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Ratgeber Schlaganfall

Behandlung, Rehabilitation, Vorbeugung. Zertifiziert von der Stiftung Gesundheit

von Dr. Eberhard J. Wormer (Autor:in)
144 Seiten

Zusammenfassung

Ein Schlaganfall kann jeden treffen – weltweit alle 45 Sekunden und alle zwei Minuten in Deutschland. Glücklicherweise ist der Schlaganfall kein schicksalhaftes Ereignis mehr: Wir kennen heute die Ursachen, wissen, was im Ernstfall zu tun ist, und haben die besten Therapiemöglichkeiten, die es jemals gab. Auch weiß man heute: Wer ein solches Ereignis als Herausforderung sieht und seinen Lebensstil auf den Prüfstand stellt, hat die besten Aussichten auf schnelle Genesung: gesunde Ernährung, Bewegung, Stressabbau und der Verzicht auf Genussgifte sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren. Der renommierte Autor Eberhard J. Wormer stellt Ursachen und Behandlung vor und erklärt anschaulich, wie man das Schlaganfall-Risiko einfach und effektiv minimieren kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser,

mit dem Thema Schlaganfall setzt sich niemand gern auseinander. Allein der Gedanke daran ist beunruhigend. Dabei verhält es sich mit dem Schlaganfall genauso wie mit anderen Ängsten: Je mehr man dem Problem zu Leibe rückt, je mehr man darüber weiß, desto schneller löst sich Furcht in Wohlgefallen auf.

Der Schlaganfall geht jeden etwas an, denn er kann jeden treffen. Und er tritt häufig auf: In Deutschland etwa alle zwei Minuten. Gut zu wissen, wie man sich davor schützt. Und es ist tatsächlich möglich, sich zu schützen, denn der Schlaganfall ist kein schicksalhaftes Ereignis: Er ist vorhersehbar und vermeidbar.

In früheren Zeiten konnte man nur zusehen, wenn es zu einer solchen Katastrophe gekommen war, doch in der heutigen Zeit mit all ihren medizinischen Fortschritten muss niemand befürchten, zwangsläufig eine schwere Behinderung davonzutragen oder gar zu sterben, wenn er vom Schlaganfall getroffen wurde. Gerade auf diesem Gebiet hat es in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte gegeben: Wir kennen die Ursachen und wissen, wie man sie erfolgreich bekämpft, und wir haben die besten Therapien, die es jemals gab.

Ich hatte jahrelang Gelegenheit, das Leben vor und nach einem Schlaganfall im nächsten Umfeld zu beobachten. Am meisten profitierten diejenigen, die ihn als Herausforderung und neuen Lebensabschnitt annehmen konnten. Nach einem Schlaganfall stehen Lebensstil und Gesundheit auf dem Prüfstand. Jeder Schlaganfall ist ein Weckruf, dass etwas schiefläuft, dass gehandelt werden muss. Es liegt an uns selbst. Wir selbst entscheiden, wie wir unser Leben leben wollen – Sie entscheiden!

Ich lade Sie dazu ein, sich mit folgenden Fragen zu befassen: Was passiert bei einem Schlaganfall im Kopf, welche Arten gibt es, und was können Sie tun, um das Risiko für einen Schlaganfall zu minimieren? Und wenn es passiert ist: Wie bekommt man das „System“ wieder zum Laufen? Welche Hürden wollen gemeistert sein, um wieder ins normale Leben zurückzukehren? Das Leben geht auch nach einem Schlaganfall weiter, und es muss nicht schlechter sein als vorher. Davon handelt dieses Buch. Seien Sie optimistisch!

Ihr

Eberhard J. Wormer

DER SCHLAGANFALL – ERSTE HILFE

Ein Schlaganfall ereignet sich auf den ersten Blick urplötzlich. So erleben es viele Betroffene – eine Katastrophe, die in unserem wichtigsten Organsystem stattfindet: im Gehirn. In diesem Kapitel erfahren Sie zunächst, wie Sie einen Schlaganfall erkennen und was Sie tun müssen, um schnell Hilfe zu erhalten oder zu geben. Ein Blick in unser Gehirn und seine Funktionen verdeutlicht, was ein Schlaganfall überhaupt ist und wie man ihm in der modernen Medizin auf die Spur kommt.

Ein Blitz aus heiterem Himmel?

Der Schlaganfall ist das Endergebnis einer unterbrochenen Blutversorgung im Gehirn. Die Ursachen sind durchaus verschieden. Wird das Gehirn nicht über das Blut mit ausreichend Sauerstoff versorgt, droht Nervengewebe abzusterben. Die Anzeichen sind eindeutig: Die Kaffeetasse fällt aus der Hand, der Mundwinkel hängt, man kann nicht mehr richtig sprechen und sehen oder sinkt bewusstlos zu Boden. Diagnose: Infarkt im Gehirn, Schlaganfall. Ab jetzt läuft die Zeit, es ist eine Sache von Sekunden und Minuten.

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Wer seine Gesundheit im Auge behält, muss den Schlaganfall nicht fürchten.

Stopp: Unvermutet wie vom Blitz niedergestreckt? Wirklich unvermutet? Jede Katastrophe hat eine Vorgeschichte. Auch Vulkanausbrüche, Erdbeben, Überschwemmungen, Lawinen oder schwere Gewitterstürme kommen keineswegs aus heiterem Himmel: Es gibt immer Vorzeichen und Warnhinweise, die man lesen und vor allem beachten kann, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Ignorieren Sie nicht die pechschwarzen Wolken, die sich am Himmel zusammengebraut haben!

In der Regel steigt das Risiko für katastrophale Ereignisse über längere Zeiträume stetig an. Das gilt auch für den Schlaganfall. Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes, hohe Cholesterin- und Homocysteinwerte, Herzrhythmusstörungen und Arteriosklerose entwickeln sich nicht über Nacht, sondern über Jahre und Jahrzehnte. Sie sind „gute“ Voraussetzungen dafür, dass Blutgefäße, die das Gehirn mit Sauerstoff und Energie versorgen, enger werden, verstopfen oder einreißen.

Die gute Nachricht: Sie müssen nicht tatenlos zusehen! Sie können selbst sehr viel dafür tun, dass es nicht zum Super-GAU im Gehirn kommt. Der Schlaganfall ist kein unabwendbares Ereignis – kein Blitz aus heiterem Himmel. Nehmen Sie Ihr Schicksal selbst in die Hand, übernehmen Sie die Verantwortung für Ihre Gesundheit!

Sogar dann, wenn Sie von einem Schlaganfall heimgesucht wurden, können Sie darauf hoffen, wieder zu einem Leben ohne größere Behinderung zurückzukehren. Wir profitieren alle von den Fortschritten der Medizin in den letzten Jahrzehnten, von wirksamer Vorbeugung, verbesserter Diagnostik, Therapie und Rehabilitation, und das gilt auch für Schlaganfälle: In vielen Fällen gelingt die Rehabilitation und die Rückkehr zur vorher gewohnten Lebensqualität.

Wen trifft es?

Kurz gesagt: Es kann jeden treffen – je nachdem wie hoch das individuelle Risiko ausgeprägt ist. Tatsächlich ist der Schlaganfall zur Volkskrankheit geworden, in Deutschland und anderswo. In den USA belegen Schlaganfälle Platz fünf der häufigsten Todesursachen. Schätzungsweise treten hierzulande 270.000 neue Schlaganfälle pro Jahr auf. Ursache ist weit überwiegend ein Hirninfarkt durch die Unterbrechung der Blutzufuhr im Gehirn (ischämischer Schlaganfall). Innerhalb eines Jahres stirbt daran jeder dritte bis fünfte Betroffene. 2015 waren es insgesamt 57.000 – mehr als alle Sterbefälle durch Lungenkrebs.

Unter den Schlaganfallopfern sind vergleichbar viele Männer und Frauen. Mit dem Lebensalter steigt das Risiko sprunghaft an. Die Hälfte aller Schlaganfälle betrifft über 75-Jährige. Bei allen über 60-Jährigen sind es insgesamt sogar 80 Prozent. Leider ist der ungesunde Lebensstil nach wie vor weit verbreitet, und es ist viel zu wenig bekannt, wie man sich vor Schlaganfällen schützt. Deshalb fällt die Bestandsaufnahme der Epidemiologen beunruhigend aus: Jeder dritte Betroffene muss mit einer mittel- bis hochgradigen Behinderung rechnen. Zwei Drittel derjenigen Patienten, die das erste Jahr überleben, sind auf fremde Hilfe angewiesen. Mindestens jeder Zehnte muss in einem Pflegeheim versorgt werden.

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Unter den Schlaganfallopfern sind vergleichbar viele Männer und Frauen.

Weltweit ist der Schlaganfall die häufigste Ursache von Behinderung. Da die Lebenserwartung in Industriestaaten ansteigt, muss man davon ausgehen, dass Schlaganfälle in Zukunft noch häufiger auftreten werden.

Einen Schlaganfall erkennen

Sie sollten zuallererst wissen, wie man einen Schlaganfall erkennt. Sie müssen kein Arzt sein, um einen Verdachtsfall zu identifizieren.

Gib GAS! … und zwar FAST!

Bei einer Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr im Gehirn zählt jede Minute: Time is brain, so bringen es Neurologen auf den Punkt, Hirn ist Zeit: Je schneller man beim Schlaganfall Hilfe bekommt, desto besser sind die Chancen, Hirnfunktionen und sogar das Leben zu retten.

Wie kann man einen Verdacht auf Schlaganfall prüfen? Das ist sehr einfach. Sie müssen kein Arzt sein, es gelingt jedem Laien: Mit einfachen Tests lassen sich auffällige Symptome rasch erkennen. Es gibt zwei Versionen desselben Schlaganfalltests: Gib GAS!, und das FAST – auf Deutsch: Tempo machen!

Verdacht auf Schlaganfall? Sofort handeln!

Wenn Sie eine der nachfolgenden Erscheinungen bei sich selbst oder anderen bemerken, steht der Schlaganfallverdacht im Raum. TV-Doktor Eckart von Hirschhausen hat sich folgenden Slogan ausgedacht: Gib GAS!

image G = GESICHT Schauen Sie dem Betroffenen ins Gesicht: Hängt ein Mundwinkel? Sieht das Auge/Gesicht seltsam aus? Wirkt die Mimik merkwürdig verzerrt?
image A = ARME Lassen Sie den Betroffenen die Arme anheben. Hängt ein Arm nach unten? Kann ein Arm kaum oder gar nicht angehoben werden?
image S = SPRACHE Fordern Sie den Betroffenen auf, seinen Namen oder seine Adresse auszusprechen. Spricht er „komisch“, verwaschen, undeutlich?

Trifft schon ein Kriterium zu, gibt es nur eine Entscheidung: Gas geben, keine Zeit verlieren, Notruf 112!

Weit verbreitet ist auch der FAST-Test:

image F = FACE = GESICHT Schauen Sie dem Betroffenen ins Gesicht: Hängt ein Mundwinkel? Sieht das Auge/Gesicht seltsam aus? Wirkt die Mimik merkwürdig verzerrt?
image A = ARMS = ARME Lassen Sie den Betroffenen beide Arme anheben. Hängt ein Arm nach unten? Kann ein Arm kaum oder gar nicht angehoben werden?
image S = SPEECH = SPRACHE Fordern Sie den Betroffenen auf, seinen Namen oder seine Adresse auszusprechen. Spricht er „komisch“, verwaschen, undeutlich, undeutlich?
image T = TIME = ZEIT Sie haben den Verdacht, dass ein Schlaganfall vorliegt. Sie rufen sofort Hilfe: 112. Rufen Sie NICHT Ihren Hausarzt an, das kostet wertvolle Zeit. Jede Minute zählt!

Trifft schon ein Kriterium zu, gibt es nur eine Entscheidung: Gas geben, keine Zeit verlieren: Notruf 112!

Sofortmaßnahmen

Jeder Verdacht auf einen Schlaganfall ist ein Notfall! Nur im Krankenhaus lässt sich der Schlaganfall sicher diagnostizieren. Nur dort kann die Ursache festgestellt und die richtige Behandlung sofort eingeleitet werden.

 

Der GAS- bzw. FAST-Test gibt Hinweise auf einen Schlaganfall: Sie wählen den Notruf 112.

Sie berichten dem Notarzt über Ihren Verdacht und die beobachteten Symptome.

Sie notieren den Zeitpunkt, an dem die Symptome eingesetzt haben.

Sie notieren die beobachteten Symptome.

Sie notieren die Medikamente, die der Betroffene einnimmt (bei Angehörigen).

Sie achten darauf, dass der Betroffene weder isst noch trinkt. Der Schluckreflex könnte gestört sein (Erstickungsgefahr!).

Sie öffnen oder entfernen beengende Kleidungsstücke.

Sie achten auf freie Atemwege und entfernen gegebenenfalls Zahnprothesen.

Sie bringen eine bewusstlose Person in die stabile Seitenlage.

Sie kontrollieren die Atmung und den Puls (am Handgelenk). Kommt es zum Herz-Kreislauf-Stillstand, starten Sie sofort mit der Herzdruckmassage.

Sie sprechen Umstehende/Passanten direkt an und bitten um Hilfe.

Wie geht es weiter?

In der Erstversorgung von Schlaganfallpatienten gab es in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte. Da Schlaganfälle so häufig vorkommen, hat man in Deutschland und anderen Ländern Spezialstationen in Kliniken für akute Schlaganfälle eingerichtet: die sogenannten Stroke Units. In Deutschland gibt es derzeit 334 solcher Stroke Units, die von der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft und der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe zertifiziert wurden. 95 Prozent aller deutschen Städte und Gemeinden liegen maximal 30 Minuten von einer Klinik mit Stroke Unit entfernt.

In diesen Akutstationen stehen vier bis acht Betten zur Verfügung, die mit allen nötigen Mitteln ausgestattet sind. Neurologen und Therapeuten sind rund um die Uhr in Bereitschaft. Das Pflegepersonal ist speziell geschult. Das heißt, Sie können mit der bestmöglichen diagnostischen und therapeutischen Versorgung rechnen.

Patienten mit akutem Schlaganfall bleiben ein bis drei Tage auf der Stroke Unit. Anschließend werden sie auf eine andere Station verlegt und dort weiterbehandelt oder gleich in eine Rehabilitationsklinik überwiesen.

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Falls möglich, fragen Sie das Notarztteam, ob der Betroffene (oder Sie selbst) in eine Klinik mit Stroke Unit gebracht wird. Schlaganfallpatienten, die auf einer Stroke Unit behandelt werden, haben eine deutlich bessere Prognose!

Via Internet können Sie sich vorab informieren, wo sich die nächstgelegene Klinik mit Stroke Unit befindet: Auf der Webseite www.dsg-info.de machen Sie unter dem Reiter „Stroke Units“ die von Ihrem Wohnort aus am schnellsten erreichbare Klinik mittels Postleitzahl oder Stadtnamen ausfindig.

Was ist ein Schlaganfall?

Ein Schlaganfall ist die Folge einer Unterbrechung der Durchblutung im Gehirn. Die Durchblutungsstörung tritt in der Regel schlagartig auf, daher der Name. Der von außen durch Symptome bemerkbare Schlaganfall wird durch eine fehlende Blutzufuhr im zentralen Nervensystem verursacht. Dafür gibt es verschiedene Gründe. In jedem Fall werden die betroffenen Hirnregionen nicht mehr mit Energie (Glukose) und Sauerstoff via Blut in den Arterien versorgt.

Eine Erkrankung, viele Namen

Schlaganfall • Hirnschlag • Hirninfarkt • Hirnblutung • Apoplexie • Schlagfluss • stroke • zerebrovaskulärer Insult • cerebrovascular accident (CVA) • Subarachnoidalblutung

Da das Gehirn höchstens eine Minute ohne Blutversorgung arbeiten kann, kommt es rasch zu Funktionsstörungen, die sich als Schlaganfallsymptome bemerkbar machen. Dann muss schnellstmöglich gehandelt werden, um das Absterben von Hirngewebe, bleibende Hirnschäden und Behinderungen zu vermeiden. Time is brain (Hirn ist Zeit) ist die Losung: Um Hirngewebe und damit Hirnfunktionen nach dem Schlaganfall zu retten, muss schnell gehandelt werden.

Symptome

Die meisten Menschen, die vom Schlaganfall getroffen werden, wissen nicht, was ihnen widerfahren ist, sondern befinden sich in einem hochgradig beängstigenden Zustand. Auch die meisten Beobachter des Geschehens erkennen häufig nicht, dass sie einen Schlaganfall vor sich haben. Unwissenheit erzeugt Unsicherheit, Hilflosigkeit, Angst und Panik – wenig hilfreich bei akuten Notfällen. Das muss aber nicht sein. Schlaganfälle sind leicht zu erkennen, auch von Ihnen!

image Schwäche oder Lähmung, halbseitig (meistens rechts): Arme, Beine oder Gesicht können kaum oder gar nicht mehr richtig bewegt werden.
image Gesicht: Die betroffene Gesichtshälfte „hängt“ irgendwie. Ein Mundwinkel ist nach unten gezogen, die Mimik des gesamten Gesichts wirkt deshalb „verzerrt“.
image Sprachstörungen: Da eine Gesichtshälfte gelähmt ist, ist die sprachliche Ausdrucksfähigkeit beeinträchtigt. Betroffene sprechen verwaschen, undeutlich, unverständlich.
image Sehstörungen: Sind die Augen betroffen, kann es zu Doppelbildern, Verschwommensehen, halbseitigem Gesichtsfeldausfall und vorübergehender Blindheit kommen.
image Gleichgewichtsstörungen: Schwindel, Gangunsicherheit und Koordinationsstörungen (Betroffene sind weder betrunken noch unter Drogeneinfluss!)
Übelkeit, Erbrechen, Verwirrtheit (Betroffene sind weder betrunken noch unter Drogeneinfluss!)
image Plötzliche, sehr starke Kopfschmerzen: ein Hauptsymptom der Hirnblutung
Bewusstseinsstörungen: Eintrübung oder Bewusstlosigkeit

Schlaganfälle verursachen in der Regel keine Schmerzen (Ausnahme: Hirnblutung). Wer die Symptome eines Schlaganfalls nicht auf dem Schirm hat, kann sie nicht richtig deuten und tippt womöglich eher auf zu viel Alkohol, auf Drogen oder gar eine Psychose. Wenn man jedoch nicht weiß, dass das krankhafte Geschehen durch Störungen in der weit entfernten Nervenzentrale ausgelöst wird, geht wertvolle Zeit verloren.

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Wie kommt es zu den peripheren Ausfällen, wenn durch ein verstopftes Blutgefäß die Blutzufuhr im Gehirn unterbrochen ist? Das zentrale Nervensystem kommuniziert via Nervenfasern im Rückenmark mit allen Organsystemen inklusive der Muskulatur. Ist die Blutversorgung in Teilen des Gehirns blockiert, gibt es auch keine zentrale Kontrolle von peripheren Funktionen mehr. Sie können sich das so vorstellen: Die Leitungen sind tot, die Zentrale hat aufgelegt. Wer die Symptome des Schlaganfalls kennt, weiß, dass die Beschwerden „unten“ durch Störungen von „oben“ verursacht sind.

Arterielles Blut ist das Transportmedium für Nährstoffe und Sauerstoff. In einem weit verzweigten Röhrensystem von großen bis sehr kleinen Gefäßen liefert es lebenswichtige Stoffe an Organe, Gewebe und Zellen aus, die dann störungsfrei arbeiten. Kommt es zur Verstopfung einer Röhre oder zum Leck, wird das dahinter befindliche Gebiet nicht mehr beliefert. Nach kurzer Zeit stellt die betroffene Region die Arbeit ein und droht abzusterben, denn: kein Blut, kein Leben.

Der Schlaganfallfarbcode ist weiß und rot:

Blutleere wird mit Blässe assoziiert. Deshalb kann man den Schlaganfall, der durch ein verstopftes Gefäß verursacht wird, als „weißen“ Schlaganfall bezeichnen. Die Region hinter dem Gefäßverschluss bleibt ohne Blut (Ischämie). Acht von zehn Betroffenen haben einen ischämischen Schlaganfall, auch thrombotischer oder embolischer Schlaganfall genannt.

Blutfülle wird mit Erröten assoziiert. Deshalb kann man den Schlaganfall, der durch ein geplatztes Gefäß verursacht wird, als „roten“ Schlaganfall bezeichnen. Blut fließt durch ein Gefäßleck ab (Hämorrhagie), ergießt sich in die Umgebung (Ödem) und drückt auf Hirngewebe. Zwei von zehn Betroffenen erleiden einen hämorrhagischen Schlaganfall oder eine intrazerebrale Blutung.

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Der weiße Schlaganfall

In Arterien zirkuliert sauerstoffreiches Blut. Arterien sind sehr robust gebaute Blutgefäßröhren mit einer Innenbeschichtung (Endothel), die den reibungslosen Blutfluss ermöglicht. Wird das Endothel brüchig oder rau, kann sich an solchen Stellen Material ablagern. Am häufigsten passiert das bei Arteriosklerose (Arterienverkalkung). Arteriosklerose hat einen langen Vorlauf und viele Ursachen, über die bis heute heftig gestritten wird. Kommt es zu Ablagerungen in Arterien, können sich sogenannte Plaques bilden, die die Gefäßöffnung mit der Zeit einengen. Hoher Blutdruck sowie hohe Cholesterin- und Homocysteinwerte fördern diesen Prozess, der im gesamten arteriellen Gefäßsystem stattfindet.

Zerfällt eine Plaque, können sich Blutgerinnsel ablösen und auf dem Blutweg ins Gehirn gelangen und dort Gefäße verstopfen. Das betroffene Gebiet bekommt dann kein Blut mehr. Nervengewebe blasst ab und droht abzusterben. Es kommt zum Gehirninfarkt. Das Einschwemmen eines solchen Blutgerinnsels wird Thrombembolie genannt.

Eine weitere Ursache für Blutgerinnsel, die Schlaganfälle auslösen, sind Herzrhythmusstörungen (insbesondere Vorhofflimmern). Auch durch Aufspaltung der arteriellen Gefäßwand (Dissektion), vor allem an gekrümmten Stellen, ist ein weißer Schlaganfall möglich: Blut fließt in den Gefäßwandspalt, Gerinnsel können sich bilden und das Gefäß verschließen.

Auch wenn der ischämische Schlaganfall nur wenige Minuten dauern sollte („kleiner“ Schlaganfall, transitorische ischämische Attacke/TIA – Näheres siehe Seite 76): Schlaganfall bleibt Schlaganfall. Man muss immer davon ausgehen, dass Hirngewebe abstirbt – auch ein Risikofaktor für Demenz.

Anteil der weißen Schlaganfälle: 80 Prozent

Überleben nach einem weißen Schlaganfall: 80 Prozent

Der rote Schlaganfall

Schwere und oft tödliche Schlaganfälle werden durch geplatzte Blutgefäße mit nachfolgender Blutung ins Gehirn ausgelöst. Alle Symptome des weißen Schlaganfalls sind zu beobachten. Bei einer Blutung innerhalb des Gehirns (intrazerebrale oder intrakranielle Blutung, ICB) kommt es zur Blutfülle, daher der Name „roter“ Schlaganfall. Hauptrisikofaktoren sind hohe Blutdruckwerte und etwa durch Diabetes vorgeschädigte Blutgefäße.

Rote Schlaganfälle werden auch durch Blutungen außerhalb des Gehirns, aber innerhalb des Schädels verursacht. Am häufigsten handelt es sich um eine Subarachnoidalblutung (SAB). Leitsymptome sind schwerer Kopfschmerz und Bewusstlosigkeit. Ursache sind Gefäßaussackungen (Aneurysmen), meist an Gefäßgabelungen, die sich lange Zeit unbemerkt vergrößern und schließlich platzen können – vor allem bei zu hohen Blutdruckwerten. Das Blut ergießt sich dann in den Spalt zwischen Schädelknochen und Gehirnhaut und setzt Hirngewebe unter Druck. Ein lebensgefährliches Ereignis.

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Schwerer Kopfschmerz und Bewusstlosigkeit sind Symptome des roten Schlaganfalls.

Anteil der roten Schlaganfälle: 15 Prozent (ICB), fünf Prozent (SAB)

Überleben nach einem roten Schlaganfall: 60–70 Prozent (ICB), 40–50 Prozent (SAB)

Der weiß-rote Schlaganfall

Platzt in einer weißen Schlaganfallregion zusätzlich noch ein vorgeschädigtes Blutgefäß, kann die ohnehin gefährliche Situation durch kleinere oder größere intrazerebrale Blutungen verschärft werden. Nach einer Subarachnoidalblutung kann es Tage oder Wochen später zu einem weiß-roten Schlaganfall kommen. Die Blutfülle übt Druck auf Hirngewebe aus, was zu krampfartigen Gefäßreaktionen und Verschlüssen führen kann.

Kleine Medizingeschichte des Schlaganfalls

Die menschliche Neugier ist grenzenlos – auf der Suche nach einer Krankheit und ihren Heilmitteln. Schon in den ersten schriftlichen Zeugnissen der Menschheit zeigt sich eine Beschäftigung mit dem Gehirn und seinen Krankheiten.

Bereits vor 5000 Jahren tauchte auf einem Medizinpapyrus aus Ägypten der Begriff „Gehirn“ auf. Auch die Hüllen des Gehirns und das Hirnwasser werden erwähnt.

Vor 2500 Jahren erklärte der griechische Arzt Hippokrates: „Ungewöhnliche Anfälle von Empfindungsstörungen sind Anzeichen des drohenden Apoplex“ – die Beschreibung eines „kleinen“ Schlaganfalls. Bereits damals beobachtete man Lähmungen und Krämpfe nach Hirnverletzungen. Hippokrates beschrieb auch Sprachstörungen bei rechtsseitiger Lähmung. Sein Fazit: „Niemand überlebt einen schweren Anfall. Einen leichten zu überstehen ist auch nicht leicht.“

Später geriet das Gehirn fast in Vergessenheit. Der spätrömische Arzt Galen machte im 2. Jahrhundert einen mysteriösen Nebel im Gehirn für Lähmung (Paralyse) verantwortlich. Erst in der Renaissance schauten der flämische Anatom und Chirurg Vesalius und Leonardo da Vinci, der sich ebenfalls mit Anatomie beschäftigte, genauer hin.

Der französische Militärchirurg Ambroise Paré (1510–1590) besaß bereits Kenntnisse der Blutversorgung des Gehirns: „… die zwei Äste der Karotiden, die Schlafarterien, wenn sie verengt oder irgendwie verstopft sind, fallen wir in den Schlaf …“

1664 erschien Cerebri anatome, ein bahnbrechendes Werk über das Nervensystem von Thomas Willis. Der englische Arzt beschrieb den gleichnamigen Arterienring an der Hirnbasis als zentralen Blutverteiler des Gehirns. Er entdeckte auch, dass Apoplexgewebe aufgeweicht und verfärbt ist. Der Schweizer Arzt Johann J. Wepfer berichtete 1658 über eine Thrombose der Halsschlagader/Halsarterie (Karotis). Sein Patient starb am Komplettverschluss der inneren rechten Halsschlagader, Plaques inklusive. Wepfer beschrieb den Weg der Arterien vom Arterienring über die Halsarterien bis zum Ursprung im Rücken. Er hatte beobachtet, dass Apoplexia durch Hirnblutung verursacht wird, und beschäftigte sich mit der Rehabilitation neurologischer Ausfälle.

Die ersten Operationen an der Halsschlagader wurden seit 1793 durchgeführt. Im frühen 19. Jahrhundert bemerkte man, dass der Schlaganfall hauptsächlich eine Gefäßerkrankung, keine Krankheit des Blutes war – eher mechanisch als entzündlich bedingt. Risikofaktoren wurden erwähnt: hoher Blutdruck, brüchige Arterien, Arteriosklerose (seit 1820). In den 1840er Jahren beschrieb der Wiener Pathologe Carl von Rokitansky den roten und weißen Schlaganfall. Auch aus der Salpêtrière in Paris, die Wiege der Neurologie, kamen wichtige Impulse.

1878 hatte die westliche Medizin bereits 878 Fälle vorzuweisen, Behandlungen von Aussackungen (Aneurysmen) der Halsschlagader. Mehr als die Hälfte der Patienten überlebte. Thrombosen der Halsschlagader und deren Komplikationen blieben ein Schwerpunkt der Schlaganfallmedizin. Anfang des 20. Jahrhunderts begann man zu begreifen, dass Plaques in der Halsschlagader Gerinnsel ablösen und Schlaganfälle auslösen konnten – mit typischen Symptomen: halbseitige Lähmung und Erblindung.

Weitere Fortschritte waren ab 1927 möglich: Die Arteriografie rückte Hirngefäße ins Bild. Seit 1950 brachte man erneut die Arteriosklerose als Wurzel allen Übels ins Gespräch. Die Ergebnisse von Versuchen, Blutgerinnsel aus Halsschlagadern chirurgisch zu entfernen (Thrombektomie), waren enttäuschend. Die erste erfolgreiche Operation an der Halsschlagader gelang Michael DeBakey 1953. Sein Patient, ein 53-jähriger Busfahrer, hatte zwei Jahre an TIA-Symptomen gelitten. Sein Chirurg entfernte das Gerinnsel, die Hirndurchblutung wurde komplett wiederhergestellt. Der Mann lebte noch 19 Jahre.

Bis 1985 nahmen die Eingriffe an der Halsschlagader inklusive Bypass-Verfahren stetig zu. 1991 erreichte sie einen Höhepunkt mit 90.000 Operationen jährlich. In weniger als zehn Prozent der Fälle ist mit Komplikationen zu rechnen.

Heute wissen wir, dass der beste Weg, der das Überleben nach Herzinfarkt und Schlaganfall deutlich verlängert, darin besteht, den Risikofaktor Arteriosklerose zu bekämpfen.

Schlaganfall-Mechanismen

Was genau bei einem Schlaganfall im betroffenen Hirngewebe abläuft, wird seit Langem erforscht. Manche Mechanismen sind bekannt, andere nicht. Was man weiß: Das krankhafte Geschehen bei einer Mangeldurchblutung des Gehirns ist sehr komplex.

Das Gehirn verbraucht sehr viel Sauerstoff und Glukose (Zucker). Bei Blutmangel kommt es innerhalb von Stunden zur starken Entladung, zur ansteigenden Erregbarkeit (Exzitotoxizität) von Nervenzellen. Nervenzellen „verglühen“, schwellen an und „verlöschen“ quasi. Freie Sauerstoffradikale entstehen, was Entzündung, Mitochondrienschäden und Zelltod verursacht.

Es ist nicht der Gefäßverschluss allein, der das Geschehen bestimmt. Vielmehr spielen durch Blutmangel ausgelöste Reaktionen des Immunsystems eine Hauptrolle. Die körpereigene Abwehr ist im maximalen Gefechtsmodus, was „Kollateralschäden“ verursacht.

Noch ungeklärt ist der Mechanismus des sogenannten Reperfusionsschadens: Wird ein verschlossenes Gefäß wieder durchgängig gemacht, beobachtet man einen verschlechterten Blutfluss in den kleinsten Gefäßen (Kapillaren). Es herrscht also weiterhin Blutmangel in der Infarktregion.

Wichtige Mechanismen betreffen die Interaktion zwischen Blutplättchen (Thrombozyten) und der inneren Gefäßschicht (Endothel). Blutplättchen sind wichtige Komponenten der Blutgerinnung. Arteriosklerose begünstigt die Ansammlung von Thrombozyten an der Gefäßwand.

Für die Behandlung des akuten Schlaganfalls haben die Mechanismen der Blutgerinnung größte Bedeutung. Die Gerinnung ist ein komplex ausbalanciertes System. Beides kann Schlaganfälle verursachen: zu dünnes oder zu dickes Blut.

Den Schlaganfall überwinden: Es ist möglich!

Ob prominent oder nicht, der Schlaganfall kann jeden treffen. Hier einige Beispiele von Menschen, die es geschafft haben, wieder ins Leben zurückzufinden:

Georg Friedrich Händel (1685–1759) war einer der bedeutendsten Komponisten der Musikgeschichte. Er lebte und arbeitete in Deutschland, Italien und England. 1737, mit 52 Jahren, erlitt Händel einen Schlaganfall. Seine rechte Hand war geschwächt, er hatte mit Denkstörungen und Depression zu kämpfen. Nach einer Kur in Aachen schaffte er es, seine rechte Hand wieder zu benutzen. Zurück in London, komponierte er mit der gleichen Schaffenskraft weiter und erreichte 1741/42 mit dem Messias-Oratorium den Höhepunkt seiner Karriere.

Ken Kesey (1935–2001), amerikanischer Autor (Einer flog übers Kuckucksnest) und Künstler, erlitt 1997, mit 62 Jahren, einen Schlaganfall, der erfolgreich mit Thrombolyse behandelt wurde. Diese Erfahrung spornte ihn zu einer letzten großen Schaffensphase an.

Jacquelyn Mayer (*1942) gewann 1963 den Schönheitswettbewerb Miss America. Mit 28 Jahren überlebte sie einen schweren Schlaganfall, konnte weder sprechen noch sich bewegen. Nach sieben Jahren intensiver Rehabilitation mit Ausdauer und Selbstdisziplin hatte sie ihre schwersten Behinderungen überwunden und kann wieder sprechen und gehen. Sie ist bis heute als Aktivistin und Botschafterin der amerikanischen Schlaganfallgesellschaft (National Stroke Association) unterwegs.

Kirk Douglas (1916–2020) war einer der führenden US-Schauspieler und Hollywoodstars der 1950er und 1960er Jahre. Zu seinen größten Kinoerfolgen zählten Vincent van Gogh (1956), Wege zum Ruhm (1957) und Spartacus (1960). 1996 erlitt er einen schweren Schlaganfall, der sein Sprachvermögen beeinträchtigte. Douglas wollte unbedingt weiter im Filmgeschäft arbeiten und unterzog sich deshalb einige Jahre konsequent einer Sprachtherapie. 1999 drehte er den Film Diamonds und spielte darin einen gealterten Preisboxer, der sich von einem Schlaganfall erholt. Kirk Douglas starb im Alter von 103 Jahren.

Sightseeing im Gehirn

Das Gehirn ist das Zentrum des Nervensystems. Es ist unvorstellbar leistungsstärker und mächtiger als jeder Computer. Hier werden alle Informationen, die von außen oder aus dem Körper selbst kommen, permanent verarbeitet. Der Supercomputer im Kopf kontrolliert alles. Er ist immer in Betrieb, auch im Schlaf. Das Gehirn kennt nur eine Aufgabe: lernen, lernen, immerzu lernen, lebenslang. Mit dieser wunderbaren Maschine im Kopf ist der Mensch das einzige irdische Wesen, das sich selbst beobachten, nachdenken und Zukunftspläne schmieden kann.

Was unser Gehirn leistet

Das Gehirn liegt gut geschützt im knöchernen Schädel. Es besitzt eine harte und weiche Hirnhaut und schwimmt in einer Flüssigkeit, die Stöße abfängt. Es ist Teil unseres zentralen Nervensystems, zu dem auch das Rückenmark gehört. Von außen sieht es aus wie zwei überdimensionale Walnusshälften: Es hat Windungen und Furchen, die sich bis zum Erwachsenenalter noch vertiefen. Die beiden Hirnhälften sind über den Hirnbalken miteinander verbunden. Beim Erwachsenen wiegt das Gehirn etwa 1,5 Kilogramm und hat einen Umfang von 46 Zentimetern. 80 Prozent des Gehirns bestehen aus Wasser. Im Gehirn arbeiten mehr als 50 Milliarden Nervenzellen, die unzählige Verbindungen untereinander eingehen.

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Das Gehirn ist die oberste und allumfassende Instanz des menschlichen Lebens.

Das Gehirn funktioniert wie ein riesiges Verwaltungsgebäude mit verschiedenen Abteilungen, die verschiedene Aufgaben haben: Informationsverarbeitung der Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, Haut, Gleichgewicht), Sprache, Bewegung und vieles mehr.

Es gibt Abteilungen, die beurteilen, was wichtig ist und abgespeichert wird.

Es gibt Abteilungen für Forschung und Spiel, für Gefühle und Empfindungen.

Die linke Hälfte steuert die rechte und die rechte Hälfte die linke Körperseite. In der rechten Hirnhälfte geht es kreativ zu, in der linken sitzt eher das logische Denken.

In der Chefetage des Nervensystems laufen alle Informationen aus dem riesigen Netz von Nervenleitungen im Körper zusammen. Hier werden Entscheidungen getroffen, Befehle gegeben und Informationen verschickt, gespeichert, verworfen, Organfunktionen gesteuert und Bewegungen koordiniert. Mit unserem Bewusstsein bekommen wir nur einen winzigen Teil der ungeheuren Leistungen mit, die das Gehirn ununterbrochen vollbringt.

Die größten Errungenschaften des Gehirns sind seine unbegrenzte Lernfähigkeit und das Gedächtnis. Es gibt ein Ultrakurzzeitgedächtnis, das uns sagt, wo wir gerade sind und was wir tun. Das Kurzzeitgedächtnis speichert Informationen von 30 Sekunden bis zu Stunden und Tagen. Das Langzeitgedächtnis kann Informationen wochen-, monate- und jahrelang abspeichern. Wenn ein Schlaganfall dazwischenfunkt, kann sich das Gedächtnis verschlechtern.

Lernen bedeutet, dass man Fähigkeiten und Vorgänge ständig wiederholen und trainieren muss, damit sie im Gedächtnis abrufbar bleiben. Wer ein Musikinstrument lernt, macht genau das. Wenn wir lernen, entstehen unzählige neue Verbindungen im riesigen Nervennetzwerk. Bei Zweijährigen hat jede einzelne Nervenzelle bereits 15.000 Verbindungen mit anderen Nervenzellen geknüpft. Lernen heißt üben und wiederholen und Fortschritte machen.

Die vier Hauptabteilungen des Gehirns

Im Gehirn arbeiten vier Hauptabteilungen zusammen: Stammhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn und Großhirn.

Informationen aller Nervenzellen des Körpers durchlaufen vom Rückenmark kommend verschiedene „Rechenzentren“, bevor sie ganz oben im Großhirn ankommen und dort abgespeichert werden.

An der Unterseite des Schädels befindet sich ein münzgroßes Loch, wo das verlängerte Rückenmark in das zwiebelförmige Stammhirn auf der Innenseite übergeht. Dieses Rechenzentrum steuert lebenswichtige Funktionen wie die Atmung, Reflexe wie Blinzeln und Schlucken, den Herzschlag und den Blutdruck. Außerdem werden hier die ankommenden Informationen sortiert, bewertet, vorläufig gespeichert, verworfen oder an höhere Zentren weitergeleitet.

Das Kleinhirn ist eine Spezialabteilung für Bewegungskoordination (Motorik). Es sorgt für gute Abstimmung der Muskulatur und ist an der Erhaltung des Gleichgewichts und der Körperspannung beteiligt. Dieser Super-Koprozessor arbeitet im Hintergrund und verknüpft ständig Informationen der Augen und Ohren mit dem Bewegungsapparat: mühelos laufen, springen, Fahrrad fahren oder den Kopf schütteln.

Das Zwischenhirn ist der älteste Teil Gehirns. Im unteren Abschnitt (Hypothalamus) werden Informationen über das Wohlbefinden, mögliche Gefahren, Gemütszustände (Wut, Angst, Freude, Trauer), Hunger und Durst sowie der Geschlechtstrieb bearbeitet. Ein besonderes Zentrum (Hypophyse) überwacht die Produktion von Botenstoffen (Hormone) für wichtige Drüsen. Im oberen Abschnitt (Thalamus) werden Bedeutungen und Gefühlsempfindungen zugeordnet.

Jede Hälfte des Großhirns hat einen Stirnlappen/Frontallappen, einen Scheitellappen/Parietallappen, einen Schläfenlappen/Temporallappen und einen Hinterhauptlappen/Okzipitallappen. Die oberste Schicht enthält sogenannte graue Substanz, das sind Nervenzellen wie im Rückenmark. Darunter liegt die weiße Substanz, das sind Nervenfasern.

Die Infrastruktur: Blutversorgung

Für die intensiven Anstrengungen des Gehirns wird viel Energie gebraucht. Deshalb versorgen die Kopfarterien das Gehirn mit reichlich Blut. Je mehr Sauerstoff angeliefert wird, desto besser funktionieren die kleinen grauen Zellen. Das Gehirn beansprucht ein Fünftel des gesamten Sauerstoffs im Körper und ein Viertel des verfügbaren Brennstoffs Zucker (Glukose). Eine besondere Fähigkeit ist das äußerst effiziente und intelligente Management der Energieressourcen. Aktive Hirnregionen werden nach Bedarf mit mehr Blut versorgt. Moderne Bildgebung kann das eindrucksvoll darstellen.

Schon zehn Sekunden Sauerstoffmangel im Gehirn (wenn die Blutzufuhr unterbrochen ist) kann Bewusstlosigkeit und Hirnschäden verursachen. Das passiert beispielsweise bei einem Schlaganfall. Nach maximal fünf Minuten ist der Restsauerstoff verbraucht. Dann drohen bleibende Defizite. Steht Blut aus kleinen Umgehungskreisläufen zur Verfügung, überlebt Nervengewebe mehrere Stunden. Ist das Hauptversorgungsgefäß einer Region blockiert, wird Blut aus Umgehungskreisläufen herangeschafft. Es dauert allerdings Tage, bis der Ersatzkreislauf einwandfrei funktioniert.

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Das Gehirn verfügt über eine außerordentlich gute Blutversorgung.

Da im Gehirn alles mit allem vernetzt ist, kann es etwa bei Verschluss der vorderen Hirnarterie zur Lähmung der Gliedmaßen der Gegenseite sowie zu Gleichgewichts-, Stimmungsstörungen und Nervenausfällen (Taubheit, Sehverlust) kommen. Das Symptombild verrät viel über den Ort, wo das geschieht. Zusätzlich nutzt man CT- oder MRT-Bildgebung (siehe Seite 34), um den Gefäßverschluss im Gehirn zu lokalisieren.

Die Infrastruktur der Blutversorgung ist sehr großzügig bemessen. In vier großen Arterien wird überreichlich Blut zum Gehirn transportiert.

Zwei Halsschlagadern (Karotisarterien) mit zehn „Fahrspuren“ für den Bluttransport sind die größten hirnversorgenden Gefäße. Sie befinden sich rechts und links an der Halsvorderseite. Dort können Sie Ihren Puls fühlen. Der Durchmesser einer Halsarterie ist etwa so groß wie Ihr kleiner Finger.

Zwei kleinere Vertebralarterien verlaufen in der Halswirbelsäule auf der Halsrückseite Richtung Kopf.

Halsschlagadern und Vertebralarterien vereinigen sich zur Basilararterie.

Im weiteren Verlauf teilt sich die Basilararterie in einen Arterienring auf (Circulus arteriosus Willisii). Von hier zweigen drei Hirnhauptarterien ab: vordere, mittlere und hintere Hirnarterien (rechte und linke).

Regeneration und Genesung

Hat ein Schlaganfall das Gehirn geschädigt, werden die körpereigenen Reparatur- und Regenerationsprozesse aktiviert. Daran sind vor allem Blut- und Immunzellen beteiligt. Abgestorbenes Material wird entsorgt und ein kleiner versiegelter Hohlraum im Hirngewebe bleibt zurück. Beim roten Schlaganfall räumen vor allem weiße Blutkörperchen das ausgetretene Blut ab. Die Heilung verläuft wie beim Bluterguss: In Hirngewebe ausgetretenes Blut gerinnt und wird durch Enzyme innerhalb von zwei bis drei Wochen abgebaut. Die Gewebeschwellung geht zurück.

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In den ersten Wochen nach dem Schlaganfall rege neriert sich das Gehirn besonders gut.

Mithilfe von Stammzellen werden neue Nervenzellen gebildet. Das Gehirn versucht auch, verloren gegangene Funktionen und Fähigkeiten selbst zu reparieren. Während des Abheilungsprozesses werden unzählige neue Nervenverbindungen und Verschaltungen hergestellt. Sehverlust und Taubheit, Lähmungen und Sprachstörungen verschwinden. In den ersten Wochen und Monaten nach dem Schlaganfall verläuft die Genesung besonders schnell. Bei jüngeren Menschen ist der Heilungsprozess beschleunigt.

Während der Regeneration ist das Nervensystem besonders lernfähig. Frühzeitige Rehabilitation ist sehr erfolgreich und unter allen Umständen zu empfehlen: Muskeltraining, Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie – mehr dazu im Abschnitt „Rehabilitation“, siehe Seite 121. Wie gesagt, Übung und Wiederholung führen zu raschen Fortschritten! Je nach Größe des Hirninfarkts können Schlaganfallpatienten oftmals mit einer mehr oder weniger vollständigen Genesung rechnen.

Bilder aus dem Kopf

Bilder vom lebenden Gehirn haben unser Wissen über dessen Arbeitsweise enorm bereichert. Moderne Technologie ermöglicht auch die Darstellung und Diagnose des Schlaganfalls. CT und MRT sind die wichtigsten bildgebenden Verfahren.

Computertomografie (CT)

Das CT arbeitet mit Röntgenstrahlung und liefert Graustufenbilder. Beim Hirn-CT kreist ein Scanner um Ihren Kopf und erzeugt Daten einer millimeterdicken Schicht, die zu einem Querschnittbild verarbeitet werden. Viele solcher Schichtbilder aufeinandergestapelt ergeben ein vollständiges Bild des Gehirns. Im CT erscheinen die Hirnventrikel – das sind mit Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) gefüllte Hohlräume – und Hirnwindungen dunkelgrau oder schwarz. Schädelknochen sind weiß. Die Hirnrinde ist heller getönt als das übrige Hirngewebe.

Der weiße Schlaganfall wird im CT erst nach Stunden oder Tagen sichtbar. Eine Gehirnschwellung gilt als Hinweiszeichen. Die fortschreitende Genesung ist an einer zunehmenden Abdunklung der betroffenen Region erkennbar.

Der rote Schlaganfall erscheint im CT weiß, im Inneren des Gehirns. Bei einer Subarachnoidalblutung liegt der weiße Bereich außerhalb des Gehirns.

In der Erstversorgung benutzt man das CT zum Ausschluss eines roten Schlaganfalls, bevor mit der Behandlung zur Auflösung des Blutgerinnsels (Thrombolyse) begonnen wird.

Magnetresonanztomografie (MRT)

Das MRT arbeitet mit magnetischen Feldern und liefert Graustufenbilder. Es dauert länger als ein CT, ca. 30 Minuten. Man liegt dabei bewegungslos in einer Scannerröhre. Das MRT liefert schärfere Bilder und die Diagnose eines weißen Schlaganfalls in den ersten Stunden. Hier sind erfahrene Ärzte gefragt, die die Bilder auswerten können.

Ultraschall (Sonografie)

Ultraschall ist zur Untersuchung des Blutflusses in den Halsschlagadern (Karotisarterien) besonders nützlich. Verengungen der Halsarterien können sonografisch erkannt werden. Die Dopplersonografie bzw. die Duplexsonografie informieren über die Strömungsgeschwindigkeit des Blutes. Lassen Sie sich von Ihrem Hausarzt „dopplern“, wenn Sie wissen wollen, ob „alles fließt“.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842629035
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Patienten-Ratgeber Risiko minimieren Selbsthilfe

Autor

  • Dr. Eberhard J. Wormer (Autor:in)

med. Eberhard J. Wormer studierte Germanistik, Geschichte, Sozialwissenschaften und Medizin und arbeitete als Arzt und in medizinischen Verlagen. Eberhard J. Wormer lebt in München und ist heute als Journalist, Buchautor und Herausgeber tätig. Er veröffentlichte bereits zahlreiche Gesundheitsratgeber für ein Millionenpublikum. Inhaltliche Schwerpunkte sind Herz und Kreislauf, Psyche, Ernährung, Naturheilkunde, gesunde Bewegung und Schmerz.
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Titel: Ratgeber Schlaganfall