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Kollegiale Fallberatung – Professionelle Pflegekompetenz optimieren

Ein Lehr- und Praxishandbuch

von Ursula Kriesten (Autor:in)
125 Seiten

Zusammenfassung

Kollegialer Rat: individuell und kompetent
Für Auszubildende in der Pflege gehört sie zu den wichtigsten Methoden: die Kollegiale Fallberatung. In vielen Fällen sind die eigenen Kolleginnen und Kollegen die besten Beraterinnen und Berater! Vorausgesetzt, sie beherrschen die Methodik. Die ist einfach, klar strukturiert und durchaus zeitsparend.
Was Auszubildende sozusagen unter "Laborbedingungen" lernen, ist für Pflegefachkräfte von ebenso großer Bedeutung: Von ihnen wird eigenständiges, professionelles Handeln, eine hoch entwickelte Handlungskompetenz und eine gut entwickelte Reflexionsfähigkeit erwartet.
Dieses Buch zeigt, wie schnell und erfolgreich sich die Kollegiale Fallberatung in der Praxis umsetzen lässt: Die Theorie ist auf Wesentliches beschränkt, die praktische Darstellung dafür so umfassend wie möglich. Viele Fallbeispiele zeigen eindrucksvoll, welche Chancen die Kollegiale Fallberatung bietet.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Geleitwort

Fast nichts im Leben ist alternativlos. Auch wenn oft das Gegenteil behauptet wird. Selbst wenn zwischen Alternativen eine Entscheidung getroffen wurde, lohnt es sich, die Argumente für die ausgeschlossene Alternative im Gedächtnis und in der Argumentation zu behalten. So bleiben Gesellschaften reaktionsfähig. Das setzt Personen voraus, die nicht einfach bei ihrer Meinung und bei ihren Ressentiments bleiben, sondern statt Meinungen und Positionen Argumente pflegen und immer wieder neue empirisch geprüfte Argumente einbeziehen. Als eine solche Autorin ist Dr. Ursula Kriesten in der Szene bekannt. Deshalb schreibe ich dankbar ein Geleitwort – und deshalb dankte ich ihr in der »Theorie der Pflege und der Therapie« für ihre Argumente. Sie fragte mich vor vielen Jahren, ob man in seiner Dissertation auch zu Folgerungen kommen darf, die den Ansichten des Doktorvaters widersprechen. Wer die Geschichte der Wissenschaften seit den von Platon aufgeschriebenen Dialogen des Sokrates kennt, weiß, dass es auf diese Frage nur eine angemessene Antwort geben kann: »Selbstverständlich ja.«

Diese Haltung hat viel mit der kollegialen Fallberatung zu tun. Die kollegiale Fallberatung beruht auf Voraussetzungen, die bekanntlich nicht nur jedes Universitätsseminar, sondern jede öffentliche Diskussion macht: Die Diskutierenden sind gleichberechtigt. Nicht die »Eminenz«, also der hierarchische Status der Sprechenden zählt, sondern allein das von allen gleichberechtigt zu prüfende Argument.

Im Universitätsseminar ist das seit Jahrhunderten die berühmte »Gemeinschaft der Lernenden und Lehrenden«, die sich völlig gleichberechtigt um die Lösung offener Fragen bemühen. (Zugegeben, manchmal muss man die Professorinnen und Professoren, aber auch die Studierenden daran erinnern, dass sie ihre Existenz diesem Ideal Humboldts – und vorher Melanchthons – verdanken). In der diskutierenden Öffentlichkeit ist es noch offensichtlicher, dass nicht Status, sondern das gleichberechtigt geprüfte bessere Argument zählt. Denn warum sollte jemand sich die Mühe machen, selbst Argumente einzubringen und andere Argumente aufzunehmen, wenn am Ende doch nur die Meinung der statushöheren Eminenzen zählte?

Für die kollegiale Fallberatung ergaben sich mit dem Internet Chancen, von denen wir früher nur träumten. Fast überall, im unwegsamen Urwald wie in der Savanne, können wir übers satellitengestütztes Internet die Erfahrungen anderer, also die »externe Evidence«, abrufen, soweit sie sie im Internet nachprüfbar dokumentierten. Nach der Erfindung des Buchdrucks und der dadurch beförderten Emanzipation von Eminenzen ist das Internet die nächste große Erfindung, die Personen Verantwortung für ihre Entscheidungen abverlangt und ihre Verantwortlichkeit fördert. Weder die Nähe zu Bibliotheken noch der Besitz von Büchern ist dafür unbedingt nötig. Es bedarf »nur« erstens der Fähigkeit, Geschriebenes als vertrauenswürdige »externe Evidence« zu erkennen. Zweitens bedarf es der Fähigkeit, die Besonderheit des Falls zu erforschen, also »interne Evidence« aufzubauen, wenn sich aus den Häufigkeitsaussagen der externen Evidence allein nicht die richtige Entscheidung im konkreten Fall ergibt.

In der »kollegialen Fallberatung« tauschen sich Fachkolleginnen aus. Von ihnen ist zu erwarten, dass sie die externe Evidence der Erfahrungen anderer für den Aufbau interner Evidence in ihrem Fall nutzen können.

Die Regeln, die Ursula Kriesten für die kollegiale Fallberatung formuliert, tragen unverkennbar Spuren von Kurt Levins Center for Group Dynamics, von Organisationsentwicklung, Intervision und Qualitätszirkel-Bewegungen. Durch ihre starke Trennung von Situationen, in denen kollegiale Fallberatung angesagt oder eben nicht angesagt ist, versucht die Autorin die Voraussetzungen kollegialer Fallberatungen klarzustellen und die kollegialen Fachberatungen vor Überforderungen zu schützen. Manchen wird es im Alltag gar nicht so leichtfallen, die Situationen als so sauber getrennte zu erkennen und die Voraussetzungen kollegialer Fachberatung als gegeben zu identifizieren. Manchmal sind Situationen vielschichtiger. Das ist nicht schlimm. Denn Dr. Ursula Kriesten erwähnt für diesen Fall überall in ihrem Buch die flankierenden Möglichkeiten, die dann unterstützend genutzt werden können.

Manchmal lohnt es sich auch, so zu tun, als sei eine Situation ›hierarchiefreier‹ und ›aufgabenorientierter‹, als sie tatsächlich zu Anfang ist. Denn je länger man so tut, als sei sie es, umso mehr wird sie es nicht selten tatsächlich.

So wünsche ich den Nutzerinnen und Nutzern dieses Buches nicht nur viel Erfolg, sondern auch viel Spaß.«

Prof. Dr. phil. (habil.) Johann C. Behrens
Universität Halle-Wittenberg
Institut für Supervision,
Institutionsberatung und Sozialforschung gem. e.V.
Möckernkiez 18
D-10963 Berlin-Kreuzberg

Vorwort

Meine beeindruckendste Erfahrung mit der Kollegialen Fallberatung machte ich während einer Übung mit berufsbegleitend Studierenden. Wie verblüffend wirksam die Kollegiale Fallberatung sein kann, bestätigte eine Studierende nach einer ca. 15-minütigen Beratung durch ihre Kommilitoninnen. Nachdem sie ihren realen beruflichen »Fall« in die Gruppe eingebracht hatte, wurde schnell offensichtlich, dass die Beratenden nicht zwingend notwendig der gleichen Berufsgruppe oder dem gleichen Team angehören müssen. Tatsächlich ist es oft hilfreich, wenn die Beratenden nicht dem gleichen beruflichen »System« angehören oder in den gleichen Fall verwickelt sind.

Die Studentin schilderte ihre komplexe Problemlage, die sie in ihrem beruflichen Umfeld zu lösen hatte. Es ging um eine für sie unlösbar erscheinende Situation: Als Mitarbeitende einer Krankenkasse war sie für die Genehmigung von Hilfsmitteln zuständig. Nun hatten gleichzeitig mehrere pädiatrische Abteilungen aus Kliniken hochwertige Hilfsmittel für die Frühgeborenenabteilungen beantragt. Die Studentin wusste, wie dringend notwendig die Hilfsmittel für die Frühgeborenen und Eltern waren. Sie war verzweifelt und in einem ethischen Dilemma: Wem sollte sie die finanziell budgetierten Hilfsmittel zukommen lassen? In einer strukturierten Beratungsrunde, die die Studierenden während einer von mir moderierten Übung absolvierten, fanden die Kommilitoninnen und Kommilitonen innerhalb von Minuten eine Fülle von lösungsorientierten, praxisnahen und kreativen Lösungsideen. Die Ideen betrafen das Budget, die Hilfsmittel, die Kommunikation, die zeitliche Planung, die Zuteilung und weitere Parameter. Auf diese Ideen war die Studierende selbst nicht gekommen. Sie ging gestärkt und mit konkreten Vorhaben aus der Beratungsrunde und berichtete später, dass sich die Ideen sehr gut umsetzen ließen und gewinnbringend für alle Beteiligten waren.

Effektive Fallberatungen habe ich in Pflegeteams und in Pflegeschulen häufig erlebt. Auszubildende, Studierende und Beschäftigte in den verschiedenen Aufgabenfeldern der Pflege, aber auch in anderen Sozial- und Gesundheitsberufen, müssen in der Lage sein, anspruchsvolle Entscheidungen zu treffen und komplexe Problemlagen zu lösen.

Um berufliche, professionelle Pflegekompetenz entwickeln und optimieren zu können, braucht es grundlegendes und spezifisches Wissen und Können, aber auch Verantwortungsbewusstsein. Professionalität entwickelt sich nicht von selbst. Professionalität entwickelt sich auch nicht nur durch jahrelange berufliche Erfahrung. Es bedarf auf Seiten der beruflich Pflegenden einer fundierten und reflektierten externen und internen Evidence.

Es lohnt, die Kollegiale Fallberatung systematisch in Ausbildung, Weiterbildung, Studium und während der beruflichen Tätigkeit zu erlernen. Systematisch genutzt, steigert diese Form der Beratung die Kompetenz und Zufriedenheit der Mitarbeitenden und das professionelle (Verantwortungs-) Bewusstsein von Pflegenden. Kollegiale Fallberatung kann dazu beitragen, Effektivität und Effizienz von Pflegeunternehmen zu steigern. Kollegiale Fallberatung wird zunehmend häufiger in der Unternehmensentwicklung genutzt und als strategisch wirksames Instrument wahrgenommen.

Ich wünsche Ihnen kreative fallberatende Momente!

Lese- und Bearbeitungshinweise

Dieses Buch behandelt alle wichtigen Bausteine der Kollegialen Fallberatung. Es kann in den verschiedenen Aus-, Fort- und Weiterbildungen, in Studiengängen, sowie allen Arbeitsfeldern der Pflege genutzt werden. Ich beschreibe außerdem, wie Kollegiale Fallberatung als Methode zur Entwicklung beruflicher Pflegekompetenz genutzt und eingesetzt werden kann.

Von den theoretischen Grundlagen bis hin zur Anwendung und Implementierung stelle ich Ihnen Inhalte und Methoden der Kollegialen Fallberatung vor und ergänze sie durch Transferaufgaben sowie Praxis- und Anwendungsbeispiele. Insofern können Sie dieses Buch auch als Lehr- und Praxishandbuch nutzen.

Zur Kapitelstruktur:

Im ersten Kapitel werden die Grundlagen der Kollegialen Fallberatung dargestellt.

Kapitel zwei zeigt, wie Pflegende berufliche Handlungskompetenz erwerben. Es wird der Frage nachgegangen, ob sich die Kollegiale Fallberatung als hilfreiche und unterstützende Methode eignet.

Kapitel drei erörtert, welche Problemlagen bzw. welche Fälle sich zur Kollegialen Fallberatung eignen.

Kapitel vier und fünf beschreiben die notwendigen Rollen, die übernommen werden müssen, und die Phasen der Kollegialen Fallberatung.

Kapitel sechs zeigt verschiedene Methoden, die sich der Fallgeber für den Beratungsprozess wünschen kann.

Kapitel sieben gibt Tipps, wie Kollegiale Fallberatung in Unternehmen implementiert werden kann.

Kapitel acht stellt Beispiele vor, in denen sich die Kollegiale Fallberatung auch als praktikable Methode für die Unternehmensführung eignet.

Kapitel neun fasst die Wirkweisen und Anwendungsgebiete der Kollegialen Fallberatung zusammen und führt Anwendungsbeispiele auf.

Soll ich mich von Kolleginnen und Kollegen beraten lassen?

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Info

Ziele des Kapitels:

1.Sie können die Methode der Kollegialen Fallberatung beschreiben.

2.Sie können die Voraussetzungen für die Durchführung einer Kollegialen Fallberatung aufzeigen.

3.Sie können den Unterschied zwischen einer Kollegialen Fallberatung und einer Fallbesprechung erklären.

4.Sie können die notwendigen Rahmenbedingungen sowie den Ablauf einer Kollegialen Fallberatung beschreiben.

5.Sie können die Methode der Kollegialen Fallberatung auf konkrete Anwendungsfelder übertragen.

1.1Was ist Kollegiale (Fall-)beratung?

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten im Team und wissen nicht, wie sie ein Problem lösen sollen oder Sie sind sich nicht sicher, ob Sie in einer Situation richtig gehandelt haben. Gleichzeitig haben Sie das Gefühl, dass Ihre Kolleginnen und Kollegen die Lösung genau dieses Problems bereits beherrschen. Wie wäre es, wenn Sie sie jetzt einfach fragen könnten?

Mit Fällen sind Handlungssituationen gemeint, bei denen beruflich Pflegende agieren. Hinweis: Mit der Kollegialen Fallberatung ist nicht die Fallbesprechung gemeint, bei denen Pflegende einzelne Klienten als »Fall« in Biografie und Pflegeintervention besprechen (image Kap. 1.2).

Nach dem Prinzip der Reflexion der beruflichen Tätigkeit ermöglicht und bewirkt Kollegiale Fallberatung selbstständiges, selbstbestimmtes und selbsttätiges Lernen ohne hierarchische Steuerung. Der wesentliche Effekt der Kollegialen Fallberatung ist zudem die gezielte Selbstreflexion des beruflichen Handelns nach einer festgelegten Struktur. Das berufliche Handeln, sprich: das Verhalten der Pflegenden, steht im Mittelpunkt der Kollegialen Fallberatung. Die Teilnehmenden erfahren selbstwirksames Lernen. Diese Selbstwirksamkeit ergibt sich durch die Selbststeuerung der Themen, Probleme und Fälle, sowie das Verhalten derer, die Fälle in eine Beratungsrunde einbringen. Abbildung 1 zeigt, in welchen Facetten selbstwirksames Lernen durch Kollegiale Fallberatung möglich wird.

Teilnehmende an der Kollegialen Fallberatung lernen und reflektieren

selbstständig, weil die Gruppe, also das Kollegium, synergetisch seine Fachexpertise nutzt, ohne externen Berater,

selbstbestimmt, weil der Fallgeber immer selbst entscheidet, ob und welche Beratungsvorschläge er nutzt,

 

selbsttätig, weil die Gruppe der kollegial Beratenden frei entscheidet, wann und ob sie tätig wird, ohne Zutun der Vorgesetzten. Bei der Kollegialen Fallberatung werden immer Lösungen auf fachliche Fragen gesucht. Dies erfolgt nach einem strukturierten Vorgehen und systematischen Finden von Lösungsvorschlägen,

selbststeuernd, da der Fallgeber immer entscheidet, welchen Fall bzw. welche Situation er einbringt und welche Beratungsaspekte er selbst für sich nutzt,

selbstwirksam, da die Wirkung der Beratung immer auf den Fallgeber und die Teilnehmenden wirkt.

Im Gegensatz zum fremdbestimmten Lernen kann die Selbstbestimmung als zunehmend konstruktiv, autonom und mehrwertgenerierend erlebt werden. Man entscheidet selbst über eigene Ziele, Ressourceneinsatz und die eigene Lernhaltung. Fallgeber entscheiden selbst über die zu reflektierenden Themen und das Maß der Intensität. Sich selbstwirksam und proaktiv zu erleben, fördert das Selbstbewusstsein, die Motivation zur Lösungsfindung und die Leistungsbereitschaft. Innere Widerstände können durch die Methode der Kollegialen Fallberatung erkannt und reflektiert werden. Rückmeldungen zu Stärken und Schwächen optimieren die eigene Analysefähigkeit. Zudem erleben Teilnehmende in Kollegialen Fallberatungen, dass die Gruppe und die Kolleginnen und Kollegen wertschätzend und unterstützend wirken. Das selbstwirksame Lernen in kommunikativen Beziehungen ist insbesondere für beruflich Pflegende von höchster Wirksamkeit und Bedeutung.

1.2Abgrenzung zu anderen Beratungsformen

Anders als bei der Supervision, dem Coaching oder der Balint-Gruppe, wo ein spezifisch ausgebildeter Berater die Aufgabe der Beratung übernimmt, sieht die Kollegiale Fallberatung das Handeln ohne externen Berater vor. Die Kollegiale Fallberatung findet im Kollegium in Gruppen von sechs bis neun Mitgliedern im regelmäßigen Abstand statt. Kollegiale Fallberatung ist somit semiprofessionell.

Die Kollegiale Fallberatung ist nicht mit der Fallbesprechung zu verwechseln, bei der im professionellen Team eine komplexe Pflegesituation, häufig ausgehend von der Biografie eines Klienten, dargestellt, analysiert und besprochen wird. Bei einer Fallbesprechung werden die pflegerischen Interventionen und die Gesamtsituation rund um den Klienten mit Pflegebedarf besprochen. Fallbesprechungen finden häufig mit dem Ziel der innerbetrieblichen pflegerischen Fortbildung statt und zur Verbesserung der Versorgungsqualität. Typische Fallbesprechungen werden auch häufig unter ethischen Aspekten als »Ethische Fallbesprechung« durchgeführt.

Die Kollegiale Fallberatung ist eine Form der Kollegialen Beratung von Gleichgestellten, wobei die Beratenden nicht unbedingt direkt mit dem eingebrachten Fall zu tun haben müssen. Wichtig: Die Gruppenmitglieder kennen und vertrauen einander. Inhalte der Kollegialen Fallberatung sind »Fälle« – also Fragen zum beruflichen Umgang mit spezifischen Klienten und Patienten. Hierbei stehen das Verhalten und die Entscheidungen des Pflegenden im zentralen Fokus.

1.2.1 Praxisbeispiele: Kollegiale Fallberatung, Supervision oder Fallbesprechung

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Fragen

Bei welchen Ihnen bekannten Anlässen eignet sich externe Beratung besser als Kollegiale Fallberatung?

Bei welchen Fragen würde sich hingegen Kollegiale Fallberatung besser eignen?

Externe Beratung, wie Coaching, eignet sich zum Beispiel eher zur individuellen Karriereberatung und Supervision zur Klärung von Konflikten oder Problemen innerhalb eines Teams oder einer Abteilung. Kollegiale Fallberatung hingegen eignet sich besser zur Lösung eines konkreten Praxisproblems.

Drei Beispiele:

1.Während der monatlichen Fallbesprechung in einer neurologischen Abteilung eines Krankenhauses werden einzelne Patienten mit komplexen Pflegebedarfen besprochen. Heute ist die Patientin Martina Schneider Thema, die eine globale Aphasie nach einem hämorrhagischen Insult entwickelt hat. Ziel der Besprechung ist die Abstimmung aller erforderlichen Pflegeinterventionen und der spezielle Umgang mit Verlust des Sprachverständnisses von Frau Schneider.

2.Es rumort seit langen im Team des ambulanten Pflegedienstes »Zur Hilfe«. Das Klima scheint vergiftet. Immer häufiger sind Mitarbeitende nicht mehr bereit, die Touren ihrer Kollegen zu übernehmen. Die stellvertretende Leiterin Ruth spricht mit der Leitung: »Wir werden unseren Mitarbeitenden Supervision anbieten. Wir müssen klären, was im Team los ist. Wir beginnen mit den Mitarbeitenden, die freiwillig daran teilnehmen.«

3.Im Team der Lehrenden in der Pflegeschule treffen sich monatlich sechs bis acht Mitarbeitende zur Kollegialen Fallberatung. Hinzu kommen wechselnd auch weitere Kollegen. Behandelte Themen bislang:

»Ich bin unsicher bei den inhaltlichen Absprachen mit meinem ärztlichen Kollegen, der Notfallmedizin unterrichtet. Es kommt nie zu guten inhaltlichen Absprachen im Vorfeld des Unterrichts. Wie soll ich mich verhalten?«

»Ich habe Probleme, wie ich didaktisch vorgehen soll, wenn ich kompetenzorientiert mündlich prüfen soll. Es fehlt mir an Ideen.«

»Bei den Absprachen mit einem ausbildenden Kooperationspartner kommt es immer wieder zu Missverständnissen. Wie soll ich mich richtig verhalten?«

1.3Selbstverständnis der Kollegialen Fallberatung

Die Kollegiale Fallberatung folgt dem Prinzip eines personenorientierten Beratungsansatzes. Typisch sind hierbei der Gruppenmodus, die eingebrachten Praxisfälle und das standardisierte Ablaufschema. Auch die Moderation findet wechselseitig statt, ohne festen Leiter. Bei regelmäßigen und gut geplanten Kollegialen Fallberatungen nimmt das Reflexionsniveau der Teilnehmenden zu. Die Reflexion des eigenen Handelns und die Perspektivenerweiterung verschafft den beruflich Pflegenden Sicherheit und ermöglicht zunehmende Kompetenz im Handeln.

Definition Beratung

Beratung ist grundsätzlich ein Interaktionsprozess zwischen jemandem, der Hilfe sucht und sich beraten lassen will, und jemandem, der beraten soll und dazu ausgebildet und fähig ist. Gegenstand der Beratung ist ein Problem oder eine Aufgabe, die mit Hilfe des Beratungsprozesses gelöst oder vorangebracht werden soll.

Viele Berufsgruppen, wie Pädagogen, Sozialarbeiter oder Mitarbeitende in Krankenkassen nutzen die Kollegiale Beratung bereits. Beruflich Pflegende können diese Methode ebenso wirksam für sich nutzen. Sie werden von ihren anvertrauten Menschen mit Pflegebedarf nahezu täglich zur Beratung und Problemlösung aufgefordert. In der bedeutsamen Orientierung am jeweils einzigartigen Klienten sind Pflegende der Selbstbestimmung ihrer anvertrauten Klienten verpflichtet. Bei beruflich Pflegenden ist die vorrangige Aufgabe von Beratung nicht, ausschließlich aus einer Expertenperspektive »einen Rat zu geben«, sondern im gemeinsamen Kommunikationsprozess mit dem einzigartigen Klienten im besten Falle eine gemeinsame Entscheidung, im Sinne des Klienten, zu treffen. Das »Sich-zerissen-Fühlen« zwischen Theorie und Praxis und zwischen »Zeit suchen, aber nicht finden« bewirkt bei Pflegenden häufig ein Dilemma, erschwert den Beratungsprozess sowie die Auswahl pflegerischer Interventionen und erfordert von beruflich Pflegenden eine hohe Beratungs- und Handlungskompetenz.

Anders als bei autonomen und selbstständigen Menschen, die externe Beratung einholen und danach entscheiden, ob sie den vorgeschlagenen Beratungsinhalt annehmen oder ablehnen, sind Menschen mit Pflegebedarf häufig nicht mehr selbstständig, sondern auf die Entscheidung und das Handeln ihrer Pflegenden angewiesen. Im besten Falle können sie noch selbstbestimmtes Handeln veranlassen und auf die Pflegenden übertragen. Bei medizinischen Interventionen, wie etwa einer Operation oder Therapie, stimmt der Klient zumeist einmal bewusst zu. Bei pflegerischen Interventionen, die täglich wiederholend praktiziert werden, verläuft dieser Zustimmungsprozess in aller Regel weniger bewusst und weniger qualitätsgesichert.

Pflegende müssen ihre Qualität stets und ständig selbst überprüfen. Zur Entwicklung dieser pflegerischen Beratungs- und Handlungskompetenz hat sich die Kollegiale Fallberatung als eine geeignete Methode erwiesen.

1.4Der individuelle Mehrwert der Kollegialen Fallberatung

Der individuelle Nutzen und die Wirkprozesse von Kollegialer Beratung sind zunehmend unbestritten. Kim-Oliver Tietze befasste sich in seiner Dissertation1 mit Forschungsergebnissen zu Wirkungen der Kollegialen Beratung. Kollegiale Fallberatung erwirkt, wie folgend dargestellt (image Abb. 2), mehrstufig positive Werte für Menschen, die beruflich kommunikativ interagieren müssen.

Wir wissen, die Wirklichkeit ist immer subjektiv konstruiert. Kollegiale Fallberatung fungiert dennoch als professionelle Wirklichkeitsdeutung im Austausch mit den beratenden Personen. Kollegiale Fallberatung wirkt als vorhandene interprofessionelle Ressource, die niederschwellig in Teams genutzt werden kann.

Als positive Nebeneffekte der Kollegialen Beratung werden die kommunikativen und sozialen Kompetenzen erweitert, aktives Zuhören gefördert, sowie das Ausdrücken von Gefühlen und konstruktives Feedback eingeübt. Der notwendige Perspektivenwechsel wird zudem praktisch erprobt und kann Verhaltensmodifikationen bewirken. Angewandtes konstruktives Feedback entwickelt sich zu selbstverständlichen Kommunikationsformen in Teams.

Im praktischen Vollzug der Kollegialen Fallberatung wird somit Beratungskompetenz erworben und die Möglichkeit zur Perspektivenerweiterung und die Selbstwirksamkeit des Lernens können individuell, wie auch in Teams, erfahren werden. Kollegiale Fallberatung fördert die Fähigkeit, zu unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu gelangen und optimiert die Fähigkeit unterschiedliche Perspektiven entwickeln zu können. Kollegiale Fallberatung erwirkt vor allem aber eine Zunahme der Reflexionskompetenz, da das eigene Verhalten Gegenstand der Beratungen ist.

Kollegiale Fallberatung fördert auch die gegenseitige Akzeptanz der Pflegenden, weil durch das Transparentwerden der kollegialen, individuellen Kompetenzen der Teammitglieder Ressourcen sichtbar werden.

1.5Ziele und Potenziale der Kollegialen Fallberatung in Teams

Kollegiale Beratung wird als Verfahren und Methode verstanden, bei dem sich Kolleginnen und Kollegen in konkreten Fragen der Profession und der Praxis gegenseitig unterstützen und ihr Know-how jeweils passgenau zur Verfügung stellen. Auch ist es grundsätzlich möglich, dass professionsferne Personen in die beratende Funktion gehen.

Folgende Ziele werden in Teams durch die Teilnahme an Kollegialer Fallberatung angestrebt:

Die Beratungskompetenz Einzelner, aber auch in Teams, wird erweitert.

Kollegiale Kommunikation, Kooperation und Wertschätzung werden eingeübt.

Kollegiale Fallberatung lehrt das Moderieren und das Einnehmen von Rollen in Teams.

Berufliches Handeln kann reflektiert, Zusammenhänge können analysiert und in der Komplexität interpretiert werden – die Teamressourcen werden somit erweitert.

Handlungsstereotypen und -fehler können von Einzelnen, aber auch von Teams, analysiert werden.

Pflegerische Wahrnehmung und Interventionsplanung kann optimiert werden.

Perspektiven können erweitert und vervielfältigt werden.

Alternative Handlungsoptionen können gefunden werden.

Neue Denkmuster und Perspektiven können entstehen.

Neue Handlungsoptionen können ausgewählt und begründet werden.

Kollegiale Fallberatung fördert die Handlungs- und Anwendungskompetenz.

Das Wissen und Können kann im Unternehmenszusammenhang betrachtet und angewandt werden.

Eine Fokussierung auf die Ressourcenorientierung findet statt.

Das »Wir-Gefühl« wird gesteigert.

Der Fallgeber kann entlastet werden.

Vertrauensbildung im Team wird ermöglicht.

Die soziale Kompetenz kann weiterentwickelt werden.

Ganz nebenbei ist die Kollegiale Fallberatung eine ökonomisch ressourcenschonende und niederschwellige Beratungsmethode und wirkt als innerbetriebliche Weiterbildung. Für die Pflegenden bedeutet dies konkret, dass während einer oder mehrerer Kollegialer Fallberatungen belastende Situationen und Probleme reflektiert und gezielt aufgearbeitet werden können. Teams werden leistungsstärker und effizienter. Kollegiale Fallberatung wirkt somit qualitätssteigernd, qualitätssichernd und vertrauensbildend. Kollegiale Fallberatung kann als fester Bestandteil in der Team- und Personalentwicklung eingesetzt werden. So könnten sich zum Beispiel erfahrene und noch unerfahrene Kollegen monatlich in Beratungsrunden zu aktuellen Problemen austauschen. Oder weitergebildete Mitarbeitende beraten gezielt zu einem fachlichen Thema, speziell zu eingebrachten Schlüsselfragen.

Kollegiale Fallberatung kann Mitarbeitende, aber auch Teams, stärken. Kollegiale Beratung gibt den von der Gruppe gesammelten Erfolgsfaktoren Raum.

Widmen wir uns nun der Frage, welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen gewährleistet sein müssen, damit Kollegiale Fallberatung die erwähnten positiven Effekte erzielen kann.

1.6Voraussetzungen und Rahmenbedingungen

Die wohl wichtigste Voraussetzung für die Kollegiale Fallberatung ist, dass die Teilnehmenden im Beratungsteam Vertrauen zueinander haben. Die Teilnehmenden müssen offen, wertschätzend und vertrauensvoll miteinander sprechen, um sich beraten zu können. Den Teilnehmenden sollte bewusst sein, dass sie sich gegenseitig unterstützen wollen. Sie vereinbaren Verschwiegenheit über Inhalte und Abläufe nach außen.

Es ist hilfreich in der Kommunikation, wertschätzende Übungen einzubauen, um wechselseitig das Können und Wissen der Pflegenden als positive Ressource anzuerkennen (siehe Literatur zur Gewaltfreien Kommunikation). Hierbei gilt es zu beachten, dass neben dem Vermögen, fremdempathisch sein zu können, auch die Selbstempathie der Pflegenden bewusst erlernt und praktiziert werden muss. Selbst- und Fremdempathie sind gleichermaßen bedeutsam für beruflich Pflegende, um professionell handeln zu können.

Neben den Voraussetzungen der kommunikativen Praxis sind folgende Rahmenbedingungen wichtig, um Kollegiale Fallberatung durchführen zu können:

Kein Zeitdruck, keine Verpflichtung, keine Stigmatisierung des Fallgebers,

verbindliche Teilnahme an den vereinbarten Terminen,

gleichberechtigte Teilnehmende, ohne hierarchische Abhängigkeit,

offene Bestuhlung in Kreisform, ohne Tische,

Flipchart, ggf. Metaplanwand zum Festhalten der Inhalte,

die geplante Zeit zur Kollegialen Fallberatung wird eingehalten.

Voraussetzung für Teams, die die Kollegiale Fallberatung durchführen möchten, ist, dass sie wirklich am Gelingen, am »Miteinander-arbeiten-Wollen« und am »Miteinander-achtsam-Sein« interessiert sind.

Regeln, um miteinander achtsam sein zu können:

Ich überlege, bevor ich rede und meine Ideen Anderen zumute.

Ich wertschätze mein Gegenüber.

Ich beachte: Wir sind alle gleichwertig.

Ich verletze mein Gegenüber nicht.

Ich bin für eine gute Atmosphäre verantwortlich.

Ich behandele mein Gegenüber so, wie ich selbst behandelt werden will.

Ich bin anschlussfähig.

Ich akzeptiere das Anliegen des Fallgebers und bewerte nicht.

Ich nutze aufkeimende Konflikte als Chance, um Probleme lösen zu können.

Ich frage sachlich nach bei Irritationen.

Ich nehme nicht alles persönlich.

Ich muss nicht alles klären und wissen.

Ich lasse andere Meinungen gelten (Vielfalt als Perspektivenerweiterung).

Ich erlaube Fehler und erkenne in Fehlern Chancen.

Ich verliere mich nicht im Klein-Klein und bin nicht pedantisch.

Zudem gilt die achtsame und gewaltfreie Kommunikation zur grundlegenden Basis pflegerischen Handelns. Dies sollte die Unternehmensführung beachten und fördern. Grundlegend sollte die Unternehmensführung auch die Einführung der Kollegialen Fallberatung begrüßen und rahmengebend unterstützen. Es wäre zum Beispiel sehr hinderlich, wenn die Unternehmensführung möchte, dass Kollegiale Fallberatung stattfindet, die Mitarbeitenden aber nicht bereit sind, dies umzusetzen. Ebenso wäre es hinderlich, wenn Mitarbeitende Kollegiale Fallberatung durchführen (möchten) und die Führung dies verbietet oder keine zeitlichen Ressourcen zulässt oder die Mitarbeitenden ausfragt, was in den Beratungsrunden besprochen wurde.

1.7Die Führung schafft Rahmenbedingungen

Kollegiale Fallberatung muss in die Aufbau- und Ablauforganisation eines Pflegeunternehmens passen. Die oberste Leitung und die weiteren Führungskräfte müssen aktiv die Kollegiale Beratung befürworten, die Durchführung unterstützen und die notwendigen Rahmenbedingungen sicherstellen. Im Einzelnen bedeutet dies:

Kollegiale Fallberatung wird zunächst durch externe Experten bekannt gemacht.

Kollegiale Fallberatung wird als positive Methode für das eigene Unternehmen vorgestellt.

Auf die Freiwilligkeit der Teilnehmenden wird kontinuierlich hingewiesen.

Im Dienstplan werden feste Zeiten für die Kollegiale Fallberatung vorgesehen.

Die Teilnehmenden werden für die Kollegiale Fallberatung freigestellt (Grundsatz Kollegiale Fallberatung = Arbeitszeit).

Die Kollegiale Fallberatung findet ungestört in einem nicht einsehbaren Raum statt.

Ergebnisse der Kollegialen Fallberatung werden von der Führung nicht eingefordert.

1.8Hinderliche Aspekte und Grenzen

Um Kollegiale Fallberatung in Teams gelingen zu lassen, gilt es von vornherein, hinderliche Aspekte zu kennen und zu vermeiden. Kollegiale Fallberatung kann nicht »verordnet« werden. Das heißt, Vorgesetzte können ihre Mitarbeitenden nicht zur Kollegialen Fallberatung verpflichten. Sie sollten stattdessen alles dafür tun, um Hindernisse oder Störungen zu vermeiden:

Führungskräfte sollten die Kollegiale Fallberatung anbahnen und durch externe Beratung bekannt machen, dann aber in die Freiwilligkeit der Mitarbeitenden geben.

Pausenzeiten dürfen nicht zur Kollegialen Fallberatung missbraucht werden.

Während der Kollegialen Fallberatung wird nicht gegessen.

Eine Gruppengröße von mehr als zehn Teilnehmern wird nicht überschritten.

Die Ergebnisse werden schriftlich festgehalten.

Das Beratungstempo ist nicht zu hoch.

Das geplante Ende wird eingehalten.

Der Fallgeber bringt einen geeigneten Fall ein.

Die Kollegiale Fallberatung wird nicht zur Konfliktbewältigung missbraucht.

Die Beratenden verhalten sich wertschätzend, nicht dominant oder gar »rechthaberisch«.

Die Fehlertoleranz im Team ist hoch.

Die Mitarbeiter haben kein hohes Absicherungsbedürfnis.

Es herrscht Vertrauen in die eigenen Kompetenzen und in die Teammitglieder.

Es gibt keine starre Verteilung der Rollen.

Getroffene Entscheidungen werden hinterfragt.

Es gibt keine latenten oder offenen Machtkämpfe im Team.

Es gibt keine hierarchischen Strukturen zwischen den Teilnehmenden.

Die Teilnehmenden besitzen kommunikative Basiskompetenzen und Reflexionsfähigkeit.

Absolut ungeeignet für die Kollegiale Fallberatung sind private Themen der Teilnehmenden, sowie Unzufriedenheit einzelner Teilnehmenden mit ihrer Lebenssituation, Loyalitätskonflikte mit dem Arbeitgeber oder private Karrierefragen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842690387
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Karrierestrategien Kommunikation Krankenpflege Management Altenpflege Personalentwicklung

Autor

  • Ursula Kriesten (Autor:in)

Dr. rer. medic. Ursula Kriesten, MBA, ist Leiterin der Akademie Gesundheitswirtschaft und Senioren (Oberbergischer Kreis) und des Studienzentrums Gesundheitswissenschaftlerin.
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Titel: Kollegiale Fallberatung – Professionelle Pflegekompetenz optimieren