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Dokumentationswahnsinn in der Pflege

Es geht auch anders. Mit und ohne SIS

164 Seiten

Zusammenfassung

Seitenlange Pflegedokumentationen, die keiner liest; unverständliche Texte, unsachgemäße Formulierungen - in der Pflege wird immer noch dokumentiert, was Papier und PC hergeben. Dieses Buch geht zurück an den Anfang jeder Dokumentation, unabhängig ob noch AEDLs oder schon das Strukturmodell genutzt werden. Es fragt nach, was, wer, wann und wo dokumentiert werden muss. so wird klar, was eine pflegedokumentation leisten kann, wie sie aussehen sollte. Die fünf Bereiche reichen aus, um eine komplette, individuelle und aussagekräftige Dokumentation zu führen: Stammblatt, medizinische Verordnungen, Pflege- und Maßnahmenplanung, Durchführungsnachweis und Pflegebericht. Selbstverständlich unter Beachtung aller aktuellen Vorgaben und rechtlichen Anforderungen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Dieses Büchlein stiftet an: zum anders Denken, zum Richtungswechsel und zur Abkehr vom blinden Gehorsam. Lassen Sie uns gemeinsam wieder das Richtige tun. Der Pflegebedürftige muss wieder zurück in den Mittelpunkt. Es kann nicht sein, dass der MDK, die Heimaufsicht oder andere sich das Recht nehmen, die Pflegedokumentation in den Mittelpunkt zu stellen. Schon seit einigen Jahren läuft nach meinem Dafürhalten einiges falsch in der Altenpflege. Es kann doch nicht Sinn der Sache sein, 20 verschiedene Papiere in der Dokumentation zu führen oder auf dem EDV-gestützten System durch 30 Masken zu zappen.

Machen Sie mit! Das ist ein Aufruf zur Abkehr vom Dokumentationswahnsinn, unter Beachtung aller Vorgaben und rechtlichen Bedingungen.

Andreas Westerfellhaus, Präsident des Deutschen Pflegerates e.V. (DPR), machte an zahlreichen Beispielen deutlich, »mit welch ausufernder Bürokratie und überbordenden Dokumentationsanforderungen Pflegende vielfach belastet sind. Dies habe zur Folge, dass für die eigentliche Tätigkeit, die Pflege der Patienten und Bewohner, immer weniger Zeit verbleibe.« Und: Ex-Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler richtete für »Fragen der Entbürokratisierung in der Pflege eine beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG) angesiedelte Ombudsstelle ein. Diese hatte – zeitlich befristet – als Stabsstelle im BMG die unterschiedlichen Anregungen und Vorschläge gesammelt und für ein Gesetzgebungsverfahren aufbereitet.

Einleitung

Wenn jemand sagt »Du musst!«, lernen Sie zu fragen »Wo steht das?« Denn der stillschweigende oder gar vorauseilende Gehorsam der letzten Jahrzehnte hat uns in der Pflege einige Verwirrung und Orientierungslosigkeit gebracht.

Nicht genug, dass es verschiedene Vorgaben von außen gibt. Nicht genug, dass die Institutionen, die uns die Vorgaben machen, sich noch nicht einmal miteinander absprechen. Nein, auch die interne Qualitätssicherung, manchmal selbst die Pflegedienstleitung, haben sich auch noch eigene Maßstäbe gesetzt. Das ist zwar nicht grundlegend falsch, aber alles zusammen ergibt eine Fülle von einander widersprechenden Anforderungen, die an eine Pflegeeinrichtung herangetragen werden. Die Anforderungen betreffen die gesamte Organisation der Einrichtung, insbesondere aber die Mitarbeiter der Pflege, wenn es um die Pflegedokumentation geht.

In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Beraterin und Sachverständige habe ich viel gesehen und erlebt. Eines hat mich dabei all die Jahre begleitet: Der Pflegeprozess funktioniert nicht oder er ist trotz der wachsenden Papierflut nicht vollständig nachvollziehbar abgebildet. Pflegeplanungen entpuppten sich häufig keineswegs als Planungen der täglichen Pflege. Pflegeplanungen werden geschrieben, damit sie auf dem Papier stehen oder dem MDK gezeigt werden können. Eine sinnvolle Planung als Versorgungsrezept für den Pflegebedürftigen fand ich leider eher selten.

Dieses Dilemma hat viele Ursachen und es liegt an Ihnen, liebe Mitarbeiter in der Pflege, dieses Dilemma zu beseitigen. Sie können das! Ich gebe Ihnen die wichtigen Hinweise und zeige Ihnen ganz konkret den Weg, den Sie gehen müssen. Sie werden sehen, dass Sie mehr tun können, als Pflegebedürftige in Schubladen zu stecken. Sie werden erfahren, dass Pflegemodelle durchaus sinnvoll sind, aber eine Pflegeplanung nicht notwendigerweise aus 13 AEDL bestehen muss. Sie werden entdecken, dass die MDK-Prüfung auch ohne seitenlange Pflegeplanung positiv durchlaufen werden kann, vermutlich sogar positiver, als wenn die Planungen stur nach AEDL heruntergeschrieben wurden.

Eine Dokumentation ist zunächst eine Sammlung von Daten und Fakten. Sie ist Ordnung, Speicherung und Auswertung von Urkunden bzw. schriftlich fixiertem Wissen. Wichtig zu wissen: Es gibt einen Unterschied zwischen administrativer Dokumentation der Verwaltung und der ärztlichen bzw. pflegerischen Dokumentation.1 Die administrative bezieht sich eher auf Daten der Stammdatenverwaltung oder versicherungsrelevanten Dokumentation während die medizinische bzw. die pflegerische Dokumentation sich mit Inhalten medizinischer oder pflegerischen persönlichen Daten des Betreffenden befasst.

Tab. 1: Grundsätze bei der Dokumentationsführung

Dokumentationswahrheit Dokumentationsklarheit
Tatsachen Eindeutig
Wahrheit Nachvollziehbar
  Aussagefähig
  Echt
  Keine Streichung
  Lesbar

Jede Dokumentation folgt bestimmten Grundsätzen (image Tab. 1). Neben der Wahrheit muss das Dokument auch Klarheit schaffen. Das bedeutet zum einen, die Eintragung muss eindeutig und nachvollziehbar sein, wobei sich »nachvollziehbar« mit »logisch« übersetzen lässt. Zum anderen muss das Handzeichen eindeutig einer bestimmten Person zuzuordnen zu sein. Echtheit heißt, dass jeder für sich selbst einträgt und man nichts für andere abzeichnet. Dabei bedeutet Echtheit auch, dass Eintragungen weder mit Bleistift noch mit Füller vorgenommen werden dürfen. Auch die Benutzung von Tipp-Ex ist verboten.

Keine Streichung heißt zum einen keine Striche, z. B. für erbrachte Leistungen. Diese Strichlisten sind sehr verbreitet, aber unzulässig. Auch wenn die Kassen beispielsweise im ambulanten Dienst eine Strichliste zur Abrechnung zulassen, dient diese lediglich der Abrechnung, nicht aber als Nachweis. Auch in anderen Bereichen, z. B. auf Dienstplänen, in Pflegeberichten oder Protokollen, ist eine Streichung unzulässig. Wenn Sie einen Rechtschreibfehler korrigieren wollen, so können Sie das entsprechende Wort mit einem sauberen Strich als ungültig deklarieren. Sofern das darunter Geschriebene noch lesbar ist, ist diese Streichung zulässig.

Lesbar bedeutet, dass das Geschriebene immer lesbar bleiben muss. Sie müssen Ihre Handschrift also soweit bessern, dass es stets sauber und lesbar ist.

1.1Die einzelnen Grundsätze und ihre Bedeutung

Die Dokumentationswahrheit verlangt, dass Sie den Tatsachen entsprechend dokumentieren. Sie sollen die Geschehnisse so aufschreiben, wie sie gewesen sind, ohne zu interpretieren. Beispiel: Sie sehen einen Pflegebedürftigen mit seiner Unterhose auf dem Kopf aus dem Zimmer kommen – das ist die simple Wahrheit. Schreiben Sie aber »war verwirrt« oder »ist desorientiert«, kommen Sie der Wahrheit nur annähernd nahe. Sie werden dem Kunden und der Dokumentationsanforderung nicht gerecht. Außerdem ist diese Art der Dokumentation nach Monaten nicht mehr nachvollziehbar. Erklären Sie mal, was Sie meinten, als Sie vor sechs Monaten »war verwirrt« eingetragen haben. Was war damals eigentlich los? Erinnern Sie sich noch daran, dass der Pflegebedürftige mit seiner Unterhose auf dem Kopf aus dem Zimmer kam? Wissen Sie noch, was Sie gesehen haben, was Sie wahrgenommen haben und wie sich der Pflegebedürftige verhalten hat? Glauben Sie mir, das wissen Sie Monate später nicht mehr, es sei denn, Sie haben die Situation wahrheitsgemäß und 1:1 niedergeschrieben.

Einige Beispiele möchte ich Ihnen nennen, weil sie zeigen, dass die wahrheitsgemäße Dokumentation leider oft nicht praktiziert wird.

»Aggressiv«

Wie verhält sich ein Mensch, wenn er aggressiv ist? Finden Sie diesen Begriff eindeutig? Was meinen Sie, wenn Sie schreiben: »Herr M. war heute sehr aggressiv«? Verstehen Ihre Kollegen darunter das Gleiche wie Sie? Wenn Sie schreiben: »Herr M. schlug mit dem Stock nach mir« – »Herr M. hat mich angespuckt« – »Herr M. schrie mich an«, stellen Sie dagegen die Tatsachen objektiv dar.

»Verwirrt«

Wie benimmt sich ein Mensch, wenn er verwirrt ist? Macht er Unfug, läuft er in die falsche Richtung oder belästigt er andere? Urteilen Sie selbst: Der Satz »Frau M. ist heute sehr verwirrt« lässt keine Rückschlüsse auf den Aufwand oder den Gehalt der Aussage zu. »Frau M. steckte ihre Zahnprothese in den Blumentopf« – »Frau M. fragte mich innerhalb weniger Minuten 10 Mal, wo sie ist« – diese Eintragungen sind sehr aussagekräftig.

»Desorientiert«

Wie und auf welche Art ist ein Mensch desorientiert? Wenn ein Verhalten schlicht mit »desorientiert« abgetan wird, macht eine solche Eintragung überhaupt keinen Sinn. Was soll hier transparent gemacht werden? Ist eine solche Eintragung überhaupt relevant? Wenn ja, für wen? Deutlich zum Ausdruck der Situation und der Handlung dienen Eintragungen wie »Herr L. sprach mich als Mutter an« – »Herr L. dachte, es sei mitten in der Nacht« – »Herr L. sagte, er müsse jetzt zur Schule«.

Wenn Sie nun befürchten, Eintragungen solcher Art, die der Wahrheit entsprechen, benötigen mehr Zeit, irren Sie. Schreiben Sie doch mal: »Herr L. ist heute wieder sehr desorientiert« und vergleichen Sie diese Aussage mit dem Satz: »Herr L. sprach mich als seine Mutter an.« Sie mussten nur ein einziges Wort mehr schreiben, um den konkreten Sachverhalt klar und eindeutig zu beschreiben.

»Solche Sätze müssen einem erst einmal einfallen«, höre ich Sie sagen. Das ist prinzipiell nicht richtig, denn meine Beispiele spiegeln ganz einfach die Tatsachen wider, während Umschreibungen wie »desorientiert«, »verwirrt« oder »aggressiv« nur eine grobe Beschreibung darstellen, zudem ungenau und vieldeutig sind. Diese Worte wurden Ihnen nicht in die Wiege gelegt. Vielmehr haben Sie sie im Laufe Ihres Berufslebens erworben, ihnen einen Sinn gegeben und erliegen dem Irrtum, Sie würden sich so sehr professionell ausdrücken.

Es ist diese falsch verstandene Professionalität, die dazu führt, dass Mitarbeiter in der Pflege sich den Kopf darüber zerbrechen, was sie wie schreiben sollen! Sie trauen sich gar nicht, so einfach zu formulieren wie früher im Schulaufsatz. Stattdessen umschreiben sie und wollen sich möglichst kurz fassen. Die Konsequenz: Krankenbeobachtung und Wahrnehmung, die eine zentrale Rolle spielen, erscheinen in der Dokumentation unvollständig, ungenau und distanziert. Was halten Sie von diesen Aussagen:

»Die Wunde sieht besser aus.«

»Herr Müller sieht schlecht aus.«

»Frau Meier hat wenig getrunken.«

Jeder von Ihnen kennt diese und ähnliche Sätze. Doch keiner dieser Sätze ist aussagekräftig. Die Begriffe bieten keine klare Beschreibung und sind subjektiv gefärbt. Wer von Ihnen hat nicht schon erlebt, dass ein Kollege sagte, irgendetwas oder irgendjemand sähe gut oder schlecht aus – und Sie waren völlig anderer Meinung?

Würde ein Kollege bei der Übergabe nur sagen: »Herr M. sieht nicht gut aus«, würde jemand aus der Runde nachfragen, was los war. Wenn ein Kollege bei der Übergabe schildert: »Die Wunde sieht schlecht aus«, würde sich ebenfalls niemand damit zufrieden geben und nachfragen, wie die Wunde aussieht. Deshalb werden bei den Übergaben häufig detailliert Auskünfte und Tatsachen weitergegeben, während die Dokumentation aber nur bedingt aussagefähig bleibt.

Niemand zwingt Sie, poetisch oder formvollendet zu schreiben. Grundsätzlich ist die Grammatik ebenso wenig wichtig wie die Rechtschreibung. Hauptsache ist, dass der Sinn des Geschriebenen verständlich bleibt und sich die Tatsachen wiederfinden.

Um dem Vorwurf der wertenden Äußerung aus dem Weg zu gehen, sollten Sie u. a. auf folgende Begriffe ganz verzichten:

gut/schlecht gelaunt

gut/schlecht drauf

gut/schlecht geschlafen

giftig

unmöglich

frech

aggressiv

böse

ekelig

depressiv

Versuchen Sie stets, die Tatsachen zu beschreiben. Statt »gut gelaunt« können Sie schreiben: »Frau M. lachte heute viel« – »hat sich gefreut über …« – »scherzte mit mir während der Grundpflege«. Schreiben Sie doch statt »wütend, aufbrausend« einfach die Tatsache: »Herr M. war aufgebracht, weil ich heute so spät zu ihm kam« – »Frau M. ist verärgert wegen ihrer Nachbarin« – »Frau M. hat mich angeschrien, weil…«

Eine weitere Kategorie, die Sie vermeiden müssen, sind Selbstverständlichkeiten oder regelmäßig wiederkehrende Tätigkeiten wie z. B.: »Herr M. wurde geduscht.« Wenn man davon ausgeht, dass in einem Bericht nur Besonderheiten stehen, bedeutet dieser Eintrag, dass Herr M. ansonsten nicht geduscht wird oder dass es nötig war, dieses Duschen gerade heute durchzuführen. Sollte es aber der Fall gewesen sein, dass Herr M. geduscht werden musste, weil er beispielsweise eingenässt hat, so sollte dies unbedingt als Erklärung erwähnt werden.

Genauso kritisch ist die Eintragung »versorgt nach Plan«. Geht man davon aus, dass der Bericht nur besondere Einträge enthalten soll, so bedeutet dieser Eintrag, dass es heute ausnahmsweise möglich war, diesen Pflegebedürftigen nach Plan zu versorgen. Sollte ein nachfolgender Kollege diesen Eintrag nicht ebenfalls in den Bericht schreiben, hat er diesen Pflegebedürftigen heute nicht nach Plan versorgt.

Es gibt Eintragungen, die eher aus Verlegenheit erfolgen. Auch die sind unnötig. Was bedeutet »keine Besonderheit«, »keine Auffälligkeiten«, »nichts Besonderes«? Ein Bericht dient doch gerade der Eintragung von Besonderheiten, Auffälligkeiten und besonderen Umständen. Also können Sie sich diese Verlegenheitseintragungen sparen. Sie sind nicht nur unnötig, sondern auch noch unglücklich. Wer keine Veränderungen beobachtet, der beobachtet offensichtlich nicht genau. Ist ein Mensch jeden Tag gleich? Gleicher Stimmung, gleicher Verfassung, gleichen Zustands? Wohl kaum.

Sogar ein Apalliker unterliegt Schwankungen im Tagesverlauf. Hier ist Ihre Fähigkeit der guten Krankenbeobachtung gefragt. Ein Pflegebedürftiger schläft mal gut, mal weniger gut. Er freut sich mal mehr, mal weniger über bestimmte Dinge und ist mehr oder weniger verärgert über andere Begebenheiten. Ein Pflegebedürftiger spricht mal mehr, mal weniger, denn ein pflegebedürftiger Mensch ist nun einmal ein Mensch wie Sie und ich. Oder wollen Sie behaupten, Sie waren vorgestern in exakt der gleichen Verfassung und Stimmung wie gerade jetzt in diesem Moment?

1.2Welchen Sinn hat eine Pflegedokumentation?

Diese Frage ist aus der Sicht der Pflegenden durchaus verständlich, denn die Anforderungen an die Pflegedokumentation sind keineswegs einheitlich. So viele Prüfer, so viele Ansichten: Die eine Instanz hält etwas für richtig, was die andere als kritisch oder gar falsch erachtet. Die Heimaufsicht will es so, der MDK-Gutachter anders und der Qualitätsprüfer noch mal anders. Hinzu kommt, dass jede Pflegekraft die Pflegedokumentation ein wenig anders gelernt hat, dass nicht alle im Unternehmen eine Sprache sprechen und dass jedes Seminar zum Thema neue Fragen aufwirft.

Erschwerend kommt hinzu: Es gibt kein eindeutiges Gesetz, das die Dokumentationsform regelt oder gar ihre Inhalte definiert. Die Dokumentationspflicht ergibt sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und aus der Rechtsprechung. Hans Böhme schreibt in seinem Rechtshandbuch für Führungskräfte von 1999, dass die Begründung für eine Verpflichtung zur Dokumentation in mehreren Ebenen zu finden sei:

»Haftungsrecht

Der Vertragspartner hat einen vertraglichen Anspruch auf sach- und fachkundige Arbeitsleistung

Oberstes Gebot ist die Sicherheit des Kunden/Pflegebedürftigen

Es haftet der, der ausführt, für seine Durchführung und der, der anordnet, für seine Anordnungen

Vertragsrecht

Pflegevertrag/Heimvertrag

Eigenverantwortung

Verantwortungsebenen in der Arbeitsteilung

Organisationsverantwortung

Sicherungs- und Verkehrspflicht der Einrichtung/Qualitätssicherung

Krankenkassenversicherungsrecht und Pflegeversicherung (Qualitätssicherung)«

Für wen wird dokumentiert?

Für die eigene Sicherheit, zum Beweis der geleisteten Arbeit, aus haftungsrechtlicher Sicht

Für den Pflegebedürftigen/Angehörigen/Betreuer, damit diesen klar ist, wer was wann zu tun hat

Für Kollegen als Information oder Arbeitsanweisung

Für die Einrichtung als Leistungsnachweis

Für den betriebswirtschaftlichen Erfolg, für eine korrekte Einstufung

Für den MDK zur Qualitätssicherung

Für den MDK zur Begutachtung der Pflegebedürftigkeit

Für andere Institutionen wie Heimaufsicht, Gesundheitsamt etc. als Nachweis der geleisteten Arbeit und der Einhaltung der Fürsorgepflicht

Für Kostenträger wie Pflegekasse, Sozialamt als Leistungsnachweis

Für den Informationsaustausch mit Ärzten, Therapeuten, Krankenhäusern etc.

1.3Die Formulare und der Pflegeprozess

image

Abb. 1: Der Pflegeprozess nach Fiechter und Meier.

Den einzelnen Schritten des Pflege- und Betreuungsprozesses (image Abb. 1) lassen sich unterschiedliche Formulare zuordnen:

1. Schritt, Informationssammlung

Stammblatt

Pflege- und Sozialanamnese

Biografiebogen

Überleitungsbogen

Braden-Skala/Norton-Skala

Einschätzung Mangelernährung

Einschätzung Kontrakturrisiko

Einschätzung Sturzrisiko

Kontinenzeinschätzung

Schmerzeinschätzung

Berichtsblatt

Arztvisiteformular/Info an Arzt/Vordruck

Wunderhebung

Ärztliche Verordnungen

Vitalwerte

2. Schritt, Erkennen von Ressourcen und Problemen, inkl. Ursachen, Symptomen (Pflegediagnosen)

Erste Spalte der Pflegeplanung

3. Schritt, Festlegung der Ziele (Nahziele, Fernziele)

Zweite Spalte der Pflegeplanung

4. Schritt, Planung der Pflegemaßnahmen/Pflegeinterventionen

Dritte Spalte der Pflegeplanung

5. Schritt, Durchführung der Pflege und Betreuung

Durchführungsnachweis/Leistungsnachweis

Wundformular

Trinkprotokoll

Ernährungsprotokoll

Bewegungs-/Lagerungsprotokoll

Schmerzprotokoll

Miktionsprotokoll

Vitalwerte

6. Schritt, Ergebnis/Beurteilung/Evaluation der Wirksamkeit der Pflege und Betreuung

Berichtsblatt

Wunddokumentation

Trinkprotokoll

Ernährungsprotokoll

Schmerzprotokoll

Miktionsprotokoll

Vitalwerte

Nicht alle Papiere sind verpflichtend, aber zum Teil durchaus sinnvoll und notwendig. Welche Dokumentation die beste ist, kann Ihnen niemand sagen. Natürlich wird jeder Hersteller von Dokumentationssystemen seine Variante als die beste anpreisen. Ich habe in meiner Tätigkeit sehr viele, auch EDV-gestützte Dokumentationen im Einsatz gesehen und kann nur sagen: Die beste Dokumentation ist die Eigenproduktion, die je nach Bedarf und speziell auf die Einrichtung bezogen erstellt wurde.

Was nutzt der Einrichtung ein Ferrari in der Garage, wenn ihn niemand fahren kann? Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass die Anschaffung einer ausgeklügelten, teuren Dokumentation keineswegs das Dokumentieren verbessert oder erleichtert. Vor dem Autofahren steht der Erwerb des Führerscheins. Ohne Kenntnis des Autofahrens bleibt auch der tollste Ferrari bloß ein Sitzmöbel.

Wenn ein Mitarbeiter also den Pflegeprozess nicht begriffen hat, wenn er die Notwendigkeit und den Sinn der Dokumentation nicht versteht, wird er mit der teuersten Pflegedokumentation nicht zurechtkommen. Die Fehler, die er mit der »alten« Dokumentation gemacht hat, werden durch ein neues Dokumentationssystem allein nicht verhindert. Wer schon auf Papier nicht weiß, was er in den Pflegebericht eintragen soll oder wie die Pflegeplanung funktioniert, wird es durch das bloße Vorhandensein einer EDV-Dokumentation nicht lernen.

Mit Einführung des Strukturmodells haben Sie nun natürlich keinen sechsschrittigen Pflegeprozess mehr und bilden auch nicht mehr jeden Schritt ab. Es wird auf gesonderte Biografiebögen und Assessment genauso verzichtet wie auf die klassische Pflegeplanung.

Dafür gibt es nun SIS® und Maßnahmenplanung. Das bedeutet vielerorts aber nicht das Ende der Bürokratie, wie ich im Laufe dieses Buches noch darstellen werde.

Aber das Strukturmodell, landläufig häufig nur die »SIS®« genannt, ist keine Pflicht und wird auch keine.

2019 nun kam, zumindest für die vollstationäre Pflege, die interne Ergebniserfassung von Qualität hinzu. Die Qualitätsindikatoren (QI) bedeuten für jede Einrichtung Mehrarbeit. Für fast alle Heimbewohner müssen alle sechs Monate 98 Fragen zur Ergebniserfassung erhoben werden.

Wenn die Dokumentation hier nicht aktuell ist, das Begutachtungsinstrument nicht konsequent ausgefüllt, bedeutet das viel Arbeit. Wer auf Papier dokumentiert, kann auch hier gut vom AEDL-Schema abweichen und auf fünf Bereiche wechseln. Oder gar einen neuen Weg gehen und die sechs Module des Begutachtungsinstrumentes als Grundlage für seine Dokumentation nutzen.

_________________

1Vgl. Böhme H (1999). Rechtshandbuch für Führungskräfte. Weka Verlag, Kissing

Die Anforderungen und Kriterien an die Dokumentation verlangen flexible Denkprozesse, und kaum jemand ist sich wirklich hundertprozentig sicher, wie und was für wen dokumentiert werden muss. Wenn Sie eine MDK-Prüfung hinter sich haben, mussten Sie in der Regel etwas an der Pflegedokumentation verändern. Diese Anpassung, Änderung oder Nachbesserung bedeutet aber nicht, dass die nächste Prüfung besser verläuft. Denn wenn zur nächsten Prüfung andere Prüfer kommen, haben diese auch eine andere Sicht auf die Dinge. Es kommt noch schlimmer: Selbst wenn der MDK-Prüfer bei der Qualitätsprüfung zufrieden ist, bedeutet das nicht, dass es auch der MDK-Gutachter bei der Einstufung ist. Einen Mitarbeiter der Heimaufsicht interessiert wiederum nicht, was den MDK zufriedenstellt, sondern er befolgt eigene Anforderungen.

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Auch ein Leitungswechsel hat sofort Änderungen in den Anforderun gen der Pflegedokumentation zur Folge. Was bisher nicht beanstan det wurde, wird auf einmal in der Pflegevisite kritisiert. Auch ein interner Qualitätsmanager hat seine eigenen Vorstellungen über das Führen der Akten. Wer sich dann noch freiwillig einer Zertifizierung unterzieht, erlebt weitere Anforderungen, die mitunter bis dato nicht gestellt wurden.

All diese Anforderungen summieren sich rasch zu einem gordischen Knoten, der den Alltag überaus beschwerlich macht. Zählen wir einmal die »ganz normalen« Anforderungen zusammen:

Einer beharrt darauf, dass jeden Tag ein Eintrag in den Pflegebericht erfolgt.

Ein Zweiter hält das für völlig übertrieben und findet es ausreichend, wenn einmal pro Woche etwas geschrieben wird.

Ein Dritter verlangt, dass die Braden-Skala jeden Monat aufs Neue ausgefüllt wird.

Ein Vierter sagt, bei nicht gefährdeten Pflegebedürftigen reicht es, die Braden-Skala erst wieder bei Änderungen der Pflegesituation neu auszufüllen.

Ein Fünfter möchte die Pflegeplanung in der ersten Woche nach Aufnahme des Pflegebedürftigen geschrieben wissen.

Ein Sechster findet drei Wochen für die Planung auch okay.

Ein Siebter verlangt alle acht Wochen eine Auswertung der Pflegeplanung;

Ein Achter möchte das nur alle zwölf Wochen erledigt sehen.

Für einige muss die Auswertung für jede AEDL einzeln erfolgen; anderen reicht eine Zusammenfassung der aktuellen Pflegesituation.

Was machen Sie nun als eifrige Mitarbeiterin? Welcher Anforderung kommen Sie nach? Führen Sie für jeden »Herrn« eine andere Art der Dokumentation? Oder schauen Sie, wer gerade das Sagen hat und wählen den Mächtigsten? Das fragen sich nicht nur Sie, das fragen sich viele in der Pflege Tätige. Die Folgen wiegen schwer: Einrichtungen, Führungskräfte und Mitarbeiter, die jede neue Anforderung hinnehmen, werden sich immer wieder hin- und hergerissen fühlen. Sie sind im höchsten Maße verunsichert und diese Verunsicherung schlägt mitunter in Angst vor Prüfern und Prüfungen um; oder in das Gegenteil: Man nimmt gar nichts mehr ernst, weil man schon so viel erlebt hat und es sowieso niemandem recht machen kann.

Dabei ist die Lösung des gordischen Knotens einfach, so einfach wie ein Schwertstreich. Lernen Sie zu fragen »Wo steht das?«, wenn wieder mal jemand etwas fordert!

Wo steht geschrieben,

was in den Pflegebericht eingetragen werden muss?

wie oft ein Pflegebericht zu führen ist?

bis wann eine Pflegeplanung nach Neuaufnahme zu erfolgen hat?

wie oft eine Pflegeplanung zu evaluieren ist?

wie oft welche Assessments (Dekubitusrisiko, Sturzrisiko, Ernährungsmanagement etc.) ausgefüllt werden müssen?

wann welches Protokoll (z. B. Ernährung, Lagerung etc.) anzusetzen ist und wann es wieder abgesetzt werden kann?

welche Papiere insgesamt benötigt werden?

wie jedes einzelne Blatt auszufüllen ist?

Zu einigen dieser Fragen werden Sie tatsächlich Antworten finden: im MDK-Prüfbogen zur Prüfung der Qualität (Qualitätsprüfungs-Richtlinien); einige Heimaufsichtsbehörden (z. B. Baden-Württemberg) haben ebenfalls eigene Kriterien in einem eigenen Katalog zusammengestellt.

Aber: Vieles in der Pflegedokumentation ist gar nicht geregelt! Und das ist gut so! Das ist der Ausweg! Es kann nämlich gar nicht alles geregelt sein. Keine Einrichtung ist mit der anderen direkt vergleichbar. Das Einzige, was Sie tun müssen, ist den Pflegeprozess umzusetzen, mit welchen Mitteln auch immer. Es gibt sicherlich 100 verschiedene Pflegedokumentationssysteme in Deutschland. Jede Einrichtung ist frei in der Gestaltung und Handhabung ihrer Dokumentation.

Die Tatsache, dass nur wenige Anforderungen präzise schriftlich niedergelegt sind, sollte jeden von Ihnen ermutigen. Denn immer, wenn etwas nicht eindeutig geregelt ist, können Sie es so tun, wie es Ihnen praktikabel erscheint. Natürlich sollten Sie jede Entscheidung, ein Dokument so oder anders zu führen, auch fachlich vertreten können. Es ist nicht sinnvoll, einen Pflegebericht nur einmal im Monat zu führen, wenn der Pflegebedürftige täglich pflegerisch versorgt wird.

Doch Pflegeplanungen müssen gar nicht 13 Seiten und mehr umfassen. Warum gerade 13 Seiten? Weil viele Einrichtungen anhand der AEDL schreiben und für jede AEDL eine eigene Seite nutzen. Das ist übrigens bei EDV-gestützten Systemen nicht viel anders. Druckt man sich eine elektronisch erstellte Planung aus, hat man ähnlich viele Seiten wie bei einer handgeschriebenen Planung, teils sogar mehr. Das Wort »Pflegeplanung« hat in vielen Einrichtungen den Namen nicht mehr verdient, weil nicht die konkrete Pflege, sondern völlig abstrakte Handlungen geplant werden. Viele Pflegekräfte arbeiten in ihrer täglichen Praxis auch gar nicht nach der festgeschriebenen Planung. Sie schreiben eine Planung, damit sie geschrieben ist, aber sie arbeiten nicht danach. Stattdessen agieren sie, wie sie es gewohnt sind, wie es ihnen gezeigt wurde oder wie sie es für richtig halten.

Gestatten Sie mir eine kleine Frage zur Reflexion. Erkennen Sie am Aussehen eines Pflegebedürftigen, wer ihn heute gepflegt hat? Ja? Das bestätigt meine These: Es wird nicht nach Plan gepflegt, sondern so, wie es dem einzelnen Mitarbeiter am besten passt. Das ist nicht böse gemeint und soll auch keine Ohrfeige für die Pflegekräfte sein. Es ist lediglich eine Feststellung und ich denke, viele von Ihnen können sie bestätigen.

Hören Sie in Dienstgesprächen oder Teamsitzungen einmal aufmerksam zu. Da unterhalten sich Kollegen über die Versorgung eines Pflegebedürftigen und der eine sagt: »Ich mache dies so«, und der andere erwidert: »Ich mache das aber so.« Wer von beiden hat recht? Vielleicht keiner. Fakt ist allerdings, es gibt einen Leidtragenden: den Pflegebedürftigen, Ihren Kunden.

Wohl dem Pflegebedürftigen, der sich äußern kann. Der sagen kann, wie er es gern möchte. Der seine Bedürfnisse, Wünsche und Gewohnheiten äußern kann, der seine »Marotten« und Eigenheiten wie gewohnt weiterführen kann. Sie kennen sicher viele Pflegebedürftige, die Rituale haben. Einige tragen immer ihren Schal um den Hals. Bei anderen muss die Handtasche überallhin mit, auch zur Toilette, und im Bett liegt sie immer in der Ritze. Manche Pflegebedürftige möchte zur Nacht ihre Bettsöckchen oder ihr Bettjäckchen tragen. Einer trägt den Haarscheitel immer links; eine andere möchte die Haare zum sogenannten Dutt gesteckt wissen. Die nächste möchte ihr Gesicht nicht mit Seife und mit kaltem Wasser waschen. Diese Dinge sind wichtig für die Pflegebedürftigen, aber stehen diese Wünsche auch in ihrer Pflegeplanung? Nur mal nebenbei: Können Sie sich vorstellen, wie unangenehm es ist, wenn jemand Ihre Haare links scheitelt, obwohl Sie Ihr Leben lang den Scheitel rechts trugen?

Was aber ist mit den Menschen, die ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr im vollen Umfang äußern können? Was ist mit den demenziell erkrankten Menschen in Ihrer Obhut? Wie bekommen sie das Gesicht gewaschen, wie die Tagesfrisur gerichtet, welche Kleidung tragen sie? Ich selbst habe in der Versorgung dieser Klientel jahrelang Fehler begangen, auch bei meiner eigenen Oma. Als sie an Demenz erkrankte und pflegebedürftig wurde, haben wir ihr beim Waschen und Anziehen geholfen. Was haben wir ihr angezogen? Natürlich die hübschen Sachen, die sie im Schrank hatte und die sie sonst nie trug. Nicht die älteste Strickjacke und die abgetragenen Schuhe, sondern schöne Blusen und eine neue Strickjacke. Die Haare haben wir ihr ebenfalls hübsch gemacht. Was wir damit angerichtet haben, haben wir erst spät gemerkt: Oma hat sich in ihrem schönen Outfit kaum noch vom Fleck bewegt, sie hat nicht mehr im Haushalt umhergeräumt oder sie fing an, sich auszuziehen, mit und ohne Publikum. Zudem aß sie plötzlich nur noch im Stehen, weil sie ihre schöne Bluse nicht mit Essen bekleckern wollte. Wenn sie über den Tisch gebeugt stand, konnte ruhig mal etwas danebengehen, ohne dass es auf der guten Bluse landete. Hätten wir ihr die alten Sachen gelassen, hätte sie keine Auswege suchen müssen, um sauber zu bleiben. Sie hätte sich in ihrem Haushalt freier bewegt und sich nicht permanent wie ausgehfein gefühlt.

Pflegebedürftige, die ihre Wünsche, Bedürfnisse und Gewohnheiten nicht mehr äußern können, werden häufig so versorgt, wie die Pflegekraft es für richtig hält. Meine Darstellung erscheint Ihnen zu drastisch? Dann hier ein Beispiel. Steht in der Pflegeplanung bei der Kontrakturenprophylaxe nur »Durchbewegen der Gelenke«, was geschieht dann wohl jeden Tag hinter verschlossener Tür? Meinen Sie allen Ernstes, dass jeder Kollege das Gleiche tut? Nein, jeder macht das, was er für richtig hält und was ihm sinnvoll und möglich erscheint. Diese und andere Beispiele werde ich in der Folge noch aufzeigen. Oder die Kurzbeschreibung »Waschen am Waschbecken«. Den-ken Sie, dass jeder Mitarbeiter die gleiche Reihenfolge einhält? Einer beginnt mit Zähneputzen, der andere mit Gesicht waschen. Egal, denken Sie, Hauptsache gewaschen? Nein. Für den Menschen mit Demenz ist das nicht egal, er muss sich auf die Pflegekraft einstellen, statt umgekehrt.

Denken Sie jetzt bitte nicht, ich würde über die Qualität der Pflege herziehen. Ganz und gar nicht. Denn ich bin immer noch Überzeugungstäterin und in der Altenpflege tätig, weil ich daran glaube, dass wir alle grundsätzlich gute Arbeit leisten.

Warum wird also die (Maßnahmen-) Planung nicht gelesen? Warum glaubt jeder Mitarbeiter, dass er sein Bestes tut, obwohl er es anders tut als der Kollege vor oder nach ihm? Hier einige Erklärungsversuche:

Weil wir Führungskräfte es den Mitarbeitern nie anders gezeigt haben.

Weil wir es viele Jahre selbst nicht besser wussten.

Weil Dokumentationshersteller uns suggerieren, dass viel Papier auch viel hilft.

Weil Schulen immer noch »Schema F« lehren oder völlig losgelöst von der praktischen Notwendigkeit unterrichten.

Weil uns von außen die wirklich neuen Impulse fehlen. Schließlich ist der Pflegeprozess über 50 Jahre alt, ohne dass er richtig funktioniert und die Modelle von Liliane Juchli, Monika Krohwinkel und anderen haben auch schon 30 bis 40 Jahre auf dem Buckel.

Weil wir zu viel als gegeben und unabänderlich hinnehmen.

Weil wir glauben, dass der MDK oder andere Prüfgremien es so wollen, ohne zu hinterfragen, wo das Geforderte steht.

2.1Viel hilft nicht immer viel – zu viel Papier erhöht die Fehlerrate

Im Folgenden erkläre ich Ihnen, warum ich der Meinung bin, dass wir zu viel Papier (EDV-Masken) führen und dass viel Papier nicht immer die Lösung ist. Viele Papiere, die geführt werden, müssen auch von jemandem jederzeit zusammengehalten werden.

Ein standardisiertes einheitliches Pflegedokumentationssystem für die stationäre Altenpflege kann heutzutage so aussehen:

SIS®-Stammblatt

Pflegeanamnese ATL, AEDL

Biografie-Bogen

Pflegeprozessplanung

Grundpflegenachweise FD, SD, ND

Berichte

Medikamente/Ärztliche Anordnungen

Fragen an den Arzt/Vitalzeichenkontrolle

Miktionsprotokoll

Toilettentraining/Inkontinenzversorgung

Trink-/Ernährungsplan und -protokoll

Flüssigkeitsbilanz

Nachweis Soziale Betreuung

Risikoassessment

Sturzrisikoeinschätzung

Ernährungsstatus

Indikatoren zur Dekubitusgefährdung

Das sind mindestens 18 Basisvordrucke. Je nachdem wie viele Nebenprotokolle geführt werden, sind es bereits über 20 Formulare und wenn die Pflegeprozessplanung dann noch 13 Seiten umfasst, ist die Dokumentation fast so umfangreich wie ein Gesangbuch.

Wer soll diesen dicken Wälzer handhaben? Sollen Pflegekräfte in der täglichen Arbeit tatsächlich all diese Papiere bei allen Kunden gleichermaßen beherrschen? Funktioniert der Pflegeprozess dann noch? Nein, das tut er nicht. Es werden Informationen gesammelt »auf Teufel komm raus«, oftmals ohne erkennbaren Nutzen. Kaum ein Mitarbeiter blickt da noch durch und kann die Fäden zusammenhalten.

Es ist Alltag in deutschen Pflegeeinrichtungen, dass für jeden neuen Pflegebedürftigen eine umfassende Informationssammlung erhoben wird. Da wird nicht nur der Anamnesebogen ausgefüllt, der Kunde soll auch biografische Daten preisgeben. Er wird gewogen, sein Ernährungsstatus erhoben, seine Risiken anhand diverser Bögen eingeschätzt. Es wird unnötig viel erhoben, beschrieben und dokumentiert. Was geschieht aber mit all den Informationen? Fließen sie tatsächlich in den Pflegeprozess mit ein? Werden alle erhobenen Daten in die Prozessplanung übernommen? Meine Erfahrung beweist, dass viele der gesammelten Informationen um ihrer selbst willen erhoben werden. Die Umsetzung aber unterbleibt.

Ich lese Pflegeplanungen, in denen sich nicht ein einziges Wort zur Biografie findet. Trotzdem findet sich anderswo eine zweiseitige Biografie.

Wozu füllt man DIN A 3 große Anamnesebögen aus, obwohl man das Gleiche kurze Zeit später noch einmal in die Pflegeplanung aufnimmt?

Ich lese Pflegeberichte oder Auswertungen von Pflegeplanungen, in denen sich kein Hinweis auf einen Gewichtsverlust findet, der sich seit Monaten latent im Vitalzeichenblatt wiederfindet. Wozu wiegt man, wenn man aus dem Gewichtsverlauf keine Maßnahmen ableitet?

Es werden Sturzrisikoeinschätzungen durchgeführt, teils jeden Monat wieder. Was geschieht mit diesen Informationen? Wird alles als Problem in die Pflegeplanung geschrieben oder kann ein Mensch auch Defizite haben, ohne damit ein Pflegeproblem zu haben? Ist jemand, der sein rechtes Bein nachzieht, automatisch sturzgefährdet? Kann es nicht auch sein, dass er trotz seines Humpelns allein und selbstständig geht, also Ressourcen hat?

Ich kenne Schmerzerfassungen, die werden jeden Monat ausgefüllt. Und das, obwohl der Pflegebedürftige dank seiner Analgetika gar keine Schmerzen äußert. Und wenn der Pflegebedürftige mal Schmerzen äußert, werden diese lapidar im Bericht vermerkt (»hat Schmerzen, erhielt Bedarfsmedikation«). Keine Auswertung der Situation, wo, wann und wie schlimm die Schmerzen waren und welche nicht medikamentösen Maßnahmen möglicherweise ergriffen wurden. Die umfassende Schmerzerfassung wird nicht herangezogen, die ist nämlich erst nächsten Monat wieder dran…

Kommen Ihnen diese und weitere Beispiele bekannt vor, dann sind auch Sie Opfer der Dokumentationsflut. Der Pflegeprozess funktioniert aber so nicht. Mit Einführung des Strukturmodells werden im Allgemeinen keine Assessments mehr geführt. Dennoch bedeutet dieses Vorgehen nicht automatisch eine Entbürokratisierung. Ich kenne einige, auch große Träger, die mit Einführung des Strukturmodells erst einmal ihr Qualitätsmanagement auf- statt abgerüstet haben.

Da werden Verfahrensanleitungen für einfachste Dinge wie Rollstuhlnutzung, Betten beziehen etc. produziert. Der Grund: Mit Einführung des Strukturmodells sollen in den Berichteblättern nur »noch Abweichungen von den Maßnahmen zur Grundpflege und Betreuung«2 dokumentiert werden. Nicht nur, dass Berichteblätter mit vielen Verweisen auf Verfahrensanleitungen schlecht zu lesen sind, sie sind auch oft übertrieben aufgebläht. D.h. das, was man an Asssessments »gespart« hat, wird an anderer Stelle wieder »aufgeholt«.

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2Vgl. https://www.ein-step.de/haeufige-fragen/ [Zugriff am 2. 12. 2019]

Die Schritte des Pflegeprozesses bauen aufeinander auf, sie müssen aus einem Guss sein, damit der Prozess stimmig ist. In der Praxis hakt es aber an vielen Stellen. Die gesammelten Informationen werden nicht in die Problem- oder Ressourcendarstellung übernommen. Das ist bereits der erste Fehler und dass schon bei Schritt 1 zu Schritt 2 des Prozesses. Dann werden Ziele gesteckt, die bei den vorhandenen Problemen unrealistisch sind. Oder die Ziele passen nicht zu den Maßnahmen, die geplant werden. Dann werden Maßnahmen geplant, die so nicht durchgeführt werden. Teilweise wird manchmal mehr geplant als nachher durchgeführt und abgezeichnet wird. In anderen Fällen, meist bei den Prophylaxen, wird viel mehr abgezeichnet, als geplant wurde. Und schließlich der sechste und letzte Schritt, die Evaluation. Diese steht oft mit keinem anderen Prozessschritt in Verbindung. Dabei ist die Ergebnisdarstellung das Herzstück einer jeden Pflegeplanung.

3.1Wir sind Weltmeister der Informationssammlung

In Pflegeeinrichtungen, ambulant wie stationär, werden zahllose Informationen erhoben. Aber wie so oft werden aus den gesammelten Informationen keine Rückschlüsse gezogen. Es wird nichts abgeleitet, die Informationen werden nicht mit in die Pflegeplanung übernommen.

Es beginnt bereits mit der Erhebung der Anamnese. Dort werden Vorlieben oder Gewohnheiten aufgenommen, die sich in der Planung später nicht wiederfinden. Es werden Ressourcen erkannt, aus denen später in der Planung kein Kapital geschlagen wird, auch und gerade im Bereich der Ermittlung des Sturzrisikos. Es werden aufwändige und detaillierte Biografiebögen ausgefüllt, Kunden und deren Angehörige ausgefragt. Oder sie werden gebeten, die Informationen gleich selbst einzutragen und erhalten einen separaten Bogen. Neben diesem Bogen für die Angehörigen füllen die Pflegekräfte dann aber auch noch brav eigene Bögen aus. Was geschieht mit all den Informationen aus dem Leben dieses Pflegebedürftigen? Wozu müssen Sie im ambulanten Dienst bei einem Kunden, der einmal pro Woche eine Dusche bestellt, wissen, wo er geboren ist, seit wann er verwitwet ist und welchen Beruf er ausübte? Sicher ist das Leben anderer interessant, sonst gäbe es keine Biografien, die sich als Bestseller verkaufen. Aber was geschieht mit den teils doppelseitig in Erfahrung gebrachten, höchst persönlichen Daten dieser Menschen? Ich schätze, zu 90 Prozent nichts, denn nach meiner Einschätzung werden nur etwa 10 Prozent der Daten überhaupt als pflegerelevant in der täglichen Pflege eingesetzt und in der Pflegeplanung weiterverarbeitet.

Es werden Assessments geführt, aber das Ergebnis findet sich in der Pflegeplanung nicht wieder. Es werden beim Ausfüllen der Braden-Skala hier und da Punkte abgezogen, bspw. bei der Rubrik Feuchtigkeit. Aber wieso und warum diese Punkte bei diesem Kunden abgezogen werden, wird in der Planung nicht erläutert, dort steht dann lediglich »ist inkontinent«. Oder es gibt einen Punktverlust bei der Überschrift »Aktivität«, aber auch hier fehlt die individuelle Auswirkung in der Planung. In der Pflegeplanung findet sich, wenn überhaupt, nur den Hinweis, dass der Mensch bewegungseingeschränkt ist, nicht aber wie, wo und warum.

Es wird anhand intrinsischer und extrinsischer Faktoren eine Sturzrisikoeinschätzung vorgenommen. Die Einschätzung wird mitunter monatlich wiederholt, aber die Informationen werden in der Planung nicht individuell dargestellt, sondern es wird nur »sturzgefährdet« als Problem eingetragen, und das unabhängig davon, wie viele einzelne intrinsische und extrinsische Faktoren bei der Risikoermittlung festgestellt wurden.

Es werden Assessments zur Ernährung durchgeführt, bei denen Faktoren beleuchtet und eine Einschätzung zur Mangelernährung vorgenommen werden. Dennoch finden sich, trotz aufwändigem Instrument, keine Hinweise oder Rückschlüsse daraus in der Pflegeplanung. Wie der Ernährungszustand bei Aufnahme des Kunden war, wie dieser sich in letzter Zeit entwickelte und warum, wird nirgendwo beschrieben.

Es wird jeden Monat aufs Neue das Gewicht eines Kunden ermittelt und womöglich sogar der BMI errechnet. Sieht man sich dann die Gewichtsverläufe an, so kann man in einem Verlauf immer etwas erkennen. Aber diese Erkenntnis findet sich nicht in der Pflegeplanung/SIS® oder der Auswertung. Weder ob der Kunde ab- oder zugenommen hat und wenn ja, warum. Oder ob das Gewicht stabil geblieben ist.

Es werden Schmerzeinschätzungen mit mehr oder minder umfangreichen Systemen vorgenommen. Diese Einschätzungen und Protokolle werden so-gar in bestimmten Intervallen wiederholt, aber die Erkenntnisse und Informationen aus diesen Einschätzungen finden sich in der Pflegeplanung nicht wieder. Dort steht häufig nur, dass jemand unter chronischen Schmerzen leidet. Es fehlen aber Hinweise darauf, seit wann, wie und wo diese Schmerzen auftreten und vor allem, wie sie sich im Alltag auswirken und wie der Kunde darunter leidet. In der Auswertung wiederum wird kein Bezug auf die Schmerzentwicklung genommen, ob andere Methoden des Umgangs mit dem Thema oder Medikamente hier Abhilfe schaffen konnten, wird nicht erwähnt.

Es werden akribische Wunddokumentationen geführt. In der Regel mindestens einmal pro Woche beschreibt man die bestehende Wunde von allen Seiten und in deren Beschaffenheit. Aber wo bleibt das Fazit? Wo ist die Entwicklung unter der aktuellen Behandlungsmethode ersichtlich? Und vor allem, wo ist erkennbar, wie es dem Kunden mit dieser Wunde geht, wie und wo er in seinem Pflegealltag dadurch gehandicapt ist?

Schaut man sich die Pflegedokumentationspapiere an, so sind rund 80 Prozent der Papiere reine Informationsblätter oder ein Mix aus Information und Evaluation. Und diese werden nicht zusammengeführt. Aus der Vielzahl loser Enden wird kein handlungsleitendes Seil für die Versorgung dieses einen Kunden geknüpft. Grafisch dargestellt sieht man die Ausmaße dieser Informationsflut (image Abb. 2). Im Pflegealltag erlebe ich häufig das Gleiche: Der Pflegeprozess beginnt mit mehr als einem Dutzend Vordrucke. Und wenn die Informationen alle gesammelt sind, geht es nicht weiter. Der Prozess kommt ins Stocken.

Einige Einrichtungen, die auf das Strukturmodell umgestellt haben, meinen, eine A 3-Seite für die Informationssammlung reiche nicht aus. Und so fragen sie nach einer Erweiterung der Zeilenbegrenzung oder nehmen einfach einen zweiten SIS®-Bogen. Trotz Entbürokratisierung ist das Sammeln von Daten offenbar unser »liebstes Kind«.

3.2Der Prozess beginnt mit der Informationssammlung

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Abb. 2: Die Informationssammlung.

Der Pflegeproblemlösungsprozess nach Fiechter und Meier macht deutlich, dass mit den Informationen gearbeitet werden muss. Entweder ergibt sich daraus eine Ressource – dann hält man sich heraus aus dem Pflegeproblemlösungsprozess – oder die gesammelten Informationen ergeben, dass ein pflegerisches Problem vorliegt, dann muss der Prozess weitergeführt werden.

3.3Pflegekräfte als Erfinder von Problemen

Es werden mehr Informationen gesammelt, als verarbeitet werden, das habe ich im vorangegangenen Abschnitt dargestellt. Wie geht es nun weiter mit dem zweiten Schritt im Pflegeprozess, der Darstellung der Pflegeprobleme in der Pflegeplanung?

Leider ist der Umgang mit den Informationen nicht viel besser als der Umgang mit dem Thema Pflegeproblem. Viele Pflegekräfte sitzen vor dieser Spalte und fragen sich: »Was ist nun das Problem?« Manchmal erkennen sie, dass da zwar kein Problem ist, aber sie trauen sich nicht, eine Spalte in der Pflegeplanung einfach leer zu lassen. Unter dem Druck, in die Problemspalte etwas eintragen zu müssen, füllen sie die Spalte nach bestem Wissen, aber eben nicht immer sinnvoll. Andere Pflegekräfte wissen nicht so recht, wessen Problem es eigentlich ist, und folglich sind sie unsicher, wie sie es beschreiben sollen.

Ich stelle immer wieder fest, dass Mitarbeiter Probleme nur aus ihrer Sicht beschreiben. Das ist aber oft lediglich eine Feststellung. Hier einige Beispiele, wie schnell Defizite mit Problemen verwechselt werden:

… ist blind

… ist schwerhörig

… ist auf Brille angewiesen

… ist gehbehindert

… ist bettlägerig

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842690547
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Altenpflege Beschäftigen Pflegedokumentation
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Titel: Dokumentationswahnsinn in der Pflege