus der Hand und stellt die Zuckerdose weg.

16. Lästern: Sich über merkwürdiges Handeln einer Person lustig machen, sie erniedrigen, hänseln oder Witze auf ihre Kosten machen: Frau P. sammelt in ihrem Rollator Essensreste. Die Betreuungskraft sagt zu ihr: »Sie wollen wohl die Hühner füttern.«

17. Herabwürdigen: Botschaften vermitteln, die der Selbstachtung einer Person schaden. Sie etwa als inkompetent oder nutzlos beurteilen: Die Betreuungskraft sagt zu Frau K.: »Die Kartoffelschalen sind doch viel zu dick. Da bleibt von der Kartoffel nichts mehr übrig.«

In vielen Äußerungen verbergen sich mehrere Aspekte einer malignen Sozialpsychologie gleichzeitig. Sie greifen nicht nur die Persönlichkeit der Betroffenen an sondern können dien demenziellen Prozess noch beschleunigen.22

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Tipp

Nehmen Sie bei jeder Begegnung die Perspektive des Menschen mit Demenz ein. Stellen Sie sich folgende Fragen:

Was braucht er in diesem Moment?

Wie kann ich ihn unterstützen, sein Bedürfnis zu erfüllen?

1.5Lebendige Innenwelt

Wie können Sie herausfinden, was die Person gerade braucht? Es ist oft nicht das, was die Betreuungskraft annimmt. Denken Sie daran, dass die Interessen und Bedürfnisse jedes Bewohners andere als die Ihren. Aus der Fachliteratur oder Fortbildungen lassen sich gute Anregungen für Beschäftigung gewinnen. Doch wie oben schon erwähnt: Beschäftigung ist nicht alles!

Grundsätzlich empfinde ich den Begriff »Beschäftigung« in der Betreuungsarbeit als zu einseitig, weil er zu sehr auf Aktion – auf das »Was« – ausgerichtet ist. Deshalb erscheint mir der Begriff »Begleitung« besser geeignet, da er die Bewohner mehr mit einbezieht und den ganzheitlichen Aspekt ihrer Lebensbereiche in der Betreuung berücksichtigt. Das »Wie« beeinflusst das »Was«.

Was wirklich passt, das müssen Sie bei jedem Bewohner und jeder Gruppe selbst herausfinden. Dazu ist aber zunächst das Verständnis nötig, was in den Bewohnern vorgeht, was sie bewegt. Da sie Ihnen das jedoch eher selten selbst sagen können, müssen Sie in gewisser Weise ihre Innenwelt erkunden, ihr »Leben in der Vergangenheit« betrachten. Nur so können Sie sie verstehen.

Warum schreibt Frau Schneider auf kleine Zettel? Was will sie den Vorbeikommenden mitteilen? Wie geht es ihr, wenn kaum jemand stehen bleibt und ihr zuhört? Mit Hilfe ihrer Biografie können wir besser verstehen, was Frau Schneider bewegt.

Die Biografie eines Menschen gibt Hinweise auf seine Lebensgeschichte. Sie ist mehr als ein Lebenslauf. Zum einen gibt sie Auskunft über den individuellen Lebensweg. Wir erfahren, wer die Person war, welche Erfahrungen im Leben gemacht wurden, ob es besondere Ereignisse gab, was ihr wichtig war, was sie ablehnte. Die »Rolle im Leben« wird deutlich.

Zum anderen gewinnen wir Kenntnisse darüber, in welchem Umfeld, in welcher Zeit jemand aufgewachsen ist. Die eigene Geschichte ist fest damit verbunden. Sie prägt Werte, soziale Normen, die Kultur eines Menschen. Wie ein Puzzle lassen sich diverse Teile zusammensetzen, aus denen wir Hinweise auf seine Innenwelt bekommen kann. So hilft die Biografie eines Menschen, ihn und sein Handeln, Denken und Fühlen zu verstehen.

Zurück zu Frau Schneider:

Wir wissen, dass sie ein Busunternehmen hatte und ihre Tätigkeit im Planen, Organisieren und Begleiten von Reisen bestand. Aufgrund ihrer fortgeschrittenen Demenz ist ihr nicht bewusst, dass sie diese Tätigkeit schon längst nicht mehr ausführt. Sie weiß nicht, dass sie sich in einem Pflegeheim befindet und schon lange Rentnerin ist. In ihrer Wahrnehmung ist sie noch immer bei ihrer Arbeit, die sie »mit Herz und Seele« ausführte. Sie sorgte dafür, dass alles »wie am Schnürchen läuft«. Auf sie konnte man sich verlassen. »Bestellt und nicht abgeholt« gab es bei ihr nicht, die Reisegäste waren zufrieden, ihr Unternehmen hatte einen guten Ruf. Sie selbst war stolz auf ihre Leistung.

Frau Schneiders Biografie lässt vermuten, dass sie in ihrer Innenwelt gerade ihre Rolle als kompetente, zuverlässige Busunternehmerin ausfüllt. Daran orientiert sie sich, hier fühlt sie sich sicher. Da sie entsprechend ihrer Bedürfnisse beschäftigt ist, erlebt sie sich selbstbewusst und in ihrer Identität.

Das Verhalten der Vorbeikommenden wirkt auf sie irritierend. Mag sein, dass sie ihnen etwas erklären oder sie über etwas informieren (vielleicht den Fahrplan?) will. Sie versteht daher nicht, warum das niemanden interessiert.

Welche Gefühle mögen hinter der Irritation liegen? Für einen Moment verliert Frau Schneider ihre Sicherheit. Sie erlebt nicht die Bestätigung, die sie von früher kennt, findet keine Erklärung für die Situation.

Biografiearbeit ist somit ein wichtiges Element in der sozialen Betreuung. Diese Erkenntnis allein garantiert allerdings noch keine »gute« Betreuung. Zusätzlich notwendig ist die genaue Beobachtung der Person nach folgenden Kriterien:

1.Wahrnehmung

Welches Verhalten ist erkennbar?

Welche Gefühle sind beobachtbar?

2.Deuten und Verstehen

Wo (in welcher Realität, Zeit) befindet sich die Person?

In welcher Rolle befindet sie sich?

Was braucht sie in diesem Moment?

Wie kann ich sie unterstützen?

Mit der Beantwortung der Fragen nehmen Sie sofort einen Perspektivwechsel vor. Aus Sicht der Person erkennen Sie ihre aktuellen Bedürfnisse, an denen Sie Ihr Handeln ausrichten können.

Wenn Sie neu als Betreuungskraft sind, mag es Ihnen so gehen wie Frau Sommer, Ihrer Kollegin in diesem Buch. Sie erinnert sich an ihre ersten Wochen als Betreuungskraft: »Anfangs war ich oft zu schnell, weil ich glaubte, sofort agieren zu müssen. Zum Innehalten habe ich mir keine Zeit gegeben. So habe ich viele Chancen verpasst, tatsächlich auf die aktuellen Bedürfnisse der Bewohner eingehen zu können. Mittlerweile laufen diese zwei Schritte automatisch ab, weil mein Fokus bei jeder Begegnung darauf ausgerichtet ist und ich leichter ›das Richtige‹ finde.«

Leider gibt es nicht für alle Bewohner biografische Informationen aus der Vergangenheit. Manch einer – einschließlich der Angehörigen – möchte oder kann darüber keine Auskunft geben. Das Deuten und Verstehen wird dann natürlich erschwert. Immer bekannt sind jedoch die Zeit, in der die Bewohner aufgewachsen sind und meistens auch ihre Herkunft. Aus diesem Wissen lässt sich viel Hilfreiches ableiten. Zudem ist der erste Schritt – die Wahrnehmung – unabhängig von biografischem Wissen.

Außerdem ist die Biografie kein abgeschlossener Prozess. Bis zum Tode eines Menschen wird sie immer weiter geschrieben. Je besser und länger wir jemanden immer wieder begegnen, desto mehr lernen wir ihn kennen. Da kann es durchaus vorkommen, dass jemand im Alter – besonders in der Demenz – noch andere Interessen entwickelt als bisher bekannt. Manchmal fallen einfach Grenzen, die einem lebenslang »verboten« hatten, bestimmte Dinge zu tun – für kreatives Gestalten etwa war früher selten Raum, wenn es nicht »nützlich« war.

Auch sei die Frage erlaubt: Möchten Sie lebenslang »warme Milch mit Honig« trinken, weil es Ihnen früher schmeckte? Wie oft wundern sich Angehörige, dass Vater oder Mutter plötzlich doch Fisch mögen?

Frau Meiers Lebensgeschichte ist in groben Zügen bekannt. Schauen wir uns die Situation aus ihrer Perspektive an. Dazu folgen wir den zwei Schritten der Beobachtung:

1. Wahrnehmung

Welches Verhalten ist erkennbar?

Bei manchen Menschen ist Frau Meier bestimmend und in ihren Äußerungen verletzend. Bei bedürftigeren Bewohnern ist sie fürsorglich. Bei Begrenzung wehrt sie sich und zieht sich zurück.

Welche Gefühle sind bei Frau Meier beobachtbar?

Beim Schimpfen ist sie wütend. Vielleicht fühlt sie sich unverstanden? Beim Helfen wirkt sie entspannt und lächelt. Vermutlich ist sie in diesem Moment zufrieden. Bei Begrenzung reagiert sie ärgerlich. Vielleicht fühlt sie sich abgelehnt?

2. Deuten und Verstehen

Wo (in welcher Realität, Zeit) befindet sich Frau Meier?

Sie ist in der Realität, also im aktuellen Moment. Sie übt ihre frühere Rolle aus. Zum einen ist sie die »zupackende« Kantinenwirtin, zum anderen die fürsorgliche »Kümmerin«, vielleicht auch die fürsorgliche Mutter

Was braucht sie in diesem Moment?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842689961
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Gerontopsychiatrie Sozialarbeit Altenpflege Gerontologie Kommunikation Demenz Lebensqualität Demenz

Autor

  • Anne Roder (Autor:in)

Anne Roder (B.A.) ist examinierte Altenpflegefachkraft, Fachkraft in der Gerontopsychiatrie und Pflegemanagerin. Sie arbeitet zurzeit als freiberufliche Dozentin in der Altenhilfe (Schwerpunkt: Gerontopsychiatrie).
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Titel: Neu als Betreuungskraft