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Wenn erwachsene Kinder ihre Eltern meiden. Woran es liegt - was Sie jetzt tun können

von Sascha Schmidt (Autor:in)
176 Seiten

Zusammenfassung

Wieso meldet sich mein Kind so wenig? Habe ich etwas falsch gemacht? Wenn der Kontakt zu den erwachsenen Kindern schwindet, ist das für die meisten Eltern sehr belastend. Fragen, Erwartungen und Vorwürfe, aber auch Angst, Scham oder Wut stehen einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung im Weg. Sascha Schmidt nennt in seinem Ratgeber typische Ursachen für die Entfremdung, gibt Tipps für Konflikte und liefert Im-pulse, um eine Brücke zu den Kindern aufzubauen. Er zeigt auch, wie wichtig Selbstreflexion als erster Schritt ist: als Mutter oder Vater die eigene Handlungsweise zu reflektieren und zu ändern, gibt dem Kind erst die Chance, sein Kontaktverhalten zu überdenken. Das ist das Erfolgsgeheimnis auf dem Weg zu einer gesunden Eltern-Kind-Beziehun

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


EINLEITUNG

Wieso meldet sich mein Kind so selten? Habe ich etwas falsch gemacht? Das ist doch undankbar! Oder sehe ich das zu eng? Dieses Buch gibt konkrete Antworten und alltagstaugliche Impulse für eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung im Erwachsenenalter.

Wenn der Kontakt der erwachsenen Kinder zu den Eltern schwindet, werden Fragen, Erwartungen, Wünsche und Enttäuschungen bis hin zu Vorwürfen in einen Topf geworfen. Oftmals garniert mit intensiven Gefühlen wie Angst, Scham und Wut. Keine leichte Kost – übrigens für alle Beteiligten.

Dabei ist die Reise Ihres Kindes von Anfang an die Reise in sein eigenes Leben. Nach der Geburt besteht in den ersten Wochen und Monaten eine symbiotische Einheit zwischen Mutter und Kind. Danach folgt ab ungefähr eineinhalb Jahren die erste Autonomiephase – gerne als „Trotzphase des Kindes“ betitelt. Hier ändert sich grundlegend etwas in der Eltern-Kind-Beziehung. Ihr Kind stellt fest: „Wow, ich kann auch ohne Mama leben – wie toll ist das denn!“ Es entwickelt und erlebt sein eigenes Ich und seine Selbstwirksamkeit und äußert ganz gerade heraus: „Nein, ich will das selbst machen.“

Die eigene Entwicklung geht weiter über Kindergarten, Grundschule und weiterführende Schule hinein in die Pubertät. Ab hier ist es dann wirklich vorbei mit der alten Eltern-Kind-Bezogenheit. Mädchen werden zu jungen Frauen; Jungs werden zu jungen Männern. Sie haben kein Kind mehr vor sich, sondern junge Erwachsene auf der Vorstufe zur Volljährigkeit.

In der Spätphase der Pubertät, die in der Wissenschaft beginnend ab 16 Jahren angesiedelt wird, hat sich Ihr Kind grundlegend gewandelt. Die körperlichen und seelischen Entwicklungsschübe, das Entdecken der Sexualität, das Finden von eigenen Werten und gesellschaftlichen sowie politischen Vorstellungen machen Ihr Kind zu einem erwachsenen Gegenüber. Sind Sie bereit, dieses Geschenk des Lebens anzunehmen?

Es dauert nicht mehr lange und Ihr Kind zieht aus. Pension Mama und Papa haben ausgedient. Es geht mit allen Konsequenzen ins eigene Leben. Können Sie von dieser Lebensphase als Familie Abschied nehmen? Wünschen Sie ihrem Kind alles Gute und Glück? Oder möchten Sie es eigentlich gar nicht? Soll Ihr Kind doch lieber bei Ihnen bleiben? Wenn schon nicht räumlich, dann wenigstens im „Dauerkontakt“ über Telefon, Social Media und wöchentliche Besuche?

Vielleicht empfinden Sie die letzten Zeilen als provokant. Eine Provokation ist eine Einstellung oder ein Verhalten, welches dazu führt, dass mein Gegenüber in eine Abwehrhaltung geht. Eine typische Abgrenzung ist die Kontaktvermeidung. Und genau das tun viele Kinder, die sich nicht mehr bei ihren Eltern melden. Sie halten Abstand; sie ziehen eine Grenze. Das schmerzt viele Eltern.

Eltern-Kind-Beziehung neu beleben

Das Anerkennen einer gestörten Eltern-Kind-Beziehung ist der Startpunkt für einen Neubeginn. Es ist hilfreich, das natürliche Bestreben nach Unabhängigkeit bei seinem Kind zu respektieren. Im Idealfall sogar handfest zu unterstützen.

Es tut gut, sich in der neuen Elternrolle als Mutter oder Vater eines erwachsenen Kindes einzufinden. Das heißt konkret: Richten Sie den Fokus weg vom Kind, hin zum eigenen Partner oder zu den Hobbys oder was auch immer.

Falls Sie schon Großmutter oder -vater sein sollten, dann nehmen Sie dies als Chance für eine neue Beziehungskultur. Wenn ihre Kinder selbst Eltern werden, erweitert sich die Perspektive. Plötzlich erleben sie selbst elterliche Gefühle. Als Oma und Opa können Sie Ihren Kindern und Enkelkindern ganz neu begegnen. Das führt oft zu Heilungen. Gleichzeitig bietet die Rolle der Großeltern auch das Potenzial für weitere Konflikte zwischen Ihnen und Ihrem Kind. Sie merken, es ist nicht einfach und doch lohnt es sich, die Eltern-Kind-Beziehung zu überprüfen und zu entwickeln.

Dieses Buch begleitet Sie dabei als Ratgeber für den Alltag. Die Intention ist, Ihnen Impulse und Tipps für typische Konfliktsituationen an die Hand zu geben. Für Ihr Handeln und Verhalten im Hier und Jetzt. Es ist kein therapeutisches Hilfsmittel. Wer sich darüber hinaus für die tiefenpsychologischen Ursachen eines Kontaktabbruches interessiert, findet weiterführende Lesetipps am Ende des Buches.

Der Grundgedanke dieses Buches ähnelt einem Kochbuch. Blättern Sie zu den Themen, die Sie interessieren. Jedes Kapitel ist einzeln lesbar. Einiges wird Sie packen und Ihnen helfen, anderes betrifft Sie eventuell gar nicht. Wie bei einem guten Essen reicht es jedoch nicht aus, das Rezept und die Zutaten zu kennen: Ihre Bereitschaft, Ihr Verhalten als Mutter oder Vater zu reflektieren und zu ändern, gibt Ihrem Kind die Chance, auch sein Kontaktverhalten neu zu überdenken. Das ist das eigentliche Erfolgsgeheimnis einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung.

Ich wünsche Ihnen von Herzen gutes Gelingen!

Ihr

Sascha Schmidt

Paar- und Familienberater (familylab)

www.wieder-paar-sein.de

MEIN KIND WIRD FLÜGGE

Mit der Pubertät beginnt die endgültige Loslösung der Kinder vom Elternhaus. Manifestiert wird dies schließlich durch den Auszug. Ihre elterlichen Reaktionen auf diese wichtigen Lebensabschnitte Ihres Kindes beeinflussen maßgeblich die zukünftige Qualität des Kontakts.

Wenn die erwachsene Eltern-Kind-Beziehung aus dem Lot ist, reicht die Verwerfung sehr oft bis in die Vergangenheit zurück. Deshalb lohnt sich ein ehrlicher Blick zurück in die Zeit, in der Ihr Kind bei Ihnen wohnte und von Ihnen abhängig war.

Die Lebensreise eines Kindes bei und mit seinen Eltern ist von Anfang an ein Aufbruch in das eigene, selbstbestimmte Leben. Es ist ein Balanceakt von Nähe und Distanz, Fürsorge und Loslassen, Kontrolle und Vertrauen, elterlicher Führung und kindlicher Eigenständigkeit, Lebenserfahrung und Lebensbeginn, Macht und Ohnmacht.

Evolution Eltern-Kind-Beziehung

KIND Ich liebe meine Eltern, doch jetzt beginnt mein Leben!

ELTERN Wir wollten und wollen nur das Beste!

Schon ab eineinhalb Jahren strebt das Kleinkind in Richtung Autonomie und Selbstwirksamkeit. Dies wird gerne als „Trotzalter des Kindes“ bezeichnet. Das stimmt so nicht ganz. Nicht die Kinder, sondern die Eltern werden trotzig. Plötzlich hat das Kind einen eigenen Willen und äußert diesen auch noch lautstark. Als Mutter oder Vater hielten Sie dagegen. Je nach Generation autoritär, d. h. Sie forderten gehorsam vom Kind ein, oder antiautoritär, d. h. Sie ließen Ihr Kind einfach machen.

Das Familienleben ging weiter. Ihr Kind kam in den Kindergarten und in die Schule. Hier streben Kinder weiter nach Eigenständigkeit. Sie wollen alleine losgehen, entwickeln eigene Freundschaften, brauchen elternfreie Zeit. In dieser Zeit wirkten Sie als Eltern mit Ihrer Erziehung auf das Kind ein. Und zwar nicht mit dem, was Sie sagten, sondern mit der Art, wie Sie es machten.

Familiäre Beziehungskultur

Die DNA für die grundlegende Beziehungskultur zu Ihrem Kind wurde in dieser Zeit gelegt. Ihr Kind hat ganz tief im Inneren abgespeichert, wie Beziehung mit Ihnen geht. Im Idealfall weiß es, dass es fast immer gesehen wurde in all seinen Bedürfnissen und Gefühlswelten; dass es sein durfte, wie es war. Und dass Mama und Papa mit einer herzlichen Führung Stabilität, Sicherheit und Struktur gaben.

In meinen Beratungen höre ich oft andere Geschichten. Dass man als Kind okay war, wenn man gehorsam dem elterlichen Willen folgte. Oder dass die Eltern mit sich beschäftigt waren und man als Kind viel zu früh ein kleiner Erwachsener werden musste, um emotional überleben zu können.

Pubertät als Sollbruchstelle

Die Pubertät ist der Beginn vom Ende der alten Familie. Sie ist von der Natur gewollt. Mit der Geschlechtsreife kann das Kind theoretisch eine eigene Familie gründen. Es könnte selbst Mutter oder Vater werden. Das passiert heutzutage eher selten. Laut dem Statistischen Bundesamt liegt das Alter der Mutter beim ersten Kind seit 2014 im Durchschnitt bei Plusminus 30 Jahren. Es bleibt also genug Zeit, sich vom Jugendlichen zum Erwachsenen zu entwickeln, sich zu erproben und sein eigenes, unabhängiges Leben aufzubauen.

Die Pubertät, die in der Vorstufe häufig nach der Grundschule beginnt, hat ihren Höhepunkt im Alter von 12 bis 16 Jahren. Danach klingt sie ab. Die körperlichen und mentalen Veränderungen werden akzeptiert und ins eigene wie ins Familienleben integriert. In der Hochphase der Pubertät erleben Eltern häufig den ersten ernsthaften Kontaktabbruch:

Das schweigende Kind.

Die verschlossene Tür zum Jugendzimmer.

Die Abwesenheit am Wochenende.

Das Desinteresse an gemeinsamen familiären Aktionen.

Kein Bock auf Familienurlaub.

Das sind alles ganz natürliche Aktionen und Reaktionen Ihres Kindes auf dem Weg in die Eigenständigkeit. Kein Grund zur Sorge oder Panik. Und doch eine Zeit, in der die Gefahr besteht, dass Eltern es verpassen, Abschied zu nehmen vom alten Familienleben. Sie klammern an der schönen Vergangenheit. Ist dies der Fall, dann muss das Kind umso mehr Energie aufbringen, um sich loslösen zu können. Der temporäre Kontaktabbruch ist da eher eine Art Selbstschutz des Kindes als ein Angriff auf die Eltern.

Die Kunst der Eltern liegt darin, dies so zu sehen und nicht beleidigt oder verletzt zu schmollen. Sie spielen jetzt keine Hauptrolle mehr im Leben Ihrer Kinder. Doch Sie bleiben immer – bis über den Tod hinaus – Mutter und Vater und damit ganz wichtige Bezugspersonen für Ihr Kind – im Guten wie im Schlechten.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul (1948–2019) empfahl Eltern von pubertierenden Jugendlichen ganz simpel, man möge seinen Partner wieder neu entdecken. Die Idee dahinter: Fokus weg vom Kind. Das Kind hat über zehn Jahre das Rüstzeug für das eigenständige Leben von Ihnen als Eltern bekommen. Jetzt beginnt es, dies alleine zu nutzen und Erfahrungen zu sammeln. Als Mutter oder Vater stehen Sie in der Not bei oder geben gerne auf Nachfrage einen Tipp. Das war es dann aber auch.

Beruhigend dazu die Aussage eines 21-jährigen Mannes an seine Mutter: „Mama, jetzt ist es durch. Wir können wieder normal miteinander kommunizieren.“ Das macht deutlich, dass die Kinder selbst merken, dass in der Phase der Pubertät einiges durcheinandergerät. Wenn die Eltern dabei nicht auch noch Druck machen, sondern gelassen an der Seitenlinie des Lebens stehen und Hilfe anbieten, wenn sie benötigt wird, dann ist ein wunderbares Umfeld für eine gesunde Loslösung während der Pubertät geschaffen.

Wenn Kinder beginnen zu schweigen, liegt es oftmals daran, dass sie die Erfahrung gemacht haben, es werde ihnen nicht zugehört oder sie werden nicht verstanden. Dieser Eindruck fällt nicht vom Himmel, sondern basiert auf den kindlichen Erlebnissen in der Kommunikation mit den Eltern.

Kinder tun sich in dem Alter – und später auch – sehr schwer, ihre Eltern offen zu kritisieren. Das mag Sie verwundern. Vielleicht erlebten Sie heftige Konfrontationen während der Pubertät mit Ihrem Kind. Doch vermutlich hat Ihr Kind Ihnen niemals gesagt, dass es das Ergebnis Ihrer Beziehungs- und Erziehungskompetenz sei. Und dass Sie Mitverantwortung daran tragen, wenn es sich jetzt zum Beispiel nicht abgrenzen kann beim Alkoholkonsum in der Clique. Wie auch? Es hat nie gelernt, dass man sich abgrenzen darf und soll. Es sollte ja immer schön gehorsam folgen. Das tut es jetzt auch. Nur nicht mehr Ihnen, sondern der Clique.

Diese frühkindlichen und kindlichen Erfahrungen wirken weiter – bis ins hohe Erwachsenenalter. Ein schweigendes oder ausweichendes Kind à la: „Ich weiß nicht!“, ist eine Aufforderung an Sie, Ihr Kind neu und vorurteilsfrei zu entdecken.

Die Leitfrage lautet: Wer bist du? Werfen Sie vorher alles über Bord, was Sie glaubten, über die Persönlichkeit Ihres Kindes zu wissen. Entdecken Sie Ihr Kind neu und nähern Sie sich ihm langsam und zugewandt. Also nicht: „Sprich mit mir! Ich kann dir helfen!“, sondern „Ich sehe deine Schwierigkeiten mit xy. Ich möchte dir helfen, wenn du magst. Wie kann ich dich unterstützen?“

Auch wenn Ihr Kind mit: „Weiß ich auch nicht“ antwortet, hat es trotzdem ein sehr großes Geschenk von Ihnen erhalten: Es wurde gesehen in seinem Dilemma. Es wurde gleichzeitig in Ruhe gelassen, um seinen eigenen Weg zu finden. Es ist okay, so wie es ist. Schöner geht es für kein Kind!

Mein Kind zieht aus

KIND Wenn ich nach Hause komme, dann finde ich mein Jugendzimmer unverändert vor. Das verstehe ich nicht. Wieso kleben meine Eltern so an der Vergangenheit?

MUTTER Es tut immer wieder gut, in dem Zimmer unseres Jungen zu stehen. Es ist, als ob er noch da wäre. Das hilft mir, den Verlust besser zu verdauen.

Irgendwann schlägt in jeder Familie die Stunde der räumlichen Trennung. Ihr Kind zieht aus. Zurück bleibt ein leeres Zimmer, ein Stapel an Erinnerungen, Abschiedsschmerz im Herzen und eventuell ein Gefühl der Erleichterung. Das ist eine Frage Ihrer Haltung!

Spätestens mit Beginn der Volljährigkeit und dem Abschluss der Schule oder der Ausbildung stellt sich die Frage: Wann zieht mein Kind aus? Womöglich konnten Sie schon üben und es gab während der Schulzeit die erste Trennungserfahrung vom Elternhaus durch einen Schüleraustausch oder Ihr pubertierendes Kind übernachtete bei Freunden und war kaum noch zuhause.

Es kann jedoch auch sein, dass es Sie kalt erwischt. Dass die Ankündigung: „Ich ziehe aus“ Ihre Welt zusammenbrechen lässt. Eltern reagieren mit emotionalen Bitten: „Bleib noch hier wohnen; es ist doch schön so“ oder mit rationalen Appellen: „Die Mietkosten kannst du doch sparen“, um den Nachwuchs am Gehen zu hindern.

Das tut am Ende weder Ihnen noch Ihrem Kind gut. In solchen Fällen merken Sie Ihre Verlustangst und die eigene Bedürftigkeit nach der Nähe zu Ihrem Kind. Ihr Kind muss noch mehr Kraft aufbringen, sich vom Elternhaus zu lösen, weil es spürt, dass Sie als Mutter oder Vater emotional damit zu kämpfen haben. Kein Kind der Welt möchte seine Eltern leiden sehen oder das Gefühl haben, die Ursache des Leids zu sein!

Wichtig ist, anzuerkennen, dass die Ursache für Ihr mögliches Leiden nicht der Auszug Ihres Kindes ist, sondern Ihre mütterliche oder väterliche Einstellung zu diesem ganz normalen Entwicklungsschub im Familienleben. Kinder gehen in die Welt hinaus. Sie ziehen in die Nachbarschaft, in die nächste Stadt, in ein anderes Land oder wechseln gar den Kontinent. Wo ist das Problem? Es liegt bei Ihnen. Das ist eine gute Botschaft, denn so können Sie direkt etwas ändern. Es liegt in Ihrer Hand, wie Sie den Auszug und die Trennungsphase erleben wollen.

Mein Kind will ausziehen

Sobald Ihr Kind Pläne für seine Zukunft schmiedet, wird Ihnen klar, dass Ihr bisheriges Familienleben endlich ist. Jetzt dürfen Sie innerlich bekennen: Möchte ich Rückenwind oder Gegenwind für mein Kind sein?

Fast alle Eltern werden spontan sagen: „Natürlich Rückenwind. Was für eine Frage!“ Wieso bläst Ihrem Kind gefühlt jedoch elterlicher Gegenwind ins Gesicht bei seiner Auszugsentscheidung? Weil Sie eventuell eine konkrete Vorstellung haben, wohin das Kind ziehen soll, wie und wann der Auszug stattfinden soll. Sie versuchen also, Ihr Kind weiter zu lenken – nicht im Sinne der Wünsche Ihres Kindes, sondern im Sinne Ihrer Bedürfnisse nach Nähe oder gar Kontrolle.

Das ist kein guter Beginn für eine erwachsene Eltern-Kind-Beziehung. Kontaktminderung und Frust ist programmiert.

image EIGENTLICH WOLLTE ANDREA NACH BERLIN …

Andrea will mit 19 Jahren aus ihrem Dorf in Bayern nach Berlin ziehen. Doch ihre Mutter lag ihr dauernd in den Ohren: Sie möge sich dies richtig gut überlegen. Die Entfernung zur Oma mit ihren 80 Jahren sei viel zu groß. Wer weiß, wie lange sie noch lebt. Und überhaupt, die Gefahren in der Großstadt. Wieso sie nicht einfach ins nahe gelegene bekannte Augsburg ziehen wolle? Da könne sie auch immer spontan nach Hause kommen.

Andrea zieht nach Augsburg in eine WG. Bei ihren Eltern meldet sie sich kaum oder offenbar widerwillig. Bei einem Wochenendbesuch eskaliert die Situation. Andreas Mutter möchte wissen, wieso Andrea so griesgrämig sei. Andreas Antwort folgt sofort: „Ich lebe nicht meinen Traum. Das frustriert mich.“

In dem Beispiel von Andrea steckt eine tiefere Botschaft. Sie lautet: Ich hatte als volljähriges Kind nicht die Kraft, meinem Traum zu folgen. Das schmerzt und frustriert mich. Ich hätte mir mehr Unterstützung von meinen Eltern gewünscht.

Die Reaktion der Mutter wird die zukünftige Qualität der Mutter-Tochter-Beziehung bestimmen. Antwort eins könnte lauten: „Ach, das ist gar nicht so schlimm. Dein Vater und ich, wir freuen uns so sehr, dich zu sehen. Nun hab dich mal nicht so. Das wird schon alles gut werden.“ Hier wird die alte Eltern-Kind-Beziehung manifestiert. Andrea möge sich nicht so anstellen und außerdem ist alles gut. Punkt. So hat Andrea keinen Raum, ihre Frustration aufzulösen und diese wird in der Eltern-Kind-Beziehung weiterhin eine Rolle spielen. Dies wird es Andrea schwermachen, regelmäßig und liebevollen Kontakt zu ihren Eltern zu pflegen.

Antwort zwei bietet die Chance für einen Neubeginn: „Oh, das war mir gar nicht bewusst, dass ich noch so einen großen Einfluss auf dich hatte. Es tut mir leid, dass meine Bedürfnisse und Ängste dich zu verlieren, dazu führten, dass du auf einen Traum verzichtet hast. Ich kann das nicht mehr ändern. Aber ich will dir sagen, dass ich dir niemals im Wege stehen möchte, sondern dich unterstützen will in allem, was du tust. Bitte verzeih mir, dass ich damals dazu noch nicht fähig war.“

Die zweite Antwort bedarf einer großen Selbstreflexion der Mutter. Im selben Augenblick ist diese Selbsterkenntnis und -offenbarung, ein riesengroßes Geschenk für Andrea. Sie bekommt signalisiert, dass die Mutter ihr nicht im Wege stehen möchte und die Verantwortung dafür übernimmt, sie damals bedrängt zu haben. Hier begegnen sich zwei Erwachsene auf Augenhöhe.

Ich will, dass mein Kind auszieht

Die Pension-Mama kann praktisch sein. Es gibt Kinder, die den Essens- und Wäsche-Service sowie das mietfreie Wohnen nicht missen wollen. Und es gibt Eltern, die sich nichts mehr wünschen, als den Auszug des Kindes. Um sich selbst zu verändern, eventuell das Familienhaus im stillen Vorort einzutauschen gegen eine schicke Stadtwohnung mit belebten Straßen.

Die Frage lautet: Wie schaffe ich es, dass mein Kind auszieht, ohne sich abgeschoben zu fühlen? Antwort: Gar nicht. Das Einzige was Sie schaffen können, ist eine einfühlsame und klare Ansage an Ihr Kind. Wie sich Ihr Kind damit fühlt, können Sie nicht beeinflussen. Gefühle gehören exklusiv dem Fühlenden. Ob sich Ihr Kind missachtet, wütend, überfordert fühlt oder Ihnen klammheimlich für den Impuls dankt, ist offen.

Es kann auch sein, dass Sie befürchten, dass Ihr Kind sozial abrutscht. Sie gleichzeitig aber den Lebensstil mit Kiffen in der Freizeit und nächtlichen Computerspielen in Ihrem Haus oder Ihrer Wohnung nicht mehr haben wollen.

Bedeutsam ist die Art und Weise, wie Sie das Ende des Zusammenlebens mit Ihrem Kind einläuten. Formulieren Sie Ihren Standpunkt in einer persönlichen und klaren Sprache:

Ich will, dass du im Sommer ausziehst.

Mich stört der Alkoholkonsum und die Partys. Dafür steht unser Haus/unsere Wohnung nicht mehr zur Verfügung.

Dein Vater und ich wollen uns verkleinern und in einen anderen Ort ziehen. Daher musst du bis Herbst eine neue Bleibe für dich gefunden haben.

Das mag herzlos klingen, ist es aber nicht. Es ist herzliche Klarheit, wenn Sie es zugewandt und mit Augenkontakt formulieren. Diese Klarheit ist die Basis für die zukünftige Beziehungskultur mit Ihrem Kind. Ihr Kind wird höchstwahrscheinlich nicht Applaus klatschen und sich bedanken, sondern eher genervt und beleidigt sein – kombiniert mit Rückzug. Lassen Sie dies zu. Das ist eine ganz natürliche Reaktion auf die Ankündigung einer subjektiv unangenehmen Veränderung.

Das Geschenk an ihr Kind ist zugleich, dass sie es nicht als „falsch“ deklariert haben. Das würde passieren, wenn Sie Ihr Anliegen wie folgt vorbringen:

Dauernd trinkst du Bier und machst Party mit deinen komischen Freunden. Das gehört sich nicht. Du musst ausziehen.

Du störst unsere Pläne, wir wollen uns verkleinern. Merkst du das denn nicht?

Der Unterschied fällt beim Lesen sofort auf. Du- statt Ich-Botschaften. Der Nachteil einer Du-Botschaft ist, dass Ihr Kind sich nicht mit Ihrem Anliegen auseinandersetzt und es verarbeitet, sondern innerlich Rechtfertigungen und Verteidigungsstrategien sucht. Dabei kommt kein guter Eltern-Kind-Kontakt heraus.

1×1 GUTER ELTERNKIND-BEZIEHUNGEN

Familien sind ein hochkomplexes soziales Gebilde. Bedürfnisse, Erwartungen, Gefühle und Werte prallen aufeinander. Vier Impulse für eine Beziehung auf Augenhöhe.

Für eine gelungene Eltern-Kind-Beziehung im Erwachsenenalter ist es hilfreich, Ihrem Kind auf Augenhöhe zu begegnen. Es ist nicht mehr Ihre „Kleine“ oder Ihr „Bub“, sondern ein eigenständiges erwachsenes Gegenüber. Sie verbindet die gemeinsamen Beziehungserfahrung während der Kindheit, doch jetzt lebt Ihr Kind in seiner Welt und bestimmt mit, wie der Kontakt zu Ihnen gestaltet wird.

Das alte Abhängigkeitsverhältnis ist aufgehoben – zumindest an der Oberfläche. Bei schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen im Erwachsenenalter wirken die gemeinsamen ersten 18 Jahre nach (dazu mehr im folgenden Kapitel Kontaktminderung verstehen lernen auf Seite 41).

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul (1948–2019) hat auf Basis seiner langjährigen Erfahrungen mit schwierigen und herausfordernden Familiensituationen Werte beschrieben, die helfen, eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung zu etablieren. Diese vier Werte sind darüber hinaus wunderbare Impulse für den erwachsenen Eltern-Kind-Kontakt (siehe Buchtipps auf Seite 196).

Prinzip der Gleichwürdigkeit

KIND 1 Als Kind konnte ich meine Gefühle immer ausdrücken ohne Angst haben zu müssen, dass meine Eltern dies ins Lächerliche ziehen. Das tat gut.

ELTERN 1 Uns war es wichtig, dass unser Kind seine Gefühle kennenlernt und zeigt. Das war nicht immer einfach.

KIND 2 „Indianer kennen kein Schmerz“, war der Lieblingssatz meines Vaters. Ich habe immer versucht, tapfer die Tränen wegzudrücken, wenn ich mir weh getan habe. Heute weiß ich, so ein Quatsch! Doch in mir drin steckt immer noch dieser blöde Satz.

VATER 2 Mir war es wichtig, dass mein Junge sich durchsetzen kann. Daher wollte ich ihm einimpfen, dass man die Zähne zusammenbeißen muss. Dass ihn das jetzt als Mann auch noch so beschäftigt, hätte ich nicht gedacht.

Ein gleichwürdiger Umgang innerhalb der Familie bedeutet, dass jedes Familienmitglied ein Recht auf seine Meinung und Gefühle hat – unabhängig von Alter und Geschlecht. Das ist ein neuer Gedankengang. Gerade für Eltern, die eventuell selbst noch autoritär erzogen wurden. In der Gehorsamskultur gab es für Gefühle und Gedanken der Kinder keinen Platz.

Die große Kunst der gleichwürdigen Beziehung liegt im Sehen und Anerkennen des Gegenübers in all seinen Facetten. Egal ob sich Ihr Kind freut, ärgert, Angst hat oder trauert, es ist okay und darf so sein. Das Gleiche gilt selbstverständlich auch für Sie als Elternteil. Das ist das größte Beziehungsgeschenk, dass wir jemandem machen können. Unser Gegenüber einfach sehen im Hier und Jetzt, ohne zu werten oder etwas anderes sehen zu wollen.

Hindernisse für Gleichwürdigkeit

Gleichwürdigkeit ist schwer zu leben. Zu stark sind elterliche Wünsche und Erwartungen an das Kind. Es möge zum Beispiel den richtigen Beruf wählen, nicht zu weit weg ziehen und das zukünftige Schwiegerkind soll Ihren Vorstellungen entsprechen. Die Liste ließe sich endlos fortschreiben.

Doch Ihrem Kind geht es wahrscheinlich nicht anders. Es wünscht sich in Teilen vielleicht auch eine andere Mutter oder einen anderen Vater. Eltern mit mehr Empathie oder Interesse an seinem Leben. Endlich einmal ein Besuch von Ihnen in seiner Welt und nicht nur die Erwartung, es möge doch zum Besuch ins Elternhaus kommen. Hier ist die Wunschliste genauso individuell und endlos.

Das Beispiel im Kasten ist archetypisch für Familienkonflikte. Der Vater möchte seinem Sohn Anerkennung zeigen und hat dabei total übersehen, dass Thomas ganz anders tickt. Sein Geschmack geht wohl eher in Richtung Hipster-Rucksack als alte Aktentasche. Und seine ethischen Werte lehnen Lederprodukte ab.

Doch Thomas übersieht auch seinen Vater. Er nimmt den Impuls seines Vaters gar nicht wahr, ihm eine Freude machen zu wollen. Das Geschenk wird als Angriff gewertet; es ist ein weiterer Beweis dafür, dass sein Vater ihn nicht sieht und ernst nimmt. Die Eskalation ist vorhersehbar.

Im Modus der Gleichwürdigkeit könnte das Vater-Sohn-Gespräch wie folgt verlaufen:

Vater: „Schau mal Thomas, diese alte Ledertasche hatte ich früher im Büro. Jetzt schenke ich sie dir. Pass gut auf sie auf.“

Thomas: „Danke Papa. Schön, dass du mir was schenken möchtest. Doch ganz ehrlich, die Tasche ist nicht mein Stil und außerdem bin ich ja Veganer, wie du weißt. Da lehne ich auch Ledertaschen ab, tut mir leid.“

Vater: „Oh, schade. Ich hänge so an der Tasche und wollte sie dir vererben – als ein Teil von mir. Und es tut mir leid, dass ich immer wieder vergesse, dass du Veganer bist. Das ist für mich einfach nicht nachvollziehbar.“

In diesem Dialog sieht jeder den anderen, ohne sich zu verbiegen und ohne den anderen überzeugen zu wollen. Jeder darf sein, wie er ist. Beide erleben eine Enttäuschung. Der Vater, der merkt, dass Thomas sich nicht freut; Thomas, der merkt, dass sich sein Vater immer noch nicht gemerkt hat, dass er vegan lebt. Ein gleichwürdiges Happy End wäre, wenn es ihnen beiden gelingen würde, sich zu umarmen und zu sagen „Du bist echt anders als ich. Dafür liebe ich dich!“

Auf persönliche Integrität achten

KIND Als Kind musste ich vor dem Essen immer beten. Ich habe mich intensiv mit dem Thema Christentum und Kirche befasst. Vieles davon kann ich nicht unterschreiben. Ich bin auf der Suche und probiere gerade viele Arten der Spiritualität aus. Für meine Eltern ist das ein Tabu. Doch ich kann und werde keine Texte aufsagen, an die ich nicht glaube!

ELTERN Wir sind eine christliche Familie. Das Tischgebet ist für uns sehr wichtig. Seit unser Sohn ausgezogen ist, verweigert er konsequent mit uns zu beten, wenn er mal zu Besuch ist. Das tut weh. Wenn mein Mann und er dann noch anfangen über die Kirche zu diskutieren, ist die Stimmung oft im Keller. Wieso kann er nicht einfach uns zuliebe mitbeten?

Sich abzugrenzen ist eine hohe Kunst. Kaum jemand hat sie richtig gelernt. Tagtäglich finden kleine und große Grenzüberschreitungen statt zwischen Partnern, Eltern und Kindern, im Kreis der Großfamilie, im Job, beim Einkaufen oder sonst wo.

Integrität bedeutet Treue zu sich selbst

Integrität ist ein philosophischer Begriff aus der Ethik. Integer leben bedeutet, dass Sie in bestmöglicher Übereinstimmung mit Ihren Werten und Idealen leben. Das ist mühsam. Es setzt voraus, dass Sie Ihre Werte und Ideale kennen bzw. ausgebildet haben während Ihres Lebens. Zwei Fragen, um ihnen auf die Spur zu kommen sind:

Was ist Ihnen wichtig?

Wieso ist es Ihnen wichtig?

Wenn Sie die Antworten darauf formuliert haben, kommen weitere Impulse zur Selbsterforschung:

Basieren Ihre Werte und Ideale auf Lebenserfahrung oder sind sie übernommen von den Eltern oder der Gesellschaft?

Haben Sie im Falle der Übernahme diese Werte und Ideale einmal persönlich hinterfragt?

Übernommene Werte und Ideale können ein hilfreiches Gerüst und ein wegweisender Kompass im Leben sein. Gleichzeitig können sie dazu führen, dass die Welt sehr einseitig und beschränkt gesehen wird. Sie verpassen viel, wenn Sie nicht die Neugierde und den Mut haben, einmal über den Tellerrand zu schauen.

Persönliche Integrität ist ein Mix aus traditionellen Werten – erfahren in der Familie – sowie individueller Lebenserfahrung.

Persönliche Integrität hat Konfliktpotenzial

Das Leben von Werten und Idealen führt automatisch zu Konflikten. Es gibt innere Konflikte à la:

„Ich möchte den Einzelhandel unterstützen. Doch E-Commerce ist so praktisch.“

„Klimawandel und Umweltschutz sind mir sehr wichtig. Mein alter Diesel ist einfach cool. Da hängen soviel Erinnerungen dran.“

„Ich will mehr Bücher lesen. Doch irgendwie komme ich von den Netflix-Serien nicht los.“

Der Umgang mit diesen Konflikten ist unterschiedlich. Es gibt Menschen, die können über ihr Verhalten gütig lächeln und andere gehen mit einem schlechten Gefühl des Versagens ins Bett. Zu welcher Sorte gehören Sie?

Äußere Konflikte sind anstrengender, sie verlangen von Ihnen die Verteidigung Ihres Standpunktes, vielleicht sogar eine klare Ansage. Sie gehen mit dem Risiko einher, Ihr Gegenüber zu enttäuschen:

„Die Partei die du wählst, entspricht überhaupt nicht meinen Grundsätzen. Ich will von dir keine Wahlwerbung mehr haben.“

„Ich kann auf die Enkelkinder am Wochenende nicht aufpassen, da ich eine gute Freundin besuchen will.“

„Ich will nicht, dass hier geraucht wird. Bitte geh’ dafür vor die Türe.“

Jeder äußere Konflikt hat einen inneren Konflikt als Partner.

Bevor die klare Ansage erfolgt, bedarf es innerer Klarheit:

Was will ich?

Was will ich nicht?

Klarheit durch persönliche Sprache

Sehr viele Missverständnisse in der Eltern-Kind-Kommunikation entstehen, weil unpersönlich gesprochen wird. Das fängt im Kindesalter an. Eltern neigen dazu, von sich als „Mama“ und „Papa“ zu reden – also in der dritten Person: „Mama geht jetzt einkaufen“ oder „Papa bringt dich jetzt ins Bett.“ So würden Sie nie mit Ihrem Partner sprechen, oder? „Deine Frau hat Abendbrot gemacht“ oder „Dein Mann ist mit der Steuererklärung fertig.“ Genau, das klingt schräg und unpersönlich.

Es gibt weitere Varianten der Unpersönlichkeit in der Sprache:

„Das macht man nicht!“ (Wer ist „man“?)

„Das gehört sich nicht!“ (Wer sagt das?)

„Das war schon immer so!“ (Wieso?)

Das Problem ist, dass viele Menschen nicht gelernt haben, persönlich zu kommunizieren. Obwohl das jeder einmal konnte – nämlich als Kleinkind in der Autonomiephase. Je nachdem, wie Ihre Eltern darauf reagiert haben, haben Sie beschlossen, persönlich zu werden.

Deswegen fällt es vielen schwer, im Gespräch Ich-Botschaften zu nutzen. Damit mache ich mich potenziell angreifbar; es wird persönlich; das Verstecken hinter Worthülsen wie „man“, „Mama“ oder „Papa“ ist aufgehoben.

Es gibt einen ganz klaren Vorteil und Gewinn, wenn Sie die persönliche Sprache (Ich-Botschaften) in der Kommunikation mit Ihrem Kind wählen: Sie stellen Kontakt her! Das ist die Basis, um überhaupt ein echtes Gespräch führen zu können.

Nur wenn Sie Kontakt anbieten, kann Ihr Kind mit Ihnen in Kontakt gehen. Denn das Gefälle zwischen Eltern und Kindern bleibt lebenslänglich bestehen. Sie als Mutter und Vater tragen die Hauptverantwortung dafür, ob es einen persönlichen oder unpersönlichen Kontakt gibt – mehr dazu im nächsten Abschnitt.

Übernahme von Verantwortung

KIND Es ist ein komisches Gefühl. Doch wenn ich meiner Mutter begegne, fühle ich mich immer wieder klein und falsch. Ich habe den Impuls, mich rechtfertigen zu müssen. Das ist mir unangenehm und es kostet mich viel Energie, das auszuhalten. Meine Lösung? Ich schränke die persönlichen Besuche sehr ein. Das tut mir gut und weh zugleich, denn es sind ja meine Eltern.

MUTTER Lange habe ich den Lebensstil meiner Tochter für falsch gehalten. Das habe ich ihr auch deutlich zu verstehen gegeben. Ich wusste nicht, was ihr als Jugendliche Freude machte, wieso sie unbedingt für ein Jahr ins Ausland wollte und warum eine Familiengründung bei ihr keine Priorität hat. Heute weiß ich, dass ich damit die Beziehung zu ihr sehr belastet habe. Das liegt in meiner Verantwortung. Es tut mir leid.

Geraten Eltern-Kind-Beziehungen aus dem Gleichgewicht, folgt die Frage nach der Schuld sofort – entweder klammheimlich in den Gedanken und Gefühlen der Betroffenen oder ganz offen im verbalen Schlagabtausch bei Familientreffen oder im Telefonat. Die Schuldfrage hat ein hohes Giftpotenzial. Sie ist Gift für die bestehende Verbindung und den zukünftigen Verlauf der Beziehung. Zumindest wenn der oder die Schuldigen innerhalb der Familie angeklagt werden.

Folgende Zeilen mögen für Sie als Elternteil, welches sich wieder mehr Kontakt zu seinem erwachsenen Kind wünscht, herausfordernd bis empörend sein. Ich bitte Sie, folgenden Satz laut zu lesen – gerne mehrfach. Hören, schauen und spüren Sie, was dieser Satz mit Ihren Gedanken und Gefühlen macht:

Eltern sind verantwortlich für die Qualität der Beziehung zu ihren Kindern – und zwar lebenslang.

Die Machtfrage

Die Eltern-Kind-Beziehung ist von Anfang an ganz besonders. Neben der elterlichen Liebe gibt es die elterliche Macht. Vor der ist keine Mutter und kein Vater gefeit – auch wenn Sie sich vielleicht machtlos fühlen. Kein Kind kann dieser elterlichen Macht entfliehen. Keine tausend oder zehntausend Kilometer Abstand zwischen sich und den Eltern mindert die subtile Macht. Selbst ein radikaler Kontaktabbruch ist Ausdruck der Machtlosigkeit der Kindern gegenüber den Eltern. Denn sie reagieren damit auf die gemeinsame Eltern-Kind-Biografie. Was genau passiert ist und wieso Kinder diesen letzten – auch für sie – schmerzhaften Schritt gewählt haben, bedarf fast immer einer therapeutischen Begleitung, um es zu verstehen und um damit leben zu können.

Elterliche Macht manifestiert sich im Erwachsenenalter zum Beispiel durch Glaubenssätze, die tief im Kind verankert sind. „Fall bloß nicht auf“ oder: „Habe immer einen sicheren Beruf“, sind Klassiker. Sie zeigen, wie Kinder mit der Muttermilch die Einstellungen der Eltern übernommen haben und sich später daran abarbeiten, diese zu relativieren bzw. sich davon in ihrem Leben nicht zu sehr lenken zu lassen.

Der Ursprung der elterlichen Macht liegt in der Abhängigkeit der Kinder zu den Eltern. Kinder können Mütter und Väter nicht auswechseln, zurückgeben oder reparieren. Kinder müssen mit ihnen leben. Und dies tun sie, denn Kinder lieben ihre Eltern.

image DIE KINDLICHE PERSPEKTIVE

Das Baby war Ihnen bedingungslos ausgeliefert. Es hat seine körperlichen Grundbedürfnisse nach Essen, Trinken und Schlafen sowie seine seelischen Grundbedürfnisse nach Bindung und Beziehung zu den Eltern. Es liebte Sie als Mutter und Vater bedingungslos. So wie Sie waren – egal ob arm oder reich, dick oder dünn, alt oder jung. Das müssen Sie sich noch einmal richtig auf der Zunge zergehen lassen: Ihr Kind liebte Sie bedingungslos!

Viele Eltern sind mit dieser Bedingungslosigkeit überfordert. Zumal sie selbst oft am eigenen Leib erfahren haben, dass Liebe sehr schnell bedingt ist. Man wird nur geliebt, wenn das Verhalten stimmt oder man sich an die Vorstellungen des Partners anpasst. Babys und Kleinkindern ist es egal, wie die Eltern sich verhalten und welche Vorstellungen diese haben.

Kinder sind abhängig von den Eltern. Damit beginnt der Weg der schmerzlichen Enttäuschungen – denken Sie nur einmal an Ihre eigene kindliche Biografie. Mit viel Glück haben Kinder Eltern, denen es gelingt, ausgeglichen, verantwortungsvoll und zugewandt die kindlichen Grundbedürfnissen nach Nähe, Bindung, Beziehung, Anerkennung und Autonomie zu bedienen.

Häufig sind Eltern jedoch gefangen in der eigenen Gefühlswelt, dem modernen Alltag mit all seinen Anforderungen. Dann reagieren sie gestresst, übersehen kindliche Bedürfnisse oder fühlen sich selbst total ausgelaugt und kraftlos. Das Kind passt sich an. Es kooperiert mit den Stimmungen und Gegebenheiten innerhalb der Familie. Weil es unbedingt dazu gehören möchte. Weil Mama und Papa das Beste sind, was die Welt zu bieten hat. Weil das Kind seine Eltern liebt.

Die Annahme der Macht

Wenn Sie sich Ihrer Macht als Mutter oder Vater auch im erwachsenen Alter Ihres Kindes bewusst sind und diese annehmen, können Sie die Weichen für ein neues Eltern-Kind-Verhältnis stellen.

Es dreht sich nicht darum, die möglichen Fehler der Vergangenheit auszulöschen. Es geht darum, dass Sie die Verantwortung dafür übernehmen. Nicht im Sinne von: „Wie kann ich das wieder gut machen“, sondern im Sinne von: „So war das. Das habe ich gemacht. So habe ich mich verhalten.“

Womöglich will Ihr Kind dann mehr wissen, wieso Sie zum Beispiel damals immer wieder Versprechen gebrochen haben. Heute hat es nämlich echte Probleme, anderen Menschen zu vertrauen. Komischerweise gerade Beziehungspartnern, also wenn Liebe im Spiel ist. Da kann es sehr dienlich sein zu wissen, wo dieses tiefe Misstrauen herkommt. Zusätzlich kann es heilsam für die Eltern-Kind-Beziehung sein, wenn Ihr Kind versteht, dass es keine böse Absicht war, sondern Sie zu jung waren. Hin- und hergerissen zwischen leben wollen und Mutter oder Vater sein müssen.

Wie entlastend für Kinder die Annahme und Verantwortung der Macht durch die Eltern sein kann, zeigt die folgende Situation. Stellen Sie sich dazu zwei Szenen vor:

Szene 1: Sie treten an das Sterbebett Ihrer Mutter. Ihre Mutter nimmt Ihre Hand, schaut Ihnen in die Augen und sagt zu Ihnen: „Ich bin stolz auf dich mein Kind, wie du durch dein Leben gehst. Ich liebe dich.“

Szene 2: Sie treten an das Sterbebett Ihrer Mutter. Ihre Mutter nimmt Ihre Hand, schaut Ihnen in die Augen und sagt zu Ihnen: „Solange du so lebst, wie du lebst, werde ich dir nie verzeihen. Wieso musstest du mich so enttäuschen?“

Welche Szene in einen harmonischen Familienfilm und welche in ein Psychodrama passt, ist offensichtlich. Die Macht der Eltern wirkt über den Tod hinaus. Das ist auf der einen Seite tröstlich, da sie ein wahnsinniger Antrieb für die kindliche Selbstentfaltung sein kann. Auf der anderen Seite ist es beängstigend, denn sie kann genauso gut die kindliche Selbstentfaltung blockieren.

Die Verantwortung für die Macht

Es liegt daher an Ihnen, wie Sie mit der Macht umgegangen sind, umgehen und zukünftig umgehen wollen. In allen drei Fällen können Sie die Verantwortung übernehmen:

Vergangenheit: „Ja, das war damals so. Ich habe mich so verhalten. Ich sehe, dass es dich hindert und heute noch beschäftigt. Das tut mir leid.“

Gegenwart: „Ich möchte die Beziehung zu dir verändern. Was kann ich jetzt tun, damit es für dich leichter wird?“

Zukunft: „Ich werde mein Verhalten überprüfen und mir falls nötig Hilfe holen, damit ich meine Verhaltensmuster in den Griff bekomme. Du bist mir wichtig.“

In dem Sie Ihre Verantwortung übernehmen geben Sie ihr Kind frei für seine Verantwortung an der Beziehung zu Ihnen. Konkret: Wenn Sie Ihrem Kind in den Ohren lagen mit Sätzen wie „Mensch, nie meldest du dich. Ruf doch mal an. Ich bin schon traurig“, dann hat Ihr Kind wahrscheinlich gar keine Lust, von sich aus zum Telefon zu greifen. Es ist ja eine reine Pflichterfüllung.

Wenn Sie stattdessen sagen: „Mensch, ich würde mich freuen, wenn du dich meldest“, dann lassen Sie Ihrem Kind die freie Wahl. Es kann jetzt Verantwortung übernehmen im Sinne von: „Das mache ich dir zu Liebe gerne“ oder: „Aktuell habe ich ganz andere Dinge im Kopf. Ich melde mich nicht oft – wohlwissend, dass du das schade findest.“

Authentische Kommunikation

KIND Ich habe keine Lust, auf das Familienfest zu fahren, zumal ich da eigentlich Urlaub mit meiner Freundin geplant habe. Wie sage ich das?

MUTTER Warum meldet sich mein Sohn nicht? Die Einladung für das große Tanten-Onkel-Fest ist seit drei Wochen verschickt. Wie frage ich nach, ohne zu nerven?

Einfach authentisch sein. Dieses angebliche Allheilmittel können Sie in vielen Ratgebern lesen – doch Vorsicht! Gnadenlose Authentizität kann Beziehungen sehr stören und ins Wanken bringen. Die authentische Kommunikation sollte sich immer an die Rolle – Eltern oder Kind – und an den Kontext – privater oder öffentlicher Raum – anpassen. Das bedeutet nicht, dass Sie sich verbiegen sollen. Sondern es meint, dass Sie die Kraft und Wucht einer authentischen Aussage berücksichtigen und entsprechend steuern.

Ich meine, was ich sage

Authentisch zu sein, wird gerne übersetzt mit man selbst zu sein. Konkreter: Gefühle und Aussage passen zusammen. Die Wahrheit sagen. Bedenkend, dass es sich um eine subjektive Wahrheit handelt.

Wichtiger Hinweis: Die Worte aus Ihrem Mund paaren sich mit Emotionen, die Ausdruck finden in Ihrer Mimik, im Stimmklang und in Ihrer Körpersprache.

Dreimal dürfen Sie raten, welche Info maßgeblichen Einfluss auf eine gelingende Kommunikation zwischen Eltern und Kindern hat. Richtig, es ist die Musik hinter den Worten. Ihr Gegenüber spürt sofort, dass Ihre sachliche Aussage nicht der ganzen Wahrheit entspricht, wenn es einen emotionalen Missklang gibt. Je nach Intention Ihres Gesprächspartners wird er darauf eingehen oder es bewusst überhören bzw. übersehen. Im letzteren Fall ist ein unbefriedigender Gesprächsverlauf absehbar.

Friederike hat ihre Eltern im Heimatort besucht. Nach dem verlängerten Wochenende steht jetzt der Abschied an. Ihr Vater bringt sie zum kleinen Bahnhof des Ortes.

„Schön, dass du da warst. Ich fahre jetzt mal wieder los. Dein Zug kommt ja gleich“, sagt ihr Vater. Friederike ist irritiert, denn es war wirklich ein schöner Besuch. Viele gemeinsame Ausflüge, nette Gespräche und gutes Essen. Jetzt diese knappe Verabschiedung. Komisch denkt sie und fragt nach: „Papa, ist wirklich alles gut?“ – „Ja, was soll sein“, antwortet er, dreht sich um und geht weg. Verwundert schaut Friederike ihrem Vater nach. Kurz bildet sich ein Kloß in ihrem Hals, dann nimmt Sie ihr Smartphone aus der Handtasche und lenkt sich ab.

Was sie nicht sieht ist, dass ihr Vater auf dem Weg zum Auto mit Tränen zu kämpfen hat. Denn es war wirklich eine schöne Zeit. Doch seine Trauer über den Abschied würde er seiner Tochter niemals zeigen wollen.

In dem Beispiel verpassen Tochter und Vater einen wertvollen Moment, der ihre Beziehung vertiefen könnte. Beide sind traurig und beide zeigen dies nicht. Wie schade, denn es wäre eine herzliche Gemeinsamkeit, sich am Ende einer schönen Zeit zu umarmen und sich die Trauer einzugestehen.

Hätte der Vater die Kraft zu einer authentischen Kommunikation, könnte er auf die Frage seiner Tochter, ob alles gut sei, antworten mit: „Ich bin traurig, dass du fährst. Das macht mir zu schaffen, deshalb gehe ich jetzt.“

Hier würde er sich gleich zweimal offenbaren: erstens seine Trauer und zweitens sein Umgang mit Trauer, dem schnellen Abgang aus der Situation. Friederike hätte die Chance, ihren Vater in seiner Gesamtheit zu sehen und darauf zu reagieren. Sie hätte ihn kurz drücken können, ihm noch einmal sagen können, wie schön es auch für sie war.

Elternrolle wahren

Authentisch als Mutter oder Vater zu sein, bedeutet ergänzend, sich der Rolle als Elternteil bewusst zu sein und diese anzunehmen. Ein Klassiker der Nicht-Annahme ist die – häufig mütterliche – Ankündigung: „Ich bin deine beste Freundin.“ Dies ist mehrfach problematisch (dazu mehr im folgenden Kapitel Kontaktminderung verstehen lernen auf Seite 41).

Bezogen auf die Authentizität als Mutter passt es nicht, denn die Mutter ist und bleibt die Mutter. Punkt. Es ist ein Geschenk für Ihr Kind, wenn Sie die Eltern-Rolle auch im Erwachsenenalter bewusst weiterleben. Denn Ihr Kind hat nur eine leibliche Mutter oder einen leiblichen Vater. Wer soll sonst Mutter oder Vater sein, wenn Sie als Mutter oder Vater beschließen, beste Freundin oder Freund sein zu wollen? Dies bedeutet nicht, dass Sie nicht locker, herzlich, witzig und kumpelhaft mit Ihrem Kind reden können. Doch Sie bleiben trotzdem ein Elternteil Ihres Kindes. Verleugnen Sie diesen Part bitte nicht. Er gehört zu Ihrem Authentisch-Sein dazu.

Grenzen der Authentizität

Die Rolle als Eltern ist ein Bestandteil, der authentische Kommunikation bestimmt. Es setzt zugleich eine inhaltliche Grenze. Kinder – auch erwachsene Kinder – haben zum Beispiel kein Interesse daran, Details aus dem Sexualleben der Eltern zu erfahren. Vielleicht würden Sie mit Ihrem Kind beispielsweise gerne über Ihre Probleme beim Sex sprechen, die Sie mit dem Partner, der Partnerin haben. Weil es Sie beschäftigt und weil Sie authentisch sein wollen. Daher erzählen Sie offen und ehrlich. Stopp!

Solche Themen besprechen Sie mit einer Freundin, einem Freund oder suchen sich dafür externe Beratung. Ihr Kind sollte hier nicht der Adressat sein. Sie brauchen sich aber nicht verstellen. Statt die Details des Problems und Ihrem Frust darüber freien Lauf zu lassen, können Sie Ihrem Kind sagen: „Ich bin gereizt, das stimmt. Denn ich habe ein Problem mit Papa. Da bin ich im Gespräch mit ihm, wie wir das lösen. Über die Details möchte ich nicht mit dir sprechen.“

Eine weitere Grenze ist der soziale Rahmen, in dem Sie sich bewegen. Pure elterliche Authentizität kann richtig peinlich werden für Ihr Kind. Wenn Sie auf der Hochzeit Ihres Kindes Ihre Abneigung für die zukünftige Schwiegertochter oder den zukünftigen Schwiegersohn offen zur Schau stellen, machen Sie sich keine Freunde. Das hat dann auch nichts mehr mit Authentizität zu tun, sondern kippt in Richtung Egoismus.

„Das darf ich doch wohl sagen, wenn ich es so empfinde“, stimmt nicht immer. Sie dürfen alles sagen, doch einiges gehört lieber ins Vier-Augen-Gespräch und nicht in die Öffentlichkeit. Wenn doch, dann sollten Sie dafür bereit sein, dass sich Ihr Kind gesund authentisch und öffentlich abgrenzt. Ein Resultat, dass sich die wenigsten Eltern wünschen.

Auf das Zusammenspiel kommt es an

Gleichwürdigkeit, Integrität, Verantwortung und Authentizität sind die vier Werte, die der dänische Familientherapeut Jesper Juul für ein gelungenes Familien- und Paarleben empfiehlt. Der Erfolgsfaktor liegt jedoch nicht in den einzelnen Punkten, sondern in dem Zusammenspiel der Werte.

Das passiert fast automatisch, denn jeder Wert an sich trägt die anderen drei Werte in sich. Sie können Gleichwürdigkeit nur leben, wenn Sie Ihre Gefühle authentisch zeigen und sie die Gefühle Ihres Gegenübers sehen. Damit Sie sich nicht aufgeben und authentisch werden, brauchen Sie die Kompetenz, sich abgrenzen zu können. Da ist Ihre Integrität gefragt. Um integer sein zu können, sollten Sie Verantwortung für sich, Ihre Werte und Gefühle übernehmen können. Sie merken, es steckt alles in allem drin und wirkt.

KLEINE ÜBUNG

Beobachten Sie eine zukünftige Begegnung oder Kommunikation mit Ihrem erwachsenen Kind. Schreiben Sie in der Reflexion danach kurz auf:

Durfte mein Kind so sein, wie es war? (Gleichwürdigkeit)

Habe ich mich abgegrenzt, wo es nötig war? (Integrität)

Habe ich Verantwortung für mein Verhalten und meine Gefühle übernommen?

Meinte und fühlte ich, was ich sagte? (Authentizität)

KONTAKTMINDERUNG VERSTEHEN LERNEN

Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir haben elementare seelische Bedürfnisse nach Bindung, Autonomie und Wertschätzung. Sie haben es als Mutter oder Vater in der Hand, wie gut die Beziehung zu Ihrem Kind war, ist und wieder werden könnte.

Die Frage nach dem Warum treibt viele Eltern um, die sich mehr oder anderen Kontakt zu ihrem Kind wünschen. Viele Erwartungen, Fragezeichen, Selbstzweifel, Schuldzuweisungen oder Vorwürfe stehen im Raum. Um eine Kontaktminderung verstehen zu können, müssen Sie diese zuerst einmal anerkennen. Schon das ist ein schmerzhafter Akt: Ja sagen zu dem was ist und war, obwohl Sie es sich ganz anders wünschen.

Nur was wir annehmen, können wir abgeben. Das ist ein Grundgesetz für die persönliche Entwicklung. Alles was wir negieren, verdrängen, nicht sehen oder wahrhaben wollen, wird nicht von alleine verschwinden oder sich ändern. Es wird im Schattendasein größer und irgendwann mit neuer Energie ans Licht kommen.

Das Forschen nach den Gründen für eine Kontaktminderung oder gar -abbruch ist eine Spurensuche in die Eltern-Kind-Vergangenheit. Ausgerüstet mit dem 1×1 der gelungenen Eltern-Kind-Beziehung (siehe vorheriges Kapitel) haben Sie ein gutes Handwerkszeug, sich dem zu stellen, was Sie finden werden.

Die ehrliche Suche nach Ursachen

KIND Ich liebe meine Eltern. Doch der Kontakt zu ihnen ist mir zu anstrengend. Er tut mir nicht gut, denn anscheinend haben sie noch nicht begriffen, dass ich jetzt erwachsen bin.

ELTERN Wieso meldet sich unser Kind nur so selten? Was haben wir falsch gemacht? Unsere Freunde haben guten Kontakt zu ihren Kindern. Wir verstehen nicht, was bei uns los ist.

Erfahrungen aus der Kindheit bestimmen neben aktuellen Themen maßgeblich die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung. Ihr Kind hat eine Reise hinter sich. Von der abhängigen Angepasstheit als Baby zu immer mehr Autonomie und Selbstbestimmung im Kindesalter bis hin zur Eigenständigkeit als Jugendlicher und Erwachsener.

Ein Blick zurück erklärt viel

Um die Qualität einer Eltern-Kind-Beziehung zu verstehen, lohnt sich der Blick zurück in die Kindheit. Vielleicht kann Sie dazu das Zitat des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813–1855) ermutigen:

Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.

Ihr Kind hat sich angepasst, an die Beziehungskultur in der Familie. Schon ein Baby entwickelt ein genaues Gespür dafür, wie Eltern auf die Grundbedürfnisse wie Bindung und Sicherheit eingehen. Darauf stellt es sein Verhalten im Rahmen seiner kindlichen Möglichkeiten ein.

Im Kleinkindalter kommt das natürliche Bedürfnis der Autonomie dazu. Ihr Kind sagte „Ich will“ und „Nein, lass mich“. Es durfte erleben, ob Sie bereit waren, dieses Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit anzuerkennen oder ob Sie es eher unterdrückten. Wenn Ihr Kind als Signal bekam: „Ich liebe dich, so wie du bist“, wurde zusätzlich das dritte Bedürfnis nach Wertschätzung gut bedient.

Dauerbrenner: Anpassung oder Autonomie?

Der Konflikt von Anpassung und Autonomie begleitet uns in allen Lebensjahren. Begonnen hat er mit unserer Geburt. Enden wird er mit dem Tod. Sicherlich spüren Sie noch heute unterschiedliche Gefühle, wenn Sie an Ihre eigene Kindheit zurückdenken. So geht es auch Ihren Kindern. Die Gefühle und Erlebnisse sind vielschichtig. Eine Konsequenz daraus kann sein, dass Ihr Kind den Kontakt zu Ihnen als Eltern mindert, um die eigene Autonomie freier und stärker leben zu können.

„ICH WERDE IMMER WIEDER ZUM KLEINKIND. DAS WILL ICH NICHT MEHR!“ image

Klara (25) fährt nur noch ein- bis zweimal im Jahr zu ihren Eltern. Sie ruft auch nur noch sporadisch an. Der Telefon-Rhythmus hat sich schleichend verändert. In den ersten Monaten nach ihrem Auszug mit 18 Jahren meldete sich sie täglich bei ihrer Mutter. Später wöchentlich fix einmal am Sonntag – pünktlich und zuverlässig um 11 Uhr morgens.

Jetzt meldet sie sich von sich aus circa alle zwei Monate. Ihr Freund versteht das nicht; er hat ein inniges Verhältnis zu seinen Eltern und fährt wöchentlich einmal vorbei. „Wieso fällt es dir so schwer, dich bei deiner Mutter zu melden? Die würde sich freuen, glaub mir“, versucht er Klara zu ermuntern.

Klara hingegen spürt innerlich großen Widerstand – schon allein beim Gedanken, die Nummer der Eltern zu wählen. Sie offenbart sich einer guten Freundin: „Es ist ja nicht so, dass ich meine Eltern nicht liebe oder wissen möchte, wie es ihnen geht“, beginnt Klara das Gespräch. „Doch meine Mutter behandelt mich immer noch wie ein Kleinkind. Ganz subtil, die merkt das gar nicht. Ich will das nicht. Wenn ich da nicht mitspiele und Ja und Amen zu all ihren Ratschlägen sage, ist sie beleidigt. Das kostet mich so viel Kraft, meine Stimmung nach einem Telefonat wiederaufzubauen. Da rufe ich lieber gar nicht an.“

Ihre Freundin nickt, umarmt sie und sagt: „Weißt du was? Ich kenne einige, denen es genauso geht wie dir. Da bist du echt nicht alleine. Mamas und Papas, die nicht einsehen wollen, dass die Kids jetzt auf eigenen Beinen stehen und ihr eigenes Leben haben, gibt es wie Sand am Meer.“

Das Beispiel von Klara schildert den inneren Kampf zwischen Anpassung und Autonomie. Klara ist seit sieben Jahren volljährig, steht auf eigenen Beinen, hat einen Freund und gute Freundinnen. Sie ist selbstständig und autonom. Trotzdem triggert ein Telefonat – ja schon der Gedanke daran – bei ihr ein Anpassungsgen. Das Gen flüstert ihr zu: „Nimm die Ratschläge deiner Mutter an. Damit bist du als Kind doch auch gut gefahren. Immer schön Ja und Amen sagen, dann ist Mama zufrieden.“ Doch hey, mit 25 Jahren will man das nicht mehr – zu Recht!

Klaras Mutter hat es gleichzeitig nicht einfach. Sie spürt am Kommunikationsverhalten ihrer Tochter, dass etwas nicht stimmt. Wenn sie telefonieren, möchte sie alle ihre Liebe und Zuneigung an Klara weitergeben. Leider benutzt sie hierfür das Mittel des Ratschlags zu allen Lebenssituationen.

Wenn Sie die Mutter fragen würde: „Wieso machst du das?“, würde sie höchstwahrscheinlich mit einer Variante von: „Ich meine es doch nur gut“ antworten. „Ich will ihr schmerzhafte Erfahrungen ersparen.“ Die Folgefrage an die Mutter wäre: „Wie kommst du darauf, dass Klara kein Recht auf eigene, schmerzhafte Erfahrungen hat?“ Sie merken beim Lesen, dass die Spirale von Ursache und Wirkung immer tiefer geht. Die Mutter würde eventuell von ihrer Kindheit und Mutter – Klaras Großmutter – berichten.

Erzählen Sie Ihre Geschichte! Wenn Ihr Kind erfährt, wie Sie als Mutter oder Vater tickten, welche Beweggründe und Zwänge (Alltag, Beruf, Gesellschaft, Großfamilie) es in der familiären Vergangenheit gab, kann Verständnis entstehen. Eine neue Basis für eine Annäherung.

Werden Sie zu Sherlock Holmes

Den Meisterdetektiv aus London zeichnete aus, dass er immer auf der Suche nach Indizien war, die er dann kombinierte. Er schaute ganz genau hin. Ihm entging nichts – wenn doch, dann war sein Kompagnon Dr. Watson zur Stelle. Das könnte Ihr Mann oder Ihre Frau sein.

Erste Grundannahme: Alles was Ihr Kind macht, ergibt Sinn. Sie erkennen ihn nur nicht – übrigens Ihr Kind auf Nachfragen eventuell auch nicht. Viele Motivationen für unsere Handlungen liegen in den Tiefen des Unterbewusstseins, dem Speicher unserer Lebenserfahrungen, verborgen.

Zweite Grundannahme: Das Wie innerhalb einer Beziehung zählt. Verhalten, Mimik, Stimmenklang verraten deutlich mehr über den Status einer Beziehung als die gesagten Worte. Achten Sie auf die Stimmungslage und Körpersprache bei sich und Ihrem Kind. Das fällt nicht leicht, wenn man selbst involviert ist. Fragen Sie Ihren Partner oder andere Anwesende im Nachklapp, was diese wahrgenommen haben.

Die zwei Annahmen helfen Ihnen, Ihren Blick auf die möglichen Ursachen für die Kontaktminderung zu schärfen. Beißen Sie sich nicht an liebgewonnenen Sichtweisen oder Interpretationen fest. Versuchen Sie, einen offenen Blick zu wahren auf jenes, was war und ist.

IHR DETEKTIVKOFFER

Frühzeitig Signale erkennen

KIND Ich weiß auch nicht so recht. Meine Motivation, mich zu melden, ist irgendwie eingeschlafen. Ich habe soviel um die Ohren mit meiner eigenen Familie und meinem Beruf, dass ich mich nicht noch zusätzlich um meine Eltern kümmern mag. Klingt hart, ist aber so.

MUTTER Unser Sohn meldet sich kaum noch. Das ist schade. Ich weiß noch genau, wann das anfing. Es war nach der Geburt unseres ersten Enkelkindes. Ich glaube, er stand damals total unter Strom mit seiner Frau, dem Baby und seiner Arbeit.

Der Sturm vor der Stille betitelte die Journalistin Tina Soliman ihre Recherchen und Aufzeichnungen (siehe Buchtipp auf Seite 196), in denen Sie darlegt, warum Menschen den Kontakt zueinander abbrechen. Sie hat dazu mit einer Vielzahl betroffener Eltern und Kindern gesprochen. Fazit: Es ist hochindividuell und nicht vorhersehbar.

Betroffene berichten, dass der radikale Kontaktabbruch wie aus dem heiteren Himmel kam – unerwartet und unvorbereitet.

Tina Solimans Fazit lautet: Es gibt immer einen Grund für die Funkstille. Häufig pflastern viele ungehörte und übersehene Signale den Weg zum Kontaktabbruch. Zuweilen liegen psychische Erkrankungen oder schwerwiegende und verdrängte Eltern-Kind-Erfahrungen vor.

Man kann nicht nicht kommunizieren

Um den Zweier-Kontakt zu mindern oder abzubrechen, bedarf es nur einer Person. Sobald einer nicht mehr mitmacht wie gewohnt, beginnt die Veränderung. Für einen gelungenen und erfüllenden Zweier-Kontakt braucht es jedoch immer zwei Personen.

Diese stehen sich im Sender-Empfänger-Verhältnis gegenüber; sie versuchen zu hören und zu sehen, was der Gesprächspartner gerade denkt, fühlt und meint. Darauf basierend erfolgt die Reaktion und es beginnt das Ping-Pong-Spiel der Kommunikation.

Im Falle einer Kontaktminderung findet vordergründig weniger Kommunikation statt. Doch genau dieses Weniger an Gesprächen und Besuchen ist genauso ein Ausdruck, den es zu berücksichtigen gilt. Es wird damit unterschwellig etwas gesagt, nämlich: „Ich möchte mit dir oder euch nicht kommunizieren.“ Hier liegt ein Signal vor – bitte nicht übersehen!

Jede Kommunikation besteht des weiteren aus einer Sach- und einer Beziehungsebene. Wobei es immer auf die grundlegende Beziehung ankommt, die Sie zu Ihrem Kind haben. Wenn Sie merken, dass die Gespräche, Telefonate oder Besuche abnehmen, kann es am Thema wie zum Beispiel der aktuellen politischen Lage liegen. Hier gilt es einfach nachzufragen. Das wäre eine rein inhaltliche Ebene.

Wenn es jedoch keine offensichtliche Ursache gibt, dann richten Sie Ihren Fokus auf die Beziehung zu Ihrem Kind. Die zentrale Leitfrage lautet hier nicht: „Was besprechen wir?“, sondern: „Wie gehen wir miteinander um?“ Die Beobachtungen zum Beispiel des Tonfalls (ist dieser gereizt oder genervt?), oder der Körperhaltung (wird während des Gesprächs auf das Smartphone geschaut?) sind weitere Signale – bitte nicht übersehen!

Schulen Sie Ihre Antennen

Um die Signale und Warnhinweise frühzeitig zu erkennen und deuten zu können, brauchen Sie ein hohes Maß an Selbstreflexion. Hören Sie wirklich aufmerksam zu? Welche Interpretationen legen Sie sofort in das Gehörte hinein? Mit Ihrer Interpretation verfälschen Sie das Gesagte und machen es passend für Ihre Welt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783842616318
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Eltern-Kind-Beziehung kein Kontakt zu den Eltern Familienkonflikte Entfremdung familylab Verlust Kontaktabbruch

Autor

  • Sascha Schmidt (Autor:in)

Sascha Schmidt ist als Paar und Familienberater auf Familienkonflikte spezialisiert. Als familylabSeminarleiter und aufgrund seiner umfangreichen Beratungserfahrung weiß er, wie sich schwierige Situationen zwischen Eltern und Kindern in der Familie alltagstauglich auflösen lassen. Für diesen Ratgeber hat er die besten Tipps für alle Eltern zusammengetragen, die den engen Draht zu ihren Kindern verloren haben oder deren Kinder den Kontakt einschränken oder gar abbrechen.
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Titel: Melde dich mal wieder!