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Pimp your Brain!

Die ganzheitliche Fitness-Formel für Gedächtnis und Konzentration. Mit 33 Übungen fürs Gehirn

von Pepe Peschel (Autor:in)
144 Seiten

Zusammenfassung

Sie können sich nichts merken, sind unkonzentriert und stecken in den immer gleichen Denkschubladen fest? Digitale Lerneinheiten, Stress, ungesunde Ernährung und zu wenig Bewegung verhindern, dass lebendige Hirnstrukturen entstehen. Doch es geht auch anders! Pepe Peschel liefert mit ihrem ganzheitlichen Gehirn-Fitness-Ratgeber praktische Tipps für klare Gedanken und uneingeschränkte Konzentration: Wie verschafft man sich Glücksmomente, die das freie Assoziieren boosten? Welches Brainfood sorgt für frische Nervenzellen? Wie entstehen gut verknüpfte Hirnareale? 33 Memory-Übungen fördern zudem die Denkflexibilität, Gedächtnisstärke, Fantasie und Kreativität – Relaxzeiten und wohltuende

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


VORWORT

Schön, dass du da bist! Um Entscheidungen aus der Tiefe deines Herzens zu treffen, zu fühlen, was dein Weg ist, und zu wissen, wie du ihn am besten beschreiten kannst, brauchst du klare Gedanken und ein gut funktionierendes Gedächtnis. Wichtiges gilt es dabei vom Unwichtigen zu trennen und verfügbar zu machen. All das gelingt in der ganzheitlichen Verbindung von Körper, Seele und Geist. Dein Gehirn ist dein persönlicher Mikrokosmos aus deinem Wissen und deinen Erfahrungen, der dich und deine immerhin 100 Billionen Körperzellen durch den Alltag navigiert.

„Unser Gehirn hat sich entwickelt, weil wir einen Körper besitzen, nicht umgekehrt“, schreibt auch der namhafte Pionier der angewandten Gedächtnisforschung Paul E. Dennison: Gelerntes bleibt dann haften, wenn es von dem empfindenden Organismus aufgezeichnet wird – mit den Augen und Ohren, taktil und durch Bewegung. Um diese Ganzheitlichkeit und darum, dass die Lebendigkeit deiner Hirnstrukturen z. B. auch von körperlicher Aktivität abhängig ist, dreht sich alles in Pimp your brain. Nur in der Verbindung mit all unseren Daseinsebenen können wir richtig denken, etwas behalten und uns erinnern.

Liegt dir oft „etwas auf der Zunge“? Ist dein Gedächtnis „ein Sieb“? Oder stehst du regelmäßig „auf der Leitung“? Warum das manchmal so ist und wie du damit umgehst, erfährst du in diesem Buch. Auch wie dein Gehirn überhaupt lernt und etwas behält. Beispiel: Nicht nur genetische, auch Umweltfaktoren prägen deine Gedächtnisfunktionen. Unter dem Einfluss des Stresshormons Kortisol etwa ist der Gedächtnisabruf regelrecht blockiert. Das heißt, dein Wissen ist zwar vorhanden, du kommst jedoch aktuell nicht an die Informationen heran. Unsere digitalisierte Welt spielt ebenfalls eine große Rolle: Kommunikation verändert sich, ist in vielen Fällen anonym. Damit verändern sich unsere menschlichen Emotionen und Motivationen – und infolgedessen auch das Denken.

Dein Gehirn reift in erster Linie durch echte Interaktionen, wie die Hirnforschung zeigt. Es liebt die Abwechslung, es will spielen und sich immer wieder neu erfinden, statt auf Autopilot in ewig gleichen Abläufen dahinzuvegetieren. Denn wir sind Menschen – keine Maschinen. Wir blühen auf durch lebendigen Austausch face to face, durch Sport und aktive Bewegung. Durch intuitive Nachahmung, Erfahrung und selbstständiges Nachdenken. Immer neue Verbindungen, die auf diese Weise zwischen deinen Nervenzellen entstehen, können deinen Geist wachhalten. Wenn du spielerisch statt auf Leistung und Perfektion programmiert durch die reale Welt gehst und auch mal Verrücktes wagst.

In 33 spielerischen Memory-Übungen in allen Schwierigkeitsstufen kannst du etwas für deine Denkflexibilität, Gedächtnisstärke, Fantasie und Kreativität tun und deine grauen Zellen wirkungsvoll spazieren gehen lassen oder um den nächsten Tanz bitten. Auch an deinen Reiseproviant ist gedacht: mit Brain Food in bunter Vielfalt statt Einfalt auf dem Teller.

Ich wünsche dir bei alledem viel Spaß, unzählige Glücksmomente und eine neue körperliche wie geistige Freiheit – erfrischt und inspiriert!

BRAIN BASICS: WO DU DENKST, DASS DU DENKST

„Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.“ Wer Friedrich Schillers Ode An die Freude auswendig kann, wird den Text problemlos immer wieder rezitieren. Die Frage bleibt, ob reines Abspulen auch deine grauen Zellen vital hält? Die Antwort: Nein. Alles, was dein Gehirn schon kann, läuft nämlich unbewusst ab – quasi auf Autopilot. Gähn… Damit stellt es keine besondere Hirnleistung mehr dar. Und wenn eines für die Wissenschaft klar ist: Unser Gehirn will täglich aufs Neue herausgefordert werden. Nur, wo genau denken wir eigentlich? Lass uns gemeinsam hinter die Kulissen von Gehirn und Gedächtnis schauen.

„Wenn das Gehirn so einfach wäre, dass wir es
verstehen könnten, wären wir zu dumm, um es 
zu begreifen.“

Jostein Gaarder (norwegischer Schriftsteller)

Aus der Wüste in die Wissensflut

Lebenslang lernen – das ist möglich und kein Problem, heißt es oft. Vielleicht hast auch du diesen Satz schon einmal gehört. Super – und warum sind dann die Dinge nie dort, wo man sie hingelegt hat? Letzte Woche habe ich z. B. fieberhaft meinen Führerschein gesucht. Wie immer natürlich ausgerechnet, als ich dringend zu einem Kundentermin musste. Ich saß quasi schon im Auto und war bereits zu spät dran. Ich durchwühlte alle Jacken- und Handtaschen und war schließlich überzeugt, dass mir die Karte nur jemand gestohlen haben kann. Und dachte weiter: „Okay, dann muss ich das eben melden. Es gibt immer eine Lösung …“

Und da fiel es mir ein: Ich war tags zuvor im Schwimmbad gewesen, und mein Führerschein lag noch in dem kleinen blauweiß gestreiften Mäppchen, das ich immer in der Badetasche habe. Ich meine, wer geht schon mit Handtasche schwimmen? Nur hätte ich da ja auch schneller drauf kommen können, oder? Ob in meinem Fall der Knoten im Taschentuch, die wohl bekannteste aller Eselsbrücken, weitergeholfen hätte?

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Gedächtnisstützen und Erinnerungsmethoden gibt es bereits seit der Antike und werden unter dem Begriff Mnemotechniken zusammengefasst.

Mit Gedächtnisstützen versuchen Menschen seit jeher, Wichtiges zu behalten oder Wissenswertes für den Fall der Fälle abzuspeichern. Der Erfinder der Gedächtnishilfen, die unter dem Begriff Mnemotechniken (von griechisch mnemé, „Gedächtnis, Erinnerung“ und techné, „Kunst“) bekannt geworden sind, soll der altgriechische Lyriker Simonides von Keos (557/556–468/467 v. Chr.) sein. Als Redner bei einem Festgelage war er der Überlieferung nach nicht im Saal, als über der Festgesellschaft das Dach einstürzte und alle Gäste unter sich begrub. Entstellte Leichen, die nicht mehr identifizierbar waren, gaben entsprechend viele Rätsel auf: Wie sollten die Hinterbliebenen ihre Angehörigen erkennen, um sie beizusetzen? Simonides – nur knapp dem Tod entgangen – soll hier bei der Rekonstruktion der Vorgänge behilflich gewesen sein: Er erinnerte sich, wer an welchem Platz der Festtafel gesessen hatte und ermöglichte so den Familien, von den sterblichen Überresten ihrer Lieben Abschied zu nehmen. Ordnung, Anordnung und Assoziation rückten als wichtige Aspekte, die offensichtlich für ein gutes Gedächtnis maßgeblich sind, in den Fokus – die Mnemotechnik war geboren.

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Heute neu, morgen veraltet

Vor der Erfindung des Buchdrucks und der massenhaften Verbreitung von Schriftgut mussten die Menschen viel mehr Dinge im Kopf speichern. Außerdem war Papier teuer, und auch Lesen und Schreiben konnte nicht jeder. Für Rechtsgelehrte im Mittelalter beispielsweise oder für Kaufleute war das richtige Einprägen existenziell wichtig und spielte eine immense Rolle für ihren Alltag, denn Wissen und Informationen waren nicht so schnell verfügbar wie heute, sondern mussten mühselig zusammengesammelt werden.

Von den Vorteilen des Digitalzeitalters konnten unsere Vorfahren nur träumen – vielleicht wären sie aber auch völlig überfordert davon gewesen: Inzwischen leben wir in einer überinformierten Gesellschaft. Die Zeitspanne, in der sich menschliches Wissen verdoppelt, wird immer kürzer: 1950 waren es noch 50 Jahre, 1980 immerhin sieben und 2010 nur noch knapp vier Jahre. Die Angaben hierzu variieren, doch mittlerweile dürfte es sich wohl nur um wenige Monate handeln. Auch du hast sicher schon öfter mal genervt abgewinkt, wenn schon wieder Nachrichten ins Haus, aufs Smartphone oder Tablet flatterten. Nein, bitte nicht noch mehr Infos – Posts hier, Tweets dort, Blogs, E-Mails, Newsletter, Flyer, Broschüren, Handouts. Hilfe!

Wir verfügen zwar heute über zahllose Möglichkeiten, um unsere grauen Zellen zu entlasten. Wir nutzen die Erinnerungs- und Notizfunktion unseres Smartphones, speichern Tausende von Fotos auf CDs oder externen Festplatten, ordnen unsere Datenberge mithilfe von elektronischen Dokumentenmanagementsystemen, Onlinespeichern oder cloudbasierten Archiven. Unser Dilemma heute ist also weniger, Wissen zu generieren, sondern gezielt das für uns Entscheidende aus der täglichen Informationsfl ut auszuwählen und es uns vor allem auch dauerhaft zu merken, wenn wir das wollen oder vielleicht sogar müssen.

Benutze dein Gehirn, wirklich!

„Das große Problem ist nicht, dass wir immer mehr vergessen“, sagt auch Kirsty Meyer, Ergotherapeutin und Trainerin für Mentales Aktivierungstraining (MAT). „Vieles behalten wir bei der allgegenwärtigen Informationsflut erst gar nicht. Hinzu kommt, dass wir erst durch das Benutzen einer Information diese auch dauerhaft abspeichern – also uns überhaupt merken können.“ Beispiel: Noch in den 1980er-Jahren musste man für einen Anruf die betreffende Telefonnummer immer wieder wählen oder eintippen. Man musste sie im wahren Wortsinn benutzen. Damit wurde dem Gehirn reichlich Abwechslung statt gähnender Langeweile geboten: Heute ist es nur ein Tastendruck auf ein Foto oder Symbol. Würde man uns aber nach der konkreten Rufnummer des besten Freundes oder gar eines Familienmitglieds fragen, wir wüssten sie nicht (mehr). Damit unterfordern wir einerseits unser Gehirn. Auf der anderen Seite überfordern wir es durch die Informationsflut, die wir oft ungebremst auf uns einprasseln lassen. Fazit: Das digitale Multimediazeitalter bietet leider nicht die passenden Impulse für die schwammartigen knapp 1,5 kg Gehirn in deinem Kopf.

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Viele Bereiche des Gehirns wirken zusammen. Beispiel: Die Großhirnrinde (Kortex) besteht aus vier verschiedenen Lappen, darunter der Stirnlappen (blau). Von hier aus werden etwa Bewegungen und Handlungen geplant.

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Die Macht des Unbewussten

Der Neurobiologe Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig appellierte 2018 in der SWR-Teleakademie Wir sind Gedächtnis, dass wir aus reiner Gewohnheit viel zu oft auf ausgetretenen Denkpfaden wandeln. Die Folge dieser Monotonie im Denken ist ein vergleichsweise kleiner Informationspool in unserem Kopf. Verfügen wir nur über wenige Informationen, neigt unser Gehirn wiederum offensichtlich zu Übergeneralisierungen. Man könnte auch sagen: Es schert quasi alles über einen Kamm. Das sei übrigens auch eine der Grundlagen dafür, dass wir Vorurteile haben, so Korte. Und schon stecken wir, schwupp, dies und jenes in Schubladen – ob Lebewesen, Gegenstände, ein bestimmtes Umfeld oder Situationen. Das Gehirn meint es zwar gut mit uns, denn es will bei der Informationsverarbeitung Energie für andere Denkvorgänge sparen. Auf der anderen Seite stellt jede Denkschublade eine Begrenzung deines Denkens und Handelns dar – auch und vor allem im Hinblick auf die Zukunft.

Ein schönes Beispiel ist diese Geschichte des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace (1962–2008), die er zum Einstieg eines Vortrags vor Collegeabsolventen hielt: Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu: „Morgen, Jungs. Wie ist das Wasser?“ Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: „Was zum Teufel ist Wasser?“

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Diese Geschichte zeigt im übertragenen Sinne auf, wie sehr wir von Gewohnheiten und Annahmen geprägt sind – das Prinzip: Autopilot. Dieser hat in der Geschichte die Wahrnehmung der beiden jungen Fische sogar derart verändert, dass sie das Medium Wasser – ihren eigenen Lebensraum – nicht wirklich als solchen erkennen. Und so geht es oft auch uns. Wir schalten auf Autopilot, freilich häufig unbewusst, denken in Schubladen und berauben uns damit vieler auch zwischenmenschlicher Erfahrungen. Wir verzichten auf die Faszination täglicher Glücksmomente, sind blind für das Entdecken neuen Wissens, das Erobern verlockender Ziele und lassen mitunter auch positive Überraschungen und Geschenke des Lebens sang- und klanglos an uns vorüberziehen, weil wir sie gar nicht sehen.

Neurowissenschaftler Korte weiter: „Durch ganz viele Wahrnehmungen, die wir haben, über den Aufbau von Zeitschriften und Büchern, über das, wie unsere Kultur funktioniert: Wir vorkonfigurieren, wie wir die Welt sehen – und können sie dann auch gar nicht mehr anders sehen.“ Das passiere vor allem dann, wenn wir bestimmte Abläufe öfter erleben und immer schneller wiedererkennen. Und sie deswegen auch wunderbar zu unserer vorgefertigten Meinung passen bzw. diese scheinbar bestätigen. Martin Korte nennt das auch die Macht des unbewussten Gedächtnisses. David Foster Wallace brachte es in seinem Vortrag so auf den Punkt: „Die naheliegende Pointe der Fischgeschichte ist, dass die offensichtlichsten, allgegenwärtigsten und wichtigsten Tatsachen oft die sind, die am schwersten zu erkennen und zu diskutieren sind.“

Um aus den oft verhängnisvollen eingefahrenen Gewohnheiten herauszukommen und damit auch Wege für das freie Denken und die individuelle Weiterentwicklung aufzubrechen, um also überhaupt nur den Ansatz einer Chance für realistische Wahrnehmung ohne Denkschubladen zu haben, braucht es deswegen zuallererst deine klare Entscheidung, den Blickwinkel ändern zu wollen. Die Trampelpfade im Kopf bewusst zu verlassen. In seinem Buch This is water inspirierte David Foster Wallace zu jenen neuen Denkmöglichkeiten, die sich z. B. in einem übervollen Supermarkt kurz vor dem Wochenende oder den Feiertagen in der Warteschlange an der Kasse üben lassen – weil nichts unmöglich ist. Auch nicht das, was unwahrscheinlich anmutet. Denn Gewohnheiten sind „mentale Abkürzungen“, wie es die Sozialpsychologin Wendy Wood von der University of Southern California ausdrückt. Und wenn wir erst einmal anfangen, im Denken neue Wege zu beschreiten, kann dies nicht nur neue Türen öffnen und unser Leben verändern bzw. bereichern – wir ebnen damit auch den Weg zu einem besseren Gedächtnis.

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This is water: Du hast immer eine Wahl!

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„An den meisten Tagen, an denen Sie aufmerksam genug sind und die Wahl haben, können Sie sich aber entscheiden, die fette, bräsige, aufgebrezelte Frau, die in der Supermarktschlange gerade ihr Kind angeschnauzt hat, mit anderen Augen zu sehen – vielleicht ist sie sonst nicht so; vielleicht hat sie gerade drei Nächte lang nicht geschlafen, weil sie ihrem an Knochenkrebs sterbenden Mann die Hand gehalten hat; vielleicht hat genau diese Frau auch den unterbezahlten Job im Straßenverkehrsamt und hat gestern erst ihrem Mann geholfen, durch einen kleinen Akt bürokratischer Güte einen albtraumhaften Papierkrieg zu beenden. Das alles ist natürlich unwahrscheinlich, deswegen aber nicht unmöglich – es hängt nur alles von Ihrer Perspektive ab.

Wenn Sie automatisch sicher sind, dass Sie wissen, was Wirklichkeit ist und wer und was wirklich wichtig ist – wenn Sie gemäß Ihrer Standardeinstellung operieren wollen, dann werden Sie wahrscheinlich genauso wenig wie ich über Alternativen nachdenken, die nicht sinnlos sind und nerven. Wenn Sie aber wirklich zu denken gelernt haben und aufmerksam sein können, dann wissen Sie, dass Sie eine Wahl haben. Dann steht es in Ihrer Macht, eine proppenvolle, heiße und träge Konsumhölle als nicht nur sinnvoll, sondern heilig anzusehen, weil sie mit einer Energie geladen ist, die Sterne erschaffen konnte – Anteilnahme und Liebe, die unterschwellige Einheit aller Dinge. […] Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag. Das ist wahre Freiheit. Das heißt es, Denken zu lernen.“

aus: David Foster Wallace: Das hier ist Wasser, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 18. Auflage 2018, S. 28–29.

Kontaktkünstler Gehirn

Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass das Gehirn von der dauerhaften Änderung von Synapsen – den Kontaktstellen zwischen deinen Nervenzellen – lebt: Nur durch stetig neue Verbindungen dieser Synapsen können die Zellen deines Gehirns offensichtlich Erinnerungen nachhaltig speichern und bei Bedarf auch wieder abrufen. Das ist eine Erkenntnis, der die Automatismen, wie ich sie oben beschrieben habe, oft konträr gegenüberstehen.

Zu unseren „mentalen Abkürzungen“ gehören auch virtuelle Assistenten wie Alexa, derer wir uns im Alltag oft bedienen. Smarte Technologien erleichtern zwar zweifelsohne das Leben, die für deine lebenslange Gehirngesundheit wichtigen neuen Impulse bleiben jedoch aus. Auch Gedichte rauf- und runterrasseln zu können, wie die eingangs erwähnte Ode Schillers, gehört leider nicht in die Trickkiste für fitte graue Zellen. Ebenso wenig klassische Empfehlungen für Gedächtnistraining, wie z. B. das viel zitierte Kreuzworträtsel oder Sudoku – zumindest dann nicht, wenn du diese Aufgaben ohnehin schon quasi im Schlaf beherrschst. Überrascht? Dann ist es Zeit, dir neue Herausforderungen zu suchen, damit die immer gleichen Abläufe dein Gehirn nicht vollends anöden und regelrecht verkümmern lassen.

Gestatten, mein Name ist Neuron …

Dein Gehirn besteht immerhin aus sage und schreibe rund 86 Milliarden Neuronen. Das sind die Nervenzellen, die gefordert werden wollen! Sie verfügen wie jede Körperzelle über einen Zellkörper. Die Körper der Neuronen haben aber zusätzlich zwei Typen von Fortsätzen – die Dendriten und die Axone. Und was Neuronen damit können, passiert in einer unvergleichlichen Präzision: Jederzeit leiten Dendriten, quasi die Eingangskabel, Signale in den Zellkörper. Ist das Signal bearbeitet, wird ein Ausgangssignal erzeugt und dafür die Ausgangskabel, die Axone, genutzt.

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Sie beherrschen Networking in Reinkultur: die 86 Milliarden Nervenzellen deines Gehirns.

Alles in allem bilden deine Nervenzellen ein System von höchster Kontinuität und Leistungsbereitschaft – um Denken und Lernen, Handeln und Verhalten, Leben und Leisten möglich zu machen. Dazu verfügt jedes Neuron über 1000 bis 10.000 (!) Synapsen, mithilfe derer deine Nervenzellen untereinander kommunizieren. Permanent entstehen also billionenfach neue Nervenzellverbindungen, die dein Gehirn zu einem gigantischen Kontaktkünstler formieren, mit dem du Informationen aufnehmen, bewerten und verarbeiten kannst. Alles, was mit der Entwicklung unseres Gehirns zu tun hat, beruht auf Wachstum und Veränderung dieser Verbindungen.

Das Kurzzeitgedächtnis: begrenzte Aufmerksamkeit

Bei der Informationsverarbeitung benutzt dein Gehirn viele verschiedene Areale. Dein Großhirn z. B. ist evolutionsgeschichtlich gesehen der jüngste Teil des Gehirns. Er wird von der stark gefurchten Großhirnrinde, dem Kortex, umhüllt und umfasst die beiden Großhirnhälften (Hemisphären). Das Großhirn heißt übrigens deswegen so, weil es rund 80 Prozent des gesamten Hirnvolumens ausmacht. Ohne Großhirn kein Bewusstsein, kein Denken und Gedächtnis.

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Das Arbeitsgedächtnis hat nur begrenzte Kapazitäten und fungiert als Zwischenspeicher für neue Informationen.

Neu eintreffende Erfahrungen und Informationen landen zunächst im „Arbeitsspeicher“, deinem Arbeitsgedächtnis. Seine Strukturen befinden sich u. a. im Scheitellappen vor allem der linken Hemisphäre und im präfrontalen Kortex (PFC), auch Stirnhirn genannt. Dieses wiederum ist Teil deines Stirnlappens (siehe Seite 10). Viele kennen statt Arbeitsgedächtnis auch den Begriff Kurzzeitgedächtnis. Gemeint ist dasselbe – die zentrale Organisationseinheit, die deine Aufmerksamkeit steuert und kurzzeitig erworbene Gedächtnisinhalte verarbeitet. Hier bewältigst du deinen Alltag, planst, denkst, bist „vernünftig“ und triffst Entscheidungen. Das Arbeitsgedächtnis hilft dir auch dabei, zukünftige Ereignisse auf Basis bereits gemachter Erfahrungen einzuschätzen. Dazu kann es auf im Langzeitgedächtnis abgelegte Daten zurückgreifen und diese praktisch reaktivieren.

Bei Menschen, die an der Börse arbeiten oder in einem Umfeld, in dem am laufenden Band rasche Entscheidungen gefordert sind, ist das Stirnhirn besonders stark ausgeprägt, fanden Forscher der Universität von Iowa heraus. Die Kehrseite: Passiert etwas außerplanmäßig – der viel zitierte „Zufall“ –, sortiert das Gehirn auch diese Ereignisse in bekannte Abfolgen ein, was durchaus zu falschen Prognosen und Einschätzungen führen kann.

Damit überhaupt Informationen aus der Umwelt in dein Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis eingehen können, verfügst du zudem über ein sensorisches Gedächtnis. Es bildet deine Verbindung zur Außenwelt und wird auch sensorisches Register oder Ultrakurzzeitgedächtnis genannt. Reize, die aus der Außenwelt auf dich einprasseln, werden dort weitestgehend unbewusst verarbeitet. Das heißt: Nicht jeden Reiz, z. B. die Geräusche eines vorbeifahrenden Autos, wenn du gerade im Büro oder beim Essen sitzt, nimmst du bewusst war.

Das macht auch Sinn, denn es sind sage und schreibe immerhin rund elf Millionen flüchtige Sinneseindrücke pro Sekunde, die auf uns einwirken (darunter bei mir momentan der Druck der Nackenstütze meines Bürostuhls oder der Geschmack meines dampfenden Tees). Diese Sinneseindrücke werden in Windeseile geprüft, sortiert und größtenteils auch prompt wieder vergessen. Stell dir vor, wie heillos überfordert wir ohne diesen Mechanismus wären. Übrigens: Die Gesamtkapazität des sensorischen Speichers ist nahezu unbeschränkt groß. Wobei nach Angaben des Neuropsychologischen Therapiezentrums an der Ruhr Universität Bochum alles, was wir hören, mit immerhin zwei bis drei Sekunden wesentlich länger zwischengespeichert wird als visuelle Reize, die es nur auf 250 bis 500 Millisekunden bringen.

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Im Arbeitsspeicher – als erstem bewussten Teil deines Gedächtnisses – sieht es da schon anders aus: Die Kapazitäten hier sind auf gerade einmal fünf bis neun Informationseinheiten begrenzt. Dafür können diese bis zu wenigen Minuten behalten werden. Das wiederum funktioniert offensichtlich umso besser, je fokussierter und leidenschaftlicher du bei der Sache bist. Sowohl die Verarbeitungsgeschwindigkeit neu eintreffender Informationen als auch die Merkspanne definieren nämlich die Power deines Arbeitsgedächtnisses.

Dass hier Fakten bei ungeteilter Aufmerksamkeit am besten aufrechterhalten werden, erlebst du in deinem Alltag oft. Beispiel: Für eine Transaktion im Netz erhältst du einen Security Key aufs Smartphone. Bis du diesen eingegeben hast, um die Transaktion abzuschließen, murmelst du ihn wahrscheinlich mehrmals vor dich hin: 8-7-6-5-4-3-2-1. Auf diese Weise erhältst du die für dich wichtige Information aufrecht. Klingelt aber zwischendrin das Telefon oder wirst du auf andere Weise abgelenkt, bevor du den Key eingegeben hast, kann er in deinem Gedächtnis wieder verloren gehen. Der Grund: Die neue Information, die durch die Unterbrechung auf dich einwirkt, rennt das, was du dir vor wenigen Sekunden noch merken konntest, in etwa so uncharmant über den Haufen, wie jemand beim Bäcker, der sich bei der Frage, wer als Nächstes dran sei, lauthals „Ich!“ rufend in den Vordergrund spielt. Und schon ist der Security Key im Kopf weg. Also nimmst du das Smartphone erneut zur Hand und beginnst von vorne.

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Ich vermute, in diesem Zusammenhang muss auch die bekannte Redensart „Ich habe ein Gedächtnis wie ein Sieb“ entstanden sein, oder „Der erste Gedanke ist nicht immer der beste“ bis hin zu „Die besten Gedanken kommen einem immer hinterher“. Ich habe für mich inzwischen einen sehr wirkungsvollen Glaubenssatz entwickelt, sollte ich etwas vergessen: „Was soll’s. Wenn es wichtig ist, taucht es zur richtigen Zeit wieder in meinen Gedanken auf.“ Und was soll ich dir sagen: Genauso ist es, jedes Mal! Glaube versetzt eben doch Berge. Aber dazu später mehr auf Seite 33.

Das Langzeitgedächtnis: Wer hat dich zuerst geküsst?

Hat es eine Information auf ihrer Reise durch einen hochkomplexen, mehrstufigen Prozess bis in dein Langzeitgedächtnis geschafft, befindet sie sich schließlich an dem Ort deiner Großhirnrinde, wo all das sitzt, was du bisher in deinem Leben erfahren, erlebt und gelernt hast.

Eine wichtige Schnittstelle zur Überführung von Inhalten aus dem Kurz- in das Langzeitgedächtnis ist der Hippocampus. Er heißt so, weil er die gewundene Form eines Seepferdchens hat. Wäre er beschädigt, würdest du nichts Neues mehr behalten können. An Ereignisse aus deiner Kindheit, die schon lange vor der Schädigung ins Langzeitgedächtnis gelangt sind, würdest du dich dagegen weiterhin erinnern können. Der Datentransfer in dein Langzeitgedächtnis gleicht übrigens der automatischen Installation eines nächtlichen Updates: Während du schläfst, werden die relevanten Daten überführt – natürlich nicht in Echtzeit, sondern wie bei einem Film, den du ganz schnell bis zu der für dich wichtigen Stelle vorwärtsspulst.

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Auch tiefer liegende Strukturen gehören zum Großhirn: Hier der Hippocampus, der Gedächtnisinhalte vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis überführt.

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Der Gehirn puzzelt gerne: Du hast nicht nur ein Gedächtnis, sondern mehrere Gedächtnisse.

Im Langzeitgedächtnis erfreuen sich die neu eingegangenen Informationen eines großzügigen Zuhauses – ein riesiger dauerhafter Speicher, der viele Jahre und Jahrzehnte erhalten werden kann: Wer war der erste Bundeskanzler von Deutschland? Was hast du gerade gemacht, als du vom Einsturz der New Yorker Zwillingstürme des World Trade Centers erfahren hast? In welcher Stadt bist du geboren? Wer hat dich zuerst geküsst? Oder auch: Welcher Idiot hat dir so fies das Herz gebrochen? Wenn wir uns etwas wiederholt intensiv vergegenwärtigen, kommen Mechanismen ins Rollen, die dafür sorgen, dass neue Gedächtnisspuren angelegt werden.

Zu den Formen des Langzeitgedächtnisses gehört etwa das deklarative Gedächtnis, in dem Dinge, Menschen, Sachverhalte, Orte, Erlerntes und Ähnliches abgespeichert werden – entweder faktenbezogen oder ereignisbezogen. Besonders faszinierend: Die Erinnerung an eine bestimmte Person z. B. wird nicht etwa in einem einzigen Bereich abgelegt. Du musst es dir eher wie ein Puzzle vorstellen: Dein Gedächtnis setzt die verschiedenen Informationen zu Aussehen, Stimme und Sprache oder zu bestimmten Farben der Kleidung der Person aus den entsprechenden Gehirnarealen zu einem großen Ganzen – dem sensorischen Eindruck – zusammen. Und yippie, du erkennst denjenigen, der da vor dir steht. Man könnte auch sagen: Du hast nicht nur ein, sondern mehrere Gedächtnisse.

Zum Langzeitgedächtnis gehört auch das prozedurale oder implizite Gedächtnis. Dort werden deine motorischen Fertigkeiten wie Fahrradfahren oder Inlineskaten und liebgewonnene Gewohnheiten gespeichert. Fertigkeiten, die du ohne darüber nachzudenken automatisch einsetzen kannst. Sie befinden sich u. a. im Kleinhirn, das beispielsweise auch dafür sorgt, dass du im wahren Sinne des Wortes im Gleichgewicht bleibst.

Deine Welt ist nur deine

Eine Voraussetzung dafür, dass Inhalte im Langzeitgedächtnis ankommen, ist, dass dich die Informationen, die du deinem Gehirn als Futter vorsetzt, wirklich interessieren. Mit anderen Worten: Es bringt nichts, Inhalte zu pauken und dir merken zu wollen, die dir total auf den Keks oder gegen deine Überzeugung und Lebensphilosophie gehen. Auch das kennst du wahrscheinlich: Da ist es wieder, das Sieb im Gedächtnis …

Nur mit der entsprechenden Aufmerksamkeit und Konzentration für das, was uns wirklich mit Kopf und Herz packt und neugierig auf mehr macht, startet der eigentliche Gedächtnisprozess. Wie höchst individuell das bei jedem von uns passiert, zeigt dieses Beispiel: Ein Paar fährt gemeinsam in den Urlaub und berichtet nach der Rückkehr beim Dinner mit Freunden. Sie: „Der Leuchtturm, das war einfach romantisch. Es hat mich an die Hochzeit meines Cousins erinnert, der seiner Frau in genau so einem Leuchtturm das Jawort gegeben hat.“ Er: „Was für ein Leuchtturm? Schatz, du musst dich irren, da war kein Leuchtturm. Wir waren doch an diesem Strand, um die Wakeboarder zu beobachten.“

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Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Jedem von uns ist etwas anderes wichtig, jeder hat eine andere Sichtweise und Wahrnehmung, verbunden mit einzigartigen Emotionen – und nicht zuletzt aufgrund der schon beschriebenen Denkpfade. Wenn du dir das immer wieder bewusst machst, wirst du schon alleine dadurch entspannter und toleranter durch die Welt gehen: Jeder Mensch, dem du begegnest, hat andere Überzeugungen und Glaubensmuster, die ihn leiten. Es gibt so viele verschiedene Welten, wie es Menschen gibt. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet ist es eigentlich ein Wunder, dass wir Menschen überhaupt miteinander auskommen können.

Das limbische System

Dein Gehirn steuert emotionale Zustände übrigens aus tiefer liegenden Strukturen: dem limbischen System. Dieses legt sich ringförmig wie ein Flaschenhals um deinen Hirnstamm. Wichtige Strukturen des limbischen Systems sind u. a. der schon erwähnte Hippocampus, die Amygdala – auch Mandelkern genannt – und die für die Feinabstimmung deiner Bewegung zuständigen Basalganglien. Der Job dieser Strukturen ist enorm verantwortungsvoll: Es muss permanent bewertet werden, welche Ergebnisse aus einem bestimmten Verhalten resultieren. Oberstes Ziel: Selbstschutz – also das Überleben deines Organismus zu sichern. Bei jeder neuen Wahrnehmung werden deswegen alte Ergebnisse aufgerufen, mit der neuen Erfahrung verglichen und wieder neu in das System eingeordnet.

Die zentrale Verarbeitung von Gefühlen kommt dem Mandelkern zu, insbesondere, wenn es um Angst und Furcht, quasi das nackte Überleben geht. Alle eingehenden Informationen werden vom Mandelkern sorgfältig daraufhin überprüft, ob sie womöglich eine Gefahr für dich darstellen. Beispiel: Bei großem Stress leitet der Mandelkern die darauffolgenden Reaktionen wie Angriff oder Fluchtverhalten ein. Oder auch – bei angenehmen Überraschungen – warme und starke positive Gefühle wie Freude oder Lust. Unterm Strich entscheidet sich im limbischen System auf der Basis dieser kraftvollen Gefühle und gemachter Erfahrungen, was sich für dich lohnt, dauerhaft behalten zu werden (z. B. das Erreichen eines bestimmten Ziels wie ein neuer Job, eine neue Wohnung usw.).

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Du erinnerst dich: Erfolgreiche Gedächtnisprozesse resultieren aus Inhalten, denen wir unsere volle Aufmerksamkeit – mit Lust und Interesse – entgegengebracht haben. Damit ist das limbische System vereinfacht gesagt auch Garant dafür, dass Wissen – mit Hilfe des Hippocampus – seinen Weg vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis nimmt, im richtigen Zusammenhang abgespeichert wird und auch wieder erinnert werden kann (siehe Seite 20). Etwas wiedererkennen oder wiederfinden, sich im Raum orientieren und zurechtzufinden, all das ermöglicht ebenfalls das limbische System.

BRAIN INFLUENCER: WAS GEDANKEN DENKEN LÄSST

Dein Gedächtnis bestimmt nicht nur dein Denken und Handeln im Hier und Jetzt, sondern auch deine Wahrnehmung in der Zukunft. Wie diese Wahrnehmung ausfällt, unterliegt von Geburt an einer Fülle von Einflussfaktoren wie Geschlecht, Schlafqualität, Angst und Stress, Miteinander und Gemeinschaft. Annahmen und Glaubenssätze, Überzeugungen oder auch Vorurteile programmieren dich zudem auf eine bestimmte Sicht der Welt. Leider lassen sie dich aber auch Dinge übersehen, so dass du mitunter dein Potenzial nicht optimal ausschöpfst und hinter deinen Möglichkeiten zurückbleibst. Werde dir einiger grundlegender Aspekte bewusst, die dein Gehirn und seine Stärke beeinflussen. Auf den nächsten Seiten stelle ich sie dir vor.

„Nicht die Umstände bestimmen des Menschen
Glück, sondern seine Fähigkeit zur Bewältigung
der Umstände.“

Aaron Antonovsky (Soziologe, 1923–1994)

Lernfähig in jedem Alter

Die Gehirnmasse eines Babys wächst im ersten Lebensjahr von circa 250 auf 750 g an, sie wächst also mit einer enormen Geschwindigkeit. Wissenschaftler gehen davon aus, dass das komplexe Netzwerk Gehirn dennoch erst im Alter von etwa 25 Jahren ausgereift ist bzw. den Höhepunkt seiner geistigen Leistungsfähigkeit erreicht. Allerdings: Bereits als Dreijähriger bevorzugt der Mensch für seine weitere Reifung bestimmte Denkbahnen, die er bereits gelernt hat, und die ihn tief greifend geprägt haben. Schon das Kleinkind ist also nicht mehr, wie oft angenommen wird, für alle Reize uneingeschränkt offen.

Intelligenz ist flüssig

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Dass es im Alltag reibungslos läuft, ist der Job deiner „flüssigen Intelligenz“.

Die gute Nachricht: Im gesamten Lebenszyklus werden permanent neue Synapsen gebildet und damit verschiedene Gehirnareale immer wieder neu verknüpft. Dein Gehirn kann also in jeder Lebensphase kompetent und fit „im Amt“ bleiben. „Das Gehirn ist grundsätzlich in jedem Alter lernfähig“, bestätigt Gedächtnistrainerin Kirsty Meyer. „Sogar bei fortgeschrittener Demenz hat man festgestellt, dass immer noch ein Lernen möglich ist.“ Vor allem die sogenannte fluide, die „flüssige“ Intelligenz profitiert dabei offensichtlich generell von Bewegung und ausreichend körperlicher Aktivität (siehe Seite 116).

Fluide und kristalline Intelligenz

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Diese beiden Begriffe aus der Psychologie beschreiben zwei Formen der kognitiven Leistung:

Fluide Intelligenz bedeutet eine hohe Auffassungsgabe: wie schnell du neue Situationen verstehst, Informationen verarbeiten und reagieren kannst. Wir benötigen sie aber auch für intuitives adäquates Handeln, wenn wir uns etwa auf vollkommen unbekanntem Terrain befinden. Oder für die Fähigkeit, ohne Zögern das für uns Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Auch mehrere Dinge parallel auszuführen und koordinieren zu können, verdanken wir „fluider Intelligenz“. Ein Beispiel: Beim Treppensteigen gleichzeitig in der Tasche nach dem Wohnungsschlüssel zu suchen, ist für viele selbstverständlich. Im Alter können derartige Doppelaufgaben jedoch zu Gangunsicherheit oder sogar Stürzen führen, wenn die fluide Intelligenz nicht regelmäßig trainiert wird.

Kristalline Intelligenz nimmt mit den Jahren zu und kann jungen unerfahrenen Gehirnen den Rang ablaufen. Die „kristalline Intelligenz“ ist dein riesiger Erfahrungsschatz erlernten Wissens, ein unverzichtbarer Informationsspeicher und Expertenwissen, das sich u. a. in beeindruckender sprachlicher Gewandtheit und Ausdrucksstärke äußern kann.

Generell gilt: Um die fluide Intelligenz zu erhalten, sollte sie im Idealfall ab dem dritten Lebensjahrzehnt regelmäßig trainiert werden. Dass sich bei entsprechend guten Bedingungen die Gedächtnisleistungen bei auch ansonsten gesunden Menschen mit den Jahren nicht erheblich verschlechtern, bestätigen wissenschaftliche Untersuchungen.

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Die Gedächtnisleistungen eines 80-jährigen Menschen sind besser als die eines Neunjährigen.

Schluss mit Mythen

Erfahrung und Weisheit kann oft Defizite in anderen Bereichen wettmachen. Zwar verändern sich Gedächtnisleistungen, können jedoch z. B. bei einem 80-jährigen Menschen besser als bei einem Neunjährigen sein, wenn auch schlechter als bei einem 30-Jährigen. Dennoch: Dachte man früher, ein geistiger Abbau oder Gedächtnisstörungen seien unausweichliches Schicksal, ist die Wissenschaft heute weiter. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Matthias W. Riepe formulierte es so: „Karies ist im Alter noch häufiger. Doch niemand hat je gedacht, dass Karies zum physiologischen Alterungsprozess gehört.“ Oder hat dich schon einmal jemand auf Alterskaries angesprochen? Ein treffender Vergleich, wenn man bedenkt, dass die Variabilität von Gedächtnisleistungen, die „kristalline Intelligenz“, bei reiferen Menschen sogar größer ist – sofern nicht andere Erkrankungen vorliegen, die ihrerseits das Gedächtnis beeinflussen können, beispielsweise Infektionen, Durchblutungsstörungen oder Stoffwechselerkrankungen. Fakt ist: Insgesamt gehen etwa 20 bis 25 Prozent aller Hirnleistungsstörungen auf mehr als nur eine Ursache zurück.

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20 bis 25 Prozent aller Hirnleistungsstörungen gehen auf mehr als nur eine Ursache zurück.

Demenz und Vitamin D

Zu den neurodegenerativen Erkrankungen, die mit einem Verlust von Nervenzellen und Zellfunktionen einhergehen, gehört neben der Parkinson-Krankheit (die vor allem durch einen Mangel an Dopamin hervorgerufen wird, ein Botenstoff, der Signale von einer Nervenzelle auf eine andere überträgt) auch die Demenz. Diese beschreibt ein Syndrom, das verschiedene Ursachen haben kann. Die Alzheimer-Krankheit ist für das Auftreten von Demenzsymptomen mit 60 bis 70 Prozent die häufigste Ursache.

In Deutschland leben gegenwärtig rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten sind von Alzheimer betroffen. Die Wahrscheinlichkeit für Demenz steigt mit den Lebensjahren: Sind in der Altersgruppe von 70 bis 74 Jahren noch unter vier Prozent betroffen, so sind es bei den 80- bis 84-jährigen bereits mehr als 15 Prozent, bei den über 90-jährigen sogar 41 Prozent. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft weist darauf hin, dass in Einzelfällen auch unter 65-Jährige erkranken können.

Charakteristisch ist der langsam fortschreitende Untergang von Nervenzellen und Nervenzellverbindungen, wobei Gehirne von Alzheimer-Erkrankten typische Eiweißablagerungen (Amyloidplaques) zeigen. Die Symptome wie Sprachstörungen oder Probleme im Denken oder der Orientierung sind unterschiedlich stark ausgeprägt. In jedem Fall machen sie jedoch ein normales Alltagsleben immer schwieriger. Ursächlich sind genetische Faktoren bekannt. Eine große Rolle spielt zudem der Lebensstil: Ernährung, ausreichend Bewegung und auch soziale Kontakte und das Eingebundensein in Beziehungen, in denen Menschen sich wohl- und geborgen fühlen. Ein weiterer ursächlicher Aspekt, der zunehmend die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, könnte auch ein Vitamin-D-Mangel sein.

Vitamin D ist eigentlich ein Hormon, das du sicherlich hinsichtlich seiner Bedeutung für starke Knochen kennst. Es steht aber auch für kräftige Muskeln, eine gute Immunabwehr, gesunde Blutgefäße und sogar strahlend gute Laune. Wissenschaftler der Universität Exeter fanden Hinweise darauf, dass zu niedrige Vitamin-D-Konzentrationen auch das Demenzrisiko erhöhen. An den Nervenzellen im Gehirn wurden Vitamin-D-Rezeptoren gefunden. Vitamin D wiederum (bzw. seine biologisch aktive Form Calcitriol) beeinflusst offensichtlich die Produktion bestimmter Wachstumsfaktoren für die Nerven. Weitere Studien weisen darauf hin, dass Vitamin D im gesamten Zentralnervensystem vielfältige Funktionen hat.

Ob Mensch oder Katze – alle Wirbeltiere synthetisieren Vitamin D mithilfe des UV-Lichts in ihrer Haut. Beim Menschen geht die natürliche Fähigkeit zur Eigensynthese im Alter um bis zu 75 Prozent zurück. Auch kann die Umwandlung des sehr geringen Vitamin-D-Anteils, der über die Nahrung zugeführt wird (z. B. aus Makrele, Kalbsleber, Eiern, Briekäse oder Shiitake-Pilzen), mit zunehmenden Lebensjahren aufgrund von Vorerkrankungen gestört sein.

Zauberwort Empathie

Dein Gehirn liebt nicht nur bunte Abwechslung. Es möchte auch ausgiebig in sozialen Kontakten baden. Ist dein Gehirn in ein entsprechendes lebendiges Netzwerk eingebunden, ist die Motivation besonders groß, zu lernen und sich ein Leben lang weiterzuentwickeln. Sozial von anderen abgekapselt zu sein, empfinden wir dagegen eher als Strafe, die automatisch auch zulasten der Gedächtnisstärke geht. Die Lösung: ein uneingeschränktes Miteinander der Generationen, wie es beispielsweise in südlichen Ländern und anderen Kulturen ganz selbstverständlich praktiziert wird.

Mach dir an dieser Stelle bitte noch einmal bewusst, dass viele Begrenzungen, die dich daran hindern, deine Potenziale voll auszuschöpfen und die beste Version deiner selbst zu werden, oft nur in deinem Kopf existieren und hausgemacht sind. Bezogen auf deine grauen Zellen heißt das: Im echten Gespräch (nicht über dein Smartphone & Co.!) oder in der lebhaften Diskussion sind deine Nervenzellen besonders aktiv. Das lässt sich auch gezielt ausnutzen.

Übe dich z. B. öfter im aktiven Zuhören und greife auf diese Weise auf deine natürliche Empathiefähigkeit zurück. Das kann deine Wahrnehmung deutlich steigern. Beim aktiven Zuhören geht es darum, sich im persönlichen Gespräch uneingeschränkt auf das Gegenüber einzulassen, Blickkontakt zu halten und mit der eigenen Meinung eher zurückhaltend zu bleiben. Bleib stattdessen neugierig und frage bei Unklarheiten nach. Wiederhole Aussagen mit deinen eigenen Worten und beobachte, wie diese inhaltlichen Wiederholungen das gesamte Gespräch verändern und lenken können. Versuche auch die Gefühle des anderen zu erkennen und diese gegebenenfalls anzusprechen. Natürlich solltest du immer auch auf deine eigenen Gefühle achten. Aber beispielsweise auch geduldig bleiben und den anderen ausreden lassen – auch wenn das mal schwerfällt.

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Übst du dich auf diese Weise regelmäßig in Empathie, stellt das nicht nur ein hervorragend buntes Festival für deine Synapsen dar. Du tauchst auf diese Weise auch in die hohe Kunst der Achtsamkeit ein, die deinen Geist klären und dich insgesamt gelassener machen kann.

Der kleine Unterschied

Apropos Empathie: Kommen wir zum Unterschied zwischen den Geschlechtern. Eine Region in deinem Gehirn, die das weibliche bzw. männliche Sexualverhalten beeinflusst, ist dein Hypothalamus, ein Gehirnareal im Zwischenhirn. Diese Schaltzentrale reguliert u. a. auch deinen Wärme- und Wasserhaushalt, koordiniert deinen Blutdruck und steuert die Produktion von Hormonen. Untersuchungen der 1990er-Jahre gehen wiederum davon aus, dass nicht nur die Sexualität, sondern auch typisch männliche oder typisch weibliche Verhaltensweisen durch Hormone gelenkt werden. Die kanadische Neuropsychologin Doreen Kimura (1933–2013) hat in diesem Zusammenhang Tests zu bestimmten kognitiven Leistungen durchgeführt. Demnach unterscheiden sich Männer und Frauen in der Art, wie sie intellektuelle Probleme lösen. Frauen, so Kimura, sind in verbalen und feinmotorischen Aufgaben überlegen, wohingegen Männer bei spezifischen räumlichen Aufgaben besser abschneiden. Das kann zwar nicht pauschal gelten, weil auch Emotionen, Motivationen und unsere Sozialisation einen großen Einfluss haben und unsere höchst individuelle Auseinandersetzung mit der Umwelt Verhalten verändern kann. Spannend sind diese Ergebnisse dennoch.

Wie Annahmen Ergebnisse bestimmen

Wie stark Gefühle und Vorannahmen Gedächtnisleistungen beeinflussen, zeigen weitere Studien, die sich damit beschäftigen, wie bedeutsam die emotionale Haltung und soziale Prägung für deinen Lernerfolg ist. Ein Phänomen, dem Ilan Dar-Nimrod von der Universität Sydney und der Kulturpsychologe Steven J. Heine von der Universität British Columbia in Vancouver nachgingen. Im Fokus dieser Studie stand der Aspekt des „stereotype threat“, wörtlich übersetzt die stereotype Bedrohung, nach der Mitglieder einer sozialen Gruppe exakt die Vorurteile erfüllen, die sie durch die Außenwelt diktiert bekommen. Ein Teil der Probandinnen wurde vor dem Lösen mathematischer Aufgaben mit einem entsprechenden Text zur Leistungsfähigkeit oder besser gesagt -unfähigkeit ihres Geschlechts konfrontiert. Im Fall der Studie handelte es sich um ein Vorurteil dieser Art: „Frauen können genetisch bedingt keine Mathematik, und wenn überhaupt, dann nur wesentlich schlechter als Männer.“

Und tatsächlich: Frauen, die derart negativ beeinflusst an die Rechenaufgaben herangingen, schnitten signifikant schlechter ab – wobei Frauen, die über genetische Unterschiede gelesen hat-ten, noch schlechter waren als jene, die „nur“ über soziale Unterschiede der Geschlechter gelesen hatten. Eine weitere Frauengruppe, die einen Aufsatz darüber zu lesen bekam, dass es generell keine mathespezifischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, schnitt – du ahnst es bereits – deutlich besser ab. Fazit der Studie: „Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Menschen genetische Erklärungen als so mächtig und geradezu unumstößlich akzeptieren, dass sie zu sich selbst erfüllenden Vorhersagen werden […]. Empirische Untersuchungen jedoch erlauben den Frauen zu sagen, dass dieses Stereotyp nicht auf sie zutrifft.“ Oder anders gesagt: Ob wir Sachverhalte und bestimmte Situationen bewältigen können – im Beruf wie im Alltag –, hängt entscheidend von unserer grundsätzlichen Meinung über uns selbst und der Schlagkraft unserer Fähigkeiten ab.

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Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842642140
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
Brain-Fitness Denkvermögen steigern Gedächtnis-Spiele Gehirnjogging Erfolgreiche Problemlösung Konzentrations-Übungen

Autor

  • Pepe Peschel (Autor:in)

Die Gesundheitspädagogin, renommierte Medizinjournalistin, Autorin und Fernsehmoderatorin Pepe Peschel arbeitet für ihre Ratgeber regelmäßig mit hochkarätigen Forschern und internationalen Wissenschaftlern zusammen. Ihren Lesern gibt sie Methoden für mehr Achtsamkeit, eine nachhaltige Lebensweise und natürliche Therapieverfahren an die Hand – selbstbestimmt und frei von den Schubladen der Gesellschaft und der Medizin. Sie ist überzeugt: Wer seinen Weg finden möchte und eine ganzheitliche Verbindung von Körper, Seele und Geist anstrebt, braucht dafür klare Gedanken und die Fähigkeit, sich Dinge zu merken.
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Titel: Pimp your Brain!