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Schluss mit Zähneknirschen

Bruxismus überwinden. Die besten Strategien gegen Kopfschmerzen, Erschöpfung und Tinnitus. zertifiziert von der Stiftung Gesundheit

von Christian Koch (Autor:in)
160 Seiten

Zusammenfassung

Kopfschmerzen, Tinnitus, Sehstörungen, unruhiger Schlaf: Zähneknirschen kann das Leben stark beeinträchtigen, der Weg zu einer erfolgreichen Behandlung oft langwierig sein. Das weiß Christian Koch aus eigener Erfahrung. Seine mehrjährige Odyssee führte ihn zu diversen Ärzten und Therapeuten. Doch niemand brachte seine Beschwerden oder seine übermäßig ausgeprägte Kaumuskulatur mit Zähneknirschen in Verbindung. Eine Erklärung für seine Beschwerden fand er schließlich im Internet und nahm seine Therapie – unterstützt von Experten – selbst in die Hand. Seine Erfahrungen und intensiven Recherchen hat er ebenso in sein Buch eingebracht wie Interviews mit Therapeuten und Entwicklern neu erschienener Hilfsmittel. Ein Ratgeber für jeden, der etwas über die Behandlungsmöglichkeiten
von Bruxismus erfahren möchte.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


WILLKOMMEN IM CLUB!

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Hallo und willkommen im Club! Jedenfalls nehme ich an, dass auch du zum Club der Zähneknirscher gehörst, denn sonst würdest du dieses Buch vermutlich nicht lesen.

Ich werde dir in diesem Buch meine persönliche Geschichte mit dem Knirschen erzählen: Durch welche Symptome habe ich es bemerkt, was habe ich dagegen getan, was hat geholfen und was nicht? Um dir nicht nur meine eigenen Gedanken vorzustellen, habe ich bei den Recherchen zu diesem Buch Experten getroffen, Interviews geführt, Bücher gelesen und neue Ansätze kennengelernt. Mehr dazu später – lass dich überraschen. Gleich zu Beginn möchte ich dich vorwarnen: Falls du auf der Suche nach dem einen Patentrezept bist, bei dem du nur einen Zaubertrank oder eine Tablette schlucken musst, dann ist dieses Buch leider nicht das richtige für dich. Wenn du aber bereit bist, Eigenverantwortung zu übernehmen und aktiv etwas dafür zu tun, dass es dir besser geht, dann ist dieses Buch für dich bestens geeignet.

Zähneknirschen, Zähnepressen und Kieferfehlfunktionen können ganz unterschiedliche Ursachen haben. Deshalb sind die Behandlungsansätze genauso unterschiedlich. Das, was mir geholfen hat, ist vielleicht nicht das, was dir helfen wird. Du entscheidest also am Ende selbst, welche Ideen aus diesem Buch du weiterverfolgen möchtest. Bist du dabei? Schön! Dann nicht nur willkommen im Club der Zähneknirscher, sondern auch willkommen im Club der eigenverantwortlich Handelnden! Da wir gleich doppelt Clubfreunde sind, mache ich so weiter wie bisher und duze dich. Ich hoffe, das ist für dich in Ordnung. Außerdem noch etwas: Damit dieses Buch angenehm zu lesen ist, spreche ich nicht von Zähneknirscherinnen und Zähneknirschern oder Bruxistinnen und Bruxisten. Ich spreche von Zähneknirschern und Bruxisten – und damit meine ich alle.

Die oben erwähnte Eigenverantwortung habe ich im Verlauf meiner Gesundheits- und Krankheitsgeschichte als den besten Weg für mich erkannt. Denn als ich nach 22 rundherum gesunden Lebensjahren eine Reihe unerklärlicher Symptome bekam, habe ich eine ganze Zeit lang auf das Urteil einzelner Ärzte vertraut und mir gedacht: Die werden schon wissen, was sie tun. Schließlich haben sie Medizin studiert und ich nicht. Als dann aber trotzdem mein Gesundheitszustand immer schlechter wurde und ich dafür von keinem Arzt eine nachvollziehbare Erklärung bekommen konnte, habe ich entschieden: Ich nehme die Sache selbst in die Hand. Seitdem habe ich mich mit Ernährung, Schlaf, Sport, Psychologie, Hirnforschung, Evolution und mehr befasst – und nach und nach viel an meinem Lebensstil geändert. Ich habe mein Leben entstresst, bewege mich vielseitiger und ernähre mich bewusster. Ich habe den Rat von Freunden wie von Experten eingeholt, Bücher gelesen, ausprobiert, manches beibehalten und anderes verworfen.

Heute bin ich sehr zufrieden mit meinem Gesundheitszustand und meinem Leben im Allgemeinen. Ich bin fit, als geborener Optimist sowieso meistens gut gelaunt und werde vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr für ein paar Tage von einem Infekt ins Bett verfrachtet. Das finde ich ganz in Ordnung so. Mehrere Jahre zurück hatte ich noch mit ständigen Erkältungen, Rückenschmerzen, Magen-Darm-Problemen, schlechtem Schlaf und mehr zu kämpfen. Diese Probleme bin ich nach und nach losgeworden. Geblieben ist mir eine immer noch unerklärte Blendempfindlichkeit der Augen. Deshalb sieht man mich fast immer mit Hut und relativ häufig mit Sonnenbrille – immerhin eine Art Markenzeichen mit Wiedererkennungseffekt.

Ärzte und Therapeuten jeder Art schätze ich nach wie vor mit ihrer Erfahrung und ihren fachlichen Fähigkeiten. Heute bin ich mir allerdings bewusst, dass jeder Arzt und Therapeut nur einen bestimmten Kompetenzbereich hat. Es gibt Dinge, die er weiß, und das ist meistens eine ganze Menge. Aber es gibt auch Dinge, die er nicht weiß. Und auch das ist eine ganze Menge. Die besten Chancen auf eine gute Gesundheit gibt es daher in einem guten Zusammenspiel kluger Ärzte mit engagierten Patienten: Ein guter Arzt weiß, dass er nicht alles weiß. Deshalb begründet er seine Vorschläge und lässt den Patienten selbst entscheiden. Ein guter Arzt hört nie auf zu lernen, genauso wie ein guter Patient. So wie die Verantwortung für die eigene Gesundheit nicht durch den Rat eines Arztes ersetzt wird, so können umgekehrt das Wissen und die Erfahrung eines Arztes bei schweren Krankheiten weder durch die eigene Meinung noch durch das Lesen eines Buchs ersetzt werden.

Benutze dieses Buch hier also bitte als Ideenkiste, aber keineswegs als Ersatz für einen Arztbesuch. In diesem Buch stehen meine persönlichen Ideen und Erfahrungen. Ich bin kein Arzt. Ich weiß nicht, ob sie bei dir persönlich irgendwelche Nebenwirkungen haben können. Ich kenne deine individuelle Geschichte nicht und kann dir keinen auf dich zugeschnittenen Ratschlag geben. Daher übernehme ich auch keine Haftung dafür, wenn du Anregungen aus diesem Buch ausprobierst oder nicht ausprobierst. Besprich dich bitte mit deinem Arzt und triff deine persönlichen Entscheidungen, auf deine ganz eigene Verantwortung. Es geht schließlich um deine Gesundheit. Und die ist wichtig!

Eine Wanderung mit Folgen

Die Geschichte dieses Buchs beginnt mit einer Wanderung im Jahr 2014. In der Nähe von Burghausen spaziere ich durch ein Waldstück am Inn und denke über die nächsten Etappen meines Lebens nach. Ich beschließe, mich mit meinem Kopf zu beschäftigen. Genauer gesagt mit den Stellen an meinem Kopf, die mir immer wieder wehtun. Wenn ich nämlich aufgrund meiner blendempfindlichen Augen Kopfschmerzen bekomme, dann beginnt das gar nicht bei den Augen. Es gibt zwei, drei andere Stellen am Kopf, die zuerst wehtun.

Bisher konnte mir niemand sagen, woran das liegt – weder der Hausarzt noch die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin noch die zehn bis fünfzehn Augenärzte, bei denen ich war. Auch nicht die Augenklinik der Universität Münster, das Deutsche Klinikum für Diagnostik in Wiesbaden oder jener international renommierte Professor in der Schweiz, der mir eine beeindruckende Rechnung geschickt hat. Wenn die alle mir nicht sagen können, warum Licht mir Schmerzen bereitet, wie soll ich das dann selbst herausfinden? Ich weiß es nicht, aber ich möchte es versuchen.

Der erste Schritt ist klar: Wenn ich verstehen möchte, was in meinem Kopf passiert, dann muss ich herausfinden, was genau das für Körperteile sind, die mir wehtun. Sehnen, Knochen, Muskeln, Faszien, Nerven, Bindegewebe, keine Ahnung, was es da noch alles gibt. Das Vorhaben klingt nicht ganz einfach, aber es ist einen Versuch wert. Also unterbreche ich meinen Spaziergang, um das Smartphone aus der Tasche zu holen. Ich rufe Wikipedia auf und schaue anatomische Bilder von Köpfen an. Nach kurzer Zeit frage ich mich verblüfft: Kann das wirklich sein? Ich zoome noch etwas näher heran. Ich rufe das nächste Bild auf und schaue noch einmal genau hin. Aber ja, kein Zweifel. Das, was mir da ständig wehtut, sind meine Kaumuskeln!

Spontan stelle ich mir drei Fragen: Erstens frage ich mich, was eigentlich ein Kaumuskel bei den Schläfen zu suchen hat. Ich dachte, Kaumuskeln müssten irgendwie direkt beim Mund sein. Ist aber nicht so. Der Musculus temporalis deckt auf der Höhe der Stirn fast die gesamte Kopfseite ab. Zweitens frage ich mich, warum mir ausgerechnet die Kaumuskeln Probleme bereiten sollten. Essen macht mir doch Spaß: Ich esse gerne und viel. Aber auch wieder nicht so viel, dass deswegen gleich meine Kaumuskeln streiken müssten. Doch vielleicht ist das Essen auch gar nicht das Problem, denn beim Essen werden meine Kopfschmerzen normalerweise nicht mehr, sondern weniger – kurios. Also frage ich mich drittens, was da eigentlich für ein Zusammenhang zwischen Blendempfindlichkeit und Kaumuskulatur bestehen soll. Schon nach ziemlich kurzer Suche bietet Wikipedia dazu eine Antwort an: Lichtempfindlichkeit der Augen ist ein mögliches Symptom bei einer CMD. CMD ist die Abkürzung von Cranio-Mandibuläre Dysfunktion. Das bedeutet, dass in der Zusammenarbeit von Schädel (Cranium) und Unterkiefer (Mandibula) etwas nicht richtig funktioniert (Dysfunktion).

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Ich weiß zwar an jenem Tag am Inn noch nicht so recht, was genau in meinem Kiefersystem nicht funktioniert und wie viele Muskeln auf die eine oder andere Weise mit dem Kauvorgang zu tun haben. Aber ich weiß schon einmal mit ziemlicher Sicherheit, dass meine vermeintlichen Kopfschmerzen in Wirklichkeit Kaumuskelschmerzen sind. Neben dem Temporalis kann ich eindeutig den Musculus masseter identifizieren. Wenn du versuchst, mit deinen Fingern durch deine Haut hindurch die Weisheitszähne zu berühren, dann sind deine Fingerspitzen ungefähr dort, wo auch der Masseter ist.

Nach der Beschäftigung mit den Kaumuskeln frage ich mich, ob ich mir selbst gerade mithilfe meiner Wikipedialektüre wirklich eine Diagnose gestellt habe, die mir 20 gut ausgebildete Fachärzte nicht geben konnten. – Um es vorwegzunehmen: Die Antwort lautet Ja. Zwar ist die Knirscherei nicht die einzige Ursache für meine Blendempfindlichkeit und die daraus entstehenden Schmerzen, das ist mir in den letzten Jahren klar geworden. Aber ich kann mit eindeutiger Sicherheit sagen, dass ein enger Zusammenhang besteht: Hatte ich einmal eine richtig schlechte Nacht mit viel Zähnepressen, dann litt ich tagsüber unter sehr schlimmen Kopfschmerzen und meine Augen waren empfindlich. Hatte ich aber tief, erholsam und knirschfrei geschlafen, dann hielt sich am nächsten Tag auch meine Blendempfindlichkeit in Grenzen.

In den Jahren nach meiner „Wikipedia-Diagnose“ habe ich mich über CMD und über das eng mit ihr verbundene Zähneknirschen und Zähnepressen, den sogenannten Bruxismus, informiert. Ich habe einige Therapeuten aus unterschiedlichen Fachrichtungen aufgesucht und viele Behandlungsansätze ausprobiert. Wenn ich von dem Thema erzählte, habe ich überraschend oft den Satz gehört: „Auch ich knirsche mit den Zähnen.“ Erstaunlich viele Menschen sind betroffen. Viele wissen nicht, dass man eine Menge tun kann, um das Zähneknirschen und mit ihm die Kopfschmerzen, den Tinnitus und die weiteren Symptome loszuwerden. Als ich nach Büchern zum Thema suchte, fand ich einige Ratgeber von Therapeuten. Was ich aber nicht fand, war ein Buch von einem Betroffenen, der selbst beschreibt, was ihm geholfen hat und was nicht. Da ich genau solche Bücher am liebsten lese, in denen jemand von seinen eigenen Erfahrungen berichtet, habe ich beschlossen, das fehlende Buch selbst zu schreiben. Nun hältst du es in Händen.

Im ersten Buchteil erwarten dich zunächst allgemeine Informationen zu Bruxismus und CMD sowie ihren Symptomen. Außerdem lernst du die wichtigsten Theorien zu den möglichen Ursachen kennen. Der zweite Buchteil stellt dir Ideen für die Behandlung vor und erzählt meine persönlichen Erfahrungen mit verschiedenen Ansätzen.

WAS IST DA LOS? SYMPTOME UND URSACHEN

Was ist der Unterschied zwischen Zähneknirschen, Zähnepressen und Kieferpressen? Und warum hat die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahrzehnten so dramatisch zugenommen? Es lohnt sich, über die verschiedenen Erscheinungsformen von Bruxismus, ihre typischen Symptome und die möglichen Ursachen Bescheid zu wissen. So kannst du deine persönliche Situation am besten einschätzen. Der erste Teil des Buchs vermittelt daher Basiswissen, über das jeder Betroffene verfügen sollte.

Die Theorien, worauf CMD und Bruxismus zurückzuführen sind und wie man sie folglich therapieren sollte, gehen auseinander. Wie bei anderen Themen gibt es Trends oder sogar „Hypes“. Mir ist diese Reihenfolge erzählt worden: Zunächst ging es in der Medizin viel um die störungsfreie Funktion der Kiefergelenke, die der Ursprung allen Übels sein sollten. Dann kamen die Kaumuskeln und das Bindegewebe in den Blick. Als nächstes haben einige Therapeuten den gleichmäßigen Aufbiss zwischen den oberen und unteren Zähnen zum heiligen Gral erklärt. Eine weitere Welle hob in den letzten Jahren Stress und psychische Belastungen als die Haupt ursache für Zähneknirschen hervor. Je nach dem, welche Ursache dein Behandler für eine CMD annimmt, fallen die Therapiemethoden unterschiedlich aus.

Zum Glück habe ich bei meinen Gesprächen und Recherchen kaum Behandler getroffen, die sich fest auf einen einzigen heilbringenden Weg festgelegt und damit in ihren Methoden eingeschränkt hätten. Tatsächlich hat es sich mittlerweile herumgesprochen: Die größten Erfolgschancen für ein so komplexes Phänomen wie eine CMD entstehen in der Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen. Jede oben genannte Philosophie bringt einen anderen Blick auf das Leiden eines Betroffenen und dadurch andere Lösungsansätze, die helfen können. Bei der Wahl deiner Behandler achtest du daher am besten auf interdisziplinäre Vernetzung von Zahnärzten, Physiotherapeuten und anderen Spezialisten. Dazu kannst du einen Blick auf die Praxishomepage werfen oder noch besser in der Praxis anrufen und nachfragen.

S3-Leitlinie: Was Ärzte sagen

Im Mai 2019 haben erstmals wichtige medizinische Dachverbände eine sogenannte S3-Leitlinie zur Behandlung von Bruxismus herausgebracht. Das ist die höchste Qualitätsstufe einer medizinischen Leitlinie, die Ärzten und Patienten bei ihren Entscheidungen helfen soll. Die Leitliniengruppe hat drei Jahre lang Forschungsergebnisse und wissenschaftliche Artikel aus der ganzen Welt analysiert, bewertet und Handlungsempfehlungen daraus abgeleitet. Eingesetzt wurde die Leitliniengruppe von der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) und der zu ihr gehörenden Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGFDT).

Da die Leitlinie den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand zu Bruxismus widerspiegelt, möchte ich dir ihre Ergebnisse nicht vorenthalten. Daher wirst du in verschiedenen Kapiteln immer wieder Zitate aus der Leitlinie finden. Du erkennst die Zitate beim Durchblättern des Buchs an diesem Symbol:image

Wichtig: Die S3-Leitlinie gibt Empfehlungen zur Behandlung von Bruxismus, nicht zur Behandlung von CMD. Falls bei dir wie bei vielen Betroffenen zusätzlich zum Bruxismus eine CMD vorliegt, kommen möglicherweise andere Behandlungsmethoden in Frage als in der S3-Leitlinie empfohlen.

Fangen wir direkt mit dem ersten Zitat an: Was sagt die Leitliniengruppe zu meiner Idee, dass kluge Patienten sich gut informieren und mit den Ärzten gemeinsam die nächsten Behandlungsschritte entscheiden sollten?

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Erst einmal freue ich mich, dass eine wichtige Gruppe von Ärzten dies so sieht und den Patienten etwas zutraut. Ein interessantes Detail hinterlässt bei mir allerdings ein Fragezeichen: Die meisten Empfehlungen der Leitliniengruppe sind einstimmig oder fast einstimmig beschlossen worden. Diese nicht. Es gab 14 Ja-Stimmen, 9 Nein-Stimmen und 2 Enthaltungen. Damit ist die Idee, Patienten aufzuklären, die mit großem Abstand umstrittenste Empfehlung der Leitlinie. Da hätte ich bei der Diskussion gerne Mäuschen gespielt und gehört, mit welchen Argumenten sich Ärzte gegen eine Aufklärung von Patienten ausgesprochen haben.

Wie geht Knirschen?

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Bruxismus bedeutet nicht zwangsläufig, dass auch eine CMD vorliegt. Es gibt Bruxismus mit CMD und Bruxismus ohne CMD. Erfahrenen Therapeuten zufolge treten beide aber fast immer zusammen auf.

Klären wir zunächst einmal die Begriffe. Wie gesagt bedeutet CMD, dass etwas im Zusammenspiel von Schädel (Cranium) und Unterkiefer (Mandibula) nicht richtig funktioniert (Dysfunktion). Dieses Problem ist häufig mit Bruxismus verbunden, also mit Zähneknirschen oder -pressen. Da Bruxismus und CMD oft gemeinsam auftreten und sich gegenseitig verstärken können, werde ich in diesem Buch immer wieder auf die CMD eingehen. Das Hauptthema dieses Buchs ist trotzdem der Bruxismus, das Knirschen und Pressen.

Zähneknirschen, Zähnepressen, Kieferpressen

Viele Leute knirschen nicht im eigentlichen Sinn. Beim Knirschen reibt man die unteren und oberen Zähne aneinander oder stößt sie gegeneinander. Wahrscheinlich noch verbreiteter als das Knirschen ist das Zähnepressen. Dabei presst man die unteren und oberen Zähne kräftig aufeinander, aber man bewegt die Zähne nicht nach vorn, hinten oder zur Seite. Deswegen hört man beim Zähnepressen auch nichts – im Unterschied zum Knirschen. Wenn du schläfst, kann Knirschen dem Partner auffallen oder auch der App „Do I snore or grind“, die nächtliche Geräusche aufzeichnet. Über einen Schulfreund sagt seine Partnerin: „Es klingt so, als wenn er nachts ein ganzes Hähnchen zerkaut.“ Das ist also sicher ein Fall von Knirschen. Ob mein Freund zusätzlich presst, wissen wir noch nicht.

Er selbst war übrigens ganz überrascht davon, dass er nachts knirscht. Das könnte aber erklären, warum er morgens oft nicht ganz so erholt aufwacht und etwas Zeit braucht, bis er in die Gänge kommt. Während das Knirschen vor allem schädlich für die Zähne ist, schadet das Pressen besonders den Muskeln und auch dem Kiefergelenk. Das Pressen ist nicht weniger anstrengend als das Knirschen, weil wir mit den Kaumuskeln enorme Kräfte aufbringen können.

Eine dritte Form des Bruxismus ist das Kieferpressen. Dabei wird eine Spannung der Kaumuskulatur aufrechterhalten, ohne dass sich die Zähne berühren. Eine internationale Forschergruppe mit Lobbezoo, Ahlberg und anderen arbeitet seit Jahren an einheitlichen Kriterien, um Bruxismus zu definieren und in Grade einzuteilen. Den Fokus legt die Gruppe nicht auf den Zahnkontakt, sondern auf die Muskelaktivität – auch im Sinne des Kieferpressens. Im Deutschen fehlt eine einheitliche Sprachregelung. In manchen Texten werden die Ausdrücke Kiefer- und Zähnepressen gleichbedeutend verwendet.

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Mir persönlich ist egal, wie man eine angespannte Kaumuskulatur ohne Zahnkontakt nennt. Wichtig ist zu wissen, dass es das gibt. Wenn du wissen möchtest, ob du Kieferpresser bist, kannst du auf die bruxApp oder den RelaxBogen zurückgreifen. Beide stelle ich im Kapitel über Wachbruxismus vor. Ein Hilfsmittel im Mund wie ein Aqualizer oder eine Schiene bringt dir beim Kieferpressen hingegen nichts, weil sich die Zähne nicht berühren.

Kurze Vorstellung der Kaumuskulatur

Bei Bewegungen des Unterkiefers, beim Kauen und beim Schlucken spielen mehrere Muskeln zusammen. Dazu zählen die Halsund Schluckmuskeln ebenso wie die Mundbodenmuskulatur. Für die Unterscheidung zwischen Pressen und Knirschen sind diese vier Muskeln wichtig:

Beim Zähnepressen ohne Knirschen kommen vor allem drei Kaumuskeln zum Einsatz, nämlich der Temporalis, der Masseter und der Musculus pterygoideus medialis. Alle drei sind für den Kieferschluss wichtig.

Der Musculus pterygoideus lateralis spielt vor allem beim Öffnen und Vorschieben des Unterkiefers sowie bei seitlichen Bewegungen eine Rolle. Er kommt stärker beim Zähneknirschen zum Einsatz, weniger beim Zähnepressen.

Die vier wichtigsten Kaumuskeln und das Kiefergelenk.

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Zahnsubstanz wird vor allem beim Knirschen abgetragen. Es können Haarrisse in den Zähnen entstehen oder kleine Ecken abgebrochen werden. Das ist beim Pressen weniger der Fall. Dafür schadet das Pressen besonders stark der Muskulatur, denn sie wird über ein gesundes Maß hinaus angespannt. Beide Vorgänge können das Kiefergelenk in Mitleidenschaft ziehen.

Da das Kiefergelenk nah am Ohr liegt und beide durch die sogenannte Glaser-Spalte miteinander verbunden sind, werden Schmerzen im Kiefergelenk manchmal mit Schmerzen im Ohr verwechselt. Auch ich selbst hatte vor einigen Jahren diese unangenehmen Schmerzen, in beiden Ohren, ganz tief drinnen. Der HNO-Ärztin zufolge war aber alles in Ordnung. Erst im Rückblick ist mir klar geworden, dass seinerzeit vermutlich meine Kiefergelenke geschmerzt haben. Schön, dass sich das ganz nebenbei erledigt hat, als es mir nach und nach besser ging und ich weniger knirschte. Ganz selten höre ich mein Kiefergelenk knacken, wenn ich den Mund besonders weit öffne. Ein solches Knacken kann zwar eine Folge von Zähneknirschen sein, muss es aber nicht.

Den Masseter unterhalb der Kiefergelenke kannst du übrigens im Spiegel gut erkennen, wenn du die Zähne fest aufeinanderbeißt – bitte mit etwas dazwischen. Auch den Temporalis kannst du dabei gut sehen. Oder du beobachtest diese Muskeln ganz einfach bei anderen, am besten während du beim Mittagessen einem Menschen mit Glatze gegenübersitzt.

Hypertrophe Muskeln

Beide Muskeln werden durch regelmäßiges Zähnepressen stärker, als sie sein sollten. Dann entsteht ein Teufelskreis: Durch das ständige Pressen werden die Mundschließermuskeln trainiert und wachsen. Dadurch kannst du noch kräftiger pressen und knirschen. So werden die Muskeln noch stärker. Und dann kannst du noch kräftiger pressen und knirschen … Du erkennst das Problem. Manche Zähnepresser kannst du am gut trainierten, in der Fachsprache „hypertrophen“ Masseter erkennen. Mein Vater hat mich einmal verwundert angeschaut und gefragt: „Sage mal, hast du Hamsterbacken?“ Vielleicht hätte er mit seinen diagnostischen Augen Zahnarzt werden sollen. Auch ein Wuppertaler Arzt wunderte sich 2012 über die Beule an meiner linken Kopfseite. Ein MRT, das zur Aufklärung der merkwürdigen Verformung gemacht wurde, zeigte meinen viel zu kräftigen linken Masseter. Ob ich vielleicht nachts die Zähne aufeinanderpresse, hat mich leider trotzdem keiner gefragt. Es mussten weitere zwei Jahre vergehen, bis ich durch Wikipedia selbst auf diesen Zusammenhang gekommen bin – ohne MRT.

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Enorme Kräfte

Der Masseter ist der stärkste Muskel im menschlichen Körper, zumindest im Verhältnis zu seiner Größe. Unser Schmerzempfinden ist im Schlaf um ein Vielfaches abgesenkt, sodass wir noch bei Schmerzen weiterschlafen können, die uns tagsüber stören würden. Beides zusammen führt dazu, dass beim nächtlichen Bruxismus wahnsinnige Kräfte wirken. Durchschnittliche Knirscher und Presser bringen einen Druck von 100 bis 800 Newton pro Quadratzentimeter Zahnfläche zum Einsatz. Das sind (physikalisch unkorrekt gesagt) 10 bis 80 Kilogramm pro Quadratzentimeter! Profis und Leistungsknirscher schaffen laut einem Positionspapier der Bundeszahnärztekammer sogar 480 Kilogramm pro Quadratzentimeter! Damit können sie eine Aufbissschiene kaputt knirschen.

Schlaf- und Wachbruxismus

Es gibt nicht nur den Schlafbruxismus, das nächtliche Zähneknirschen, sondern es kann auch passieren, dass wir tagsüber die Zähne aufeinanderpressen, besonders in Stresssituationen. Ich beobachte solchen Wachbruxismus in meiner Arbeit als Paarberater immer wieder, wenn ein Partner mit einem Vorschlag oder Vorwurf des anderen nicht einverstanden ist, aber nicht widersprechen möchte. Dann schluckt er seine Antwort herunter, oder anders gesagt: Er beißt die Zähne zusammen.

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Ab- oder aufsteigende CMD

Falls bei dir zusätzlich zum Bruxismus eine CMD vorliegt, kann es sich um eine ab- oder eine aufsteigende CMD handeln. Bei einer absteigenden CMD liegt die Ursache im Schädel-Kiefer-Bereich und das Problem wirkt sich nach unten hin aus. Zum Beispiel werden Fehlstellungen des Unterkiefers oder des Atlaswirbels – das ist der oberste Halswirbel – möglicherweise über die Wirbelsäule hinweg vom Körper so gut wie möglich ausgeglichen, führen zu einem Beckenschiefstand und dadurch sogar zu einer Beinlängendifferenz. Vereinfacht gesagt, tun dir dann die Knie weh, weil du mit den Zähnen knirschst.

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Eine Kieferfehlfunktion kann eine Beinlängendifferenz auslösen.

Bei einer aufsteigenden CMD ist es genau umgekehrt. Es gibt ein Problem weiter unten im Körper, sagen wir eine Verdrehung am unteren Ende der Wirbelsäule, und zur Erhaltung seiner Funktionsfähigkeit gleicht der Körper dieses Problem über die gesamte Wirbelsäule nach oben hin aus. Als unangenehme Nebenwirkung kann es dabei zu Fehlfunktionen im Schädel-Kiefer-System kommen, also zu einer CMD.

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Bei der Behandlung ist die Unterscheidung von aufsteigender und absteigender CMD wichtig, damit man das Übel bei den Wurzeln packen kann. Ich bin in einer Facebook-Selbsthilfegruppe und dort erzählte eine Betroffene, wie sie nach einem Knacken und kurzen Schmerz im Beckenbereich plötzlich keine Kiefergelenksschmerzen mehr hatte. Ein paar Tage später kam es erneut zu Problemen im Beckenbereich und daraufhin auch wieder zu Schmerzen im Kiefergelenk. Das klingt nach einer aufsteigenden CMD. Wenn das stimmt, tut die Betroffene gut daran, die Fehlfunktion im Beckenbereich in Ordnung zu bringen. Der Kieferbereich wird davon profitieren.

Woran kann man eine CMD erkennen?

Ich habe mittlerweile einige Listen und Tabellen mit möglichen Symptomen von Bruxismus und CMD gesehen. Ich kann sie grob in einem einzigen Satz zusammenfassen: Wenn dir irgendwo an deinem Körper irgendetwas ohne offensichtliche Ursache wehtut oder wenn irgendwo an deinem Körper etwas nicht richtig funktioniert, dann könnte das ein Symptom von Bruxismus oder CMD sein.

Zugegeben, der Satz ist sehr pauschal gehalten. Es ist aber etwas dran: Tinnitus, Beinlängendifferenz, Kopfschmerzen, Flimmern vor den Augen, Beckenschiefstand, Schlafstörungen, Rückenschmerzen – all das und noch viel mehr kann durch eine Fehlfunktion des Schädel-Kiefer-Systems hervorgerufen werden. Noch länger wird die Liste der Symptome, wenn man die Folgesymptome der Symptome hinzunimmt. Eine CMD kann zum Beispiel zu Schlafstörungen führen. Folgesymptome von Schlafstörungen können eine Anfälligkeit für Infekte, Verdauungsprobleme und sogar Depressionen sein.

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Deshalb würde dir eine lange Liste mit möglichen Folgeerscheinungen an dieser Stelle kaum weiterhelfen. Du wirst bei der weiteren Lektüre dieses Buchs noch vielen Symptomen begegnen und kannst für dich prüfen, ob sie bei dir auftreten. Die wichtigsten Anzeichen für Zähnepressen und -knirschen hast du oben bereits kennengelernt. Daher möchte ich nur einige wenige typische Hinweise auf eine CMD nennen. Ich teile sie in vier Kategorien ein, inspiriert von Stefanie Kapps Kieferwissen-Podcastfolge „CMD – Der neueste Stand“ vom 9. Oktober 2019.

Schmerzen

Das Zähneknirschen und vor allem das Zähnepressen kann Schmerzen in der Kaumuskulatur hervorrufen, etwa im Masseter im hinteren Wangenbereich oder im Temporalis an den Schläfen. Ebenso können die Kiefergelenke aufgrund einer Fehlfunktion oder Überlastung wehtun. Eine häufige Folge von Bruxismus und CMD sind unterschiedliche Arten von Kopf-, Nacken-, Schulterund Rückenschmerzen. Und auch dann, wenn dein Zahnarzt keine Erklärung für deine Zahnschmerzen findet, solltet ihr an eine mögliche Fehlfunktion des Schädel-Kiefer-Systems denken.

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Statement der S3-Leitlinie

„Bruxismus und Schmerzen in der Kaumuskulatur, schmerzhafte Dysfunktionen der Kiefergelenke und Kopfschmerzen können zusammenhängen.“ (S. 43)

Missempfindungen

Nicht alles, was unangenehm ist, ist gleich ein Schmerz. Ein sogenanntes Globusgefühl vermittelt den Eindruck, da wäre ein Kloß im Hals. Die Kiefergelenke können stechen oder brennen. Eine Missempfindung im weiteren Sinn ist es auch, wenn du morgens erschöpfter aufwachst, als du abends eingeschlafen bist.

Bewegungseinschränkungen

Möglicherweise kannst du eine der drei wichtigen Kiefergelenksbewegungen nicht problemfrei machen: Du kannst Schwierigkeiten haben:

beim Öffnen und Schließen des Munds,

bei der Seitwärtsbewegung des Unterkiefers nach links oder rechts oder

beim Vor- und Zurückschieben des Unterkiefers.

Das Gleiche gilt für alle Kombinationen dieser drei Bewegungsarten, zum Beispiel für das Kreisen mit dem geöffneten Unterkiefer. Weitere Bewegungseinschränkungen können bei der Kopfdrehung zur Seite sowie im Rücken oder Becken auftreten.

Geräusche

Viele CMD-Patienten hören bei bestimmten Unterkieferbewegungen ein Knacken oder Reiben im Kiefergelenk.

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Onlinetest

Eine Übersicht über kostenfreie CMD-Selbsttests findest du unter https://schluss-mit-zaehneknirschen.de/cmd-tests/

Warum sind so viele Menschen betroffen?

Die Meinungen der Experten gehen weit auseinander. Manchmal lese ich von 20 Prozent Knirscherquote in Deutschland, manchmal von 60 Prozent. Wer da nun Recht hat, kann ich nicht beurteilen. Aber aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen: Wann immer ich von meinem Buchprojekt zum Zähneknirschen erzähle, outet sich ungefähr die Hälfte der Leute als Betroffene. Darum behaupte ich einfach mal so, dass jeder zweite Deutsche Bruxismus aus eigener Erfahrung kennt. Das ist eine ganze Menge und muss Gründe haben. Oder kann es sein, dass wir die Evolution seit hunderttausenden von Jahren mit aufeinandergepressten Zähnen überlebt haben? Das will ich zwar nicht ausschließen, aber normalerweise sortiert die Evolution alles aus, was dysfunktional ist.

Ist Bruxismus eine Zivilisationskrankheit?

Demnach gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder ist Bruxismus gar nichts Schlimmes, sondern hat eine Funktion. Oder aber etwas läuft schief in unserer Gesellschaft. Der US-amerikanische Evolutionsforscher Daniel E. Lieberman spricht in seinem Buch „Unser Körper: Geschichte, Gegenwart und Zukunft“ von Zivilisationskrankheiten. Solche Krankheiten kommen in der westlichen „zivilisierten“ Welt sehr häufig vor, sind aber in Jäger- und Sammlerkulturen so gut wie gar nicht zu finden. Dazu gehören zum Beispiel Diabetes Typ 2, Krebs und Depression. Sie hängen mit unserem Lebensumfeld und unserem Lebensstil zusammen. So wird Diabetes durch stark zuckerhaltige Lebensmittel in Kombination mit zu wenig Bewegung begünstigt. Die Zahl der Depressiven steigt durch die Vereinsamung in modernen Großstädten. Obwohl wir mit zahllosen anderen Menschen auf engem Raum zusammenleben, zieht sich jeder in seine eigene Wohnung zurück. In der psychologischen Beratung habe ich immer wieder Klienten, die in einer großen Stadt leben und trotzdem – oder gerade deshalb – keine Freunde finden. Das erhöht das Risiko von Depression. Demgegenüber sind Menschen in Jäger- und Sammlerkulturen fast gar nicht allein, sondern haben immer andere Menschen um sich herum. Und weil das nicht zehntausend andere sind, sondern vielleicht fünfzig, entstehen dort auch dauerhafte persönliche Beziehungen. Es gibt eine gute Chance auf Freundschaften, denn man ist aufeinander angewiesen. Anders als in modernen Großstädten.

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Leider bespricht Daniel Lieberman in seinem Buch zwar Diabetes und Krebs, aber ich finde nichts über Bruxismus oder CMD. Wenn ich herausfinden kann, wie viele Menschen in Jäger- und Sammlerkulturen mit den Zähnen knirschen, dann habe ich einen wichtigen Hinweis darauf, ob es sich bei Bruxismus um eine Zivilisationskrankheit handelt oder nicht. Doch Informationen zum Bruxismus bei Jägern und Sammlern habe ich bis heute trotz Recherche nicht gefunden. (Falls du etwas dazu weißt, schreib mir bitte.) Dem BruxApp-Gründer Alessandro Bracci zufolge ist Zähneknirschen erst in den letzten drei Jahrzehnten zur Epidemie geworden. Es könnte sich demnach sogar um eine sehr junge Zivilisationskrankheit handeln.

Oder hat Zähneknirschen eine Funktion?

Sollte Bruxismus jedoch ein jahrtausendealtes Phänomen sein, dann stellt sich die Frage: Gibt es irgendeinen erkennbaren Nutzen des Knirschens und Pressens? Auf diese Frage ist mir die erste Antwort zunächst wiederum bei Wikipedia begegnet. Dort steht, dass Bruxismus bei Kindern in einem gewissen Maß normal sei. Er sorge dafür, die Zähne so aneinander abzuschleifen, dass sie perfekt aufeinanderpassen und der heranwachsende Mensch über einen optimalen Biss verfügt. Aber im September 2018 steht über dem fraglichen Abschnitt bei Wikipedia außerdem: „Dieser Artikel oder nachfolgende Abschnitt ist nicht hinreichend mit Belegen (beispielsweise Einzelnachweisen) ausgestattet.“ Diese These ist also umstritten.

Interessant ist der Gedanke dennoch. Kann es sein, dass unser Körper sich einen idealen Biss erknirschen will? Dazu passt die Annahme, dass Probleme in der Okklusion, also im Aufeinanderbeißen der Zähne, eine Ursache von Bruxismus sein können. Die klassischen Knirscherschienen sollen deshalb für einen gleichmäßigen Aufbiss sorgen. Manche aufwändige zahnärztliche CMD-Therapie beseitigt Unebenheiten in der Okklusion durch Kronen, Brücken und zur Not auch durch Abschleifen von Zähnen.

Zumindest mit Blick auf die ganz Kleinen scheint die These zu stimmen, dass wir uns den optimalen Biss erknirschen. So schreibt die Hildesheimer Logopädie-Professorin Ulla Beushausen in ihrem gründlich recherchierten Buch „Wenn die Zähne knirschen“: „Kleine Kinder knirschen, sobald die ersten Zähne da sind. In den ersten Lebensmonaten bis hin zum dritten Lebensjahr ist Bruxismus ein ganz normales Entwicklungsphänomen.“

Zahnarzt Dr. Dietmar Konstantiniuk benannte in einem meiner Bruxismus-Onlineseminare zwei typische Phasen mit Zähneknirschen: Wenn Säuglinge zahnen und beim Zahnwechsel von Kindern ab etwa 8 Jahren. Das Kausystem stellt sich auf die neue Situation ein.

Eine ganz andere Idee zur Funktion des Knirschens bringt der japanische Bruxismusforscher Dr. Sadao Sato ins Spiel: Zähneknirschen und -pressen dienen nach seiner Theorie dem Stressabbau. So hatten gestresste Affen weniger Stresshormone im Blut, wenn sie auf einem Stock kauten. Ich habe das bei Stress ausprobiert und mit hoher Beißfrequenz auf einer Karotte herumgekaut. Zumindest subjektiv ist mein Stresslevel dabei tatsächlich gesunken.

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Zwei weitere sinnvolle Aufgaben von Bruxismus könnten nach den S3-Leitlinien bei Betroffenen von Reflux und von schlafbezogenen Atmungsstörungen eine Rolle spielen. Wenn aufgrund von Reflux Magensäure durch die Speiseröhre nach oben steigt, dann ist das schädlich. Den Schaden kann unser Körper möglicherweise dadurch einschränken, dass er beim Zähneknirschen Speichel produziert. Der Speichel verdünnt die Magensäure und macht sie weniger aggressiv. Bei schlafbezogenen Atemstörungen kann Bruxismus eine sinnvolle Funktion haben, indem er den Rachenraum öffnet und die oberen Atemwege offenhält.

Doch selbst wenn das Knirschen und Pressen einige natürliche Funktionen haben könnte: Viele Menschen leiden massiv unter ihrem Bruxismus. Da kann etwas nicht stimmen. Deshalb behaupte ich: Bruxismus ist eine Zivilisationskrankheit. In geringer Dosis mag Zähneknirschen und -pressen auf die ein oder andere Art und Weise hilfreich sein, aber häufiges und intensives Knirschen und Pressen hat zu viele zu heftige negative Wirkungen, als dass ich darin eine natürliche Funktion sehen könnte. Ich vermute daher, dass unser moderner Lebensstil uns knirschen lässt. Wenn das stimmt, dann – so meine These – leiden Jäger und Sammler im Umkehrschluss nur selten unter Bruxismus. Vielleicht kann ich das eines Tages belegen.

In den folgenden Kapiteln gehe ich auf Spurensuche und erwäge mögliche Ursachen für die Zivilisationskrankheit Bruxismus. Dabei benenne ich für jede Ursache Lösungsideen. Folgende Risikofaktoren möchte ich nur kurz erwähnen:

Manche Studien deuten auf eine mögliche genetische Veranlagung als Risikofaktor für Bruxismus hin.

Reflux und Sodbrennen könnten den Körper aus dem oben beschriebenen Grund möglicherweise zum Zähneknirschen als Schutzreaktion bewegen: Der beim Knirschen vermehrt gebildete Speichel verdünnt die Magensäure, die beim Reflux die Speiseröhre aufsteigt. Dadurch ist die Magensäure weniger schädlich und das Sodbrennen nimmt ab.

Nervöse Ticks wie das Kauen an den Fingernägeln, Lippen oder Bleistiften werden als bruxismusbegünstigende Faktoren diskutiert. Der Zusammenhang ist nicht ganz klar. Ich stelle ihn mir so vor: Wer in nervöser bis gestresster Stimmung auf einem Stift herumkaut, der gewöhnt sich an, Stress über Kaubewegungen abzubauen. Und genau das passiert beim Zähneknirschen.

Zu Nikotin sagt die S3-Leitlinie: „Studien konnten eine dosisabhängige Beziehung zwischen Rauchen und Bruxismus aufzeigen. Rauchen ist mit einem 1,6- bis 2,85-fachen Risiko für Bruxismus verbunden. Selbst Passivrauchen konnte bei Kindern als Risikofaktor für Bruxismus identifiziert werden.“

Laut S3-Leitlinie aktiviert auch Alkohol die Aktivität des Massetermuskels.

Kaffee wirkt fast wie Alkohol. Allerdings musst du dafür mehr als acht Tassen am Tag trinken.

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Wenn die Zähne sich nicht treffen – die Aufbiss-Hypothese

Eine viel diskutierte mögliche Ursache für Bruxismus ist ein ungleichmäßiger Aufbiss. Grob vereinfacht kann man es sich so ähnlich vorstellen wie das Kauen an Fingernägeln oder das Knibbeln an der Haut um die Fingernägel herum. Wer das tut, fährt nicht selten gewohnheitsmäßig mit einem Finger über die anderen. Wenn er dabei eine Stelle findet, an der ein klitzekleiner Hautfetzen absteht oder ein Nagel eine kleine Kerbe aufweist, dann stört ihn das und er knibbelt oder kaut es weg – in den meisten Fällen ganz automatisch und ohne darüber nachzudenken. So ähnlich kann es bei Unebenheiten im Mund auch sein. Die Annahme, solche Unebenheiten würden zu Zähneknirschen führen, gehört allerdings mehr und mehr der Vergangenheit an:

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Okklusion: Der perfekte Biss

Wenn die Flächen der Mahl- und Backenzähne von Ober- und Unterkiefer bei einem normalen Kieferschluss ziemlich gleichmäßig und gleichzeitig aufeinandertreffen, dann ist das ein idealer oder besser funktionaler Aufbiss: So kann man gut kauen. Ist der Aufbiss, in der Fachsprache die Okklusion, hingegen gestört, spricht man von einer Malokklusion, also einem schlechten Aufbiss. Dann kann es sein, dass Zähne sich leicht versetzt treffen oder die rechte Zahnreihe schon geschlossen ist, während die linke Zahnreihe noch deutliche Lücken aufweist. Eine Malokklusion beginnt aber nicht erst dann, wenn sie mit bloßem Auge wahrzunehmen ist. Schon kleinere Abweichungen können uns bewusst oder unbewusst stören. Da unser Mund eine besonders sensible Körperregion ist, können wir bereits Unterschiede von 0,01 Millimetern beim Aufbiss wahrnehmen.

Das menschliche Gebiss

(Abbildung auf übernächster Seite)

Die 32 Zähne eines erwachsenen Menschen spielen nicht nur bei der Nahrungszerkleinerung eine Rolle, sondern auch beim Sprechen und bei der Ausformung des Gesichts. Beim Kauvorgang erfüllt jeder Zahn eine spezielle Funktion:

Die jeweils vier Schneidezähne oben und unten sind die vordersten Zähne unseres Gebisses und damit die ersten Zähne, die mit Nahrung in Kontakt kommen. Du versenkst sie zum Beispiel in einen Apfel und beißt mit Unterstützung der Eckzähne ein Stück ab. Damit die Schneidezähne dich mit möglichst genauen Informationen über das abgebissene Stück Apfel versorgen können, sind sie mit vielen Nerven ausgestattet und besonders sensibel. So bemerkst du es sofort, wenn du eine faule und somit ungewöhnliche weiche Stelle erwischt hast. Jeder Schneidezahn hat nur eine Wurzel und ist nicht dafür gemacht, großen Druck auszuüben. Wenn du deine Schneidezähne aufeinanderbeißt, wirst du das vorsichtig tun. In der Bruxismusbehandlung macht sich die sogenannte Jig-Schiene diesen Effekt zunutze. Sie wird nur zwischen den Schneidezähnen eingesetzt und kann als Kurzzeithilfe für ein paar Nächte dazu beitragen, dass sich die Kaumuskulatur beim nächtlichen Zähnepressen nicht so stark anspannt. Wird sie länger eingesetzt, hat sie aber starke unerwünschte Auswirkungen auf die Zahnstellung.

Neben den Schneidezähnen befinden sich die Eckzähne. Vor langer Zeit waren ihre Vorfahren die Reißzähne, die wir von vielen Tieren kennen. Aufgrund dieser Abstammung sind sie stabil verankert. Von den menschlichen Zähnen haben sie die längste Wurzel und können kraftvoll abbeißen. Manche nächtlichen Zähneknirscher schieben sie so stark seitlich gegeneinander, dass an den Spitzen der Eckzähne Zahnsubstanz abgetragen wird.

Die Backen- und Mahlzähne sind für das kraftvolle Zerkleinern von Nahrung verantwortlich. Sie können viel Druck ausüben. Vor allem sie sind es, die von Bruxisten in der Nacht oder am Tag unter starker Anspannung der Mundschließermuskeln aufeinandergepresst werden.

Für Bruxisten steht als Soforthilfe der Aqualizer zur Verfügung, dessen kleine Wasserkissen zwischen die hinteren Mahlzähne zu liegen kommen. Beim nächtlichen Zähnepressen dämpfen sie den Druck und am Tag machen sie ihren Träger auf unbewusstes Zähnepressen aufmerksam. Deutlich abzuraten ist vom Abschleifen der hinteren Mahlzähne mit der Idee, die Kraftausübung beim Bruxismus zu verringern. So hat es ein Zahnarzt bei mir gemacht. Dazu mehr im zweiten Buchteil.

Die Weisheitszähne oder dritten Mahlzähne kommen später als die anderen Zähne. Häufig ist für sie kein Platz mehr im Kiefer. Es besteht die Gefahr, dass sie die anderen Zähne seitlich zusammendrücken und Entzündungen verursachen, weshalb sie operativ entfernt werden. Nach einer solchen Operation sollte Physiotherapie eingesetzt werden, um Kieferfehlfunktionen vorzubeugen.

Für alle Zähne gilt: Sie sind nicht dafür gemacht, direkt aufeinanderzubeißen. Beim Kauen befindet sich Speisebrei dazwischen. Die Zähne berühren sich kurz beim Schlucken, aber ansonsten befindet sich der Unterkiefer idealerweise in der sogenannten Ruheschwebe. Dabei gibt es keinen Kontakt zwischen der oberen und unteren Zahnreihe. Die Zungenspitze liegt entspannt hinter den Schneidezähnen am Gaumen.

Beim Bruxismus ist das anders. Die Zähne werden mit großer Kraft direkt gegeneinandergedrückt und beschädigen sich gegenseitig. Im Lauf der Zeit kommt es zur sogenannten Attrition, das heißt es wird Zahnsubstanz abgetragen. Die ungehemmte Krafteinwirkung kann zusätzlich Nerven und Blutgefäße in Mitleidenschaft ziehen.

Was 0,1 mm anrichten können

Ich zitiere die Logopädieprofessorin Ulla Beushausen in „Wenn die Zähne knirschen“ (S. 15) : „Experimentelle Zahnerhöhungen um 0,1 mm bewirkten in einer Studie verkürzte Tief schlafphasen, erhöhte Adrenalinausschüttungen und verlängerte Atemstillstandzeiten während des Schlafes. Die Kaumuskulatur zeigte bereits nach wenigen Tagen einen erhöhten Muskeltonus.“

0,1 Millimeter! Das ist fast nichts. Ich persönlich habe ein Vielfaches davon zu bieten. Wenn schon so kleine Unebenheiten Bruxismus auslösen können, dann ist eine feine Anpassung von Zahnschienen auf den Patientenmund enorm wichtig. Allerdings gab es auch andere Studien, die den Zusammenhang von Malokklusion und Bruxismus nicht bestätigt haben.

Mögliche Ursachen für einen unebenen Aufbiss

Unebenheiten im Aufbiss können durch Zahnfehlstellungen oder Schäden an den Zähnen entstehen. Auch eine Störung in den Kiefergelenken kann der Grund sein. Für einen im wahrsten Sinn des Wortes reibungslosen Ablauf müssen das linke und rechte Kiefergelenk synchron zusammenwirken. Das ist einzigartig im menschlichen Körper. Zwischen dem Gelenkkopf und der Gelenkgrube befindet sich eine kleine Scheibe, der sogenannte Diskus. Auf dieser Scheibe gleitet der Gelenkkopf. Eine mögliche Störung eines Kiefergelenks besteht darin, dass das Zusammenspiel von Gelenkkopf und Scheibe nicht störungsfrei funktioniert. Dann springt beispielsweise beim Nachvornschieben des Unterkiefers der Gelenkkopf vom Diskus und erzeugt dabei das berühmte Knacken. Oder ein Gelenkkopf wird bei einem Unfall durch einen plötzlichen Aufprall so tief in die Gelenkgrube hineingedrückt, dass danach ein oder sogar beide Kiefergelenke blockiert sind und sich der Mund nicht mehr so weit öffnen lässt wie zuvor.

Zwischen dem Gelenkkopf und der Gelenkgrube befindet sich eine kleine Scheibe, der Diskus. Es kann sein, dass das Zusammenspiel von Gelenkkopf und Scheibe nicht störungsfrei funktioniert.

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Solche und andere Störungen beeinträchtigen die Funktion der Kiefergelenke. Diese steuern dann den Unterkiefer möglicherweise falsch und zerren ihn zum Beispiel zu weit nach rechts. Dann treffen sämtliche Zähne nicht mehr ideal aufeinander, sondern die unteren Zähne sind bei der Okklusion etwas weiter rechts als die oberen.

Bewusst oder unbewusst wollen wir gegensteuern. Mit muskulärer Anstrengung versuchen wir, den Unterkiefer so zu positionieren, dass wir vernünftig damit kauen können. Die Kaumuskeln gewöhnen sich an die Fehlstellung und wachsen oder verhärten sich entsprechend – und schon ist eine CMD mit Kiefergelenksstörungen und einseitig verhärteten Kaumuskeln entstanden, die bei den meisten Menschen weitere Symptome auslöst.

Ist Zahnersatz schädlich?

Ich sage es ungern: Auch zahnärztliche Eingriffe können Unebenheiten beim Aufbiss verursachen und dadurch im Lauf der Zeit eine Schädel-Kiefer-Fehlfunktion hervorrufen. Ein Beispiel dafür ist Dorothee, die wir später noch genauer kennenlernen. Aufgrund ihrer Zahnprothesen trafen die Ober- und Unterkieferzähne rechts früher aufeinander als links, eine wunderschöne Malokklusion. Brücken, Kronen und andere Arten von Zahnersatz können zum Zähneknirschen führen, wenn sie nicht perfekt angepasst sind.

Da ich in diesem Buch an keiner anderen Stelle näher auf Zahnersatz eingehe, möchte ich auf zwei besondere Gefahren im Zusammenhang von Zähneknirschen hinweisen:

1. Unsere Zähne müssen lange halten und nutzen sich normalerweise nur langsam ab, denn sie sind das härteste Material in unserem Körper. Aber sie werden manchmal getoppt von … richtig, Zahnersatz. Keramik beispielsweise ist enorm hart und wird genau aus diesem Grund für Zahnersatz verwendet. Im Unterschied zu manchen Kompositfüllungen (verstärkter Kunststoff) zeigt Keramik weniger Abnutzungserscheinungen. Doch wer zeigt dafür mehr Abnutzungserscheinungen als üblich? Richtig, der gegenüberliegende natürliche Zahn. Zumindest bei ungehemmten Knirschern und Pressern muss dieser Zahn nun unter hohem Druck der Kaumuskulatur der harten Keramik standhalten. Doch das kann er nicht.

2. Implantate werden in der Regel mit einer Schraube im Kieferknochen befestigt. Um die Folgen für Bruxisten abzuschätzen, hilft eine kurze Erinnerung an deinen Physikunterricht: Was ist eine Hebelwirkung? Genau, bei einem Hebel, sagen wir dem Stiel eines im Boden steckenden Spatens, brauchst du für die gleiche Wirkung an der Spitze unterschiedlich viel Kraft – je nach Hebel. Fasst du den Spaten ganz unten in der Nähe der Schaufel an, betätigst du einen kurzen Hebel und brauchst ziemlich viel Kraft. Deswegen macht das keiner so. Du fasst den Spaten ganz oben an, um von der verstärkenden Wirkung eines langen Hebels zu profitieren. Leider ist ein künstlicher Zahn, der mit einer Schraube im Knochen befestigt ist, beim Knirschen nichts anderes als ein Hebel. Schon an der Zahnoberfläche muss er starke Kraft aushalten, wenn ein anderer Zahn seitlich gegen ihn drückt. Doch noch viel stärker ist die Krafteinwirkung auf den Knochen. Denn der Druck von der Zahnoberfläche wird mit Hebelwirkung, also noch einmal verstärkt, über die Schraube an den Knochen weitergegeben. Das ist Mechanik, und zwar eine Mechanik, die Knochenschäden hervorrufen kann.

Also weg mit allen Arten von Zahnersatz, Brücken und Kronen? Das ist leider auch keine Lösung, denn gleichmäßig wird dein Aufbiss davon nicht. Wenn ein Zahn fehlt, ist sein Gegenüber allein. Er hat keinen Gegenspieler mehr. Der Druck im Mund verteilt sich ungleichmäßig und es kann zu einer sogenannten Elongation kommen, dem Weiterherauswachsen des einsamen Zahns ohne Gegenüber.

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Lost Wisdom – die Weisheitszahn-Hypothese

Ein erwachsener Mensch hat „serienmäßig“ 32 Zähne, jeweils acht in jedem Quadranten. Der achte, hinterste Zahn lässt sich in der Regel Zeit, bis er in Erscheinung tritt. Diese Reservezähne für das Alter werden als Weisheitszähne bezeichnet, denn man kann sie nur bei Leuten sehen, die schon etwas Lebenserfahrung und damit hoffentlich Weisheit gesammelt haben. Bei meiner Schwiegermutter zum Beispiel hat zusammen mit jedem ihrer vier Kinder jeweils auch ein Weisheitszahn das Licht der Welt erblickt. Meine eigenen Weisheitszähne kamen hingegen einfach so und ich musste dafür nicht erst jemanden gebären. Wie praktisch.

Serienausstattung mit Problemen?

Die Natur hat uns jedenfalls mit Weisheitszähnen ausgestattet. Meine Grundannahme ist: Eine serienmäßige Ausstattung hat meistens einen Sinn. Sonst hätte sie sich im Lauf der Zeit nicht durchgesetzt. Leider macht diese serienmäßige Ausstattung ziemlich oft Probleme und wird deshalb serienmäßig entfernt. So auch bei mir: Eines Tages sagte der Zahnarzt, die Weisheitszähne solle ich lieber entfernen lassen. Sonst würden sie die anderen Zähne zunehmend zusammenquetschen und das könnte einige Probleme und Schmerzen mit sich bringen. Weisheitszähne nehmen also zu viel Platz weg. Das ist der häufigste mir bekannte Grund für das Entfernen unserer hintersten Beißerchen. Wie kann das sein? Hat sich Mutter Natur bei unserer Grundausstattung einen groben Schnitzer erlaubt?

Kiefer zu klein?

Weisheitszähne nehmen nur dann zu viel Platz weg, wenn der Kiefer zu klein ist. Klingt logisch? Ist logisch. In einem größeren Kiefer haben auch mehr Zähne Platz. Dass aber unser Kiefer nicht groß genug wird, könnte an unseren Essgewohnheiten liegen. Wir essen nämlich kaum noch etwas, bei dem wir wirklich kräftig zubeißen müssen. Das meiste Essen ist schön weich: Brötchen, Chicken Nuggets oder Currywurst mit Pommes. Da muss man nicht kräftig kauen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Wenn wir das Essen weniger kauen müssen, dann ist das angenehmer für uns und wir sparen Zeit. Wenn du das nicht glaubst, mach einmal ein Wettessen mit einem Rohkostfan. Du isst dein normales Essen und er soll eine vergleichbare Menge an Rohkost zu sich nehmen. Wenn du nach deinem Essen einen gemütlichen Spaziergang machst und entspannt zurückkommst, knabbert der Rohköstler immer noch am Kohlrabi. Ein Freund von mir hat ein paar Wochen nur Rohkost gegessen, weil er im Unterschied zu mir davon überzeugt war, dass das gesund sei. Seine Überzeugung hat er nicht aufgegeben, das Rohkostessen schon. Er hatte einfach nicht genug Zeit zum Kauen.

Der Weisheitszahn kommt später als die anderen Zähne und bereitet manchmal Probleme.

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Ernährung im Kindesalter

Kann es sinnvoll sein, Kindern neben Nudeln mit Tomatensoße von Zeit zu Zeit härtere Nahrung zum Beißen zu geben? Manches spricht dafür. Und das könnte sogar schon die Beikost für Babys betreffen. Der Kinderarzt und Evolutionsfan Herbert Renz-Polster schreibt in „Kinder verstehen. Born to be wild“ dazu: „Aus Skelettfunden wurde abgeleitet, dass die evolutionäre Beikost gröber war als heute üblich – Fehlbisse und andere Fehlstellungen der Kieferknochen werden nämlich erst seit dem 17. Jahrhundert häufiger beobachtet. Dies könnte in der Tat mit der kleinkindlichen Kost zusammenhängen, schließlich ist es der Muskelzug beim Kauen, der den Kiefer formt und die Stellung von Ober- und Unterkiefer bestimmt.“ Und ein paar Seiten weiter: „Auch die Sorge der Zahnärzte, dass bei immer mehr Kindern der Kiefer zu schwach entwickelt ist, um genug Platz für die Zähnchen zu haben, spricht gegen den Brei als Standardmenü. Natürlich muss man am Anfang ein bisschen helfen und die Nahrung klein machen, aber im Grunde sind die Kleinen von Natur aus gerüstet, zusätzlich zu den Brustmahlzeiten das zu essen, was der Bruder, die Schwester und die Eltern auch essen – eine besondere Babyküche dürfte am Lagerfeuer nicht eingerichtet gewesen sein.“

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Dieser Gedanke klingt für mich plausibel. Der Körper reagiert auf Anforderungen: Jäger und Sammler haben sicherlich Härteres zu beißen als wir „Zivilisierten“. Auch unsere Vorfahren mussten in unserer Evolutionsgeschichte immer wieder auf Knollen und Wurzeln kauen. Nicht zuletzt deshalb ist es für mich plausibel, dass zu viel weiches Essen ungünstig für die Entwicklung von Kiefer und Kaumuskulatur sein könnte.

Andererseits ist unsere Schnauze im Verlauf der Jahrhunderttausende immer kleiner geworden, weil wir uns zunehmend auf hochwertige und zubereitete Nahrung spezialisiert haben. Auch das ist Evolution: Je hochwertiger unsere Nahrung wurde und je mehr wir sie zubereitet haben, desto weniger mussten wir kauen und desto mehr wurde unsere Schnauze zu einem Mund.

Einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Kiefergröße beschreiben ebenfalls die bekannten, wenn auch umstrittenen Therapeuten Liebscher & Bracht in ihrem Ratgeber zur Selbstbehandlung von Kieferschmerzen. Noch einen Schritt weiter geht James Nestor. Für seinen 2020 erschienenen, preisgekrönten Bestseller „Atem: Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens“ hat er eine Reihe von Selbstexperimenten durchgeführt. Mit einem davon hat er erfolgreich seinen Kieferraum vergrößert, und das als erwachsener Mensch.

Weisheitszahn-OP: Ein handwerklicher Eingriff

Vielleicht fragst du dich, wo eigentlich das Problem liegt. Wenn der Kiefer zu klein ist und die Weisheitszähne entfernt werden, dann sind sie ja weg und alles ist gut. Unsere Medizin ist hochentwickelt und das Entfernen von Zähnen gehört für Zahnärzte zum routinierten Alltag.

Ja, das stimmt. Es klingt für mich aber verharmlosend. Chirurgie ist ein Handwerk mit kleinen, aber echten Werkzeugen. Beim Herausbohren und Herausbrechen der Weisheitszähne wirken sehr starke Kräfte. Anders bekäme man die Zähne mit ihren langen Wurzeln gar nicht heraus. Ich habe diese starken Kräfte selbst erlebt, denn bei mir fanden die Eingriffe mit lokaler Betäubung statt. Das war mir lieber als eine Vollnarkose, schließlich bin ich neugierig. Zuerst wurden mir die beiden linken Weisheitszähne entfernt und ein halbes Jahr später die beiden rechten. Beide Male hat es ordentlich gekracht und am Kopf gezogen.

Leider hat mir erst ein Jahrzehnt später eine Physiotherapeutin gesagt, dass nach einer Weisheitszahn-OP unbedingt einige Stunden Physiotherapie gemacht werden sollten. Die Physiotherapie soll mögliche Nebenwirkungen im Kiefer-Nacken-Bereich ausgleichen und dauerhafte Fehlstellungen verhindern. Mein Zahnarzt hat davon nichts gesagt und ich habe mich selbst nicht informiert.

Ob es an den Weisheitszahneingriffen liegt, dass ich heute auf der linken Seite sehr gut kauen kann und auf der rechten Seite beim Zubeißen kleine Abstände zwischen der oberen und unteren Zahnreihe habe? Ich kann es nicht ausschließen, aber zur Entlastung des behandelnden Arztes möchte ich zwei mögliche andere Gründe anführen: In den zwei, drei Jahren, bevor meine Probleme begannen, hatte ich einen Fahrradunfall. Und ein anderes Mal bin ich vor eine Glasscheibe gelaufen. Auch diese Traumata könnten meine Halswirbelsäule und meinen Kiefer verschoben haben.

Und nun?

Was kannst du jetzt aus dem möglichen, aber keinesfalls bewiesenen Zusammenhang von Weisheitszahnentfernung und Bruxismus schlussfolgern? Falls deine Weisheitszähne schon draußen sind, kannst du sie dir nicht wieder einsetzen lassen. Du kannst dich aber physiotherapeutisch behandeln lassen. Am besten suchst du nach einem Physiotherapeuten mit einer CMD-Zusatzausbildung.

Falls aber deine Weisheitszähne noch an ihrem angestammten Platz sitzen und der Zahnarzt ihre Entfernung vorschlägt, dann informier dich gut. Du kannst deinen Zahnarzt um eine Begründung bitten, die du verstehen und überprüfen kannst. Es kann Gründe für und gegen eine OP geben. Letztlich musst du die Vorund Nachteile abwägen und eine Entscheidung treffen. Falls du dich für eine Weisheitszahn-Operation entscheidest, kannst du deinen Zahnarzt danach um eine Überweisung zur Physiotherapie bitten. Vielleicht gönnst du dir sogar ein paar Stunden Osteopa-thie.

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Zusammenfassende Einschätzung: Wie wichtig sind fehlende Weisheitszähne als Knirschursache?

Die Weisheitszahn-Hypothese ist eine Außenseiter-Hypothese. Sie spielt in der allgemeinen Diskussion kaum eine Rolle. Ich erzähle sie vorwiegend aufgrund meiner persönlichen Geschichte. In jedem Fall ernst zu nehmen sind die Folgen von Weisheitszahn-Operationen oder von anderen schweren Eingriffen im Mundbereich. Eine Nebenwirkung können Dysfunktionen des Kiefersystems und Fehlhaltungen des Körpers sein.

Ich hatte mal alles unter Kontrolle – die Stress-Hypothese

Fast jeder hat schon davon gehört, dass Stress zu Zähneknirschen führen kann. Negativer Stress, Angst, Depression und eine Übererregung des zentralen Nervensystems – das alles kann Bruxismus hervorrufen.

Falls du chronisch gestresst bist, gehörst du zur Mehrheit der Menschen in unserem Land. Bist du so viel und so intensiv im Stress, dass es deiner Gesundheit schaden kann? Und deinem Lebensglück? Nimm diese Frage ernst und schieb sie nicht mit einem Lächeln oder einem Zähnezusammenbeißen beiseite.

Ein beliebter Wahrnehmungsfehler

Wir sind Meister darin, uns etwas vorzumachen, und wir leiden nachgewiesenermaßen fast alle unter einem psychologischen Wahrnehmungsfehler: Wir überschätzen uns selbst. Matthew Walker zum Beispiel berichtet in „Das große Buch vom Schlaf“ von einem tödlichen Irrtum: Objektiv übermüdete Menschen halten sich subjektiv für fahrtüchtig. In Laborstudien mit gezieltem Schlafentzug war das leider nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Wir unterschätzen unsere Müdigkeit und überschätzen unsere Reaktions- und Handlungsfähigkeit.

Ich bin sicher, dass genau das Gleiche für Stress gilt. Zwar geben die meisten von uns zu, dass sie gestresst sind. In gewisser Weise gehört sich das so, man will schließlich nicht als träge oder faul rüberkommen. Doch kannst du realistisch einschätzen, wie sehr dein chronischer Stress dich krank macht, deine Leistungsfähigkeit einschränkt und deine innere Zufriedenheit behindert? Für viele, viele Menschen lautet die objektive Antwort auf diese Frage: Nein. Das Ausmaß an Stressbelastung wird unterschätzt und die eigene Belastbarkeit wird überschätzt. Wohlgemerkt: Eine gewisse Menge an Stress lässt sich nicht vermeiden und kann sogar gesund sein, weil unser Organismus ein Auf und Ab von Aktivität braucht. Wovor ich warne, das ist zu viel Stress für eine zu lange Zeit.

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Viele Menschen unterschätzen die Folgen von andauerndem Stress.

Wenn wir nicht gerade an Depressionen leiden, dann halten wir uns selbst für besonders gut und das hält uns psychisch gesund. Oftmals ist es hilfreich, weil es uns mutig macht und unser Immunsystem stärkt, wie ein Placebo. Wenn es aber um das Thema Stress geht, solltest du deine höchstwahrscheinlich vorhandene Selbstüberschätzung durch eine realistischere Perspektive ersetzen und etwas gegen den Stress und für deine Entspannung tun. Du hast nur einen Körper und der soll möglichst lange halten.

Wie der Körper Stress signalisiert

Dein Körper sagt dir ganz genau, wie es bei dir um Stress bestellt ist. Er lügt nicht. Da wir uns in unseren Gedanken ganz gut selbst etwas vormachen können, überprüf deinen Stresslevel lieber an deinem Körper. Wie?

Wenn du Geld ausgeben möchtest, kannst du durch ein Fitnessarmband mit entsprechender Zusatzausrüstung den Puls und den Blutdruck mehrere Tage lang aufzeichnen und auswerten. Durch Fachleute kannst du im Blut einige Stressparameter wie den Cortisolspiegel messen lassen.

Du kannst deinen Körper auch ohne Armband bewusst wahrnehmen. Nimm zum Beispiel den unteren Bereich deiner Wade zwischen Daumen und Zeigefinger, ungefähr fünf bis zehn Zentimeter über der Ferse. Dann massiere diesen Bereich mit etwas Kraft. Wenn er schmerzhaft und verhärtet ist, bist du nicht allein. Stress setzt sich gerne in den Waden ab, ebenso wie in der Nackenmuskulatur. Überhaupt kannst du bewusst nachspüren, wie entspannt oder angespannt deine Muskeln sind. Sind Muskeln angespannt, die gerade eigentlich gar nichts zu tun haben, dann ist der Muskeltonus erhöht und das deutet auf Stress hin.

Ein deutliches Zeichen liefert uns der Atem. Verändere deinen Atem jetzt nicht, sondern atme genau so weiter, wie du es bis gerade eben noch getan hast. Jetzt achte darauf, wie weit der Atem in deinem Körper nach unten geht. Wirklich entspannte Menschen atmen in den Bauch. Das dauert pro Atemzug etwas länger und geht mit einem ruhigeren Atem einher. Im Stress atmen wir nur schnell und flach bis in den Brustbereich. Wie sich Bauchatmung anfühlt, kannst du im Liegen testen, indem du zwei Bücher auf deinen Bauchnabel legst und mit jedem Einatmen nach oben bewegst. Im Alltag kannst du schnell und einfach herausfinden, ob du gerade gestresst bist. Du brauchst nur auf deinen Atem zu achten. Und du kannst ganz bewusst die Bauchatmung einsetzen, um Stress loszulassen. Denn wenn du bewusst ruhig und tief in den Bauch atmest, stimulierst du den Vagusnerv und das fühlt sich gut an. Das kannst du auch während eines Businessmeetings machen, ohne dass es auffällt. Wenn du mehr über die Kraft der Atmung erfahren möchtest, empfehle ich dir mein Podcastinterview mit Wim Hof Instructor Andres Santamaria. Am Ende des Gesprächs leitet er eine Atemübung zum Mitmachen an, das sogenannte Box Breathing: https://ichstark.com/30

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Es gibt viele weitere Körpersignale, auf die du achten kannst. Ich selbst habe zum Beispiel einige Jahre lang immer wieder plötzlich tief eingeatmet, ohne dass ich das bewusst vorgehabt hätte. Ich habe das für normal gehalten und dem keine weitere Bedeutung beigemessen. Als ich nach und nach genauer auf meinen Körper geachtet habe, stellte ich fest, dass dieses plötzliche Luftholen keineswegs Zufall war. Es war ein Reflex. Wenn wir erschrecken, atmen wir instinktiv ein, um uns für Kampf, Flucht oder bewegungslose Schockstarre vorzubereiten. Bei mir tritt dieser Reflex besonders dann auf, wenn sich gerade ein Konflikt ankündigt, ich eine schlechte Nachricht höre oder mich sonst etwas plötzlich in Stress versetzt. Der Luftholreflex ist bei mir über die Jahre immer seltener aufgetreten. Vielleicht habe ich es tatsächlich geschafft, entspannter zu werden und mein Leben zu entstressen. Heute ist der Reflex ein wichtiges Signal für mich: Hole ich plötzlich und ungewollt Luft, dann fällt mir frühzeitig eine potenziell stressige Situation auf. Dadurch kann ich an der Situation oder an meinem Verhalten etwas ändern. Und das kann ich lange bevor mir der Stress ohne die Atemwahrnehmung bewusst geworden wäre. Sehr nützlich, dieses mobile Stressmessgerät namens Körper.

Haben wir mehr Stress als unsere Vorfahren?

Müssten wir nicht deutlich entspannter sein als die Jäger und Sammler? Wir haben genug Essen für ein paar Tage im Kühlschrank, sind bei Gewitter vor Blitzen geschützt und können uns im Notfall auf die nächste Klinik verlassen. Im Tagesverlauf begegnen wir normalerweise keinen Raubtieren, wenn man bestimmte Exemplare von Chefs oder Kollegen unberücksichtigt lässt. Aber um das nächtliche Lager von Jägern und Sammlern schleichen die Hyänen herum und jedes Knacken im Wald könnte ein Raubtier sein. Da steht doch der ganze Stamm permanent unter Hochspannung und muss deshalb knirschen und pressen wie verrückt, richtig? Nicht ganz. Die meiste Zeit in freier Wildbahn läuft ganz normal vor sich hin, etwas Beeren und Knollen sammeln hier, den ein oder anderen Hauptgang jagen da. Reine Routine.

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Jäger und Sammler bauen Stresshormone durch körperliche Aktivität ab.

Doch es gibt noch den ganz großen Unterschied: Wenn es dann zum Beispiel aufgrund eines Raubtieres zu einer Stresssituation kommt, dann kann man in freier Wildbahn auch körperlich reagieren. Man setzt den Stress in Taten um und baut dadurch die Stresshormone wieder ab. Entweder wird man wütend und leitet viel Blut zu Kampfzwecken in die Arme. Oder man bekommt Angst und pumpt das Blut zum Weglaufen in die Beine. Ob ein Jäger und Sammler nun die Beine in die Hand nimmt oder mit den Armen kämpft, er wendet viel körperliche Energie auf. Nach Bewältigung der Stresssituation fährt dann der Kreislauf wieder herunter und der Körper regeneriert sich.

In unserer westlichen Welt ist das ganz anders. Uns stresst keine Hyäne, sondern der Redaktionsschluss oder das nächste Meeting oder die vorhersehbare Standpauke des Partners, wenn wir wieder mal später als angekündigt nach Hause kommen. Im schlimmsten Fall alles auf einmal. Unser Körper reagiert aber immer noch genauso wie in früheren Zeiten: Stresshormone werden ausgeschüttet, Kräfte werden mobilisiert, der Puls steigt und wir sind perfekt auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Und dann bleiben wir sitzen. Die Präsentation fürs Team bekommen wir ja nicht dadurch fertig, dass wir weglaufen oder den Computer gegen die Wand werfen. Genau das wäre es aber, was unser Körper gerade braucht: Laufen oder kämpfen. Dann könnten Adrenalin und Cortisol abgebaut werden und alles wäre wieder gut. So wie bei den Jägern und Sammlern. Da wir aber sitzen bleiben und schwitzend weiterarbeiten, wüten die Stresshormone über eine viel zu lange Zeit in unserem Körper. Und das macht krank. Unverarbeiteter Stress gilt als eine bedeutende Ursache für zahlreiche gesundheitliche Probleme und nicht zuletzt für Bruxismus, speziell für das Zähnepressen am Tag.

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Aus meiner Sicht zeigt sich hier eine der größten Herausforderungen unserer Zeit: Wir leben nicht mehr in der Welt, an die sich unser Körper und unsere Psyche hunderttausende Jahre lang angepasst haben. Vielmehr leben wir in einer stark veränderten Welt, einer Welt, die wir selbst verändert haben. In vielerlei Hinsicht haben wir uns die Welt angenehmer gemacht. Als Nebenwirkung werden wichtige Grundbedürfnisse unseres Körpers und unserer Psyche nicht erfüllt oder nur dann erfüllt, wenn wir uns aktiv darum kümmern. Das beginnt schon beim Tanken von Sonne, weil wir uns – vor allem im Winter – die meiste Zeit in Gebäuden aufhalten.

Erste Ideen zum Stressabbau

Was kannst du tun? Solltest du deinen Job aufgeben und dich irgendwo im Amazonasgebiet einer Gruppe von Jägern und Sammlern anschließen? Das wird wahrscheinlich keine ernsthafte Option sein. Aber du kannst nach Wegen suchen, den Stress auch in deiner jetzigen Lebenssituation abzubauen.

Ausdauersport ist ideal, um Stresshormone abzubauen. Meditation hat ähnliche Effekte, kann aber für Dauersitzer die sportliche Betätigung nicht ersetzen. Wenn du dir keinen Boxsack ins Büro hängen darfst, versuch doch diese kleinen Stresskiller-Gummibälle, die man mit einer Hand pressen und kneten kann. Du kannst auch von Zeit zu Zeit ein Kissen oder ein altes Sofa verprügeln.

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Nach zwei Minuten ununterbrochenem Schreien fühlen wir uns schon deutlich entspannter.

Besonders gut für einen Knirscher ist Schreien. Leider gibt es in unserem Alltag wenig Gelegenheiten, richtig laut zu schreien, ohne dass die Polizei gerufen wird. Vielleicht kannst du es im schallgedämpften Keller tun oder im Auto. Letzteres machst du bitte nur in absolut ungefährlichen Situationen und auf keinen Fall auf der Autobahn, erst recht nicht auf der Überholspur. Zwei Minuten lang aus Leibeskräften zu schreien, kostet richtig Kraft und danach wirst du zunächst einmal erschöpft sein, jedenfalls weniger unter Strom stehen als vorher. Beim Schreien machst du den Mund weit auf und dehnst das Kiefergelenk sowie die Kaumuskulatur. Und du lässt endlich das raus, was dich fertig macht. Denn wir pressen die Zähne besonders dann aufeinander, wenn wir eigentlich schreien wollen, aber unsere Wut zurückhalten.

Neben diesen und vielen weiteren Wegen zum Stressabbau lohnt es sich auf jeden Fall, einmal die eigene Lebenssituation zu überprüfen. Was kannst du ändern, um dein Leben zu entstressen? Mehr zum Thema Stress findest du im zweiten Buchteil.

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Ich wäre gern abends so müde wie morgens – die Tiefschlaf-Hypothese

Hast du schon einmal Camping-Urlaub in Australien gemacht? Ich noch nicht, aber ich kenne mehrere Leute, die für ein paar Wochen von einem australischen Campingplatz zum nächsten gefahren sind. Und sie erzählen alle das Gleiche: Irgendwann abends wird es dunkel. Einfach so. Und das hört dann nicht nach ein paar Minuten wieder auf, sondern bleibt erst einmal so. Dunkel. Man kann nichts machen. Kein Kartenspiel, kein Federball, und einen Fernseher gab es sowieso nicht.

Gibt es einen „natürlichen“ Schlafrhythmus?

Was haben sie dann also gemacht? Nun ja, sie sind ins Bett gegangen. Und am nächsten Morgen sind sie wieder aufgewacht, als es langsam hell wurde und die Vögel ihre Stimme erhoben. Das Erstaunliche: Sobald sich die Camper zwei bis drei Nächte lang an diesen Rhythmus gewöhnt hatten, wachten sie jeden Morgen überdurchschnittlich fit und erholt auf.

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Autor

  • Christian Koch (Autor:in)

Christian Koch beschäftigt sich bereits seit zehn Jahren intensiv mit der menschlichen Gesundheit auf ihrer körperlichen wie psychischen Ebene. Eine starke Motivation waren seine Kopf-, Nacken- und Ohrenschmerzen sowie eine Blendeempfindlichkeit, für die kein Arzt eine Erklärung finden konnte und die sich letztlich als Symptome von Bruxismus herausstellten. Der Psychologische Berater (ALH), Ehe-, Partnerschafts-, Familienund Lebensberater (DAJEB) und Diplomtheologe lebt mit seiner Frau in einem Kinderdorf, ist in der Flüchtlings- und Integrationsberatung tätig und arbeitet als freier psychologischer Berater und Coach.
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Titel: Schluss mit Zähneknirschen