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100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz

Wertschätzender kommunizieren - Biografischer pflegen & betreuen - Milieuorientierter arbeiten

von Jutta König (Autor:in) Claudia Zemlin (Autor:in)
120 Seiten
Reihe: Pflege Praxis

Zusammenfassung

Es ist nicht einfach, Menschen mit Demenz zu pflegen. Die 100 Fehler in diesem Buch machen es deutlich: Da dürfen Menschen mit Demenz nichts allein machen. Wenn sie weglaufen, wird nicht nach den Gründen gefragt. Vertrauliche Details aus der Biografie stehen – für alle sichtbar – in der Dokumentation.
Es ist vielen Pflegenden wichtig, Menschen mit Demenz so zu pflegen, dass es ihnen gut geht und sie sich wohlfühlen. Doch das gelingt nur, wenn die eigene Haltung, die pflegerische Kompetenz und das fachliche Know-how immer wieder überprüft und verbessert werden.
Genau dafür wurde dieser prägnante Ratgeber konzipiert.
Die 4., aktualisierte Auflage enthält zahlreiche Ergänzungen, ist aber wie gewohnt kompakt und übersichtlich.

Auf den Punkt gebracht:
Der handliche Ratgeber für Pflegekräfte.
Praktische Tipps für die tägliche Pflege von Menschen mit Demenz.
Expertenrat für Pflegekräfte, die mehr wollen als „Sicher – Satt – Sauber“
Das bewährte Standardwerk – auch für pflegende Angehörige.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Demenziell Erkrankte bilden die wohl größte Gruppe von Pflegebedürftigen. Deshalb freuen wir uns, Ihnen dieses Buch zu präsentieren, denn all die strittigen Punkte und Diskussionen rund um das Thema Demenz, das Verhalten und die typischen Fehler im Umgang mit dieser Personengruppe, sind uns seit Langem ein Anliegen.

In vielen Seminaren und Beratungsterminen tauchen immer wieder die gleichen Fragen auf bzw. zeigen sich die immer gleichen Probleme im Umgang mit Menschen mit Demenz. Die hier aufgeführten Fehler und Beispiele entstanden aufgrund jahrelanger Erfahrungen bei Untersuchungen mit dem Dementia-Care-Mapping (DCM)-Verfahren und bei Beratungsterminen zur Qualitätssicherung bei Dutzenden verschiedener Unternehmen in Deutschland.

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Info

Der Expertenstandard »Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz« findet in unseren Empfehlungen zum Umgang mit den Klienten selbstverständlich Eingang.

Wir nutzen in unserem Buch ausdrücklich nicht den Begriff »Patient« oder »Bewohner«. Wir nennen Menschen, die in einigen Bereichen des Lebens der Hilfe bedürfen, Klienten. Klient ist nach der Definition ein Mensch, der in Teilbereichen schutzbedürftig ist und hierbei eine Vertretung benötigt. Unsere Funktion als Pflegende und Begleitende sollte sich daher nur auf die Kompensation der Hilfsbedürftigkeit in jenen Bereichen beschränken, die der Klient nicht mehr selbst übernehmen kann. Keinesfalls dürfen wir anderen Menschen, nur weil sie in Teilbereichen hilfsbedürftig werden, alles wegnehmen und durch Neues ersetzen. Wenn wir Menschen aufgrund ihrer lediglich teilweisen Einschränkungen, als »Patient« oder »Bewohner »bezeichnen, nehmen wir ihnen oft die eigene Identität und Perspektive.

Wir verstehen unter einem Klienten jemanden, der lediglich eine Art »Prothese« benötigt, um sein Leben selbstständig weiterzuführen. Ein Klient ist also beispielsweise ein Mensch mit einer Beinamputation, der nur in diesem Zusammenhang eine Unterstützung (Prothese) benötigt, um selbst weiterlaufen zu können. Das gilt auch für einen Menschen mit Demenz. Er braucht keine überversorgende, entmündigende Pflege, sondern eine Umgebung und Begleitung, die auch ihm selbstständiges Handeln ermöglicht. Er benötigt nicht mehr und nicht weniger.

Dieses Büchlein allein kann Ihnen keinen Erfolg beim Umgang mit Menschen mit Demenz garantieren, aber es soll Ihnen zeigen, dass Ihre persönliche Grundhaltung und Einstellung die Grundvoraussetzung für jegliches Tun in der Pflege ist.

Hierfür erläutern wir Zusammenhänge zwischen Haltung, Milieu, Kommunikation, Biografie und herausforderndem Verhalten. Wir möchten Ihnen in anschaulicher Art und Weise die typischen Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz aufzeigen. Denn: Aus Fehlern lernt man.

Wiesbaden und Berlin, im Juni 2020 Jutta König
Dr. Claudia Zemlin

1.1Definition der Demenz nach ICD-10

»Demenz (F00 bis F03) ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nicht getrübt.«1

Für die Diagnose einer Demenz müssen die Symptome nach ICD über mindestens sechs Monate bestanden haben (vgl. Dilling et al. 2000). Die Sinne (Sinnesorgane, Wahrnehmung) funktionieren im für die Person üblichen Rahmen. Gewöhnlich begleiten Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation die kognitiven Beeinträchtigungen; gelegentlich treten diese Syndrome auch eher auf. Sie kommen bei Alzheimer-Krankheit, Gefäßerkrankungen des Gehirns und anderen Zustandsbildern vor, die primär oder sekundär das Gehirn und die Neuronen betreffen.

1.2Definition der Demenz im DSM-IV

Die kognitiven Defizite verursachen eine signifikante Beeinträchtigung der sozialen und beruflichen Funktionen und stellen eine deutliche Verschlechterung gegenüber einem früheren Leistungsniveau dar. Sie treten nicht im Rahmen einer rasch einsetzenden Bewusstseinstrübung oder eines Delirs auf.

Zur Beeinträchtigung des Gedächtnisses muss noch mindestens eine der folgenden Störungen hinzukommen:

Aphasie: Störung der Sprache,

Apraxie: beeinträchtigte Fähigkeit, motorische Aktivitäten auszuführen,

Agnosie: Unfähigkeit, Gegenstände zu identifizieren bzw. wiederzuerkennen,

Störung der Exekutivfunktionen, d. h. Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge2.

Liest man diese Definitionen, dann schiebt sich für viele, die Menschen mit Demenz begleiten und pflegen, die Frage in den Vordergrund: Wie kann man die Lebensqualität bei Menschen mit Demenz entwickeln und sichern?

In den letzten Jahren wurde dieses Thema in Fachkreisen fokussiert und diskutiert. Alte Pflegekultur, die vor allen Dingen somatische Aspekte berücksichtigt, und neue Pflegekultur, die die psychosozialen Aspekte des Betroffenen in den Pflegefokus setzen (Kitwood 1997, 2000), prallen aufeinander. Man macht sich Gedanken, wie man Lebensqualität erzeugen kann und welche Faktoren hierbei hinderlich sind. Ein wesentlicher Aspekt ist die Entwicklung einer Haltung gegenüber den betroffenen Menschen, einer Haltung, die psychische und physische Bedürfnisse erkennt und Lebendigsein zulässt – trotz Demenz:

Wie entfalte ich Hoffnung als eine wichtige Einstellung, die die begleitende Umwelt annehmen muss?

Wie schaffe ich gute Kontakte und fördernde Bedingungen, die eine Lebensqualität ermöglichen?

Welche Fortbildung brauche ich, um Lebensqualität für die Pflegebedürftigen zu entwickeln?

Tracy Lintern identifizierte einige Haltungen, die es Pflegenden erschweren, einen optimalen Raum für ein Zusammenleben mit Menschen mit Demenz zu erzeugen. Die Beschäftigung mit der eigenen Einstellung hilft, den eigenen Standpunkt zu erkennen, den Bedarf an Wissen zu ermitteln und Prozesse in Bewegung zu bringen, die Lebensqualität möglich machen (vgl. Zemlin & Müller-Hergl 2008). Einige Einstellungen, die Lintern mit dem ADQ (»Approaches to Dementia Questionnaire: An attitude scale for use with dementia care staff«), einem Erhebungsbogen zur Ermittlung von Haltungen in der Pflege, erfragte, werden hier hervorgehoben, da sie nach unseren Beobachtungen weitverbreitet scheinen (vgl. Fehler 1 bis 12).

Damit bezeichnet man Verhaltensweisen, die von pflegenden und begleitenden Mitarbeitern ausgehen und die negativ auf den Menschen mit Demenz wirken. Jemandem die Macht zu nehmen, etwas zu tun oder entscheiden zu können, jemanden nicht wertzuschätzen oder wie ein Objekt zu behandeln – dies sind Verhaltensweisen, die das Personsein untergraben und besonders häufig Menschen treffen, die nicht mehr »der Norm« entsprechen. Kitwood (2000) sieht dieses Verhalten im Rahmen einer malignen (= bösartigen) Sozialpsychologie. Der Grund für diese Verhaltensweisen ist nicht böswillige Absicht, sondern eine alte Kultur, die sich in allen Bereichen, wo Menschen in soziale Kontakte und besonders in Abhängigkeiten kommen, nachweisen lässt. Diese Zeichen der alten Kultur aufzudecken und schließlich zu vermeiden, sollte Ziel von Pflegeprozessanalysen sein.

Das DCM-Verfahren, das auf dem personzentrierten Ansatz von Kitwood basiert, unterscheidet verschiedene Formen von personalen Detraktionen, die DCM-Anwender häufig beobachten. Durch die folgende Darstellung, insbesondere bei der Diskussion der Fehler 13 bis 30, die den pflegerischen Alltag betreffen, wollen wir Pflegende auch auf personale Detraktionen milderer Form aufmerksam machen (vgl. Kitwood 1997, 2000).

Biografisches Arbeiten ist eine Voraussetzung, um individuelle Pflege zu ermöglichen. Pflegerische Konzepte, die den Anspruch haben personzentriert zu sein, brauchen dringlichst eine klare Aussage darüber, wie Biografierarbeit verankert ist, um die Zielsetzung, Zugänge zu den Bedürfnissen, Wünsche und Interessen einer Person zu erkennen.

Die Biografie eines Menschen beleuchtet dessen Lebensgeschichte aus seiner eigenen Perspektive vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Prägung.

Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit, was bedeutet, dass die persönliche Entwicklung eines Individuums sowohl durch zeitgeschichtliche Erlebnisse als auch durch die konkrete Lebenssituation in der Familie geprägt ist.

Biografie ist erzählte Erinnerung. Dabei sind die Ziele: Selbsterkenntnis, Selbsthilfe (Eigentherapie), Rechenschaftsbericht, Versuch der Selbstfindung und Entscheidungshilfe.

Biografie ist die Basis für das Verständnis dafür, was einen Menschen bewegt, antreibt, wie er Lebenssituationen bewältigt und seinem Leben Sinn gibt.

Nur wenn Pflegende bereit sind, sich Klienten mit einer angemessenen »Geschichtsfühligkeit« (Böhm 2013), mit einem Interesse an dem Leben des Klienten vor dem Pflegeheim zu nähern, kann Pflege wirklich individuell gestaltet und somit erfolgreich sein. Wenn Pflege auch Seelenpflege sein soll, dann bedarf es eines psychobiografischen Ansatzes, damit die Frage: »Was mache ich bei wem und warum?« sinnvoll beantwortet werden kann.

Dabei ist es wichtig, dass Pflegende wissen, dass ihre eigene Biografie ein bedeutender Aspekt in ihrem Handeln ist. Die eigene Biografie bestimmt oft die Art und Weise, wie jemand pflegt. Gerade in einer Dyade, wo der Klient mit Demenz in ständig zunehmende, auch emotionale Abhängigkeit vom Umfeld gerät, müssen sich Pflegende ihre selbstreflektorische Verantwortung bewusst machen. Nur unter dieser Bedingung kann gefühlsbiografisches Arbeiten dazu führen, dass sich eine »verstehende Pflege statt eine verständliche Pflege« (Böhm 2013) entwickeln kann (Zemlin & Radzey, 2014, S. 60–61).

Obwohl dies besonders bei den Fehlern 70 bis 74 thematisiert wird, muss man davon ausgehen, dass biografisches Wissen und Verständnis Basis für jedes pflegerische Handlung sein sollte.

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1 https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2018/block-f00-f09.htm, Zugriff am 11. 06. 2020

2 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Demenz#Definition_der_Demenz_nach_ICD_10, Zugriff am 11. 06. 2020

1. Fehler: Annahme, man könne für die betroffenen Menschen nichts mehr tun

Das ist mit Sicherheit eine Annahme, die in einem viel umfassenderen Maße diskutiert werden muss. Sie hat dramatische Folgen in der täglichen Begleitung von Menschen mit Demenz. Diese Haltung, bei der Demenz mit Hoffnungslosigkeit gleichgesetzt wird, stammt, wie Kitwood (1997) es beschreibt, aus der alten Pflegekultur, die Demenz als eine das zentrale Nervensystem zerstörende und somit die Identität und Person vernichtende Erkrankung ansieht, der kein Mittel entgegenwirken kann.

Fakt: Diese Annahme raubt den Angehörigen und Pflegekräften jegliche Zuversicht. Sie halten ihr Tun nur für eine Begleitung, die den Zustand gerade so erträglich machen kann. Diese Hoffnungslosigkeit führt geradewegs zu einer Pflege, die wesentliche psychische Bedürfnisse eines Menschen mit Demenz nicht erfüllt, weil sie sie nicht als solche erkennt. Die Pflegebedürftigen verkümmern, weil sie kaum wertschätzende Kontakte und Einbindung in Lebensaktivitäten erleben. Das aber ist das Ergebnis der Pflege – nicht der Demenz.

2. Fehler: Annahme, Menschen mit Demenz benötigten eine feste Tagesstruktur

Bei dieser Fehler-Formulierung handelt es sich um eine Aussage, die, wenn sie allgemeingültig festgelegt wird, falsch ist. Individuelle Rituale sind davon unberührt. Wer glaubt, dass er Menschen mit Demenz nur durch einen starren Tagesablauf »lenken« kann, berücksichtigt keine individuellen Schwankungen, keine Launen, plötzlich auftretende Wünsche oder andere Bedürfnisse, die den Einzelnen ausmachen.

Fakt: Es mag sein, dass es Pflegebedürftige gibt, die von festen Abläufen profitieren. Aber oft ist es so, dass feste Abläufe den Menschen entmündigen und ermüden. Vorteilhaft ist ein solcher Ablauf nur für die Pflegenden, die den Pflegebedürftigen in einen überschaubaren Rahmen pressen, der ihm wenig Gelegenheit für Unvorhersehbares lässt – quasi eine kontrollierbare Situation, die kaum Risiken birgt. Leben ist etwas anderes! Dieses Verhalten der Pflegenden kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Oft hat es mit der Haltung gegenüber Menschen mit Demenz zu tun. Betrachtet man diese Menschen, als seien sie nur noch durch starre Grenzziehung beherrschbar, weil ansonsten das Chaos herrsche, dann spricht das für Unwissenheit, Unsicherheit und Angst vor Überforderung. Hier benötigen die Pflegenden Hilfe!

3. Fehler: Annahme, Menschen mit Demenz könnten keine Entscheidungen mehr treffen

Jeder Pflegende, der Menschen mit Demenz begleitet, weiß aus seiner täglichen Erfahrung, dass Pflegebedürftige fortwährend eigene Entscheidungen treffen. Sie laufen über den Flur, nehmen Dinge mit, sprechen andere Personen an oder äußern laut, wenn ihnen bestimmte Dinge nicht passen.

Fakt: Hinter dieser fehlerhaften Annahme, dass Menschen mit Demenz keine Entscheidungen mehr treffen können, steht eigentlich die Meinung, dass Menschen mit Demenz nicht immer Entscheidungen in der Form treffen, wie Pflegende es wünschen. Da allgemein davon ausgegangen wird, dass nur kognitiv nicht eingeschränkte Menschen richtige Entscheidungen treffen können, werden Entscheidungen von Menschen mit Demenz folglich oft nicht ernst genommen

Beispiel Frau Müller und das Mittagessen

Frau Müller sitzt seit der Frühstücksgruppe, in der sie ein üppiges Frühstück zu sich genommen hat, im Gruppenraum. Sie lauscht interessiert einem Gespräch über das Thema »Einwecken«. Leider kann sie aufgrund ihrer Erkrankung kaum mehr etwas verbal beisteuern. Obststückchen werden herumgereicht und Frau Müller greift mit viel Appetit zu. So vergeht die Zeit bis zum Mittag.

Das Mittagessen naht und Frau Müller entscheidet sich, zu gehen. Diese Entscheidung wird von einer neuen Mitarbeiterin, die die Mittagsgruppe leitet, als »falsch« eingeschätzt. Sie vermutet, dass Frau Müller vergessen hat, dass es Mittagessen gibt. Die neue Mitarbeiterin findet aber, dass Frau Müller jetzt eine warme Mahlzeit braucht und später kaum noch Gelegenheit dazu hat. Wer hat Recht? Frau Müller, die sich verständlicherweise mit gut gefülltem Magen gegen das Mittagessen entschieden hat, oder die Mitarbeiterin?

Wie hätten Sie in dieser Situation reagiert?

Hätten Sie die Entscheidung von Frau Müller akzeptiert?

4. Fehler: Annahme, alle Menschen mit Demenz seien krank und müssten deshalb ständig betreut werden

Wenn diese Meinung den Umgang mit allen betroffenen Menschen bestimmt, ist sie falsch. Vielen Menschen mit Demenz gelingt es durchaus, die meisten Dinge des täglichen Lebens zu meistern. Leider werden diese Fähigkeiten in Pflegeheimen oft regelrecht »weggepflegt«.

Fakt: Das »Überversorgtwerden« ist ein Symptom, an dem besonders Menschen mit Demenz zu Hause, aber insbesondere in Pflegeheimen leiden. Pflegende nehmen selbst die kleinsten Handgriffe ab und bringen Pflegebedürftige in eine völlig passive Position. Böhm spricht nicht von ungefähr von der »Pflege mit der Hand in der Hosentasche«. Es ist dort zu helfen, wo die Hilfe wirklich zur Selbsthilfe gebraucht wird. Alles abgenommen zu bekommen, sich um nichts mehr Gedanken machen zu müssen, führt dazu, dass der Lebenssinn eines Menschen, der tägliche Lebenskampf, vorbei ist und damit oft sein Leben an sich (vgl. Böhm 1999a). Viele Pflegenden neigen dazu, das Verhalten der Klienten zu kontrollieren, statt deren Bedürfnisse zu ergründen (vgl. Dementia Care Mapping 2014).

5. Fehler: Annahme, bei Menschen mit Demenz müsse man immer investieren, bekäme aber kaum etwas zurück

Diese Meinung hängt oft eng mit den oben beschriebenen Haltungen (der Hoffnungslosigkeit gegenüber den Pflegebedürftigen und somit gegenüber dem Sinn der eigenen Arbeit, dem ständigen Kontrollanspruch und der Vorstellung einer alles abnehmenden Versorgungshaltung) zusammen. Ein Geben und Nehmen ist in dieser Konstellation kaum möglich.

Sich mit Menschen mit Demenz verbunden zu fühlen, mit ihnen gemeinsam den Tag zu verleben und somit eine Basis für ein Miteinander zu schaffen, bedarf tatsächlich einer anderen Haltung. Diese zu entwickeln, ist häufig ein Prozess, der nicht nur vom einzelnen Pflegenden abhängt, sondern auch von den umgebenden Faktoren. Leider kommt es oft vor, dass Pflegekräfte Dinge verändern wollen, um Pflegequalität und somit Lebensqualität zu entwickeln. Sie werden dann aber von alten Pflegemeinungen in Form von eingrenzenden Strukturen ausgebremst. Andererseits sprechen auch Pflegende offen darüber, dass sie nicht mit demenziell Erkrankten arbeiten könnten und sich überfordert fühlten. Diese Aussagen sollte man ernst nehmen. Es ist daher wichtig, bei der Personalauswahl für solch spezielle Wohnbereiche auf Freiwilligkeit zu achten.

Fakt: Die Begleitung von Pflegebedürftigen mit einer demenziellen Erkrankung ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Das sollte jedem deutlich werden.

6. Fehler: Der Mensch mit Demenz soll lernen, dass er nicht der einzige Klient ist, der Hilfe benötigt

Häufig berichten Pflegekräfte oder pflegende Angehörige in Fallbesprechungen, dass ein Pflegebedürftiger durch Rufen oder Klammern »am Rockzipfel« der Pflegeperson seinen Wunsch nach Nähe und Kontakt ausdrückt. Diese Verhaltensweisen werden als aufdringlich und egoistisch empfunden. Oft fällt der Satz: »Der will nur Aufmerksamkeit haben!« Pflegende fühlen sich überfordert, hilflos und reagieren allzu oft mit Vermeidungsverhalten, indem sie dem Klienten ausweichen oder sein Bitten ignorieren.

Fakt: Man muss wissen, dass viele Pflegebedürftige durch die Symptome der Demenz oft die Orientierung im Alltag verlieren, sich verlassen fühlen und sich durch das Unvermögen, sich selber mit sinnvollen Tätigkeiten einen Halt zu geben, wie auf verlassenem Posten fühlen. Dies erzeugt Gefühle, die die Existenz bedrohen und dazu führen, dass die Betroffenen alles tun, um sich aus dieser Situation zu retten. Von einem Menschen, der nicht mehr weiß, wo er ist, was er tun kann und wie er auf seine Umwelt einwirken soll, kann man keine Rücksichtnahme auf andere erwarten. Das Nichterfüllen seiner Wünsche führt dazu, dass er sich umso mehr verlassen fühlt und die entsprechenden Verhaltensweisen eher noch zunehmen.

Personalität lebt vom relativen Wohlbefinden, das durch vier Hauptkategorien bestimmt wird: Jeder Mensch muss vermittelt bekommen, dass er etwas wert ist, für andere zählt. Das Ich entwickelt sich und wird erhalten durch eigenes Tun. Jeder Mensch braucht das Gefühl, mit anderen befriedigend in Kontakt treten zu können – anzusprechen und angesprochen zu werden. Jeder Mensch braucht Hoffnung und Urvertrauen. In den Fallbesprechungen wird schnell deutlich, dass es Pflegenden hilft, wenn sie sich für den betreffenden Pflegebedürftigen diese Feststellungen bewusst machen.

7. Fehler: Menschen mit Demenz sollen einsehen, dass sie unselbstständiger sind und deshalb Hilfe annehmen müssen

Pflegende erklären oft, dass sie diesen Beruf gewählt haben, weil sie Menschen, die Unterstützung brauchen, helfen wollen. Betrachtet man nun die beschriebenen Symptome bei einer demenziellen Erkrankung, bei der der Aspekt der fehlenden Krankheitseinsicht ein wesentliches Merkmal sein kann, eröffnet sich hier ein Konfliktfeld. Besonders kritisch kann das in sehr intimen Situationen sein wie beispielsweise beim Waschen.

Betrachtet man diese Situation genauer, muss man sich fragen, wann wohl das letzte Mal ein anderer Mensch beim Waschen neben dem jetzt Pflegebedürftigen gestanden ist? Dies liegt sicher weit zurück in der Vergangenheit, womöglich in der Kindheit. Damals war es vermutlich die Mutter, die ihn gewaschen hat. Die Rollenverteilung war klar. Die Konstellation in der erwähnten Situation im Bad kann bei einigen Pflegebedürftigen dazu führen, dass sie passiv reagieren und alles über sich ergehen lassen, obwohl sie körperlich durchaus noch in der Lage wären, sich selbst zu waschen.

8. Fehler: Man muss nur konsequent genug sein, dann macht ein Mensch mit Demenz auch das, was richtig und notwendig ist

Wenn es um die Themenkreise »Trinken« und »Essen« geht, werden die Machtverhältnisse zwischen Pflegenden und Menschen mit Demenz oft sehr deutlich. Diejenigen, die nicht an einer Demenz leiden, entscheiden über die anderen, die durch ihre kognitiven Einbußen den Überblick über die notwendigen Dinge des täglichen Lebens verloren haben. Auf diese Gefahr des »2-Welten-Modells« machten Kitwood und seine Mitarbeiter aufmerksam (Kitwood 2000; Müller-Hergl 2006).

Fakt: Diese Einstellung führt dazu, dass Menschen mit Demenz als Person einfach nicht mehr ausreichend wahrgenommen werden. Das fängt bei einfachen Dingen an, wie z. B. wann der Pflegebedürftige wie viel oder wie schnell isst oder trinkt. Pflegende verfallen in ein Denkschema, in dem sie sich als Wächter über die körperlichen Belange eines Menschen mit Demenz fühlen. Das führt zu Äußerungen wie: »Sie müssen aber genug trinken!«, bei denen bereits beim Aussprechen des Satzes der Becher am Mund des Pflegebedürftigen »landet« und ihm dann Flüssigkeit eingeflößt wird. Interessanterweise hängt die Häufigkeit dieser Kontakte oft von der individuellen Entscheidung der diensthabenden Mitarbeiter ab, also dem eigenen Empfinden, wann es wieder notwendig sei, Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Bestätigt fühlen sich Pflegende vielfach von den Vorgaben einzelner MDK-Mitarbeiter, wie viel ein Mensch täglich trinken sollte, und dem Anliegen, die negativen Folgen von Flüssigkeitsmangel zu vermeiden. Um aus diesem Dilemma herauszukommen, können die folgenden Vorgehensweisen hilfreich sein.

Menschen mit Demenz lassen sich immer wieder animieren, wenn Pflegende sich mit an den Tisch setzen und selbst etwas trinken. Dasselbe trifft auch für das Essen zu. Vielfach konnten wir beobachten, dass Menschen mit Demenz bei einer guten »Essensatmosphäre« verwundert reagierten, wenn Pflegende nur daneben saßen: »Und Sie essen nichts?« Für manche Pflegebedürftige ist dieser Umstand sehr irritierend und kann dazu führen, dass sie es dann ebenfalls ablehnen, zu essen. Daher sollte es in den Einrichtungen den Pflegenden erlaubt sein, sich an den Mahlzeiten zu beteiligen.

In dem MDK-Prüfkatalog zur Prüfung der Qualität steht weder ambulant noch stationär eine festgelegte Trinkmenge:

Stationär Frage 1.2: »Unterstützung bei der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung«

Leitfragen

1.Sind die Ernährungssituation inkl. Flüssigkeitsversorgung der versorgten Person sowie die Selbstständigkeit der versorgten Person in diesem Bereich fachgerecht erfasst worden?

2.Erfolgt eine ausreichende, bedürfnisgerechte Unterstützung der versorgten Person bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme?

3.Werden erforderliche Hilfsmittel zur Unterstützung der Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme fachgerecht eingesetzt? (Ambulant Frage 2.6: »Unterstützung bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme«

Die Leitfragen zu diesem Qualitätsaspekt sind:

1.Ist die Ernährungssituation inkl. Flüssigkeitsversorgung des pflegebedürftigen Menschen fachgerecht erfasst worden? Werden etwaige Risiken für eine Mangelernährung berücksichtigt?

2.Erfolgt eine bedarfs- und bedürfnisgerechte Unterstützung des pflegebedürftigen Menschen bei der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme?

3.Werden erforderliche Hilfsmittel zur Unterstützung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme fachgerecht eingesetzt? Es geht um eine fachgerechte Erfassung im Bereich Ernährung und Flüssigkeitsversorgung. Fachgerecht bedeutet, der Expertenstandard Ernährungsmanagement zur Sicherung und Förderung der oralen Ernährung in der Pflege von 2017 definiert die allgemeingültige fachgerechte Versorgung. Der Klient selbst definiert seine individuelle und bedürfnisgerechte Versorgung.

Hinweise auf Risiken/Hilfebedarf im Bereich der Flüssigkeitszufuhr können sein:

Hinweise auf verminderte Flüssigkeitsaufnahme (z. B. wenn bereits ein Trinkprotokoll geführt wird, bzw. wiederholte Hinweise im Verlaufsbericht),

Hinweise auf erhöhten Flüssigkeitsbedarf (z. B. Fieber, Diarrhoe),

aktuelle oder beschriebene Symptome der Dehydratation (z. B. Blutdruckabfall bei gleichzeitigem Anstieg der Pulsfrequenz, stehende Hautfalten, trockene Schleimhäute, fehlender Speichelsee unter der Zunge, zunehmende Lethargie/Verwirrtheitszustände, stark konzentrierter Urin).

Hinweise auf das Risiko einer Mangelernährung können sein:

grobe Anzeichen für einen Nahrungsmangel, z. B. auffällig niedriges Körpergewicht, zu weit gewordene Kleidung, tief liegende Augen,

unbeabsichtigter Gewichtsverlust (mehr als 5 Prozent in ein bis drei Monaten, mehr als 10 Prozent in sechs Monaten),

auffällig geringe Essmengen,

erhöhter Energie- und Nährstoffbedarf bzw. erhöhte Verluste (z. B. aufgrund von Erkrankungen, außergewöhnliche Mobilität).

9. Fehler: Abläufe werden strikt koordiniert – Menschen mit Demenz fügen sich schon ein

Betrachtet man die Abläufe, die in Pflegeeinrichtungen vorgegeben werden, dann hat man oft den Eindruck, dass vieles »mit heißer Nadel gestrickt« ist, d. h. die Zeit sitzt den Pflegenden ständig im Nacken. Leider wird dieser Druck allzu oft auch auf Menschen mit Demenz übertragen. Ein besonders sensibler Bereich scheinen hierbei wiederum die Mahlzeiten zu sein. Greift man die Mittagsmahlzeiten heraus, so beobachtet man oft ein emsiges Treiben der Pflegenden, wenn sie versuchen, das warme Essen schnellstmöglich auf den Tisch zu bringen. Hektische Bewegungen, lautes Geschirrklappern oder Rufe wie »Isst Frau Meyer heute im Zimmer oder im Speisesaal?« erzeugen beim Beobachter eher den Eindruck, er säße in einem belebten Bahnhofsrestaurant. Die Teller werden mit einem freundlichen »Guten Appetit!« vor den Pflegebedürftigen gestellt und die Prozedur geht weiter. Häufig führt dies dazu, dass Menschen mit Demenz in dieser Situation völlig überfordert sind und eben nicht anfangen zu essen.

Fakt: Einleitende Rituale wie das Ertönen eines Gongs, Initialsätze wie »Mahlzeit, jetzt kommt das Mittagessen, es gibt heute …« oder sogar ein gemeinsames Vorbereiten des Mittagstisches können helfen, Menschen mit Demenz eine hilfreiche Orientierung zu geben (vgl. Crawley 2005). Häufig werden solche Möglichkeiten der adäquaten Begleitung durch organisatorische Vorgaben vereitelt. So klagen Pflegende, dass das Geschirr zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder in der Küche sein muss und daher die Essens – zeiten begrenzt werden. Eine Folge kann sein, dass Pflegende den Menschen mit Demenz in diesen Zeitplan pressen und dass das Essen nicht in der Form abläuft, wie es dem Pflegebedürftigen guttun würde. Nicht selten beobachtet man dann, dass Pflegende dem Pflegebedürftigen rasch die letzten Happen in den Mund schieben, obwohl er allein essen könnte.

10. Fehler: Annahme, manche Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz seien anderen nicht zuzumuten

In zahlreichen Fallbesprechungen klagten Pflegende über Verhaltensweisen von Pflegebedürftigen, die vor allem von anderen Klienten als störend empfunden wurden. Dabei handelt es sich z. B. um lautes Klopfen, Schreien oder Ausspucken, was vom KDA als herausfordernde Verhaltensweisen beschrieben wird (vgl. Maciejewski et al. 2001, KDA 2006, Halek et al. 2006).

Nicht selten werden diese Pflegebedürftigen einzeln platziert oder in ihr Zimmer gebracht, wo ihre Verhaltensweisen nicht mehr so stören. Dies kann eine Lösung sein, aber Pflegende, die bereits viele Erfahrungen im Umgang mit demenziell erkrankten Menschen haben, werden bestätigen, dass dies kaum die richtige ist. Der betroffene Pflegebedürftige wird in der sozialen Isolation mit der Zeit immer mehr Verhaltensweisen zeigen, die deutlich machen, dass etwas nicht stimmt.

Eine Expertengruppe hat Rahmenempfehlungen (Halek et al. 2006) entwickelt, die Pflegenden helfen, den Grund für bestimmte herausfordernde Verhaltensweisen zu finden.

Sicherlich sind die Lösungen nicht immer so offensichtlich, aber Pflegende müssen verstehen, dass es für jedes Verhalten einen Grund gibt und ihm auf die Spur kommen. Dann können sie auch Ideen entwickeln, die besser sind als die Isolation.

11. Fehler: Pflegende nutzen ihre Erfahrungen mit Menschen mit Demenz, um ihre Arbeit besonders effektiv zu gestalten

Ist das ein Fehler, werden sich vielleicht einige Leserinnen fragen? Ja, denn in vielen Alltagssituationen führt dieses Wissen dazu, dass Handlungsabläufe reduziert werden und die notwendigen Kontakte zum Pflegebedürftigen verschwinden. Verallgemeinerung ist nicht immer die beste Methode.

Beispiel Das Gefühl, wichtig zu sein

Frau Müller trinkt ihren Kaffee mit Milch. Das ist bei allen Mitarbeitern bekannt. Folglich bekommt sie ihren Kaffee täglich schon mit einem Schuss Milch serviert.

Besser wäre es, Frau Müller täglich daraufhin anzusprechen, ob sie Milch wünsche und wie viel es denn sein solle, begleitet eventuell mit einer kurzen Bemerkung, dass man schon gehört habe, dass Kaffee auf diese Weise viel bekömmlicher sei.

Es ist durchaus Lebensqualität, wenn man kommunikativ ist, jemanden anspricht, ihm das Gefühl gibt, wichtig zu sein und jeden Tag in Entscheidungen eingebunden zu werden. Letztlich vermittelt der Satz »Frau Müller, ich glaube mich zu erinnern, dass Sie gern Milch im Kaffee nehmen, oder?« das Gefühl von Sicherheit. Es signalisiert: »Die kennen mich, ich war schon mal hier.«

Das Nachfragen, auch bei bekannten Reaktionen, kann dem Pflegebedürftigen das Gefühl geben, dass er aktiver Partner in der Situation bleibt, gefragt wird und Entscheidungen treffen kann. Dies sollten Sie besonders in Situationen fördern, in denen Pflegebedürftige eigentlich sehr leicht eine Entscheidung fällen können. Bedenken Sie bitte, wie es Ihnen geht, wenn man sich in einem Café an Sie erinnert und die Bedienung fragt: »Cappucino mit zwei Keksen, wie immer?«

12. Fehler: Individuelle Bedürfnisse werden zu wenig berücksichtigt

Um bei dem Beispiel mit dem Kaffee und der Milch zu bleiben (s. o.): In vielen Einrichtungen herrscht der Glaube, dass Kaffee mit Milch bekömmlicher ist. Folglich werden die Kaffeekannen teilweise bereits in der Küche mit Milch aufgefüllt. Für die Pflegenden bedeutet das, dass schnelles Einschenken nun möglich ist und sich der Geschirrverbrauch auch reduziert. Was spricht dagegen? Spätestens, wenn man bei den Fallbesprechungen in die Runde fragt, wer von den Anwesenden denn den Kaffee immer mit Milch trinkt, wird man auf unterschiedliche Aussagen stoßen. »Kaffee mit Milch« ist schließlich nicht für jeden Kaffee mit Milch: Der eine braucht nur einen Schuss Kondensmilch, der andere mag seinen »Kaffee mit Milch« nur, wenn großzügig Trinkmilch verwendet wird.

Fakt: Häufig zeigt sich Betroffenheit, denn es wird den Pflegenden schnell deutlich, dass der Genuss erheblich eingeschränkt wird, wenn man nicht auf die sogenannten kleinen Details achtet. Vielleicht würden einige Pflegebedürftige auch einen Kaffee mit Milch trinken, obwohl sie ihn ohne Milch bevorzugen würden, aber ein wirklicher Genuss ist es für sie nicht. Bedenklich wird die Situation dann, wenn Pflegebedürftige entsprechende Getränke gereicht bekommen, mit denen man auch täglich eine »geforderte Trinkmenge« erreichen will. Kaum ein Mensch möchte jeden Tag anderthalb bis zwei Liter Getränke zu sich nehmen, die er in dieser Form nicht mag.

Fazit Details sind wichtig

Werden vermeintlich kleine Details nicht berücksichtigt, kann das die Ursache für große psychische und physische Probleme der Pflegebedürftigen sein.

13. Fehler: Ich pflege, wie ich selbst gepflegt werden möchte

Sicher hat das Sprichwort »Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!« auch in seiner übertragenen Bedeutung in vielen Situationen seine Berechtigung. Trotzdem muss man bei der Begleitung von Menschen mit Demenz differenzierter hinschauen.

Wer entscheidet, was einem guttut? Im Normalfall sollte das eigentlich der Betroffene selbst entscheiden können. Im Pflegefall werden die Betroffenen hingegen oft nicht gefragt. Besonders Menschen mit Demenz geraten häufig in ein Abhängigkeitsverhältnis, weil sie sich für die eigenen Belange nicht mehr deutlich genug einsetzen können bzw. weil ihnen die notwendigen kognitiven Fähigkeiten abgesprochen werden.

Fakt: Natürlich gibt es Angelegenheiten, die Menschen mit Demenz nur noch mit professioneller Hilfe leisten können – wie beispielsweise finanzielle Belange. Trotzdem darf diese Hilfsbedürftigkeit nicht dazu führen, dass selbst kleine Dinge des täglichen Lebens nicht mehr selbstständig entschieden werden können. Diese Bevormundung lässt sich an vielen Fallbeispielen verdeutlichen. Hier seien nur drei davon herausgegriffen:

Beispiel Barfußlaufen? Untersagt!

Frau Meier läuft ständig barfuß. Sie zieht mehrmals täglich ihre Schuhe und Strümpfe aus, sogenannte »Stoppersocken« lehnt sie brüsk ab. Die Mitarbeiter sind der Meinung, dass es auf dem Wohnbereich zu kalt zum Barfußlaufen sei und dass das Risiko eines Sturzes zu groß sei. Folglich ziehen die Mitarbeiter Frau Meier ständig die Schuhe wieder an. Im Laufe eines Tages wird der Prozess des Anziehens immer problematischer für beide Parteien, da Frau Meier sich sträubt und die Mitarbeiter vermeintlich handeln müssen.

Wenn nicht die Schuhe das Problem sind, sollten sich die Pflegenden fragen, woher ihre Einstellung gegenüber dem Barfußlaufen kommt.

Was kann dahinter stecken? Die Erziehung durch die Eltern nach dem Motto »Mädchen, zieh dir Schuhe an, du holst dir ja den Tod!« oder eher die professionelle Leitlinie »Um Stürzen vorzubeugen, sollten die Klienten angemessenes Schuhwerk tragen!«? Fragen Sie sich – und ggf. Ihre Mitarbeiter –, ob Sie nicht auch zu den Leuten gehören, die zu Hause barfuß laufen? Und, verbieten Sie es (sich) dort, weil es zu kalt oder zu gefährlich ist?

Häufig beobachtet man solch gesundheitsfördernde Maßnahmen bei Pflegenden, die selbst höchsten Wert auf eine gesunde Ernährung legen und diese Einstellung einfach auf andere projizieren.

Die meisten Leser werden jetzt sagen: »Nein, natürlich nicht!« Dieser Meinung sind wir auch, aber nicht selten werden vordergründig gesundheitliche Aspekte herangezogen, wenn ein Pflegebedürftiger sehr viel raucht, dadurch das Taschengeld knapp wird und das häufige Fragen nach Zigaretten als Belastung empfunden wird.

Die eigene Hilflosigkeit der Pflegenden in diesen Situationen führt häufig dazu, dass sie nach Argumenten suchen, die von der allgemeinen Stimmungslage getragen werden und für den »Problemfall Herr Krause« eine geeignete Lösung scheinen. Ein striktes Rauchverbot für Herrn Krause, weil die Leitung für sich nun verstanden hat, dass Rauchen schädlich ist, oder gar das Aufbringen von »Anti-Raucher-Pflastern« auf Verlangen, wie wir es in einer Pflegeeinrichtung in den USA erlebt haben, sollten hier keine Lösungsangebote sein.

Im Fall von Herrn Krause wäre es interessant zu fragen, was er eigentlich den ganzen Tag zu tun hat, außer an seine Zigaretten zu denken? Wird ihm eine für ihn sinnvolle Tätigkeit angeboten? Hat er außer in den Situationen, in denen ihn die Mitarbeiter darauf hinweisen, dass die nächste Zigarette erst in einer Stunde gestattet ist, noch andere Kontakte?

14. Fehler: Bei Menschen mit Demenz wird zu kleinen Notlügen gegriffen

Mit Notlügen versuchen Pflegende gelegentlich, Pflegebedürftige dazu zu bewegen, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollen. Diese Begebenheit erlebten wir vielfach in Situationen, in denen Pflegende der Meinung waren, dass eine Handlung jetzt im Moment gemacht werden müsse, und der Pflegebedürftige mit seinen Zweifeln und Ablehnungen den Ablauf aufhalten würde.

Situationen, in denen wir dieser Verhaltensweise bei Pflegenden besonders häufig begegnen, sind Medikamentengaben. Einem Pflegebedürftigen, der bekannterweise keine Tabletten einnehmen will, wird zum Beispiel eine Tablette als »Bonbon« angeboten, um ihn zu täuschen. Oder ein Mensch mit Demenz erregt sich darüber, dass er nicht auf einen Ausflug mitgenommen wird, und die Mitarbeiter trösten ihn damit, dass es bestimmt das nächste Mal klappt, obwohl diese Fahrten eigentlich nur für die sogenannten »Fitten« in der Einrichtung organisiert werden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842690790
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Altenpflege Ambulante Pflege Angehörige Betreuung Demenz Gerontopsychiatrie Pflege Qualitätssicherung Tagespflege

Autoren

  • Jutta König (Autor:in)

  • Claudia Zemlin (Autor:in)

Jutta König ist Altenpflegerin, Pflegedienst- und Heimleitung, Wirtschaftsdiplombetriebswirtin Gesundheit (VWA), Sachverständige bei verschiedenen Sozialgerichten im Bundesgebiet sowie beim Landessozialgericht in Mainz, Mitglied im Bundesverband der unabhängigen Pflegesachverständigen und Pflegeberater, Unternehmensberaterin, Dozentin in den Bereichen SGB XI, SGB V, BSHG, Heimgesetz und Betreuungsrecht. Dr. Claudia Zemlin ist klinische Psychologin, Fachpsychologin der Medizin, PBD Gerontologin, Gesprächspsychotherapeutin, Verhaltenstherapeutin, DCM-Trainerin und anerkannte Böhmlehrerin beim Europäischen Netzwerk für Psychobiographische Pflegeforschung nach Prof. Erwin Böhm.
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Titel: 100 Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz